FABL-Vortrag vom 22.11.17 "Ausgrabungen der anderen Art - paläontologische Grabungen im Jura des Braunschweiger Landes und darüber hinaus"

Dr. Ralf Kosma, Ltr. der Abt. Paläontologie des Staatlichen Naturhistorischen Museums in Braunschweig, stellte in seinem Vortrag Grabungen im Jura des Braunschweiger Landes und darüber hinaus in Niger und den USA vor. Die Grabungsergebnisse und seine Berichte zum alltäglichen Leben der einheimischen Stämme stießen hier in der Kanzlei in Wolfenbüttel auf ein außergewöhnlich hohes Interesse. Dr. Ralf Kosma beantwortete eine Vielzahl von Fragen zu Konservierungstechniken, Fundsicherung, Ausfuhrbestimmungen für Funde usw.

 

Einige Fotos von den Fundstellen Hondelage, Schandelah-Wohld und Ausstellungsstücken im Schloss Salder und im Staatlichen Naturhistorischen Museum in Braunschweig können vielleicht einen Eindruck von dem Fundreichtum im näheren Umfeld vermitteln.

 

 

Prof. Meibeyer: Was war in Wolfenbüttel, bevor die Herzöge kamen?

Prof. Dr. Wolfgang Meibeyer

früher:

Institut für Geographie und Geoökologie

der Technischen Universität Braunschweig

 

Ithstraße 1

D-38122 Braunschweig

 

 

 

Was war in Wolfenbüttel, bevor die Herzöge kamen?

Die Anfänge von Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

von Wolfgang Meibeyer

 

 

Vorbemerkung des Verfassers 2018

 

Schon bei ihrem ersten Erscheinen 2003 wurde meine hier im Folgenden wiedergegebene Studie von harschem Widerspruch begleitet. In demselben von U. Schwarz 2003 herausgegebenen Sammelband Auf dem Weg zur herzoglichen Residenz Wolfenbüttel im Mittelalter veröffentlichte U. Ohainski einen eigenen Beitrag unter dem Titel Von der herzoglichen Niederungsburg zum Herrschaftszentrum des Braunschweiger Landes — Wolfenbüttel von 1283 bis 1432. Darin bezeichnet er von mir als durchaus hypothetisch angedeutete datierende Zusammenhänge vor allem zwischen dem St. Longinus-Patrozinium der Wolfenbütteler Kapelle und den Ungarnschlachten im 10. Jahrhundert als „verfehlt“. Eine solche Verbindung von der Wolfenbütteler Siedlungs- / Burgentstehung mit der Longinuskapelle sei „eindeutig zurückzuweisen“ (S.119).

 

Ich musste bei Erscheinen des Bandes verwundert zur Kenntnis nehmen, dass mein Manuskript Herrn Ohainski ohne mein Wissen — wohl durch den Herausgeber ? — offenbar noch vor der Drucklegung so zugänglich gemacht worden war, dass dieser seine widersprechenden Ansichten darüber bereits zeitgleich mit der Veröffentlichung einbringen konnte. Ein so gewiss ungewöhnlicher Vorgang ! Eigentlich ist es guter akademischer Brauch, in solchen Fällen von entschiedener Ablehnung der Thesen eines Autors — bei zeitgleicher Veröffentlichung an demselben Ort ! - diesen vor dem Erscheinen darüber zu verständigen und/oder ihm an gleicher Stelle die Möglichkeit zumindest für einen knappen Kommentar einzuräumen. Auch dazu ist es hier nicht gekommen, ich war ahnungslos. Daher konnte ich damals auch gar nicht auf Ohainskis entschiedene Kritik aktuell eingehen. Bezüglich der angemerkten strittigen Frage sei das nun mit der folgenden kurzen Stellungnahme nachgeholt:

 

Ohainski beruft sich bei seiner Ablehnung meiner o. a. einschlägigen Verwendung des Patroziniums nicht etwa auf konkrete örtliche Erkenntnisse, sondern lediglich auf allgemeine Auffassungen fremder Autoren (s. dt.). Er übersah dabei aber wohl, dass sich für meine These anderweitig durchaus zutreffende und unangefochten akzeptierte, nahe liegende Parallelen finden lassen, z. B. bei H. Stoob im Falle von St. Laurentius als Tagesheiligen der Lechfeldschlacht (955) und der Burgkapelle in Salzwedel (Dt. Städteatlas, Ausgabe Salzwedel).

 

Selbst für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass der von mir geäußerte und von Ohainski entschieden bestrittene mutmaßliche datierende Zusammenhang zwischen den Tagesheiligen der beiden Ungarnschlachten, St. Longinus und St. Laurentius, und den Wolfenbütteler Kapellen dennoch nicht zutreffen sollte, würde sich an dem Faktum meiner Datierung einer Entstehung von früher (Dorf-)Siedlung und Burg Wolfenbüttel in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts nichts ändern.

 

Das beruht insbesondere auf dem Grundwort des 1118 erstmalig bezeugten Ortsnamens Wlferesbutle. Denn die in den letzten Jahren fortgesetzten Forschungen über die Orte mit —bütteI-Namen im östlichen Niedersachsen haben deren Entstehung mit Gewissheit als Gründungen seitens der alten Adelsgeschlechter der Billunger und der Brunonen im letzten Jahrhundert vor der Jahrtausendwende wiederholt bestätigt — untermauert durch siedlungsgeographische sowie durch archäologische Befunde. Keinesfalls gehen aber die Anfänge der —büttel-Orte hier tatsächlich „in oder vor das 8. Jahrhundert“ zurück, wie das Ohainski unter Verweis auf namenkundliche Forschungen seiner Ehefrau K. Casemir anmerkt (S. 119, Anm. 57). (Vielleicht hätte er auch zuvor schon darüber geäußerte Kritik nicht verschweigen sollen, s. Braunschw. Jahrb. 97, 1998, S. 266ff.)

 

Wenn ich meine These zu Wolfenbüttels frühen Anfängen im 10 Jahrhundert im Jahre 2003 zunächst noch vorsichtig kritisch als nur hypothetisch bezeichnet habe (S. 45f), so möchte ich sie 2018, nunmehr nach umfangreicher zwischenzeitlicher Forschungsarbeit, eher als hoch wahrscheinlich einschätzen.

W. Mb.

 

 

 

 

Was war in Wolfenbüttel, bevor die Herzöge kamen?

Die Anfänge von Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

von Wolfgang Meibeyer

 

Einleitung

 

Erst im Verlaufe des 16. Jahrhunderts erreichte Wolfenbüttel städtische Qualität in baulicher, funktionaler und rechtlicher Hinsicht.1 Aus einer Anzahl einzelner Hausstellen, welche sich zu Zeiten von Herzog Heinrich d. Ä. auf einer relativ trockenen Talsandinsel in der Okerniederung im östlichen Vorfeld von Schloss Wolfenbüttel und der Dammsiedlung als „Vorgebäu“ angesiedelt hatten, ging unter dem tatkräftigen Einfluss seines Sohnes Heinrich d. J. dessen „Neustadt“ hervor. Wie Lucas Cranachs bekannter Holzschnitt zeigt, hatte der Herzog diese schon vor der Belagerung 1542 ebenso wie die Schloss- und Dammfeste rundum mit Wällen und Gräben versehen und nach dem Schmalkaldischen Kriege festungsartig weiter ausgebaut. Herzog Julius (ab 1568) schließlich verlegte in diese nun nach seinem Vater umbenannte „Heinrichstadt“ nicht nur seine neuen herzoglichen Wirtschaftsbetriebe und Verwaltungseinrichtungen, sondern erneuerte ihr Grundrissbild nahezu vollständig durch großzügige breite Straßenfluchten. Auch gewann er u. a. mit der Anlage von z. T. schiffbaren Entwässerungskanälen der Okeraue trockenen Siedlungsboden innerhalb der Stadtfestung ab. Mit seiner Gründung der „Juliusfriedenstadt“ (Neue Heinrichstadt) im östlichen Anschluss daran sowie mit dem „Gotteslager“ hatte sich bei Regierungsantritt seines Sohnes Heinrich Julius 1589 die herzogliche Residenz- und Festungsstadt quer über die ganze Okerniederung ausgedehnt. Als deren älteste Kerne lagen an ihrem westlichen Rand Schloss und ehemalige Dammsiedlung in der von ausgedehnten aufwendigen Bastionärsbefestigungen geschützten Zitadelle.

 

1 Zur vor- und frühstädtischen Entwicklung des 13. bis 16. Jh. s. Friedrich THÖNE, Wolfenbüttel unter Herzog Julius (1568-1589). Topographie und Baugeschichte. In: Braunschweigisches Jb. 33 (1952) S. 1-74; DERS., Wolfenbüttel in der Spätrenaissance. In: Braunschweigisches Jb. 35 (1954) S. 5-116; DERS., Wolfenbüttel. Geist und Glanz einer alten Residenz. München 1963; auch Wolf-Dieter MOHRMANN, Wolfenbüttel. Ein stadtgeschichtlicher Abriss. In: Braunschweigisches Jb. 59 (1978) S. 47-69.

 

 

 

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22 Wolfgang Meibeyer

 

Bis auf den durch Neubau der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis bewahrten Standort der 1301 ersterwähnten Marienkapelle an der höchsten Stelle der Talsandinsel gingen in Folge der intensiven flächengreifenden Baumaßnahmen im Stadtgebiet nahezu alle topographischen Relikte aus älterer Zeit verloren.

 

Der Zeitraum vor der Stadtwerdung gliedert sich in zwei Abschnitte, deren jüngerer 1283 einsetzte mit dem Neuaufbau der 1255 gründlich zerstörten Wasserburg der Asseburger, welche sich zuvor Herren von Wolfenbüttel nannten. Landesschutz gegen das nahe Hochstift Hildesheim einerseits und zeitweiliger, ab 1432 dann dauernder Wohn- und Regierungssitz des Herzogshauses andererseits verbanden sich mit der kleinen Burg unmittelbar an der Oker auf der Niederterrasse am westlichen Rand der Niederung. Östlich davor befand sich, schon im Bereich der nassen Okeraue angelegt, eine Vorburg, deren Baulichkeiten auf angeschüttetem Boden an einem Damm lagen, dessen Zweckbestimmung in der Erleichterung des westöstlichen Überganges einer Heerstraße über die vernässte Okerniederung zu erblicken ist.

 

Erst im Laufe des 14. Jahrhunderts beginnt sich die Vorstellung von dieser Vorburg- bzw. Dammsiedlung (in dammone prope Wulferbutle) etwas zu verdeutlichen mit einem herzoglichen Vorwerk, mit einer Wassermühle sowie mit den Kapellen St. Longinus (1315 mit curia dotalis versehen)2 und St. Laurentius, welche ebenso wie eine Badstube auf dortselbst ansässige Wohnbevölkerung hindeuten, die in erster Linie mit der Burg in Verbindung zu bringen sein dürfte. Eine Beziehung zu dem nur etwa 600 m in nördlicher Richtung auf dem östlichen Okerufer gelegenen (seit dem 15. Jahrhundert wüst gefallenen) alten Pfarrdorf Lechede3 ist nicht gegeben.

 

Mit der Zerstörung der Burg Wolfenbüttel als Ministerialensitz der Herren von der Asseburg bzw. zuvor von Wolfenbüttel und der Aneignung ihres Grundes nebst engerem Zubehör durch die Herzöge endete die früheste Phase wolfenbüttelscher Entwicklung, ohne dass die schriftliche Überlieferung konkret Nutzbares über deren Ablauf selbst bereit hält. Der Nennung des in einer bischöflich halberstädtischen Urkunde 1118 als Zeuge auftretenden, ehemals brunonischen Lehnsmannes Widekindus de Wlferesbutle4 lässt sich kaum mehr als das damalige Bestehen eines

 

 

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2 Bewidmung der Longinus-Kapelle 1315 durch Herzog Albrecht: Nds. Staatsarchiv Wolfenbüttel, III Hs 2, fol. 100r-v. Zur curia dotalis heißt es: in qua rector eiusdem capelle in Wulffenbuttel residet.

 

3 Klaus-Walther OHNESORGE, Wolfenbüttel. Geographie einer ehemaligen Residenzstadt (Braunschweiger Geographische Studien 5), Braunschweig 1974, S. 28 ff. Bei einer gemeinsamen Begehung mit Herrn Dr. Ohnesorge im Februar 1998 fand sich in den Vorgärten von Grundstücken auf der Westseite der Straße Am Roten Amte erneut mittelalterliche Siedlungskeramik als Hinweis auf die alte Ortslage. Ihm danke ich auch für seine Diskussionsbereitschaft sowie darüber hinaus für die Überlassung seiner Kopien von ungedruckten Urkunden.

 

4 Hermann KLEINAU, Geschichtliches Ortsverzeichnis des Landes Braunschweig. 2. Braunschweig 1968, S. 721.

 

 

 

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als befestigt zu vermutenden Herrensitzes gleichen Namens entnehmen. Nach diesem benannten sich auch seine Söhne und Enkel das 12. Jahrhundert hindurch. 1192 findet erstmals die Burg selbst anlässlich ihrer Zerstörung durch einen Sohn Heinrichs des Löwen wegen treulosen Verhaltens der Burgherrenfamilie in den Steterburger Annalen Erwähnung.5 Ähnlich nachhaltige Spuren, wie sie Gunzelin von Wolfenbüttel andernorts, besonders wohl mit der Stadtgründung von Peine, hinterlassen hat, lassen sich in Wolfenbüttel gar nicht entdecken.

 

Zu Anbeginn eine Wassermühle?

 

Sagenhaftes berichtet Karl Bege 1839 nach einer Chronik des 15. Jahrhunderts zu Wolfenbüttels Alter und Anfängen.6 Der zu Folge soll Kaiser Heinrich I. einen Schladener Vogt wegen besonderer Tapferkeit in der Ungarnschlacht belohnt haben mit dem Grafentitel und dem Zoll auf dem Damme sowie mit der Erlaubnis, dort die Burg Wolfenbüttel zu erbauen. Ebenfalls in die Zeit der Jahrtausendwende führt die von Algermann (1605) mitgeteilte Errichtung der Burg zum Schutz eines Zolles auf dem Damm, nachdem sich zuvor dort schon 1046 ein Jagdhaus des brunonischen Markgrafen Ekbert l. befunden habe.

 

Übergeht man die nach Friedrich Thönes überzeugendem Urteil pseudowissenschriftlichen Phantastereien des J. F. Roloff von 1851,7 so erweist sich Paul Jonas Meier mit seinen 1902 und 1904 erschienenen Abhandlungen als erster und einziger bisher methodisch systematisch um Anfänge und Frühzeit Wolfenbüttels ernsthaft bemühter Forscher. Seine Untersuchungen setzten freilich zunächst nicht an der Burg an, sondern an dem Ortsnamen, nach welchem sich die Stadt ja als die am weitesten südlich vorkommende Ansiedlung mit einem der Grundwort-Familie auf -büttel zugehörigen Namen präsentiert. Die Entstehung dieser Art von Namen tragender Orte meinte er für das 6. Jahrhundert annehmen zu müssen.

 

Eine Burg mit anhaftendem -büttel-Namen schloss er als genetischen Siedlungskern ebenso aus, wie ihm auch ein ehemaliges Dorf nicht erwägenswert schien. So sah er in Analogie zu dem ihm ebenfalls als einzeln gelegener Mühlenplatz entgegen tretenden Eisenbüttel an der Oker bei Braunschweig als Keimzelle Wolfenbüttels eine anfänglich allein liegende Wassermühle an der Oker an. In deren Ortsnamen erscheint das Grundwort -büttel verbunden mit dem Personennamen eines Wulfheri, den vermuteten Gründer der Mühle. Neben dieser, der dann sog. Damm-Mühle, mutmaßte er aber erheblich später die Anlage der Burg als brunonische Gründung in den Zeiten der Ungarneinfälle ... als Stützpunkt für die Verteidigung

 

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5 Eduard WINKELMANN (Übers.), Die Chronik von Stederburg (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 62). Leipzig 1941 (2. Aufl.), S. 63 (zu 1191).

 

6 Karl BEGE, Chronik der Stadt Wolfenbüttel und ihrer Vorstädte. Wolfenbüttel 1839, S. 4 ff.

 

7 J. F. ROLOFF, Geschichte und Beschreibung der Stadt Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 1851. Dazu THÖNE 1954 (wie Anm. 1) S. 32 Anm. 48a.

 

 

 

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24 Wolfgang Meibeyer

 

des Landes an der Okerquerung einer (freilich erst später bezeugten) alten Heerstraße zwischen Minden bzw. Hildesheim und Halberstadt bzw. dem mitteldeutschen Raum. Dieser sprach er darüber hinaus große Bedeutung für die Entwicklung Wolfenbüttels zu.8

 

Ungeachtet der zeitlichen Distanz von nunmehr hundert Jahren sind Methodik, Überlegungen und Thesen P. J. Meiers noch durchaus nicht ohne Bedeutung für den hier einzuschlagenden Forschungsweg. Dieser muss allerdings führen über eine kritische siedlungsgeographische Prüfung des Ortsnamens unter Einbeziehung seiner regionalen Verbreitung sowie der genetischen Struktur und Zeitstellung aller -büttel-Orte im größeren Raum. Darüber hinaus fließen in die Durchmusterung und z. T. notwendige Neuinterpretation der älteren Befunde neue Erkenntnisse unterschiedlicher Teildisziplinen ein, insbesondere der Erforschung der regionalen mittelalterlichen Kulturlandschaftsentwicklung, der natürlichen Altlandschaft und der örtlichen Topographie sowie der frühneuzeitlichen Stadtentwicklung. Auch den mittelalterlichen Kirchen- bzw. Kapellenpatrozinien ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere Herangehensweise ist raumbezogen und vielseitig-sachintegrativ.

 

Art und Alter der -büttel-Orte in Ostniedersachsen

 

Ortsnamen können wichtige Informationen über die Ursprünge von Siedlungen vermitteln. Im vorliegenden Falle gilt das weniger für das sog. Bestimmungswort, hier der Personenname eines uns unbekannten Wulfheri. Vielmehr rückt das Namensendglied, das Grundwort, den frühesten Ort Wolfenbüttel (1118: Wlferesbutle) hinsichtlich seiner Entstehungsumstände und -zeit an die Seite einer Vielzahl von anderen Siedlungen mit gleichartig durch die Verbindung von Personennamen und -büttel gebildeten Ortsnamen.9

 

Nur rund 20 km nördlich liegt im Gebiet des Papenteich zwischen Braunschweig und Gifhorn das geschlossenste Verbreitungsgebiet derartiger -büttel-Orte. Diese sind entstanden als einander in Ortsanlage und Flurverfassung sehr ähnliche Rodedörfer von anfänglich wenigen Höfen, die im Zuge einer anscheinend einheitlich durchgeführten Aufsiedlungsmaßnahme geradezu planmäßig angelegt

 

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8 Paul Jonas MEIER, Untersuchungen zur Geschichte der Stadt Wolfenbüttel. in: Jb. des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig 1 (1902) S. 1-37, S 2; DERS. (Bearb.), Die Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 1904. Zitat S. 5; DERS. (Bearb.), Niedersächsicher Städteatlas 1. Abt.: Die braunschweigischen Städte, Braunschweig-Hamburg 1926, S. 49 ff. (Wolfenbüttel).

 

9 Kirstin CASEMIR, Die Ortsnamen auf -büttel (Namenskundliche Informationen. Beihefte 19). Leipzig 1997, S. 212. S. dazu Rezension von Wolfgang MEIBEYER in: Braunschweigisches Jb. 79 (1998) S. 266-269.

 

 

 

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worden sind.10 Als „Nordwald“ bezeichnet war das Papenteich-Gebiet Ende des 10. Jahrhunderts noch als Königs- oder Reichsgut bekannt und urkundlich belegt. Auffällig ist die seinerzeitige intensive Durchsetzung dieses Siedlungsgebietes mit brunonischen Besitz- und Herrschaftsrechten,11 die auf das hochadlige Brunonengeschlecht als Träger dieser umfangreichen Siedlungsneugründungen hinweisen. Ähnliches gilt auch für Hankensbüttel in der Südheide 12 sowie für das braunschweigische Eisenbüttel, in dessen direkter Nähe und auf dessen Gemarkung das Brunonengeschlecht im 11. Jahrhundert das Cyriacus-Stift als sein Hauskloster errichtete.13

 

Aus dem regionalen Siedlungsgang im ehemaligen Nordwald bzw. späteren Papenteich wird als Zeitraum der Rodungskolonisation ‚ d. h. die Gründungszeit der dortigen -büttel-Dörfer, das 10. Jahrhundert deutlich erkennbar: Den frühesten schriftlichen Erwähnungen zu Folge ist ihr Bestehen um die Jahrtausendwende gesichert. Ihrer siedlungsräumlichen Anordnung nach sind sie aber jünger als die im 9. Jahrhundert entstandenen benachbarten Dörfer mit -rode-Namen im peripheren Bereich des alten Nordwaldes14 nördlich des Tals der Schunter. Die großzügige abschließende Aufsiedlung dieses Reichs- oder Königsforstes durch die dem Königshaus nahe stehenden Brunonen verweist dieses Kolonisations-Unternehmen in die Zeit des sächsisch-ottonischen Königtums.15 Zu eben dieser Zeit kam es den überlieferten Besitzverhältnissen nach auch zur Gründung weiterer z. T. vereinzelt liegender -büttel-Orte im östlichen Heidegebiet, z. B. im nahen Umfeld des alten billungischen Besitzzentrums Amelinghausen und zur Entstehung des beim billungischen Wichmannsburg an der Heerstraße gelegen Bienenbüttel im Bardengau.16

 

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10 Wolfgang MEIBEYER, Siedlungskundliches über den Papenteich (Schriftenreihe des Kreisarchivs Gifhorn 6). Gifhorn 1994.

 

11 Tania BRÜSCH, Die Brunonen, ihre Grafschaften und die sächsische Geschichte. Herrschaftsbildung und Adelsbewußtsein im 11. Jh. (Historische Studien 459), Husum 2000, Karte V.

 

12 BRÜSCH (wie Anm. 11.) S. 152 f.

 

13 Bernd SCHNEIDMÜLLER, Welfische Kollegiatstifte und Stadtentstehung im hochmittelalterlichen Braunschweig. In: Rat und Verfassung im mittelalterlichen Braunschweig (Braunschweiger Werkstücke A 21), Braunschweig 1986, S. 253-315, hier S. 257 und Wolfgang MEIBEYER, Siedlungsgeographische Beiträge zur vor- und frühstädtischen Entwicklung von Braunschweig. In: Braunschweigisches Jb. 67 (1986) S. 7-40, hier S. 16.

 

14 MEIBEYER (wie Anm. 10).

 

15 Die hier getroffenen Feststellungen zu Alter und Verknüpfung der -büttel-Orte mit den Grundherrschaften bzw. Siedlungsinitiativen der Brunonen und Billunger erstrecken sich ausdücklich nur auf diejenigen zwischen Wolfenbüttel und der Elbe im östlicheren Teil der Lüneburger Heide. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann nicht von einem gleichen oder ähnlichen Alter auch der übrigen -büttel-Orte etwa nördlich der Elbe sowie an Niederelbe und Weser ausgegangen werden.

 

16 Gudrun PlSCHKE, Herrschaftsbereiche der Billunger, der Grafen von Stade. Der Grafen von Northeim und Lothar von Süpplingenburg (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 29), Hildesheim 1984.

 

 

 

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Billungische Trägerschaft weist auch hier auf die ottonische Zeit des 10. Jahrhunderts als Ursprungszeit der -büttel-Orte hin.

 

Zusammenfassend gilt, dass sowohl Brunonen wie Billunger augenscheinlich ihren im ostniedersächsischen Raum während des 10. Jahrhunderts gegründeten Siedlungen bevorzugt Ortsnamen mit dem Namensendglied -büttel in Verbindung mit einem Personennamen beigelegt haben. Und diese geben sich stets als bäuerliche (Rode-)Dörfer mit weitgehend übereinstimmenden Merkmalen (z.B. schmalstreifige Langstreifen-Kernfluren) zu erkennen. Burgen oder andere Siedlungsarten - auch reine Mühlenanwesen - finden sich darunter nicht.

 

Die Brunonen gründen ein dörfliches Wolfenbüttel

 

Auf dem gesamten westlichen Ufer der Oker gibt es nur drei -büttel-Orte - und zwar jeweils einzeln für sich gelegen, ohne Nachbarsiedlungen dieser Ortsnamensfamilie. Bei zwei von ihnen, Wolfenbüttel und Eisenbüttel, ist frühe brunonische Grundherrschaft durch den 1118 bezeugten Lehnsmann Widekindus bzw. durch die engräumliche Lagebeziehung mit dem Cyriacus-Stift gewiss. Für das 1196 dem Propsteigut desselben Stiftes zugehörige Watenbüttel kann die Herkunft aus brunonischem Eigengut nur gemutmaßt, überlieferungsbedingt aber nicht letztlich nachgewiesen werden.17 Unzweifelhaft zeichnet sich jedoch erneut die auf brunonische Urheberschaft hindeutende Koinzidenz von gleichartig gebildeten -büttel-Namen und einschlägiger früher Grundherrschaft ab, welche genetische Zusammengehörigkeit dieser Orte hinsichtlich Siedlungsweise und -form sowie etwa gleicher Entstehungszeit mit jenen -büttel-Orten des unfernen geschlossenen Verbreitungsgebietes im gifhornschen Papenteich mehr als nur wahrscheinlich erscheinen lässt.

 

Demzufolge muss auch im Falle von Wolfenbüttel zunächst einmal von einem bäuerlichen Dorf als genetischem Siedlungskern ausgegangen werden, das ein brunonischer Gefolgsmann, wohl des Namens Wulfheri, im 10. Jahrhundert angelegt haben müsste. Gibt es Hinweise für die ehemalige Existenz eines solchen frühen Dorfes?

 

Dass der Ort in der schriftlichen Überlieferung augenscheinlich nicht in Erscheinung getreten ist, muss sein früheres Bestehen durchaus nicht in Zweifel ziehen. Bestandserfassungen der in früh- oder hochmittelalterlicher Zeit existierenden Siedlungen liegen nicht vor. Die Erwähnung eines Ortes in der Schriftlichkeit war fast allein vom Zufall etwa seiner Involvierung in ein zu beurkundendes Rechtsgeschäft, eine Verlehnung o. ä. abhängig. Sehr gründlich ist deswegen nach anderweitigen lndizien zu forschen, um eine Verifizierung (oder Ablehnung) für das aus der

 

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17 Herrn Prof. Dr. Bernd Schneidmüller, Bamberg danke ich für eine freundliche diesbezügliche briefliche Auskunft vom 7. Dezember 2001.

 

 

 

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siedlungsgeographischen Interpretation des Ortsnamens gewonnene Postulat einer dörflichen Ansiedlung am Anfang der Entwicklung Wolfenbüttels zu erreichen.

 

Unverzichtbar notwendige Voraussetzung für das Existieren eines bäuerlichen Dorfes - und somit auch für dessen Nachweis - ist das Vorhandensein einer Feldflur als agrarische Wirtschaftsfläche. Für das in Rede stehende Brunonendorf lässt sich eine solche tatsächlich mit dem westlichen, auf dem linken Okerufer liegenden Bereich der stadtwolfenbüttelschen Gemarkung aufzeigen. Die Ländereien gehörten im 18. Jahrhundert zum Grauen Vorwerk. Das auf dem östlichen Flussufer liegende Land hingegen entfällt auf die ehemalige Dorfsgemarkung des seit dem 15. Jahrhundert wüst liegenden Dorfes Lechede. Aus dieser gingen die Betriebsflächen für das spätere fürstliche Vorwerk Rotes Amt hervor, dessen Vorgänger - ein Vorwerk in Lechede - bereits 1373 anlässlich seiner Verpfändung als herzogliches Eigentum Erwähnung fand.18

 

Der erstgenannte westliche Gemarkungsteil wurde im 18. Jahrhundert ebenfalls überwiegend bewirtschaftet von einer herzoglichen Großlandwirtschaft, dem Grauen Vorwerk, welches im späteren 16. Jahrhundert aus der Alten Heinrichstadt (wo es nach seiner Umsetzung aus der Dammsiedlung 1530 nur wenige Jahrzehnte bestanden hatte) an den Ostrand des Fümmelser Teiches verlegt worden war.19 Sein Feldbezirk am äußersten nordöstlichen Randbereich des Oderwaldes kommt als Altflur des brunonischen Rodedorfes in Frage.

 

Dieses Gelände von der vergleichsweisen Größe einer kleineren bis mittleren Dorfsflur bindet sich östlich von Pfingstanger und Fümmelser-Teich- bzw. Mühlen-Graben-Senke ein zwischen die nördlich und südlich angrenzenden Groß Stöckheimer und Halchterer Flurbezirke.20 Von etwa 120 m Höhenlage am Oderwald fällt es nach Nordosten zunächst schnell ein und schließt erheblich flacher unter 80 m mit dem Rand der sandigen Niederterrasse unmittelbar an der nassen Okeraue ab.21 Die Bodenkartierung verzeichnet im Vergleich zu den Nachbargemarkungen mit günstigen Parabraunerde-Böden hier deutlich unvorteilhaftere Bodenverhältnisse. Es sind die auch innerhalb des Oderwaldes verbreiteten Rendzinen mit nur gering mächtiger Lössdecke über Kalkgestein, die den Flurbezirk weitflächig bedecken.22 Diese Nachteiligkeit kann sehr wohl dafür Veranlassung gewesen sein, dass das

 

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13 Hans SUDEND0RF, Urkundenbuch zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande, Bd. 4, Hannover 1864, S. 228 f. Nr. 323.

 

19 THÖNE 1963 (wie Anm. 1) S. 213.

 

20 Vgl. dazu Hermann KLEINAU (Bearb.): Karte des Landes Braunschweig im 18. Jh.‚ 1 : 25 000, Bl. 3828 Barum, 1956 und Bl. 3829 Wolfenbüttel, 1957.

 

21 Geologische Karte von Preußen und benachbarter deutscher Länder 1 : 25 000. Bl. 3828 Barum (Bearb.: F. BEHREND u. F. KÜHNE 1928) und Bl. 3829 Wolfenbüttel (Bearb.: E. HARBORT 1919).

 

22 Bodenübersichtskarte des Planungsgebietes Wolfenbüttel 1 : 50 000. Hg.: Nieders. Landesamt für Bodenforschung Hannover 1971, und Bodenkarte von Niedersachsen 1 : 25 000, Blatt 3829 Wolfenbüttel, Bearb.: H. JOISTEN, Hg.: Nieders. Landesamt für Bodenforschung Hannover 1987.

 

 

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Gelände von der Altbesiedlung in karolingischer oder früherer Zeit (Groß Stöckheim, Halchter) zunächst ausgespart wurde23 und dem natürlichen Wald noch weiterhin überlassen blieb. Demnach würde ein Ausläufer des Oderwaldes‚ die beiden Altgemarkungen voneinander trennend, bis zur Zeit der im 10. Jahrhundert angenommenen Waldrodung hier direkt an die Okerniederung herangereicht haben.

 

 

 

Abb. 1: Das Wolfenbütteler Siedlungsgebiet vor dem hohen Mittelalter

 

Arnold Beuermanns Versuch, diesen westlichen Flurbezirk als Relikt der ehemaligen Ackerfluren der wüstgefallenen Dörfer Kl. Fümmelse und/oder Gabelstöckheim anzusehen,24 kann schon wegen deren Lagebeziehung dazu gar nicht in Frage kommen. Ebenso spricht die natürliche Topographie gegen einen derartigen Zusammenhang. Ganz zweifellos liegt mit dem gesamten westlich der Oker gelegenen Teil der Wolfenbütteler Gemarkung eine ehemals gänzlich selbstständige Flureinheit vor ohne begründeten Verdacht ehemaliger Zugehörigkeit zu einer Wüstung oder zu den bestehenden Nachbarorten.

 

Aus einer Urkunde von 1301 über Besitzveränderungen bei der Marienkapelle, der Vorgängerin der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis,25 lassen sich weitere Indizien für eine von dorfsässigen Hofbauern bewirtschaftete altwolfenbüttelsche Feldflur gewinnen. Damals tauschte Herzog Albrecht vier Hufen auf der Wolfenbütteler Feldmark (quatuor mansos in campis ibidem) aus dem Dotationsbesitz der Kapelle gegen eigene Ländereien in Groß Denkte und Einnahmen in Braunschweig für sich ein. Als Veranlassung für den beurkundeten Tauscherwerb ist des Herzogs Bemühen um die wirtschaftliche Organisation und Ausstattung seines Ackervorwerks in der Vorburg auf dem Damm mit Land in der angrenzenden Feldmark anzunehmen. Einrichtung und Ausbau dieser herzoglichen Großlandwirtschaft als notwendiges Zubehör des Burghaushalts sind dem „Neuaufbau-Programm“ der befestigten Residenz ab 1283 zuzurechnen, als eine gänzlich neue Burganlage auf den Trümmern ihrer 28 Jahre zuvor bis in den Grund zerstörten Vorgängerin errichtet wurde.

 

Der Burgplatz Wolfenbüttel nebst Zubehör gelangte 1255 als welfisches Lehngut mit dem Niederkämpfen der zuvor den Asseburgern verlehnten Ministerialenburg an das Herzogshaus zurück und damit auch die westlich angrenzende Dorfsfeldmark, welche nun unmittelbar herzoglicher Grundherrschaft unterstand. Somit war dem Herzog der Zugriff auf deren Feldland durch Aufhebung hofbäuerlicher Wirtschaften

 

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23 Wolfgang MEIBEYER, Die Anfänge der Siedlungen. In: Die Braunschweigische Landesgeschichte, hg. v. Horst-Rüdiger JARCK u. Gerhard SCHILDT, Braunschweig 2000, S. 267-300, hier S. 287 ff.

 

24 Arnold BEUERMANN, Die Grundrißentwicklung von Wolfenbüttel. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt Wolfenbüttel. hg. v. Joseph KÖNIG. Wolfenbüttel 1970, S. 61.

 

25 StA Wf: 36 Urk. 1 und Philipp Julius REHTMEIER, Braunschweig-Lüneburgische Chronica, Braunschweig 1722, S. 593.

 

 

 

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(etwa Bauernlegen) und Umwandlung von deren Hufenschlagland in Herrenbreiten zugunsten seines Vorwerks grundsätzlich offen. Leider berichten die Quellen nichts darüber, ob die Einrichtung des Vorwerks wirklich erst mit der neuen Residenzburg ab 1283 erfolgte oder ob dieses noch älter ist und womöglich sogar in asseburgische Ministerialenzeit zurückreicht.

 

Hinter dem 1301 getätigten Erwerb der vier Hufen von St. Marien kann sich in Hinblick auf einen mutmaßlichen Abschluss des Landflächenerwerbs für das Vorwerk eigentlich nur die Absicht verbergen, damit alles restliche noch in fremder - hier also kirchlicher - Hand befindliche Ackerland zu erwerben, um es der eigenen Grundherrschaft einzuverleiben. Es ist davon auszugehen, dass die St. Marien-Hufen mit zuvor erworbenem Vorwerksland im Besitzgemenge lagen. Erst nach dem Erwerb auch dieses Fremdlandes wurde es möglich, über das vorgefundene, besitzmäßig stark differenzierte, aus zahlreichen langen schmalen bäuerlichen Ackerstreifen-Parzellen bestehende Besitzgefüge der Flur uneingeschränkt zu verfügen und an seiner statt nun flächig ausgedehnte Großblöcke, sog. Herrenbreiten, einzurichten, wie sie der rationellen Großlandwirtschaft eines Vorwerks allenthalben entsprachen. Langstreifige Parzellengliederung mit Besitzgemenge ist als allgemeines charakteristisches Merkmal von Kernfluren der -büttel-Dörfer auch hier legitim als ursprüngliche Flurdisposition zu unterstellen.26

 

Die vier womöglich sogar dem ursprünglichen Ausstattungsgut der Marienkapelle zugehörigen „Kapellenhufen“ können alternativ verstanden werden entweder als komplette betriebliche Einheiten, also Höfe selbständig wirtschaftender Bauern unter der Abgaben und Dienste beanspruchenden Gutsherrschaft des Kapellen-Rektors. Für ihre Hofplätze käme dann als naher Standort das Dorf Wolfenbüttel, weniger wahrscheinlich auch die Vorburg in Betracht. Andererseits konnte die Beackerung der vier Hufen aber auch unter direkter Regie des Rektors von einem (nicht überlieferten aber vorstellbaren) kapelleneigenen Wirtschaftshof aus in Fronarbeit erfolgt sein. Gleichermaßen für beide Fälle schließt die urkundliche ausdrückliche Bezeichnung des ertauschten Landes als „Hufen" den von Karl Maßberg 1927 verfolgten Gedanken aus, dass diese bei der Burg Wolfenbüttel gelegene Feldmark primär gar nicht Dorfland, sondern der Ackerbezirk eines burgzugehörigen Herrenhofes gewesen sei.27 Der Hufenbegriff steht hier in Verbindung mit der den regelmäßigen Streifengemengefluren der -büttel-Dörfer innewohnenden „ungeregelten"

 

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26 Sowohl im Papenteich als auch bei den -büttel-Dörfern im Heidegebiet lassen sich die in unmittelbarer Dorfnähe gelegenen ursprünglichen Kernflurabschnitte stets als auffallend regelmäßige schmalstreifige Langgewanne nachweisen.

 

27 Karl MASSBERG, Die ältere Flurverfassung Wolfenbüttels. In: Jb. des Braunschweigischen Geschichtsvereins 2. Folge 1 (1927) S. 5-16.

 

 

 

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30 Wolfgang Meibeyer

 

Hufenverlassung.28 Wie immer auch die Besitzentwicklung innerhalb der altwolfenbüttelschen Flur bis zu ihrer besitzeinheitlichen Zusammenfassung als Vorwerksacker abgelaufen sein mag, zu der Zeit, als die vier Kapellenhufen dem Gotteshaus von St. Marien als Dotation früher einmal beigelegt wurden, wurden diese begrifflich und quantitativ an Hand einer damals noch mindestens teilweise intakten örtlichen Hufenverfassung beschrieben. Diese setzt eine anfänglich hofbäuerliche Struktur voraus und trägt so argumentativ wirkungsvoll bei zum Nachweis der Existenz eines ehemaligen Dorfes.

 

Für den nur noch vermutbaren Standort des alten Dorfes Wlferesbutle gibt eine vergleichende Betrachtung der Platzwahl aller alten Dörfer entlang der Oker, stets gerade am Saum der hochwassersicheren Niederterrasse hart am Rande der vernässten Aue, den wichtigsten Fingerzeig. Eine platzgenaue Festlegung an Hand aktueller Topographie schließt die Übersiedelung des in Frage kommenden Gebietes gänzlich aus. Es fehlt darüber hinaus an Altkarten aus der Zeit vor den intensiven flächengreifenden Veränderungen des Geländes durch die Bastionärsbauten für die Festung im westlichen Umfeld des Schlosses während des 16. Jahrhunderts. Dort aber ist die Dorfstelle bei der Heerstraße unweit von Mühle und alter Burg in etwa zu lokalisieren. Als nur gering ist auch die Aussicht auf archäologische Nachweisbarkeit mit Hilfe siedlungskeramischer Befunde o. ä. in diesem Gelände einzuschätzen.

 

Der Okerübergang einer alten Heerstraße

 

Größeres Gewicht, als das später Friedrich Thöne 1952 gelten lassen wollte,29 kam nach Paul Jonas Meier 1902 dem Okerübergang einer Altstraße als standortlicher Voraussetzung für die Entstehung der Burg Wolfenbüttel direkt am westlichen Rand der Niederung für die Sicherung und ggf. die Sperrung des Flusspasses gegen die Einfälle nach Westen vorstoßender Ungarnscharen im 10. Jahrhundert zu.30 Derartige durch die damalige geostrategische Situation zweifellos gebotene Sicherungsvorkehrungen machte er gleichermaßen für die Entstehung der Burg Dankwarderode

 

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28 Allerdings ist das Verständnis des Begriffes mansus (Hufe) nicht gänzlich unproblematisch. Würde man nämlich die in der 1301er Urkunde genannten vier Hufen - wie das im Braunschweigischen im Spätmittelalter einzusetzen beginnt - einfach im Sinne einer Flächenangabe (zumeist 30 Morgen) verstehen, so wäre damit nichts anderes als nur die Umeignung von 120 Morgen Landes ausgesagt. In dieser Weise hat MASSBERG (wie Anm. 27) stets nur an Flächenhufen gedacht und Bauernhufen ausgeschlossen, wenn nicht Hofplätze dabei ausdrücklich Erwähnung fanden, z. B. auch bei den elf Lecheder Hufen in halberstädtischem Lehnsbesitz der Herren von der Asseburg. Andererseits kennzeichnet der Begriff der Hufe in der Urkundensprache des Mittelalters zunächst einmal die vollständige Wirtschaftseinheit eines hufenbäuerlichen (d. h. nicht kotsässigen) Betriebes und schließt somit den Hofplatz, Garten- und Wiesenflächen sowie die Allmendberechtigung etc. als selbstverständlich mit ein. Damit steht die Hufe für den Hof in seiner Ganzheit.

 

29 THÖNE 1952 (wie Anm. 1) S. 26 Anm. 124.

 

30 Die Behandlung der Ereignisse im 10. Jh. fußt hier hauptsächlich auf Hans K. SCHULZE, Hegemoniales Kaisertum. Ottonen und Salier (Siedler Deutsche Geschichte), Berlin 1991.

 

 

 

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31 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

in Braunschweig geltend. Martin Last hat darüber hinaus noch auf eine weitere als Entstehungsveranlassung der Burg in Erwägung zu ziehende Bedrohung im späteren 10. Jahrhundert, nämlich die Einfälle und Beutezüge der seit 983 aufständischen transelbischen Slawen, aufmerksam gemacht.31 Zu deren Abwehr errichtete auch der hildesheimische Bischof Bernward seine Schutzburgen an Straßenübergängen in Wahrenholz an der Ise sowie die Mundburg an der Aller.

 

Die sog. Mindener Heerstraße führte nach ihrem ostgerichteten Verlassen der Bischofsstadt Hildesheim mit einem nördlichen Zweig über Broistedt / Bleckenstedt und mit einem zweiten parallelen südlichen am Fuß der Lichtenberge entlang über Salder / Adersheim auf den Okerübergang bei Wolfenbüttel zu.32 Beide noch im 18. Jahrhundert unter der Benennung Hoher Weg bekannten Altstraßen liefen auch auf dem Westufer wieder zusammen, um östlich der Oker dann auf die von Braunschweig kommende Heerstraße nach Halberstadt / Leipzig zu treffen. Hier zweigte ein weiter in Ostrichtung über Ahlum auf das Elmgebiet zielender Weg ab, der schließlich auf Schöppenstedt und Schöningen zulief. Trotz fehlender direkter schriftlicher Datierungsbelege wird man nicht fehlgehen, mit Paul Jonas Meier den in die Heerstraßenverbindung zwischen den als Diözesanzentren seit dem frühen 9. Jahrhundert ausgewiesenen Städten Hildesheim und Halberstadt eingebundenen wolfenbüttelschen Okerübergang als bereits frühmittelalterlich gelten zu lassen.

 

Exkurs: Bornstedts „Lecheder Deiweg“ — ein zweiter Okerübergang?

 

Ehe der Verlauf der Altstraße durch die Flussaue im späteren städtischen Bereich betrachtet wird, ist zunächst auf die von Wilhelm Bornstedt 1969 aufgeworfene Frage eines möglicherweise noch älteren weiteren Okerüberganges im nahen Umfeld einzugehen. Bei seinen Untersuchungen über „Die alten Heer- und Handelsstraßen im Großraume um Braunschweig“ meinte dieser nämlich, in einer auf der Faber-Karte von 174133 zu erkennenden Furt nördlich der wüsten Dorfstelle von Lechede einen weiteren, im Verlaufe des von ihm so vermuteten uralten „Lecheder Deiweges“ liegenden ältesten Okerübergang entdeckt zu haben. Dieser soll erst mit der aufstrebenden Bedeutung von Wolfenbüttel … bedeutungslos geworden sein.34

 

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31 Martin LAST, Die Anfänge der Stadt Braunschweig. Mittelalterliche Tradition im Lichte moderner Forschung. In: Brunswiek 1031 Braunschweig 1981, Folgeband zur Festschrift. Hg. v. Gerd SPIES, Braunschweig 1982, S. 25-35.

 

32 Wilhelm BORNSTEDT, Die alten Heer- und Handelsstraßen im Großraume um Braunschweig. (Denkmalpflege und Kreisgeschichte. Landkreis Braunschweig 12). 1969, S. 30 ff.

 

33 Dieter MATTHES (Bearb.), Karte der Residenzstadt und Festung Wolfenbüttel mit Umgebung 1741. Hg. vom Niedersächsischen Landesverwaltungsamt - Landesvermessung und dem Niedersächsischen Staatsarchiv in Wolfenbüttel, Hannover 1994 (Zeichner: Ludwig August Faber).

 

34 Laut BORNSTEDT (wie Anm. 29) S. 11 werden als Dei- oder Deitwege die ältesten - wohl durchaus bis in das Vormittelalter zurückzudatierenden - Wege hier im Nordharzvorland angesehen. Das Zitat a. a. O. S. 40.

 

 

 

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32 Wolfgang Meibeyer

 

Ein womöglich sich abzeichnendes Dilemma, hier zwei eng benachbarte Okerübergänge räumlich und zeitlich miteinander und mit dem Entwicklungsgang Wolfenbüttels vereinbaren zu müssen, entfällt jedoch schon bei eingehender Überprüfung des sog. Lecheder Deiweges auf seinem von Bornstedt vorgeschlagenen Abschnitt östlich der Oker sowie der Topographie im Bereich der Furtstelle:

 

1. Gegen die Akzeptanz als Abschnitt eines uralten Deiweges spricht für die bezeichnete Wegeverbindung zwischen der angegebenen Lecheder Furtstelle und Atzum/Ahlum deren auffällig ungünstiger Verlauf in Bezug auf die natürlichen Geländeformen! Hingegen stimmt der „konkurrierende“, auf den Wolfenbütteler Okerübergang bezogene Altstraßenabschnitt (der sich noch neuzeitlich im Kartenbild des 18. Jahrhunderts35 darstellt) zwischen dem Gotteslager und Atzum geradezu optimal mit den allgemeinen Merkmalen zusammen, wie sie der Anpassung von sehr alten Straßen und Wegen an die Verhältnisse des natürlichen Reliefs und der Gewässer fast immer abzusehen sind.36 Zweifellos ist es dieser, der in der ältesten Trasse verläuft und nicht ein vermuteter „Lecheder Deiweg“.

 

2. Das als wasserburgähnliche Sicherungsanlage unmittelbar östlich (!) der Furt gemutmaßte castrum Lechede innerhalb einer teilweise verlandeten Flussschlinge (Altwasser) hat bei einer Überprüfung trotz mehrmaliger Oberflächenabsuche nach Siedlungskeramik und auch bei Sondierung mit dem Handbohrer keinerlei Spuren vormaliger Bebauung oder Besiedlung überhaupt erbracht.37

 

3. Die Ausrichtung der Furt sowie der hohlwegartigen Senke (S. 31) auf den okerwestlichen Juliusdamm und den Juliusweg lenkt die Aufmerksamkeit auf die von Friedrich Thöne 1952 angemerkte Sperrung der Dammfestung für jeden Durchgangsverkehr aus Furcht vor Ausspähung der Festung durch Herzog Julius.38 Die mit dem herzoglichen Namen versehenen obengenannten Verkehrsanlagen offenbaren sich einschließlich der Furt als erst damals offiziell eingerichtete Verkehrsumleitung nördlich um die unzugängliche Zitadelle herum.

 

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35 KLEINAU (wie Anm. 20) Bl. 3829 Wolfenbüttel.

 

36 Karl-Geert KÜCHENBECKER, Die geschichtliche Entwicklung der Fernwege im südöstlichen Niedersachsen unter Berücksichtigung ingenieurmäßiger Gesichtspunkte. Diss. TU Braunschweig 1969.

 

37 Die Geländeuntersuchungen erfolgten durch den Verfasser in den Wintermonaten 1997/98

 

38 THÖNE 1952 (wie Anm. 1) S. 26 Anm. 124.

 

 

 

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33 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

Wilhelm Bornstedts Postulat eines weiteren vor- oder frühmittelalterlichen Okerübergangs bei Lechede mit östlicher Fortführung als Deiweg oder Altstraße in Richtung auf Atzum darf somit als gegenstandslos angesehen werden.

 

Ein Nachvollziehen des Heerstraßenverlaufs im Zuge ihrer eigentlichen Durchquerung der Okerniederung. d. h. im Gebiet der später bebauten Stadt, kann nur bei einer Zusammenschau mit den natürlichen topographischen Verhältnissen der Altlandschaft zum Erfolg führen. Die Breite der sumpfigen Okerniederung beträgt zwischen den der geologischen Karte 1:25 000 (ergänzt durch Profile von Bodenbohrungen39 und aktuelle Geländebeobachtung) zu entnehmenden Rändern der trockenen sandig-kiesigen eiszeitlichen Niederterrassen auf der West- und auf der Ostseite in Höhe des Stadtmarktes ungefähr 600 m. Ca. 2,5 m tiefer als die Ränder der Terrassen liegt dazwischen eingebettet die von Harzhochwässern in alter Zeit häufig heimgesuchte Niederung als Flussaue mit einer aktuellen Minimalhöhenlage von etwa 76 m.40 Auffällig ist eine Talsandinsel auf der östlichen Niederungsseite etwa zwischen Stobenstraße und Echternstraße von gerade einmal bis 200 m Breite. Bohrungen zu Folge besteht diese schildartige, langgestreckte Höheninsel aus holozänen schluffig-sandigen sowie stellenweise morastigen Auesedimenten.41 Eine schmale, wohl nur zeitweilig von Hochwässern durchflutete natürliche Senke im Verlauf von Okerstraße und nördlicher Fischerstraße trennte diese Insel in der Niederung von der östlichen Niederterrasse. Heinrich d. J. führte durch diese Senke einen Kanal und verband ihn als künstlichen Befestigungsgraben seiner Neustadt mit der fließenden Oker. Damit finden auch die Namen der unmittelbar neben dem (inzwischen längst zugeschütteten) Gewässer entlang laufenden Fischerstraße und Okerstraße ihre heute nicht mehr augenscheinlich nachvollziehbare Erklärung.

 

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39 Herrn Thiele, Leiter des Baudezernats der Stadt Wolfenbüttel, bin ich zu herzlichem Dank verbunden für die Einsichtnahme und Überlassung von Bohrprofilen aus dem Bereich der südlichen Innenstadt.

 

40 Als topographische Unterlagen für das engere Stadtgebiet dienten die folgenden vier Blätter der Deutschen Grundkarte 1:5000: 3829-6 Wolfenbüttel-Auguststadt (Ausg. 1961). 3829-7 Wolfenbüttel-Juliusstadt (Ausg. 1966), 3829-11 Wolfenbüttel—Weiße Schanze (Ausg. 1968), 3829-12 Linden (Ausg. 1965).

 

41 Dieser Befund stimmt im wesentlichen mit den Grabungsbeobachtungen überein von Hartmut RÖTTING, Zur Archäologie der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. In: Die Hauptkirche Beatae Maria Virginis in Wolfenbüttel (Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen 4), Hannover 1987 S. 79-90, hier S. 80. Freilich ist zu betonen, dass der unter der heutigen Kirche (Bau III) sich andeutende Standort der ältesten Marienkapelle (Bau I) (ungeachtet des ca. 1 m betragenden Bodenauftrags wohl beim Bau des noch heute bestehenden Kirchenbaues) auch zur Zeit ihrer Entstehung schon an der höchsten Stelle des Geländes gewählt wurde. Herr Professor Rötting hat das mündlich bestätigt.

 

 

 

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34 Wolfgang Meibeyer

 

 

 

Abb. 1 (Wdhl.): Das Wolfenbütteler Siedlungsgebiet vor dem hohen Mittelalter

 

 

 

 

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35 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

Der ständige, auch zu hochwasserfreien Zeiten Wasser führende Hauptlauf der Oker verlief schon während des Mittelalters am westlichen Rand der Niederung, wo er mit zwei Mäanderbögen in den Körper der Niederterrasse unmittelbar eingriff und als Uferbereich eine Folge von nassen Einbuchtungen und trockenen Terrassenvorsprüngen geschaffen hatte. Die schon mittelalterliche Verortung dieses Hauptlaufes wird nicht nur mit der Bezeugung der Wassermühle nachgewiesen.42

Auch die Zuordnung aller sakralen Einrichtungen in der Dammsiedlung zur halberstädtischen Diözese, deren westliche Grenze gegen das hildesheimische Bistum auch hier der Okerlauf bildete, bestätigt diesen westlich der Dammsiedlung.

 

 

Abb. 2: Die Bistumsgrenzen im Untersuchungsgebiet

 

 

Die von Westen herankommende Heerstraße wird den Okerlauf anfänglich vermittels einer Furt, später über eine Brücke bei der Wassermühle gequert haben. Über die damit wohl in Verbindung stehende Dammaufschüttung lief sie zunächst weiter in etwas südöstlicher Richtung, wie dieses eine Pforte am östlichen Rande der Dammsiedlung festgelegt zu haben scheint,43 auf der vermutlich das spätere Dammtor beruht. So wurde der alte Verlauf der Straße auf dem Damme gleichsam „konserviert“.

 

Erst viel weiter östlich an der „Okerstraßen-Senke“ zwischen der Insel in der Niederung und der östlichen Terrassenkante kommt wieder ein Hinweis auf den Verlauf der Heerstraße durch die frühere Benennung der Lohenstraße als Nikolausdamm44 zu Tage. Demnach überwand sie von Osten her die schmale natürliche Senke mit Hilfe einer künstlichen Anschüttung,45 eben des Nikolausdamms, und gelangte so auf die Höheninsel. Zwischen deren westlichem Rand und der östlichen Pforte der Dammsiedlung galt es dann noch einiges an Niederung zu überwinden. Dieses Gebiet (etwa der späteren Zimmerhöfe und des Stadtmarktes) verlor seinen Charakter als Bruchlandschaft erst mit dem großzügigen Bau von Kanälen und Festungsgräben sowie der Zuschüttung der letzten dort erwähnten Sümpfe und Teiche gegen Ende des 16. Jahrhunderts.46 Eine Überdämmung konnte hier wegen der für Okerhochwässer unverzichtbaren Durch- und Abflussbahnen nicht in Betracht kommen. Spuren des Altstraßenverlaufs sind dort in keiner Weise aus der Topographie mehr zu entnehmen.

 

Ziemlich gewiss ist hingegen eine Ausrichtung der Furtüberquerung von der Dammpforte auf den Straßenbogen der Krambuden (nahelegt auch durch das spätere dort befindliche Löwentor)47 und die weitere Wegführung etwa im Zuge der

 

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42 Wie oben Anm. 8.

 

43 THÖNE 1954 (wie Anm. 1) Abb. 4.

 

44 S. oben Anm. 33.

 

45 Mechthild WISWE, Die Wolfenbütteler Straßen- und Flurnamen. ln: Braunschweigisches Jb. 51 (1970), S. 160-197, hier S. 183.

 

46 THÖNE 1954 (wie Anm. 1) S. 42 ff.

 

47 THÖNE 1954 (wie Anm. 1) S. 39.

 

 

 

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36 Wolfgang Meibeyer

 

 

Abb. 3: Das Wolfenbütteler Siedlungsgebiet vor dem hohen Mittelalter unterlegt mit Herzogl. Braunschw. Landesaufnahme 1 : 10000, Blatt Wolfenbüttel (1903)

 

 

 

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37 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

westlichen Langen Herzogstraße. Als nämlich mit der Wall- und Grabenbefestigung der Neustadt vor 154248 der Nikolausdamm als östlicher Abweg der Heerstraße von der Talsandinsel durch den neuen Befestigungs-Wassergraben parallel zur Okerstraße unterbrochen wurde, musste auch der von der Dammsiedlung in Richtung Osten und Süden strebende Fernverkehr nunmehr die junge Neustadt durch das neue Alte Tor in zunächst nördlicher Richtung verlassen. Die damals darauf zuführende Straße Am alten Tore kann dann nicht weit entfernt von ihrem Zusammentreffen mit der (allerdings erst unter Herzog Julius so disponierten) Langen Herzogstraße von dem alten Heerstraßenverlauf abgezweigt worden sein.

 

Es zeigt sich, dass der in der Niederung gelegenen Talsandinsel für den alten Okerübergang anscheinend erhebliche Bedeutung zukommt und dass diese eine besondere Gunstsituation bei der Überwindung der Niederung, wahrscheinlich gerade auch zu Hochwasserzeiten, dargestellt haben muss. So ist sie gewiss als der entscheidende Faktor für die Herausbildung der im Laufe der Zeit konsolidierten Okerquerung im Verlaufe des Altstraßensystems zu betrachten.

 

Alter und Zweckbestimmung der Burg

 

Die örtliche topographische Lage der Burg wurde augenscheinlich von dem noch bestehenden Mäanderbogen des Okerlaufs vorgegeben, welcher einen Niederterrassensporn des Westufers im Osten und Norden umfließt. So ergibt sich eine natürliche Schutzlage gegen Osten für die von Westen her in die Niederung vorgeschobene Befestigungsanlage. Unmittelbar nördlich der Burg liegt der Flussübergang der Altstraße wohl seit frühester Zeit kaum oder nur wenig verändert und direkt daneben die mittelalterlich bezeugte Damm-Mühle. Da die Stammburg der brunonischen Herren von Wolfenbüttel mit dem Erbe Richenzas über Lothar von Süpplingenburg an die Welfen gelangte, ist ihr ein vor das 12. Jahrhundert zurückreichendes Alter mit Gewissheit zuzubilligen.

 

 

Die Untermauerung von P. J. Meiers zweifellos plausibler These, sie als „Heinrichsburg“ mit Bezug auf die Ungarneinfälle im dritten und vierten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts49 anzunehmen, bedarf freilich weiterer Stützung. Kaum unmittelbar Hilfreiches tragen die von Karl Bege 1839 referierten sagenhaften Gründungserzählungen dazu bei, wenngleich dieser Art von Überlieferung mitunter durchaus ein wahrer Kern innezuwohnen scheint.

 

Sehr viel eher leisten allerdings die u. a. im Pfründenverzeichnis von Herzog Friedrich (1388-1400)50 aufgeführte Kapelle des Hl. Longinus in dammone prope Wulferbutle

 

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48 Sehr hilfreiche Informationen sind dem mehrfach publizierten Holzschnitt des Lucas Cranach von der Belagerung der Stadt 1542 hinsichtlich des fortgeschrittenen Ausbaues der Heinrichstadt sowie der Befestigungsanlagen zu entnehmen, u. a. bei MEIER 1904 (wie Anm. 8)

 

 

Abb. 4: Lucas Cranach 1542 (Ausschnitt)

 

49 MEYER 1904 (wie Anm. 8) S. 5.

 

50 SUDENDORF (wie Anm. 18) Bd. 6, Hannover 1867, S. 260 f. Nr. 237: Verzeichnis der Pfründen im Herzogthume Braunschweig ... 1388 bis 1400.

 

 

 

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38 Wolfgang Meibeyer

 

und die des Hl. Laurentius ibidem bzw. deren Schutzpatrozinien einen Beitrag zur Datierung von Vorburg und Burg in das 10. Jahrhundert. Beide Kapellen sind ebenso wie auch die dritte im wolfenbüttelschen Siedlungsgebiet‚ die auf der Niederungsinsel prope Wulferbutle liegende Kapelle Sanctae Mariae Virginis, kirchenrechtlich von der St. Stephans-Pfarrkirche im benachbarten Lechede abhängig. Wie die in den Cronecken der Sassen aus dem Jahr 1381 berichteten Ereignisse51 zeigen, besaß bemerkenswerterweise die Burg auf dem Westufer der Oker (also im Unterschied zur Dammsiedlung-Vorburg nicht auf halberstädtischem sondern eigentlich auf Hildesheimer Diözesanboden gelegen!) selbst damals noch keine eigene Sakralstätte innerhalb ihrer Mauern. Daher mussten die Herzöge dem Gottesdienst in der Longinus-Kapelle beiwohnen. Diese fungierte somit offensichtlich gleichzeitig auch als Schlosskapelle. Ihren Standort hat Friedrich Thöne überzeugend auf dem östlichen Okerufer in der Dammsiedlung ganz nahe der Burg auf dem Gelände des späteren „Kleinen Schlosses“ nachgewiesen.52 Nicht bekannt ist hingegen der ehemalige Standort der Laurentius-Kapelle auf dem Damme.

 

Im Unterschied zu dem häufiger verbreiteten Kirchen- und Kapellen-Patrozinium des Hl. Laurentius kommt das der burgnahen Kapelle anhaftende Schutzpatronat des Hl. Longinus nur äußerst selten vor.53 So muss es umso mehr eine Überraschung bedeuten, dass sich hier in der Dammsiedlung zwischen den Patrozinien der einzigen beiden Gotteshäuser eine auffällige Gemeinsamkeit herausstellen lässt, die über bloße Zufälligkeit weit hinausgeht. Sowohl der Hl. Longinus als auch der Hl. Laurentius erscheinen als Tagesheilige von Kalendertagen, an denen hoch bedeutende Ereignisse während der Ungarnkämpfe des 10. Jahrhunderts stattgefunden haben. Die große Popularität des Hl. Laurentius als Schutzpatron bei vielen Kirchenneugründungen in ottonischer Zeit reflektierte die Dankbarkeit der Gläubigen bzw. der Kirchenstifter für die Gewährung des triumphalen Sieges über das bedrohliche große Ungarnheer in der Lechfeldschlacht bei Augsburg am 10. August 955.

 

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51 BEGE (wie Anm. 6) S. 16f. und THÖNE 1963 (wie Anm. 1) S. 15 greifen das von REHTMEIER (wie Anm. 25) S. 661 berichtete Ereignis auf, das in St. Longinus seinen Anfang nahm, während die Herzöge Otto und Friedrich dort gemeinsam am Gottesdienst teilnahmen. Friedrich verließ wegen vorgetäuschten Nasenblutens übereilt die Kapelle, um sich -— nach Überqueren der Oker (!) — durch eine vorbereitete List der Burg zu bemächtigen, die ihm sein Vetter Otto vorenthalten hatte.

 

52 Friedrich THÖNE, Die Wolfenbütteler weihten dem hl. Longinus eine Kapelle. In: Wolfenbütteler Zeitung. 158. Jgg. 1955 Nr. 83 (Zeitungsausschnitt in StA Wf.‚ 278 N 41 [Nachlass Thöne]

 

53 Hans-Walter KRUMWIEDE, Die mittelalterlichen Kirchen- und Altarpatrozinien Niedersachsens, Göttingen 1960. Das Longinus-Patrozinium wird hier überhaupt nachgewiesen, in Wolfenbüttel sowie in einer Kapelle vor dem Wendentor zu Braunschweig. Das Laurentius-Patrozinium erscheint 88mal im Register. Im Ergänzungsband zu Krumwiedes Verzeichnis, Göttingen 1988, erscheint das Longinus-Patrozinium außerdem für das Stift St. Blasius in Braunschweig und für St. Nicolaus in Gifhorn belegt. Alle niedersächsischen Longinus-Belege stammen erst aus dem 14. und 15. Jh.

 

 

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39 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

Sehr häufig sind diesem Heiligen bald nach 955 gestiftete Gotteshäuser bevorzugt als Schutzpatron anvertraut worden, sodaß sich mit seinem für diese damalige Zeit hoch aktuellen Patronat geradezu eine Datierungsmöglichkeit nicht nur für die Sakralstätte selbst, sondern darüber hinaus auch für neue Ansiedlungen bzw. Siedlungsausbau gewinnen lässt. Heinz Stoob hat so z. B. in Salzwedel die Burgkapelle bzw. den ottonischen Markt in einen überzeugenden Datierungszusammenhang mit dem Laurentius-Patronat zu stellen vermocht.54

 

Am Tage des Hl. Longinus, dem 15. März, wurde im Jahre 933 unter König Heinrich I. die Ungarngefahr durch den Sieg bei Riade, wohl an der Unstrut in Thüringen, nach wiederholter Heimsuchung auch des Nordharzvorlandes zunächst einmal beendet. Erst zu Zeiten Ottos I. traten sie bis zu ihrer endgültigen Besiegung 955 wieder auf den Plan.

 

Will man eine aus solcherart für die Zeitgenossen hoch bedeutsamen Ereignissen herrührende zeitgebundene Aktualität bei der Anwendung von Kapellen-Patrozinien auch im vorliegenden Falle gelten lassen, so ist damit ein wichtiger zeitlicher Ansatz für die Stiftung der Longinus-Kapelle auf dem Damm bei Wolfenbüttel gewonnen, nämlich für das Jahr 933 oder sehr bald danach.55 Nachdrücklich sei auf die enge standortliche Nachbarschaft zwischen dieser und der Burg hingewiesen!

 

Die unter grundsätzlich ähnlichen Vorbedingungen, aber erst nach 955 mögliche Stiftung einer zweiten, diesmal dem Hl. Laurentius nach dem anderen großen Ungarnsieg geweihten Kapelle bietet sich geradezu an, nicht nur den allgemeinen Entstehungszeitraum beider Gotteshäuser im 10. Jahrhundert überhaupt zu untermauern, sondern sogar zu präziseren Datierungsvorstellungen zu gelangen. Denn wenn es nach 955 auf dem Damme zur Stiftung einer „aktuellen“ Laurentius-Kapelle kam, so setzt die zeitliche Folge der Kriegsereignisse zu eben jener Zeit bereits das Bestehen der Longinus-Kapelle mit ihrem ja ca. zwei Jahrzehnte zuvor aktuellem Patrozinium voraus. Deren frühere Entstehung bald nach 933, aber noch vor dem Sieg von 955, würde zudem recht gut auch die im Vergleich zur Laurentius-Kapelle (allerdings erst im 14. Jahrhundert erkennbar werdende) örtlich höhere Rangstellung der Longinus-Kapelle als erstes Gotteshaus am Ort aus ihrem

 

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54 Heinz STOOB, Salzwedel. In: Deutscher Städteatlas, Lfg. III Nr. 8. (Veröff. des Instituts für vergleichende Städtegeschichte), Münster (Westf.) 1984. Vgl. allgemein Lorenz WEINREICH‚ Laurentius-Verehrung in ottonischer Zeit, in: Jb. für die Gesch. Mittel- und Ostdeutschlands 21 (1972) S. 45-66, hier S. 60 ff.

 

55 Die von Hermann KUHR, Die Entwicklung der Marienkapelle zur Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. In: Die Hauptkirche (wie Anm. 41), S. 31-38, hier S. 32, erst für 1315 als wahrscheinlich angenommene Stiftung von St. Longinus beruht offenbar auf einem Irrtum. Denn der nur im Kopialbuch des Herzogs Wilhelm d. Ä. überlieferte Urkundentext (s. oben Anm. 2) ist von jüngerer Hand zwar übertitelt mit Fundatio Ecclesie S. Longini in Wulfenbuttel, ohne dass sich jedoch im Urkundentext ein Hinweis auf einen Stiftungsvorgang findet. Stattdessen ist nur von Dotationsgut die Rede.

 

 

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40 Wolfgang Meibeyer

 

höheren Alter heraus erklären können. Diese dokumentiert sich in der unmittelbar burgnahen Lage bzw. der damit verbundenen Funktion als quasi Burgkapelle (1381) und ihrer daraus wohl resultierenden auffällig günstigen Ausstattung und personellen Besetzung (1315).56

 

 

Abb. 3 (Wdhl.): Das Wolfenbütteler Siedlungsgebiet vor dem hohen Mittelalter (Ausschnitt)

 

So scheint die Errichtung der Longinus-Kapelle als frühestes Gotteshaus bald nach 933 auf dem Damme östlich der Oker evident. Nur die Burg selbst kann den notwendigen Anknüpfungspunkt für die Kapelle bzw. für die Dammanschüttung überhaupt dargestellt haben. Sie muss zu jener Zelt also bereits bestanden haben. Wenn nicht gar ihr selbst, so wird zumindest dem Burgherrn eine wichtige (Mitwirkungs- ?) Beziehung zu den Ungarnkämpfen zuzuschreiben sein. Wie würde sonst das auffällige Nebeneinander ausgerechnet der Tagesheiligen der beiden bedeutendsten Ungarnsiege als Schutzpatrone der damals wohl noch einzigen beiden Gotteshäuser am Ort zu erklären sein?

 

An unbekannter Stelle, aber ebenfalls auf dem Damme, errichtete man dann nach 955 die Laurentius-Kapelle. Damit ist auch ein allmähliches Gestaltannehmen der Vorburg bzw. Dammsiedlung ins Auge fassen. Paul Jonas Meiers alte These von einer Heinrichsburg als Schutzanlage hier am Okerübergang findet in alledem ihre weitgehende Verifizierung. Es ist verständlich, dass König Heinrich um eine Sicherung aller Straßenübergänge über die sumpfigen Niederungen der südnördlich verlaufenden Flusstäler zur Abwehr der von Osten andrängenden Ungarnscharen bemüht sein musste. Die dafür notwendigen Sperrburgen wurden angesichts wohl zu befürchtender erneuter Ungamvorstöße anscheinend in großer Eile nach Erlaß der Burgenbauordnung 926 unter gezielter Ausnutzung günstiger natürlicher Geländebedingungen errichtet. Wie bei Wolfenbüttel so wird dieses auch in Braunschweig deutlich, wo eine ähnliche Schutzposition im westlichen Niederungbereich als Burgplatz unweit der Okerquerung gewählt wurde.57 Bemerkenswerterweise vermisst man jedoch in beiden Fällen eine genuine namentliche Benennung der Burganlagen. Jedesmal übernahmen erst in der Folgezeit die Burgen den Ortsnamen des jeweils nächst gelegenen (und aufgelassenen!) Dorfes Wolfenbüttel bzw. Dankwarderode.

 

Die Burgenbauordnung König Heinrichs I. von 926 als genetisches Band von Burg und Dorf

 

Der Datierungsansatz für den Siedlungsanfang herausgearbeiteten frühen Dorfsiedlung Wolfenbüttel führt im Einklang mit dem der übrigen -büttel-Dörfer in das 10. Jahrhundert, also in auffällige zeitliche Nähe zur Entstehungszeit der Heinrichsburg während der Ungarneinfälle. Eine präzisere zeitliche Festlegung der

 

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56 S. oben Anm. 2.

 

57 MEIER 1904 (wie Anm. 8) und MEIBEYER (wie Anm. 13), S. 20 ff.

 

 

 

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41 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

Dorfgründung erscheint mit siedlungsgeographischen Mitteln nicht erzielbar. Wohl aber stellt sich die Frage nach einer möglichen zeitlichen Koinzidenz bzw. genetischen Beziehung der Entstehung von Burg und Dorf.

 

Es liegt ein exemplarischer Vergleichsfall dafür offensichtlich vor in dem Heidedorf Hankensbüttel. Kr. Gifhorn.58 Dort kam es während derselben Zeit (unter brunonischer Grafschaft!) auf der west- bzw. südlichen Seite des aufgedämmten Niederungsüberganges zweier gebündelter Altstraßen zur Gründung einer Siedlung, welche aus einem wahrscheinlich befestigten Herrenhof mit angrenzendem Kirch- und Begräbnisplatz und unmittelbar daneben liegendem bäuerlichen Dorf bestand. Die Gleichzeitigkeit von Dorf und festem Herrenhof (auf dem später die niederadlige Familie von Hankensbüttel nachweisbar wird) erhellt hier aus dem Flurgefüge und der Lagebeziehung der ältesten Feldbezirke beider Siedlungsteile zueinander. Die gesamte Siedlungsanlage deutet einen von ihrer Gründung her ganz offensichtlich beabsichtigten Verbund des zur Straßensicherung bestimmten Herrenhofes einerseits und der bäuerlichen Siedlung andererseits an. Deren Bewohner können als waffenfähige Bauern für die Bemannung des festen Herrenhofes im notwendigen Falle ebenso zu denken sein, wie sie auch für dessen Versorgung und Bewirtschaftung in Frage kommen.

 

Die topographischen, zeitlichen und strukturalen Merkmale dieser in einer Siedlungseinheit verbundenen Funktionen von Straßensicherung und Bauerndorf stimmen unter wesentlichen Aspekten mit den bei Wolfenbüttel vorgefundenen überein und darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer gemeinsamen brunonischen Grundherrschaft. Vielleicht etwas kühn, aber sicher nicht unberechtigt wird die Frage zu stellen sein, ob und in wie weit hinter diesen so beobachteten einander zeitnahen Siedlungsprozessen sich womöglich Maßnahmen oder Auswirkungen der 926 von König Heinrich I. erlassenen Burgenordnung abzeichnen können.

 

Widukind von Corvey berichtet im ersten Buch seiner Sachsengeschichte über den eiligen Burgenbau während des zwischen dem König und den Ungarn ausgehandelten neunjährigen Waffenstillstands. Es hatte jeder neunte der milites agrarii (wörtl.: Bauernkrieger, Wehrbauern) burgsässig zu werden und für gemeinsame feste Unterkunft darin durch Ausbau oder Bau zu sorgen. Den anderen acht oblag als Landbau Treibenden die Versorgung ihres Genossen sowie die Verproviantierung der Burg.59

 

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58 Wolfgang MEIBEYER, Wann entstand das alte Hankensbüttel, und wie sah es aus? In: 950 Jahre Hankensbüttel. Hankensbüttel 2001‚S. 17-30.

 

59 Albert BAUER und Reinhold RAU (Bearb.)‚ Widukinds Sachsengeschichte. In: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit 8. Darmstadt 1990, S. 68 f., und Martin LAST, Burgenbauordnung Heinrichs l. In: Lexikon des Mittelalters 2, München-Zürich 1983. S. 1003 f. Vgl. jetzt Ernst SCHUBERT, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. In: Geschichte Niedersachsens begründet von Hans PATZE 2. Bd., Teil 1, Hannover 1997, S. 115-117.

 

 

 

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42 Wolfgang Meibeyer

 

Wie wird man damals an Standorten dringlich zu errichtender neuer Schutzburgen (etwa an sicherungsbedürftigen Fluss- und Niederungsübergangen) ohne bereits bestehende Dörfer in der engeren Nachbarschaft vorgegangen sein? Unter sinngemäßer Beachtung der Burgenbauordnung dürfte an solchen Plätzen nicht nur eine Burg entstanden sein, sondern es musste auch die Gründung einer unverzichtbaren wehrbäuerlichen „Auxiliar-Siedlung“, d. h. eines Bauerndorfes aus wilder Wurzel, d. h. durch Neurodung, erfolgen. Hankensbüttel scheint genau ein Beispiel dafür zu sein.

 

Im Falle von Braunschweig konnte das seit dem 9. Jahrhundert auf dem westlichen Okerufer bestehende Dorf Dankwarderode diese auxiliare Funktion wohl mit übernehmen. Am Okerübergang von Wolfenbüttel fehlte ein solches nahe gelegenes Dorf. Dort reichte der Oderwald ja noch direkt bis an die Oker heran. Die nächst gelegenen Dörfer auf dem Westufer, Groß Stöckheim und Halchter, befanden sich jeweils mehr als einen km entfernt. Somit kam nicht nur allein die Errichtung der Burg selbst, sondern gleichzeitig auch die Gründung des notwendigen Wehrbauern-Dorfes daneben in Betracht. Die dafür benötigte Feldflur ließ sich durch Rodung des verbliebenen Oderwald-Forstabschnitts zwischen den Feldbezirken von Groß Stöckheim und Halchter gewinnen. Wenn dieses Szenario historische Wirklichkeit zu reflektieren vermag, wird von einer verbundenen Gründung von Burg und Dorf Wolfenbüttel bei einem Datierungsansatz dafür mit dem Jahr 926 oder sehr bald danach auszugehen sein.

 

Schon Hermann Adolf Lüntzel 1837 ist das auffallend viele Reichsgut in dem alten Leragau westlich der Oker aufgefallen.60 Er führte dieses auf einen sehr alten unbesiedelten Grenzforst zurück, welcher sich westlich der Oker als schon vorfränkische wichtige Gaugrenze hinzog und erst in fränkischer Zeit entlang dem Fluß teilweise mit Dörfern besetzt wurde. Der Oderwald als Rest dieses Altforstes lässt sich ebenso wie die bewaldeten Höhenzüge östlich der Oker nach der karolingisch-fränkischen Besitzergreifung Sachsens begründet in Königsbesitz mutmaßen.61 Aus diesem scheint ganz ähnlich wie bei den auch im gifhornschen Nordwald auf Königsgut unter brunonischer Beteiligung vorgenommenen weitläufigen Kolonisationsmaßnahmen im 10. Jahrhundert der für den Wolfenbütteler Ackerbezirk zu rodende Boden zu Gunsten derselben brunonischen Grundherrschaft ausgegrenzt worden sein.

 

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60 Hermann Adolf LÜNTZEL, Die ältere Diözese Hildesheim 1837, S. 174

 

61 Gustav SCHMIDT (Bearb.)‚ Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe Bd. 1, Leipzig 1883, Nr. 58: Kaiser Otto III. Schenkt 997 dem Bischof Arnulf und seinen Nachfolgern den Bann über die Wälder Hakel, Huy, Fallstein, Asse, Elm und den Nordwald.

 

 

 

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43 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

Lechede - das wüst gewordene Pfarrdorf in der Nähe

 

Ergänzend zum Ablauf der Ereignisse im eigentlichen Wolfenbütteler Siedlungsgebiet ist noch der Blick zu richten auf das wenig entfernte alte Pfarrdorf Lechede. Eine von Wilhelm Bornstedt postulierte, als Lecheder Deiweg benannte Altstraße samt Okerübergang unweit nördlich der 1974 durch Klaus-Walther Ohnesorge erneut bestätigten wüsten Dorfstelle Lechedes hat sich, wie oben gezeigt, östlich der Oker nicht aufrecht erhalten lassen. Auch als theoretischer Standort einer auf den tatsächlichen, etwas südlicher gelegenen Wolfenbütteler Okerübergang orientierten Sicherungsburg konnte das Dorf nicht in Frage kommen. Seine „falsche“ Lage auf dem östlichen Okerufer würde es selbst sowie eine dortige Befestigung unnötig direkter Gefährdung von Osten nahender Ungarnbedrohung ausgesetzt haben. Entsprechendes ist gegen Bornstedts Hypothese eines castrum Lechede — ebenfalls östlich der Oker — geltend zu machen.

 

Es ist sehr zweifelhaft, ob sich hinter dem nur zweimal, 1304 und 1311, erwähnten castrum62 eine wirkliche Wehranlage verbirgt, oder ob in Übereinstimmung mit K.-W. Ohnesorge nicht vielmehr an einen allenfalls eingefriedeten Steinbau als Wohnsitz eines Zweiges der Familie von der Asseburg zu denken ist,63 den diese erst nach Verlust ihrer welfischen Lehen sowie ihrer Burg auf der Asse 1258 hier auf halberstädtischem Lehnsbesitz, also ausserhalb welfischen Zugriffs eingerichtet haben dürfte.64 Einem Vergleich mit der ja den Asseburgern bis 1255 gehörenden festen Wasserburg Wolfenbüttel hinsichtlich Standortwert kann ein castrum hier nicht standhalten. 1373 hatten die Herzöge Lechede bereits erworben, wie die Verpfändung eines dortigen herzoglichen Vorwerks deutlich macht.65 Anscheinend war der Wüstungsprozess des Dorfes bereits in fortgeschrittenem Stadium und die Bewohner schon teilweise auf die Dammsiedlung vor der Burg Wolfenbüttel abgezogen. Die Herzöge hatten das Land für ihr neues Vorwerk an sich gebracht, und 1469 lag Lechede vollends wüst.66

 

 

Abb. 5: Das Wolfenbütteler Siedlungsgebiet im späten Mittelalter

 

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62 J. von BOCHOLTZ-ASSEBURG (Bearb), Asseburger Urkundenbuch Bd. 2. Hannover 1887, Nr. 593 und Nr. 706.

 

63 OHNESORGE (wie Anm. 3 ), S. 30 f.

 

64 Walter ZÖLLNER, Die Urkunden und Besitzaufzeichnungen des Stifts Hamersleben (1108-1462) (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte 17), Leipzig 1979, S.323, schreibt zwei in der Zeugenliste einer Urkunde von 1147 genannte Personen Liudolfus de Lechethe und Bernhardus de alio Lechethe dem wüsten Lechede bei Wolfenbüttel zu. Aus den Forschungen von Gerhard TADDEY, Das Kloster Heiningen von der Gründung bis zur Aufhebung. (Veröff. des Max.-Planck-Instituts für Geschichte 14 )‚ Göttingen 1966, S. 42. lässt sich jedoch erkennen, dass es sich bei dem einen Lechethe um Lengde, Kr. Goslar. und bei dem anderen um das nahe dabei gelegene wüste Kl. Lengde handelt. Eine Familie von Lechede (bei Wolfenbüttel) hat es nicht gegeben und somit auch keinen älter bezeugten festen Wohnsitz einer solchen im Dorfe Lechede.

 

65 S. oben Anm. 18.

 

66 KLEINAU (wie Anm. 4) S. 366.

 

 

 

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44 Wolfgang Meibeyer

 

Die zuvor mit zwei Geistlichen versehene Pfarre der Stephanskirche in Lechede wurde schon 1395 personell reduziert.67 1460 war ihr Bedeutungsverlust so weit fortgeschritten, dass der Halberstädter Bischof restlich verbliebenen Lechedern den Empfang der Sakramente in der St. Longinus-Kapelle auf dem Damme und das Begraben ihrer Toten bei St. Marien zugestand.68 Beide Wolfenbütteler Gotteshäuser erfuhren damit eine bedeutende Aufwertung auf Kosten ihrer alten Mutterkirche. Anders als im kirchlichen Bereich sind hingegen irgendwelche siedlungsgenetischen Beziehungen zwischen dem Dorf Lechede und Wolfenbüttels Burg- und Dammsiedlung in mittelalterlicher Zeit nicht zu erkennen.

 

Drei Wolfenbütteler Kapellen an den Bistumgrenzen

 

Ungewiss bleibt, weshalb eigentlich die eindeutig auf dem westlichen Okerufer, auf hildesheimischem Diözesangrund also, angelegte Burg- und Dorfsiedlung nicht auch kirchenrechtlich diesem Bistum zugeordnet wurde, an Stelle ihrer tatsächlich erfolgten Angliederung an Halberstadt. Den entscheidenden Ausschlag dafür hat offenbar die Platzwahl für die Longinus-Kapelle auf dem Damme, nämlich östlich der Oker, gegeben, welche standortgemäß somit unstreitig der halberstädtischen Diözese zugehörte und in deren nächst gelegene zuständige Parochie Lechede einzupfarren war. Das lässt annehmen, dass Burg und Dorf anfänglich keine eigene Sakralstätte vor dem Entstehen der Longinus-Kapelle als ältestem Gotteshaus des gesamten wolfenbüttelschen Siedlungsgebildes besessen haben.

 

Alter und Entstehungsumstände von St. Longinus und St. Laurentius lassen sich wie gezeigt aus der Untersuchung ihrer Patrozinien wahrscheinlich machen. Daneben zeichnet sich die beschriebene Funktion von St. Longinus als quasi Burgkapelle in ihrer Lagebeziehung zur Burg sowie durch ihre auffällig reichliche Dotation und personelle Besetzung ebenso ab, wie auch die persönliche Teilnahme der Herzöge 1381 am Gottesdienst in ihren Mauern dafür spricht. Die Longinuskapelle kann als die bedeutendste Sakralstätte des mittelalterlichen Wolfenbüttel gelten, wohl bald schon versehen mit Aufgaben einer Pfarrkirche für die Dammsiedlung.69 Nach ihrem Abbruch sind leider ebenso wie von St. Laurentius keinerlei bauliche Relikte erhalten geblieben.70

 

Welche Bedeutung wird nun dem dritten wolfenbüttelschen Gotteshaus, der Kapelle von St. Marien, anfänglich zugekommen sein? Sie ist auf der Höheninsel

 

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67 Gustav SPIES, Geschichte der Hauptkirche B. M. V. in Wolfenbüttel (Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte 7), Wolfenbüttel 1914, S. 4 f.; OHNESORGE (wie Anm. 3) S. 31.

 

68 SPIES (wie Anm. 67), S. 5; KUHR (wie Anm. 55) S. 34

 

69 SPIES (wie Anm. 67) S. 5 referiert eine Urkunde von 1460, in der die Abhaltung von Gottesdiensten in der Longinuskapelle für die Pfarrkinder des Dorfes Lechede genehmigt wird.

 

70 THÖNE 1963 (wie Anm. 1) S. 212.

 

 

 

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45 Burg und Siedlung im frühen Mittelalter

 

umgeben von Niederungsgebiet angesiedelt, deren höchst gelegene Stelle man augenscheinlich für ihren Standort ausgewählt hat. Der ursprüngliche Verlauf der Altstraße berührte sie nicht unmittelbar. Dieser ist etwas weiter nördlich auf Höhe der Lohenstraße (Nikolausdamm) anzunehmen. Paul Jonas Meiers 1904 geäußerter Versuch, die Kapelle im Zusammenhang mit dem Okerübergang als Betstätte für Reisende auf der Altstraße zu erklären, steht damit eher auf schwankendem Boden.

 

Wahrscheinlicher als diese Hypothese scheint der von Hermann Kuhr 1987 angedeutete Gedanke, ihre primäre Anlage womöglich im Zusammenhang mit einem Begräbnisplatz für Burg, Dorf und Dammsiedlung zu sehen. Denn für einen Gottesacker war angesichts naheliegender räumlicher Beengtheit auf dem aufwendig anzuschüttenden Dammgebiet sicherlich zu wenig Platz im engeren Umfeld von St. Longinus vorhanden. Als wenig günstig für einen Begräbnisplatz muss auch der sehr nasse Untergrund angesehen werden. Die natürliche, sandig-schluffige Höheninsel in der Niederung bietet hingegen östlich der Oker innerhalb des Pfarrbezirks der halberstädtischen Mutterkirche den nächst gelegenen höheren, wenigstens halbwegs trockenen Grund für Bestattungen.71

 

 

Abb. 6: Urkunde von 1301 (s. Anm. 25)

 

Wann freilich die erst 1301 erstmalig schriftlich bezeugte Kapelle tatsächlich errichtet bzw. das christliche Gräberfeld angelegt wurde, ließ sich den nur wenigen von Hartmut Rötting 1987 ergrabenen mittelalterlichen Bestattungen unter der Kirche Beatae Mariae Virginis nicht absehen.72 Immerhin deutet eine auch für St. Marien zutreffende ungewöhnlich gute Dotierung neben hochrangiger geistlicher Besetzung während des Mittelalters auf Einflussnahme und Beteiligung des Herzogshauses von der Burg Wolfenbüttel aus hin. Ein Zurückreichen von St. Marien in vorherzogliche Zeit braucht damit aber keineswegs ausgeschlossen werden.73

 

 

Ein Rückblick

 

Der hier vorgelegte Versuch einer Rückführung der frühesten Anfänge Wolfenbüttels auf die Gründung einer Straßensicherungs- und -Sperrburg am westlichen Rand des Okerüberganges im Gefolge der Burgenbauordnung König Heinrichs I. ab 926 in Verbindung mit einer kleinen dörflichen Ansiedlung sehr wahrscheinlich wehrfähiger Bauern für Versorgung und Besetzung der Burg während der Ungarnkriege stellt sich als interdisziplinär fundiertes hypothetisches Konstrukt dar.

 

Soweit sich dieser Rekonstruktionsversuch auf gesicherte historische Quellen und Überlieferungen beruft, ist anzumerken, dass diese unvermeidlich aus erst erheblich

 

71 RÖTTING (wie Anm. 41) S. 80 weist auch unter der Hauptkirche bzw. der ehemaligen Marienkapelle auf die Beobachtung eines für einen Begräbnisplatz noch auffallend hohen Grundwasserspiegels hin.

 

72 Urkunde von 1301 s. Anm. 25. Als Begräbnisplatz ist die Marienkapelle in einer Urkunde von 1460 bezeugt, s. oben Anm. 69.

 

73 KUHR (wie Anm. 51) S. 32 f.

 

 

 

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46 Wolfgang Meibeyer

 

späterer Zeit stammen als die mit ihrer Hilfe rekonstruierten Vorgänge und Zusammenhänge. Darin ist eine nicht zu leugnende empfindliche Schwachstelle zu erblicken. Vorsichtig kritische Analogien mussten daher bisweilen die Aufgabe von „missing links“ übernehmen.

 

Andererseits konnten freilich auch nicht aus der historischen Rüstkammer stammende wichtige Hilfsmittel von anderen fachlichen Bereichen her eingebracht werden, welche es aufzubereiten, zu interpretieren, zeitlich retrospektiv einzuordnen und mit den historischen Gegebenheiten relevant zu verknüpfen galt. Dazu gehören in erster Linie Forschungserkenntnisse aus siedlungsgeographisch gewonnenen topographisch-genetischen Analysen, aus historisch-räumlichen Einschätzungen sowie aus der siedlungskundlichen Ortsnamenforschung. Nicht zuletzt ist an Regional- und Ortsrelevantes von Seiten der Geologie, Bodenkunde und Hydrogeographie und natürlich der (Alt-)Kartographie zu denken.74 Die mittelalterlichen Kapellen-Patrozinien eröffneten darüber hinaus ganz unerwartete Einblicke.

 

Es ist damit ausdrücklich keine Einschränkung der dargelegten Ergebnisse gemeint, wenn abschließend betont wird, dass eine allerletzte Sicherheit für die ausgebreiteten Erkenntnisse nicht besteht und — angesichts einschlägiger Quellenarmut — auch kaum jemals erreicht werden kann! Vieles wird — bildhaft gesprochen — nur in sehr groben Konturen gezeichnet Gültigkeit haben. An Details und Farben ist kaum zu denken. Wo unerschütterliche Beweiskraft nicht aufzubringen ist, werden Schlüssigkeit des Diskurses und Plausibilität der erzielten Ergebnisse zu Prüfstein und Wertmesser für deren Akzeptanz und Gültigkeit.

 

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74 Weitere Hinweise auf entsprechende methodische Vorgehensweisen bei Georg NIEMEIER, Der Landschaftstest. Siedlungs- und agrargeschichtliche Daten. In: Zs. Für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 16 (1968) S. 16-35.

 

 

 

Quelle:

 

VORTRAG von Prof. Wolfgang Meibeyer auf einer FABL-Veranstaltung am 02.05.2017 in Wolfenbüttel

 

Diese Forschungsergebnisse Prof. Wolfgang Meibeyers sind ebenfalls in folgendem Sammelband erschienen:

AUF DEM WEG ZUR HERZOGLICHEN RESIDENZ

WOLFENBÜTTEL IM MITTELALTER

Herausgegeben von ULRICH SCHWARZ

2003 Appelhans Verlag Braunschweig S. 21-46

 

Prof. Meibeyer sei an dieser Stelle ein Dank ausgesprochen für die Überlassung seines Vortragsmanuskripts einschließlich seiner Zeichnungen und des Kartenmaterials sowie für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf der Internetseite http://kaiserdom-koenigslutter.info zum FABL-Material unter Wolfenbüttel.

 

 

FABL-Exkursion Belgien 2015

Bruessel Atomium (FABL-Exkursion 2015)
Bruessel Atomium (FABL-Exkursion 2015)

 

Nähere Informationen sind unter http://www.fabl.de/exkursionen.htm zu finden.

 

Ausstellungsdämmerung! Die Landesausstellung "Roms vergessener Feldzug. Die Schlacht am Harzhorn"

Die Erarbeitung der Landesaustellung zu der bedeutenden Fundstelle der römisch-germanischen Schlacht am Harzhorn ist in vollem Gange. Am 07.02.2013 schilderte Wolf-Dieter Steinmetz das "Making of" eines derartigen internationalen Projektes.

 

Begleitende Bemerkungen zur kommenden Ausstellung "Roms vergessener Feldzug" (ab September 2013 im Braunschweigischen Landesmuseum) sind auch zu finden unter:

http://www.zeitwanderer.de/mythos_und_logos/regionalgeschichte/2013/seiten/germanen02.html

http://www.roemerschlachtamharzhorn.de

 

 

 

Gastvortrag Dr. Michael Geschwinde am 25.02.2015 (Archäologie am Mittwoch in der Kanzlei)

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Kleiner Flieger liefert Fotos vom Grabungsgelände

Karl Schmidt (Mitte) mit dem Fluggerät, auf dem eine Kamera installiert ist. Daneben Regine und Wolf-Dieter Steimetz. Foto: B. Meyer
Karl Schmidt (Mitte) mit dem Fluggerät, auf dem eine Kamera installiert ist. Daneben Regine und Wolf-Dieter Steimetz. Foto: B. Meyer


Unterstützung für die Archäologen
Göddeckenrode (bum): Das Grabungsteam an der jungbronzezeitlichen Burganlage bei Göddeckenrode erhielt jetzt Unterstützung aus der Luft. Karl Schmidt aus Achim ließ seinen Multicopter, ein Fluggerät, über das archäologische Grabungsgelände der Wehranlage fliegen und machte damit Luftbildaufnahmen. „Eine gute Ergänzung zu unseren anderen Dokumentationen“, erklärte der Archäologe Wolf-Dieter Steinmetz. Schmidt baute den kleinen Flieger mit vier Propellern im Jahre 2012. „Die Nutzlast beträgt 500 Gramm“, informierte der Fachmann und Tüftler über seine Flugmaschine, die 15 Minuten lang fliegen kann.

Veröffentlicht in:
Halberstädter Tageblatt vom 12.08.2013
Foto: Bernd Uwe Meyer

Grabungsteam findet 3200 Jahre alte Bronzegussform

Archäologie sieht Beweis, dass in der Jungbronzezeit auf Wehranlage bei Göddeckenrode Bronze gegossen wurde

Von Bernd-Uwe Meyer
Göddeckenrode. „Unser Helfer Reinhard Laskowski hat heute etwas ganz Besonderes gefunden“, berichtete Bärbel-Regine Steinmetz am Sonntag erfreut. Steinmetz ist Vorsitzende der Freunde der Archäologie im Braunschweiger Land, die seit 2006 nahe Göddeckerode auf dem Gelände einer jungbronzezeitlichen Wehranlage graben.
In einem Graben, der zur ersten befestigten Burganlage aus der Zeit um 1200 vor Christus gehört, lag etwa zwei Meter unter der Erdoberfläche eine steinerne Bronzegussform. „Gussformen aus Ton gibt es in Europa häufiger, aus Stein sind sie sehr selten“, betonte der Archäologe Wolf-Dieter Steinmetz, der sich ebenfalls riesig freute. Begeistert zeigte der Archäologe auf die erkennbaren Ringe und kleine Einguss-Öffnung für den Bronzeguss.
Der herausragende Fund ist eine Gussform für Ringschmuck oder eine Ringnadel gewesen. Mit derartigen Nadeln haben die Menschen vor etwa 3200 Jahren, ähnlich wie mit einer Fibel, ihre Kleidung zusammengehalten. Der Restaurator Sven Spantikow wird im Museum „Archäologie in der Kanzlei“ in Wolfenbüttel unter einem hochwertigen Mikroskop vorsichtig Schicht für Schicht abtragen und den seltenen Fund reinigen. „Vielleicht befinden sich noch Bronzereste in der Gussform“, hofft Grabungsleiter Steinmetz.
Nicht weit vom Fundort ist eine rötliche Brandstelle im Erdboden erkennbar. Hier könnte sich ein Rennofen, also eine Vorrichtung zum Gewinnen von Eisen aus aus Eisenerz, befunden haben. Deshalb muss diese Stelle noch näher erforscht werden.
Bald werden auch die Reste der im vergangenen Herbst entdeckten Torkonstruktion untersucht. „Wir haben große Hoffnungen, dass weitere außergewöhnliche Funde ans Tageslicht kommen“, betonte der Grabungschef, als er nach seinen Worten einen der „tollsten Funde, die im Laufe der Grabung ans Tageslicht kamen“, mehreren Helfern zeigt.
In den vergangenen Jahren fanden die Ehrenamtlichen einige Bronzereste. „Sie lagen hauptsächlich am Kultstein“, erklärte Wolf-Dieter Steinmetz. Seit Sonntag gibt es den sicheren Beweis, dass auf dieser Wehranlage Bronze gegossen worden ist. Von ähnlichen Gussformen aus Stein sind aus ganz Norddeutschlang nur wenige Exemplare bekannt. Eine davon haben Archäologen auf dem nicht weit entfernten Gelände vor der Hünenburg bei Watenstedt geborgen.
Die erste befestigte Anlage gab es bei Göddeckenrode/Isingerode vom 12. bis 10. Jahrhundert vor Christi in der jüngeren Bronzezeit. Nach zwei Zerstörungen durch Feuer errichteten die Bewohner um 900 vor Christus erneut eine Burg. Es erfolgten wieder zwei gewaltige Feuer-Zerstörungen.
Während der frühen Eisenzeit (7. / frühes 6. Jahrhundert vor Christi) bauten die Menschen eine vollkommen neue Wehranlage. Ohne erkennbaren Grund endet die Besiedlung in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor Christi. Nach einer weiteren Siedlungsunterbrechung entstand etwa 20 vor bis 20 nach Christus eine Grenzburg der Hermunduren.


Veröffentlicht in:
Halberstädter Tageblatt vom 25.06.2013 (Foto: Bernd-Uwe Meyer)


Man lernt das Land neu kennen

Exkursion „Germanen im Braunschweiger Land“ begeisterte:
„Man lernt das Land neu kennen“
Zu einer informativen Exkursion „Germanen im Braunschweiger Land“ hatten die Freunde der Archäologie im Braunschweiger Land eingeladen. Vorsitzende Bärbel-Regine Steinmetz und der Archäologe Wolf-Dieter Steinmetz begrüßten 50 Interessierte.
In Gielde am „Hetelberg“ informierte der Archäologe über die Siedlung der römischen Kaiserzeit und Merowingerzeit (1. bis 7. Jh. n. Chr.), den Eisen-Verhüttungsplatz und weitere Fundorte.
Zu weiteren interessanten Stationen gehörte der „Erbbrink“ am südlichen Dorfrand von Seinstedt. Hier hat Dr. Franz Niquet zwei kleine Gebäude aus dem 1. bis 2. Jahrhundert nachgewiesen. Die germanische Siedlung auf einer langgestreckten Bodenwelle parallel zum „Großen Bruch“ bestand in den ersten vier Jahrhunderten nach Christus.
Auf dem „Erbbrink“ fanden die Forscher Keramik von Freihand und Drehscheibenware. An Haustieren wurden hier am Rande des „Großen Bruchs“ das Rind, Schwein, Schaf, Ziege, Pferd und Hund nachgewiesen. „Oft lebten die Germanen in Einzelgehöften, sonst in drei bis vier Gehöften mit 60 bis 80 Menschen“, beantwortete Archäologe Steinmetz eine Frage. „Man lernt das Land neu kennen, alles ist interessant und wunderbar“, betonte Anton Seidl aus Linden während der Exkursion. „Sehr spannend. Man sieht die Heimat mit ganz anderen Augen“, hob Ingeborg Bolluk, Groß Denkte, hervor.

 

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Spannend ging es oberhalb von Isingerode am Rande der jungbronzezeitlichen Wehranlage weiter. „Heute interessiert uns hier die Germanenzeit“, erklärte W.-D. Steinmetz. Nach einer längeren Siedlungsunterbrechung wurde die Wehranlage erneut ausgebaut. „Germanen der späten Eisenzeit nutzten die verkehrsgeographischen und strategischen Vorteile“, erklärte der Archäologe. Nach seinen Worten sei die genaue Datierung „durch die exzellente Fundlage“ möglich. Diese Grenzburg der Hermunduren bestand ungefähr von 30/20 vor bis 10/20 nach Christus. Das Stammesgebiet erstreckte sich um den Ostharz herum. Die germanischen Cherusker siedelten weiter westlich, die Langobarden nördlich. „Unklar ist, ob Grenzstreitigkeiten germanischer Fürsten oder eine Beziehung zu den Römerkriegen der Jahre 12 vor bis 16 nach Christus zum Bau dieser Burg führten“, hob Wolf-Dieter Steinmetz hervor. „Die Exkursion ist sehr spannend. Alles wird gut erklärt“, betonten Heike und Siegbert Berger aus Hornburg. Der Abschluss der gelungenen und sehr interessanten Exkursion fand im Museum „Archäologie in der Kanzlei“ in Wolfenbüttel statt.

Bernd-Uwe Meyer


Veröffentlicht in:
Wolfenbütteler Schaufenster  Nr. 6a/35.Jg.  Mittwoch, den 13.02.2013  S.4

 

 

Eine außergewöhnliche Frau! Steinzeitfunde von der Königspfalz Werla

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Neue Sonderausstellung ist informativ, übersichtlich und gelungen:
Steinzeitfunde von der Königspfalz
Wolfenbüttel. Die Sonderausstellung „Eine außergewöhnliche Frau! Steinzeitfunde von der Königsptalz Werla“ wurde am Freitag zu später Stunde im Museum „Archäologie in der Kanzlei" in Wolfenbüttel eröffnet. Die Direktorin des Braunschweigischen Landesmuseums, Dr. Heike Pöppelmann, begrüßte am Eröffnungsabend zahlreiche Gäste. Sie dankte dem Archäologen Wolf - Dieter Steinmetz und seinem Team für die gründlichen Vorbereitungen und den Aufbau dieser gelungenen Sonderausstellung. Alle am Aufbau Beteiligten haben sehr gute Arbeit geleistet; denn die Ausstellung mit ihren übersichtlich angeordneten Steinzeitfunden wurde sehr gut konzipiert. Große Schautafeln mit verständlichen Erläuterungen informieren über die bedeutungsvollen Funde.
Der Bezirksarchäologe Dr. Michael Geschwinde („Was ist das für eine Frau?“), Museumsleiter W.-D. Steinmetz und die betreuende Osteologin und Anthropologin Dr. Silke Grefen-Peters informierten vor einem Rundgang alle Besucher über die ungewöhnlichen Funde. lm September 2010 stießen Studenten des Historischen Seminars der Universität Braunschweig unter der Leitung von Dr. Geschwinde bei der Freilegung eines mittelalterlichen Gebäudes auf einen sehr bedeutungsvollen und ungewöhnlichen Fund, zu dem u. a. große Amphoren und Henkelkrüge der „Baalberger Kulturgruppe“ (1. Hälfte 4. Jahrtausend v. Chr.) gehören. Plötzlich entdeckten die Ausgräber am Westrand der untersuchten Grube ein vollständiges Skelett. Hierbei handelt es sich um eine etwa 1,50 m große Frau, die in ihren Armen ein drei bis vier Jahre altes Kleinkind hielt. Ihr Alter wird bisher auf 40 bis 55 Jahre geschätzt. Silke Grefen - Peters informierte: „Es ist eine außergewöhnliche Bestattung in gestreckter Rückenlage. Es gibt viele Rätsel. Wir rnüssen herausfinden, weshalb so viele Gefäße dabei sind, ob es die Mutter oder Großmutter ist und was den Tod der beiden Personen verursachte."
Laufende Forschungen sollen offene Fragen und Geheimnisse klären. Das außergewöhnliche Frauengrab aus der Zeit zwischen 3900 und 3500 v. Chr. befand sich „offenbar inmitten eines Siedlungsareals“ an der Grenzlinie größerer Kulturregionen.
Zum Schluss, nach der gelungenen Eröffnungsveranstaltung, luden FABL- Helfer (Freunde der Archäologie im Braunschweiger Land) mit ihrer Vorsitzenden Bärbel Regine - Steinmetz zu einem Umtrunk ein. Die Öffnungszeiten in der Kanzleistraße 3 (Archäologie in der Kanzlei): Mi., Do. und So. 10 bis 17 Uhr sowie Di. und Fr. 10 bis 13 Uhr. Mo. und Sa. geschlossen. Tageskarte/ermäßigt 4 Euro/3 Euro. Kinder (6-14Jahre): 2 Euro. „Ein Ende dieser Ausstellung wurde noch nicht festgelegt“, informierten Heike Poppelmann und Wolf - Dieter Steinmetz. Sie kann mindestens ein halbes Jahr lang angesehen werden. Ein Museumsbesuch lohnt sich.     bum

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Veröffentlicht in:
Wolfenbütteler Schaufenster  vom 09.12.12

FABL-Event in Isingerode

Foto aus Wolfenbütteler Schaufenster Nr. 31a / 34.Jg. 01.08.2012
Foto aus Wolfenbütteler Schaufenster Nr. 31a / 34.Jg. 01.08.2012

 

lsingerode. Bei lsingerode wird im Bereich einer jungbronzezeitlichen Wehranlage geforscht. Helfer
der Freunde der Archäologie im Braunschweiger Land (FABL) mit Vorsitzender Bärbel-Regine
Steinmetz und dem Archäologen Wolf-Dieter Steinmetz graben in diesem Jahr an den
Wochenenden unregelmäßig. Spannend wurde es an einer Stelle, die der Restaurator Sven
Spantikow mit Helfern untersuchte. Hier kamen mehrere Bruchstücke von unterschiedlichen
Haushaltsgefäßen ans Tageslicht. lm Erdboden befinden sich dort Rinder-Langknochen. Davor liegt
ein Unterkiefer vom Schwein. Die Anthropologin Dr. Silke Greven-Peters untersuchte diesen beson-
deren Fund. „Diese Knochen wurden von den Menschen als Kulthandlung für die Götter niederge-
legt“, erklärte Wolf-Dieter Steinmetz. Der bedeutungsvolle kultische Fund wird mit einer
Gipsschicht als Block geborgen und ins Museum nach Wolfenbüttel gebracht. Dort werden die
Knochen konserviert.

Quelle: Wolfenbütteler Schaufenster Nr. 31a / 34. Jahrgang  01.08.2012

 



Gelungener Flohmarkt im Museum Archäologie in der Kanzlei am 30.11.12

Flohmarkt im Museum Archaeologie in der Kanzlei Wolfenbüttel

Gelungener Flohmarkt im Museum
Wolfenbüttel. Einen reichhaltig bestückten Flohmarkt veranstalteten am Freitag die „Freunde der Archäologie im Braunschweiger Land“ (FABL) im Museum an der Kanzleistraße. Besucher aus dem gesamten Landkreis und anderen Orten erwarben u. a. Schalen, Stofftiere, Bücher und Weihnachtsschmuck. Der Erlös wird für die Grabungen der jungbronzezeitlichen Wehranlage bei Isingerode verwendet. „Wir benötigen neue Planen zum Abdecken der Funde und Spitzkellen, weil die sich schnell abnutzen“, erklärte Vorsitzende Bärbel-Regine Steinmetz, die den zahlreichen Besuchern dankt.

B.-U.M./Foto: Bernd-Uwe Meyer

 

Wolfenbüttel in der Vorweihnachtszeit 2012

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Der ehemalige Wolfenbütteler Bibliotheksdirektor Professor Paul Raabe wird heute 75 Jahre alt

Ein Geistesleben voller Neuanfänge
Der ehemalige Wolfenbütteler Bibliotheksdirektor Professor Paul Raabe wird heute 75 Jahre alt

Von Andreas Berger
Ein Mann von der Energie Paul Raabes muss schon zweimal in den Ruhestand gehen, bevor er sich wirklich die Zeit nimmt, sein eigenes Leben zu leben. Was aber, so deutet sich in unserem Gespräch aus Anlass seines heutigen 75. Geburtstags schon an, ohnehin wieder in wissenschaftlicher Arbeit bestehen würde, in kleinen Aufsätzen zu verstreuten Themen, die er wegen seiner umfassenden beruflichen Bindungen hat liegen lassen.
Als Professor Raabe 1992 zum ersten Mal in den Ruhestand ging, konnte er als Direktor der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek bereits auf eine ansehnliche Lebensleistung zurückblicken. Dank seiner Initiative wurde die einst von Lessing geleitete Bibliothek seit 1968 zu einer internationalen Forschungsstätte für die europäische Kulturgeschichte der Neuzeit ausgebaut. Als eine der fünf deutschen Nationalbibliotheken wuchs sie zu einer kleinen „Republik des Geistes“, die er später unter dem Zonenrand-Spitznamen „Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland“ im Buch beschrieb.

Aufbauarbeit in Halle

Der mit dem Großen Bundesverdienstkreuz, der Ehrendoktorwürde der TU Braunschweig, der Universitäten von Krakau und Halle sowie der Ehrenbürgerwürde Wolfenbüttels urıd, ganz neu, Halles ausgezeichnete Offizier des Pariser Ordre du Mérite hat sich aber noch ein zweites Mal zu einer eindrucksvollen Aufbauleistung angespornt. Als (ehrenamtlicher) Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale besorgte er nach der Wende, die er kritisch als „Vereinigung zweier entfremdeter deutscher Staaten“ bezeichnet sehen will, dass dieses von einem pietistischen Unternehmer gegründete Ensemble aus kulturellen und sozialen Einrichtungen nicht zerfiel.
100 Millionen Mark sammelte er dafür in zehn Jahren, bei Bund und Stadt, Land Sachsen-Anhalt, Sponsoren und Mitgliedern des von ihm gegründeten „Freundeskreises der Franckeschen Stiftungen“. Und musste mit ansehen, wie ihm die Treuhand gerade die finanzstarken Bestandteile wie Landwirtschaft und Apotheke ausverkaufte. Trotzdem konnte er 2000, als er auf Hans-Dietrich Genschers Platz als Kuratoriumsvorsitzender der Stiftungen wechselte und damit in den zweiten Ruhestand ging, das weitläufige historische Ensemble saniert hinterlassen. Die drei Säulen der Stiftung sind wieder intakt: die Wissenschaft mit Fakultäten der Luther-Universität; die Kultur mit eigenem Veranstaltungszentrum; das Soziale mit drei Schulen, Kindergarten, einem Bauhof für arbeitslose Jugendliche. 500 Mitarbeiter, dazu 3000 junge Leute beschäftigen die Stiftungen.
Die Zeit in Halle, über die sein jüngstes Buch „In Franckes Fußstapfen“ reflektiert, hat den Büchermenschen Raabe verändert. Die Studienjahre an der Hamburger Universität galten den deutschen Klassikern und endeten mit der Promotion über Briefe Hölderlins. Im Literaturarchiv Marbach bearbeitete er vor allem die Expressionisten. Er reiste viel und traf im Exil Max Brod und Oskar Maria Graf, die Witwen von Hasenclever, Sternheim und Benn, gab Alfred Kubins Zeichnungen heraus. Und in Wolfenbüttel wurden Aufklärung und Barock wie natürlich sein Thema. „Das waren die Jahre im Elfenbeinturm, aber in Halle trat die soziale Wirklichkeit an mich heran", erzählt er.

Stete Selbstausbildung

Thierses Wort, dass die Gesellschaft im Osten zu kippen droht, ist wohl leider richtig", sagt Raabe. „Jeden Tag gehen aus Halle 30 junge Leute weg - immer die besonders tüchtigen.“ Die Wirtschaftskraft sei viel zu gering. „Man hätte damals ein Aufbauministerium einrichten müssen.“ In der Freizeitindustrie und im Kultursektor sieht Raabe dagegen für den Osten große Chancen. „Ich habe daher jetzt für den Bundeskulturbeauftragten ein Blaubuch mit den kulturellen Leuchttürmen der neuen Bundesländer erstellt.“
Die gegenwärtige Spaßgesellschaft, die Verflachung in den Medien ist für einen Mann wie Raabe, der in aufklärerischer Tradition die stete Selbstausbildung übte, alarmierend. „Der Fachkräftemangel ist die direkte Folge davon.“ Der gebürtige Oldenburger hatte, weil die früh verwitwete Mutter wenig Geld hatte, zunächst eine Bibliotheksausbildung gemacht und arbeitete während seines Studiums in Hamburg weiter 48 Stunden wöchentlich irı der Oldenburger Bücherei (wo er auch seine spätere Frau Margarethe ausbildete). Dieser Leistungswille, dieser Mut zum Aufbruch sei jetzt leider wenig verbreitet. „Ich habe meinem Leben immer wieder neue Anfänge gegeben“, resümiert Paul Raabe.
Wenn er jetzt, nach 15 Jahren, endlich seine Pflicht gegenüber einem dänischen Freund erfüllt und seinen Teil des Briefwechsels Hans Christian Andersens mit einer Oldenburger Leserin herausgibt, kehrt er gewissermaßen an seinen Ursprung zurück. Aber das expressionistische Feuer aus Marbacher Tagen flackert auch noch: „Über diese Lebensphase müsste ich eigentlich auch noch ein Buch schreiben.“

Professor Paul Raabe in seiner Wolfenbütteler Wohnung.    Foto: Klaus Lehmann

Quelle: Braunschweiger Zeitung,  Donnerstag, 21. Februar 2002

Lessings Wiederentdeckung des Manuskripts "Theophilus Presbyter: Schedula diversarum artium" in der HAB

Das älteste unter den bekannten, und jedenfalls das wichtigste Manuscript des berühmten mittelalterlichen Tractates befindet sich in der grossherzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, daher genannt Codex Guelpherbytanus. Die erste Erwähnung desselben gibt vielleicht Henricus Cornelius Agrippa in dessen Schrift: ,,De incertitudine et vanitate scientiarum" (Antwerpen, 1530)

Der Codex Guelpherbytanus ist durch Lessing wiederentdeckt worden, der ihn zuerst benützte, um die Stellen über Oelmalerei, welche sie enthält, für seine Schrift: „Vom Alter der Oelmalerey aus dem Theophilus Presbyter, 1774“ zu verwenden, in welcher er bekanntlich dem Jan van Eyck die ihm von Vasari beigemessene Erfindung streitig machte. Seine Dissertation findet sich im achten Bande der vermischten Schriften der Berliner Ausgabe von 1771—1794, 30. vol. in 12, pag. 353 ff., in der Göschen‘schen (Leipzig, 1841, in einem Bande, pag. 844 ff.), in der Lachmann‘schen IX. Band, pag. 463. Während in dieser Dissertation aber nur einige Capitel dem Wolfenbüttler Manuscript entnommen sind, beabsichtigte der Verfasser nach ihrem Erscheinen den Text des Codex, sowie des unterdessen ihm bekannt gewordenen Leipziger herauszugeben, an welchem Vorhaben der Tod ihn hinderte. Doch waren die Vorarbeiten schon theilweise beendet, und es fand sich in Christian Leiste ein Vollender des Begonnenen. Im Jahre 1781 erschien unter dem Titel: „Zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ von Gott. Ephr. Lessing, Braunschweig, in 8°, tom. VI., pag. 289—424, die Frucht dieser vereinten Mühe. Die Recension des Textes für diese Ausgabe rührt von Lessing‘s Hand her und zeichnet sich durch grosse Correctheit aus. Nach Agricola gelangte das Manuscript in den Besitz des Marquardus Gudius, wie die gegenwärtige Bezeichnung : Nr. 69 Gud. noch ausweist. Der alte Katalog in 4° führt sie als die 249. unter den lateinischen Handschriften der Wolfenbüttler Bibliothek auf, der andere, ebenfalls gedruckte in 8°, als die 238. Im gedruckten Verzeichnisse der Manuscripte des Gudius wurde aber sie anzugeben übersehen, woraus sich ihre Verschollenheit bis zur Zeit der Lessing‘schen Entdeckung erklärt.

Das Wolfenbüttler Manuscript ist eines der vollständigsten. Vom ersten Buche fehlt nur das Schlusscapitel (XLV. dieser Ausgabe), De incausto; in dem zweiten hat es jene Lücke, welche sämmtliche bisher bekannt gewordenen Abschriften zeigen, es mangeln nämlich die vier, zwischen XI. und XII. gehörenden Capitel über die Erzeugung färbiger Gläser; im dritten Buche reicht die Handschrift bis zum LXXX. Capitel inclusive, De organis.

Nach G. Voss (Bau- und Kunst-Denkmäler Thüringens, Heft XLI, Jena Verlag von Gustav Fischer 1917, Seite 166) ist der Klosterkünstler Theophilus, der diese Anweisungen für Künstler niedergeschrieben hat, mit Roger von Helmarshausen identisch. Er war Hauptmeister der blühenden Klosterwerkstatt in Essen und Benediktinermönch. In seinen Vorschriften für die Künstler hat er einen zusammenfassenden Rückblick auf die Klosterkunst des 11. Jahrhunderts gegeben. Er arbeitete in einer Kunst, „die in der verfeinerten Griechenkunst ihr Vorbild verehrte“. Seine Kenntnisse beruhen daher wesentlich auf byzantinischen Vorbildern.

Nach Wikipedia lebte Roger von Helmarshausen 1070 bis 1125. Aus der Reichsabtei Stablo-Malmedy auf dem Gebiet des heutigen Belgiens wechselte er 1100 zu St. Pantaleon (Köln) und war ab 1107 im Kloster Helmarshausen.

 

 

Hier eine Leseprobe der Anweisungen für Künstler als Übersetzung aus dem Lateinischen der Schedula diversarum artium I. Band:

 

 

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ERSTES BUCH.

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Vorwort.

 

Schritt für Schritt wird eine jegliche Kunst erlernet,
Die des Malers wird zuerst die Farben bereiten,
Dann wird dein Sinn auf die Mischungen bedacht sein.

Betreibe dieses Werk, doch gehe allen Dingen auf den Grund,
Auf dass, was du malst, zierdevoll und gleichsam frisch geboren sei,
Dann wird die Kunst mit den Erfahrungen vieler Begabter
Dein Werk unterstützen, wie dieses Buch lehren will.

 

 

Theophilus, der niedere Priester, Knecht der Knechte Gottes, des Namens und Amts eines Mönches nicht würdig,

 

 

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4 I. BUCH. VORWORT.

 

wünscht Allen, welche des Geistes Müssiggang und Schwärmerei des Sinnes durch eine nutzenbringende Beschäftigung ihrer Hände, durch erfreuliche Betrachtung des Neuen ablenken und unterdrücken wollen, den Empfang des himmlischen Lohnes!

 

Wir lesen im Beginn der Welterschaffung, dass der Mensch zum Ebenbild und zur Aehnlichkeit Gottes erschaffen, durch des göttlichen Odems Einhauchung belebt und vermöge des Vorzugs eines solchen Werthes dem übrigen Lebenden so vorangestellt worden sei, dass er, Verstandes fähig, der Theilnahme an der göttlichen Weisheit, ihrem Rath und Geiste würdig befundem, mit freiem Willen begabt, nur seines Urhebers alleinigen Willen achten und sein Gebot verehren sollte. Durch List des Teufels elend betrogen, zur Strafe seines Ungehorsams nämlich, der Gabe der Unsterblichkeit verlustig, pflanzte er dennoch die Weisheit und des Verstandes Würde dermassen auf seines Geschlechtes Nachwuchs fort, dass Jeglicher, welcher Sorgfalt und Mühe dazufügt, aller Kunst und alles Wissens Fähigkeit gleichsam wie durch erbliches Recht erlangen kann.

 

Diese Anlage erfasste die Erfindungskraft des Menschen, und nachdem sie in ihren verschiedenen Verrichtungen Gewinn und Lüsten nachgejagt, leitete sie dieselbe im Verlauf der Zeiten endlich bis zu den Tagen der vorbestimmtem christlichen Lehre, und es ist erfüllt worden, dass, was die göttliche Bestimmung zum Lob und Ruhme ihres Namens begründet, in ihrem Gehorsam ein Gott ergebenes Volk gebrauchte. Deswegen vernachlässigt die fromme Demuth der Gläubigen nicht, was die Vorsicht der Altvordern als nützlich bis auf unsere Zeiten förderte; was Gott dem Menschen zum Erbtheile bereitet, das möge der Mensch mit aller Begierde umfangen und es zu erlangen sich bemühen.

 

Wer es erworben, der möge sich nimmer rühmen, als hätte er aus sich und nicht wo anders her es empfangen, sondern er preise sich glücklich in dem Herrn, von und durch welchen Alles, und ohne den Nichts ist, mit Demuth. Möge er, was ihm gewährt ist, nicht in den Beutel des Neides verbergen oder in dem Schranke eines kargen Herzens verheimlichen, sondern, abgethan aller Ruhmsucht, es auf schlichte Weise mit heiterem Gemüth allen Bittenden ausspenden, indem er vor dem

 

 

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6 I. BUCH. VORWORT.

 

Spruche des Evangeliums über jenen Verwalter Scheu trage, welcher seinem Herrn die ihm zu Zinsen ertheilte Summe bewahrt zu haben heuchelte und aller Wohlthat verlustig, durch dessen Mundes Urtheil die Brandmarkung eines unnützen Knechtes verdiente.

 

Aus Furcht, diesem Urtheilsspruche zu verfallen, bringe ich, obwohl ich unwürdig und ein beinahe keines Namens theilhaftes Menschenkind bin, das, was mir die allen reichlich verleihende und milde göttliche Begnadung umsonst gab, umsonst Allen, welche demüthig zu lernen verlangen, dar, und ich ermahne sie sowohl, dass sie die Güte Gottes und seine Freigebigkeit gegen mich bewundern, als ich sie unterrichte, damit sie, frei von allem Zweifel, derselben bei angewandter Mühe sich ebenso nahe glauben mögen.

 

Denn wie es des Menschen unwürdig und verabscheuenswerth ist, ein Verwehrtes und Unerlaubtes, welcher Art immer es sei, mit Verlangen anzustrebem oder gewaltsam zu ergreifen, so wird die Vernachlässigung oder verächtliche Behandlung des nach Recht gewährten und von Gott zum Erbtheil gegebenen der Trägheit und Thorheit zugeschrieben. Du also, wer immer du seist, theuerster Sohn, dem Gott in‘s Herz eingegeben, das mächtige Gefild der verschiedenen Künste zu durchforschen und Einsicht und Sorgfalt daranzusetzen, auf dass du auf demselben sammlest, was dir gefällt — schätze werthvolle und nutzreiche Dinge nicht gering, gleichsam weil sie dir die heimische Erde von selbst und unverhofft hervorgebracht. Denn das ist ein thörichter Kaufmann, welcher in einer Grube des Bodens plötzlich einen Schatz fände und ihn zu sammeln und zu bewahren versäumte. Wenn dir geringe Bäumchen Myrrhen, Weihrauch und Balsam lieferten, oder die heimischen Bronnen Oel, Milch und Honig

 

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8 I. BUCH. VORWORT.

 

ergössen, oder anstatt Nesseln und Disteln und den übrigen Kräutern des Gartens Narde und Rohr und Gewürze verschiedener Art wüchsen, würdest du mit Verachtung dieser Dinge als werthloser und einheimischer, um die auswärtigen, nicht besseren, sondern möglicherweise geringeren, zu gewinnen, Länder und Meere durchschweifen? Nach deinem eigenen Urtheile, das wäre grosse Thorheit. Wenn schon die Menschen, was immer Kostbares mit vielem Schweiss erstrebt und mit grossem Aufwande erworben ward, zu höchst zu schätzen und mit der äussersten Vorsicht zu schützen pflegen, so bewahren sie doch mit nicht verschiedener, grösserer Wachsamkeit vielmehr dasjenige, was sie bisweilen, gleich werthvoll oder vorzüglicher noch, durch Zufall begegnen oder auffinden.

 

Deshalb, liebster Sohn, weil dich Gott in dem Umstande durchaus begünstigte, dass dir umsonst entgegengebracht wird, was Viele mit höchster Lebensgefahr auf den Fluthen des Meeres, von der Noth des Hungers und Frostes gequält, oder ermüdet in des Studiums Knechtschaft, auf alle Weise von Lernbegier ermattet — doch durch unerträgliche Anstrengung nur erlangen, — deshalb ersehne mit begierigen Blicken diese Aufzeichnung der verschiedenen Künste, durchlies sie mit getreuem Gedächtniss und umfasse sie mit warmem Eifer.

 

Wenn du sie fleissig durchforschest, wirst du da finden, was nur Griechenland von verschiedenen Gattungen der Farben und deren Mischungen besitzt; was nur Toscana vom Gewerbe der Elektren und an Mannigfaltigkeit des Niello kennt; was Arabien von Geschmiedetem oder Gegossenem oder Arbeit des Schabens unterscheidet; wie das dadurch berühmte Italien an seinen mannigfachen Gefässen oder an Gemmen- und Bein-Sculpturen mit Gold (und Silber) ausschmückt; was Frankreich an kostbarer Verschiedenheit der Fenster liebt; was das in feiner Gold-, Silber-, Kupfer- und Eisen-, Holz- und Steinarbeit tüchtige Deutschland lobet.

 

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10 I. BUCH. VORWORT.

 

Hast du solches häufig gelesen und einem treuen Gedächtniss überantwortet, so wirst du mich bei diesem reichen Wechsel der Belehrung belohnen, indem du, so oft meine Arbeit dir nützlich sein wird, für mich um Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes flehest, welcher weiss, dass ich, was hier durchgeführt ist, nicht aus Liebe zum Lobe der Menschen, nicht aus Wunsch nach zeitlicher Belohnung zusammen geschrieben; oder aus Neid und Missgunst etwas Kostbares und Seltenes verheimlicht, oder besonders mir zurückbehalten und verschwiegen habe — sondern dass ich zu Seiner Ehre und Seines Ruhmes Vermehrung den Bedürfnissen Vieler zu Hilfe gekommen und ihrem Vortheile mit Rath begegnet bin.

 

 

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ZWEITES BUCH.

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Vorrede.

 

Im vorigen Buche, theuerster Bruder, habe ich es mich aus aufrichtiger Liebe nicht verdriessen lassen, dein Gemüth mit der Ueberzeugung zu erfüllen, wie ehrenvoll und vollkommen es sei, den Müssiggang zu verlassen, die Trägheit und Lässigkeit zu spornen, wie süss und freudenreich, der Ausübung verschiedener nützlicher Dinge Mühe zu widmen, nach dem Worte eines Redners, der da spricht:

 

Etwas zu wissen, verdient Lob; nichts lernen zu wollen, ist eine Schuld.

 

Und Niemand möge es verdriessen, jenes Andere, das Salomon aussprach, sich anzueignen: Wer seine Kenntniss mehrt, häufet sich Arbeit. Denn der sorgsam Ueberlegende wird erfassen können, wie viel Vortheil für Seele und Leib daraus erwachse. — Es ist ja klarer als das Licht, dass Derjenige, welcher sich dem Müssiggang und Leichtsinn weiht, um überflüssige Fabeln sich bemüht, um Possen, Neugierde, Gezech, Trunkenheit, Händel, Rauferei, Todtschlag, Schwelgen, Dieberei, Entheiligung, Meineid und dergleichen, was den Augen Gottes zuwider ist, welcher niederblickt auf den demüthigen, ruhigen, mit Schweigen in des Herrn Namen Arbeitenden, gehorsam nach des heiligen

 

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96 II. BUCH. VORREDE.

 

Apostels Paulus Vorschrift: „Vielmehr arbeite er, mit seinen Händen schaffend, was gut ist, damit er habe wovon er mittheilt, was der Leidende bedarf.“ Mit dem Wunsche, dieses Befolger zu sein, nahte ich dem Vorraum der heiligen Weisheit und erblicke die Zelle auf jegliche Weise mit den verschiedenen Farben voll Abwechslung geschmückt, Vorzug und Beschaffenheit jeder einzelnen darthuend. Und kaum dass ich, ohne selbst es recht zu merken, den Fuss hineingesetzt, füllte ich den Schrank meines Herzens genügend mit Allem, welches ich einzeln durch fleissige Probe untersuchte und, nachdem ich Alles mit Blick und Hand gut befunden, in genügender Klarheit ohne Neid deinem Studium empfahl. Indem aber die Anwendung dieser Malerei nicht gleich zu durchblicken sein mag, habe ich, als wissbegieriger Forscher, mir auf alle Weise Mühe gegeben, zu lernen, durch welchen Kunstgriff die Mannigfaltigkeit der Farben ein Werk zieren möge und das Tageslicht die Sonnenstrahlen nicht zurückstosse. — Diesem Studium nachgehend, eigne ich mir die Kenntniss von der Natur des Glases an und erkenne nur seinen Gebrauch und seine Mannigfaltigkeit als tauglich, eine solche Wirkung hervorzurufen. Welche Kunstfertigkeit ich, wie ich sie durch Anschauung und Hören gelernt habe, für dein Studium zu erforschen mich bestrebte.

 

 

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DRITTES BUCH.

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Vorrede.

 

David, der vorzüglichste der Propheten, den Gott der Herr vor dem Zeitraum der Jahrhunderte vorherwählte und vorausbestimmte, den er seinem Herzen nach, ob der Einfalt und Demuth des Sinnes, erwählt und zum Herrscher seines aus erwählten Volkes gemacht hatte, welchen er, damit er ein Herrscheramt solchen Ruhmes edel und weise ausübe, mit dem Herrschergeiste kräftigte, (David) that unter anderen, indem er mit ganzem Fleisse sich in seines Schöpfers Liebe sammelte, diesen Ausspruch: Herr, ich habe deines Hauses Zier geliebt! Meinte nun ein Mann von solcher Würde und so scharfem Verstande mit diesem Haus die Wohnstätte des himmlischen Hofes, darin Gott den Hymnenchören der Engel in unfassbarer Helle vorsitzt, zu welchem er aus dem Innersten aufseufzte mit den Worten: Eines flehe ich von dem Herrn, dieses strebe ich an, dass ich wohne im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens, oder (meinte er) die heimliche Stätte eines ergebenen Gemüthes, des reinsten Herzens, dem wahrhaftig Gott innewohnt, dessen Gast zu sein er also innig bittet: Erneue den rechten Geist, o Herr, in meinem Innersten! Gleichwohl stehet fest, dass er auch die Ausschmückung des wirklichen Hauses Gottes, welches die Stätte des Gebetes ist, gewünscht habe.

 

 

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148 III. BUCH. VORREDE.

 

Denn fast alle Materialien zu dem Hause, dessen Gründer zu werden er selbst mit glühendem Verlangen wünschte, aber nicht verdiente wegen des vielen in feindlichem Streben vergossenen Menschenblutes, an Gold und Silber, Erz und Eisen, hinterliess er Salomon, seinem Sohne. Er hatte im Exodus gelesen, dass Gott dem Moses die Stiftshütte zu errichten befohlen, und die Meister des Werkes mit Namen auserwählt, dieselben mit dem Geist der Weisheit, der Einsicht und der Kenntniss in jeglichem Wissen erfüllt habe, um ein Werk in Gold und Silber und Erz, Edelsteinen, Holz und jeder Art Kunst zu ersinnen und hervorzubringen. Er hatte in frommem Betrachten gewahrt, dass Gott durch solche Art Schmuckes erfreut werde, dessen Anordnung er unter der Meisterschaft und Hoheit des heiligen Geistes traf und glaubte, dass ohne dessen Eingebung Niemand dergleichen in‘s Werk setzen könne. Darum, theuerster Sohn, zögere nicht, sondern glaube mit ganzem Herzen, dass der Geist Gottes dein Herz erfüllt hat, wenn du sein Haus mit solchem Schmuck, mit solcher Mannigfaltigkeit der Arbeiten versehen hast; und damit du nicht etwa misstrauest, werde ich dir auf einleuchtende Weise kundthun, dass, was du lernen, begreifen oder von solchen Künsten ersinnen kannst, dir des siebengestaltigen Geistes Gnade entgegenbringe.

 

Durch den Geist der Weisheit (bemerke hier die Zusammenstellung der sieben Gaben des heiligen Geistes mit sieben Künsten. Aus dem M. S. Harleio) erkennest du, dass alles Geschaffene aus Gott hervorgehe und ohne ihn Nichts sei. Durch den Geist des Verstandes erlangtest du die Fähigkeit des Geistes, nach welcher Regel, in welcher Mannigfaltigkeit, welchem Mass du den verschiedenen Werken vorstehen musst. Durch den Geist der Ueberlegung versteckst du das dir von Gott verliehene Pfund nicht, sondern zeigst es in Bescheidenheit arbeitend und lehrend Denen, die lernen wollen, auf ehrliche Weise. Durch den Geist der Stärke beseitigst du alle Erstarrung der Trägheit und führst, was du mit rüstigem Angreifen unternommen, mit vollen Kräften der Vollendung zu. Durch den Geist des Wissens, so dir gestattet, wirst du aus reichem Herzen durch deine Begabung herrschen, und weil sie in völlig reichem Masse dir zu Gebote steht, so mache offen, mit der

 

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150 III. BUCH. VORREDE.

 

Kühnheit des ganzen Sinnes davon Gebrauch. Durch den Geist der Frömmigkeit wirst du Mass halten, was, wem, wann, wie viel und auf welche Weise du schaffest und, damit nicht das Laster der Habsucht oder Begierde dich überschleiche, den Preis des Lohnes in frommer Erwägung mässigen. Durch den Geist der Gottesfurcht betrachtest du, wie du nichts aus dir selber vermögest, denkst daran, dass du nichts ohne Gottes Zulassen besitzest noch besitzen wollest, sondern schreibst, was du erlernt hast, bist oder sein kannst, mit Glauben, Bekennen und Danksagen der göttlichen Barmherzigkeit zu.

 

Du bist durch das, was diese Tugenden verheissen, ermuthigt, theuerster Sohn, in das Haus Gottes zuversichtig eingetreten, hast es mit Anmuth geziert und Laquearien oder Wände in mannigfachem Werk, mit verschiedenen Farben ausstattend, das Bild des Paradieses Gottes auf diese Weise den Beschauern entrollt, welches verschiedene Blumen hat, grün ist von Gras und Blättern, den Seelen der Heiligen nach ihrem verschiedenartigen Verdienste Kronen spendet und hast bewirkt, dass man Gott den Schöpfer in seinem Geschaffenen lobt und in seinen Werken seine Wunder preist. Denn es vermag das menschliche Auge nicht abzuwägen, auf welchem Werke zuerst es ruhen soll. Erblickt es die Laquearien, so sind sie beblümt wie die Pallien, sieht es auf die Wände, so ist‘s ein Bild des Paradieses; wenn es den Reichthum des von den Fenstern strömenden Lichtes schaut, so bewundert es die unendliche Pracht der Gläser und die Abwechslung in der kostbarsten Arbeit. Wenn die gläubige Seele zufällig das mittels der Zeichnung dargestellte Bild des Leidens unseres Herrn gewahr wird, ergreift es sie. Wenn sie betrachtet, welche Martern die Heiligen an ihren Leibern erduldet, welche Belohnungen des ewigen Lebens sie empfangen, erwählt sie die Bahn eines besseren Lebens. Wenn sie erblickt, wie viel Himmelsfreuden, wie viel Qualen des höllischen Feuers sind, ermuthigt sie das Vertrauen auf ihre guten Thaten (Cod. Guelpherbyt.) und schlägt bei Betrachtung ihrer Sünden sie Furcht darnieder. Wohlan denn, wackerer Mann, glücklich vor Gott und Menschen in diesem Leben, glücklicher in Zukunft, durch dessen Mühe und Eifer Gott so viele Opferspenden gebracht

 

 

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152 III. BUCH. VORREDE.

 

sind, erhebe dich zu weiterer Thätigkeit und mache dich daran, durch Anstrengen deines ganzen Geistes zu ergänzen, was noch von dem zum Gotteshaus Gehörigen fehlt, ohne die göttlichen Mysterien und die kirchlichen Verrichtungen nicht bestehen können. Es sind dies aber Kelche, Leuchter, Rauchfässer, Messkännchen, Krüge, Schreine der Pfänder der Heiligen, Kreuze, Plenarien und das Uebrige, was zum Gebrauch des kirchlichen Dienstes das Bedürfniss erfordert. Wenn du solches hervorbringen willst, fange in dieser Weise an.

 

 

 

 

 

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290 CAPITEL LXXIV.

 

Tuch und Sand gesäubert werden, bis die schwarze Haut entfernt ist und so vergoldet und polirt, die fertigen Linien gefärbt und mit der vorhergenannten Mischung bedeckt werden.

 

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CAPITEL LXXIV.

Von dem Werke, welches man mit Stempeln aufdrückt.

Auch werden Eisen von der Dicke eines Fingers gemacht, drei oder vier Finger breit, einen Fuss lang , welche durchaus makellos sein müssen, so dass an ihnen kein Flecken, keine Spaltung auf der obern Seite sei. In diese werden in der Art wie auf Siegeln schmälere und breitere Ränder eingegraben, in welchen Blumen, Thiere oder Vögelchen oder mit Hals und Schwänzen verkettete Drachen seien; sie mögen nicht allzu tief, sondern nur etwas eingegraben werden und mit Fleiss. Dann mache Silber viel dünner als bei der Arbeit des Treibens in beliebiger Länge, reinige es mit feinem Kohlenstaub und dem Tuche, und polire es mit darüber geschabter Kreide. Ist dies geschehen, so bringe auf jeden Rand Silber, lege das Eisen auf einen Amboss, so dass das Gegrabene obenauf sei, auf dieses ist das Silber gelegt; noch lege dickes Blei darauf und hämmere es tüchtig mit dem Hammer, so dass das Blei das dünne Silber so kräftig in die Gravirung dränge, dass alle Linien darauf vollkommen erscheinen. Wäre der Streifen länger, so ziehe ihn von Ort zu Ort, halte ihn in Verbindung mit dem Eisen mittelst der Zange gleichmässig, so dass, wenn ein Theil geschlagen ist, der andere geschlagen wird und so, bis der ganze Streifen angefüllt ist. Diese Arbeit ist sehr brauchbar, um die Ränder bei Anfertigung der Altartafeln, Pulten, Schreinen der heil. Leiber, Büchern und an welchen Stellen es nöthig wäre, wenn es

 

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292 CAPITEIL LXXIV.

 

etwas zierlich und fein Getriebenes von leichter Ausführung ist. Man macht dergleichem auch in Kupfer, welches auf dieselbe Art dünn gemacht, gereinigt, vergoldet und polirt wird. Man setzt das Eisen darauf, so dass die Vergoldung gegen das Eisen gekehrt ist, das Blei wird darauf gegeben und nun geschlagen, bis die Zeichnung zum Vorschein kommt. Man gräbt auch auf obenerwähnte Weise das Bild des gekreuzigten Herrn, welches in Silber oder vergoldetem Kupfer ausgedrückt wird. Hieraus werden auch die Phylakterien gemacht, desgleichen die Reliquienkapseln und die Schreine der heil. Leiber. In Eisen bildet man auch das Bild des Gotteslammes und jenes der vier Evangelisten, mit welchen die Becher aus kostbarem Holz geschmückt werden, indem man sie in Gold oder Silber abgedrückt hat. Dabei steht der Kreis mit dem Lamm in der Mitte des Gefässes, die vier Evangelisten kreuzförmig ringsherum, vom Lamme gehen vier Scheine (Limben) zu den vier Evangelisten aus, auch macht man Bilder von kleinen Fischchen, Vögeln und Thieren, welche, im übrigen Raum des Bechers angebracht, eine grosse Zierde gewähren. Auf dieselbe Weise macht man das Bild der göttlichen Majestät und andere von jeder Gestalt und Geschlecht, welche, in Gold, Silber oder vergoldetem Kupfer ausgedrückt, wegen ihrer Feinheit und mühevollen Arbeit an den Stellen, wo sie aufgesetzt werden, einen sehr hohen Schmuck verleihen. Man bildet auch Gestalten von Königen und Reitern mit dem Eisen auf dieselbe Weise, welche, in spanisches Messing gedrückt, die Becken zieren, in welchen man Wasser über die Hände giesst, ebenso wie die Gefässe mit Gold oder Silber, mit ihren Rändern aus demselben Metall geschmückt werden, auf denen Thiere oder Vögel oder Schnörkel sind, doch werden sie nicht fest verbunden, sondern mit Zinn angelöthet.

 

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250 CAPITEL LX.

 

Regel. Wenn Jemand Fleiss anwenden wollte, um ein Rauchfass von kostbarerer Arbeit zu vollenden, in Gestalt der Stadt, welche der Prophet auf dem Berge gesehen, so kann er es in dieser Weise darstellen.

 

CAPITEL LX.

Von dem gegossenen Rauchfass.

Nimm mit Mist gemischten und gutgemahlenen Thon, lasse ihn an der Sonne trocknen, den getrockneten mache klein und siebe ihn mit Sorgfalt. Den gesiebtem dann vermische mit Wasser und verreibe ihn tüchtig, daraus mache dir dann zwei Mengen, in der Grösse wie du das Rauchfass haben willst, die eine für den unteren, die andere für den oberen Theil, welcher der höhere sein wird. Diese Mengen heissen die Kerne. Durchbohre dieselben so gleich mit einem der Länge nach auf vier Seiten gleich beschnittenen Holze und so trockne sie an der Sonne. Nach diesem stecke ein Eisen durch sie, welches das Dreheisen genannt wird, lang und ziemlich dünn ist, aber an Einem Ende dicker, auf drei Seiten flachgehämmert, immer dünner und dünner zur Spitze verlaufend, an seinem dickern Theile werde ein anderes kurzes und gekrümmtes Eisen oder Holz befestigt, mit Hilfe dessen man es drehen kann. Habe dann zwei hölzerne Säulchen auf einem Gestell befestigt, von einander der Länge des Eisens entsprechend abstehend, deren jegliches an der Vorderseite Nägel gleichfalls von Holz habe, eine Spanne lang, und mit einem Einschnitt, wie eine Stufe (wie ein Winkel) versehen. Auf diese kommt das runde Holz zu liegen, dass man es geschickter und länger bewegen könne, auf welchem die Hand des Drehenden ruht. Ist dies so vorbereitet, so lege das Dreheisen zwischen

 

 

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252 CAPITEL LX.

 

die beiden Säulen, welches die Kerne trägt, und während der dir zur Linken sitzende Gehilfe es dreht, bearbeitest du mit scharfen und etwas breiten Eisen sie von allen Seiten, dass sie abgegleicht seien, und so bereite deine Kerne, dass sie in der Mitte, wo sie zusammentreffen, in Breite und Dicke übereinstimmen. Den untern Theil hingegen von der Mitte abwärts beschneide aber derart, dass dann die Breite oben um zwei Masseinheiten die untere übertreffe, an der du auch den Fuss herstellst. In demselben Masse beschneide auch den Obertheil, dessen Höhe in der Weise einer hölzernen Glocke dreimal zugeschnitten, gleichwohl eine solche sei, dass sie um jegliches Beschneiden gegen oben an Dünne zunehme. Hast du sie so gedreht, so wirf das Eisen heraus und mache mit dem Messer auf die breitere Drehzone des obersten Kernes bis zur Schnittlinie, welche sie begrenzt, vier Winkel, so dass er dadurch kreuzförmig gestaltet wird. Jeder dieser Flügel habe in seinen Wänden die gleiche Breite, in der Höhe aber betrage er anderthalb Masseinheiten der Breite, hier forme auch Giebel in Dachform. Du wirst auch an dem Thurm, der zunächst darauf zu stehen kommt, acht Seiten bilden, vier breitere und vier schmälere, die du auch rund bilden kannst, so dass die Ecken der Breitseiten vorspringen, die der schmälern hohl seien, damit so die Rundung sichtbar werde. Auf denselben bilde den Massen entsprechende Dächer. An dem vorletzten Thurme verfahre in derselben Weise, doch dass zugleich die gekrümmten Seiten auf die Breitseiten des unteren Thurmes zu stehen kommen und die runden der unteren den breiten der oberen entsprechen. Der oberste Thurm aber werde mit acht gleich breiten Seiten und dachlos gemacht. Das ist der Obertheil des Rauchfasses.

 

An dem Untertheil aber soll die breitere Drehzone mit dem Ausschneiden der Winkel in Kreuzform ähnlich gebildet werden, damit er an dem oberen halte; die weiter unten befindliche Drehzone gehe abgerundet aus. Ist das solcherweise angepasst, so nimm zwei Fuss lange Hölzer von der Dicke eines Fingers, und verdünne sie bis zu dem Masse, welches du dem Wachse zu verleihen wünschest, dann ein anderes eben so langes von Holz rund und der Dicke eines Lanzenschaftes.

 

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254 CAPITEL LX.

 

Habe auch ein Fuss breites Brettchen, zwei Ellen lang und sehr eben, auf welchem du die zwei genannten Hölzer befestigest, so dass in Entfernung von einem halben Fuss die Hölzer gleichmässig anpassen. Dann nimm reines Wachs, welches du in der Nähe des Feuers tüchtig knetest und so warm zwischen jene beiden Hölzer auf das Brettchen bringst, nachdem du vorher Wasser daraufgesprengt hast, um das Anhaften zu vermeiden. Verdünne das Wachs, indem du jenes runde Holz befeuchtet, mit beiden Händen tüchtig darauf walkest, der Dichte der Hölzer entsprechend. Wenn du viele gleiche Wachsstücke bereitet hast, so schneide sie, bei dem Feuer sitzend, stückweise, den Räumen nach, welche du im Thon des Rauchfasses ausgeschnitten hast und passe einem jeden Raum sein Stück ziemlich warmgemacht an und mache es mit einem hiezu tauglichen und erwärmten Eisen ringsum an. Nachdem du auf solche Weise das Aeussere des ganzen Kernes bedeckt hast, nimm ein dünnes, beiderseits scharfes Eisen, das einem feinen Pfeile gleicht, mit einem kleinen Stiele in einen Holzgriff eingefügt und beschneide es damit von allen Seiten und gleiche mit einem ebenso gestalteten Buchsbaumholz ab und siehe zu, dass das Wachs an keiner Stelle dicker, noch dünner sei als an den übrigen. Entwirf dann an jeder Vorderseite je einen Bogen, gleicherweise an den gebogenen Wänden. Unter den einzelnen Bogen auf beiden Seiten Pforten, so dass je eine Pforte den vierten Theil des Raumes einnimmt, in der Mitte die zwei übrigen Theile bleiben, in diesen Räumen entwirf unter einem jeden Bogen die Bildnisse der Apostel, deren jeder eine Schrift halte; sie seien nach deinem Belieben dargestellt, ihre Namen schreibe in die Bogen streifen. In den Dreiecken, welche die Dachgiebel tragen, mache gleichnissweise zwölf Steine an, indem du jedem einzelnen Apostel einen Stein zutheilst, welcher zur Andeutung seines Namens passend scheint. Die Namen schreibe in den untern Streifen dieses Raumes und in den Ecken nahe der Steine mache Fensterchen. Dies ist ein Gleichniss dessen, davon der Prophet spricht: „Drei Thore im Aufgang, drei Thore gegen Abend, drei Thore gegen Mittag und drei Thore gegen Mitternacht.“

 

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256 CAPITEL LX.

 

In den vier Winkeln aber, welche zwischen den Theilen mit den Thüren sind, bilde in Wachs runde Thürmchen, durch welche die Ketten gehen. Wenn das so vertheilt ist, forme auf dem nächstfolgenden Thurme ganze Bilder von Engeln in viereckigen Feldern, mit ihren Schilden und Lanzen, gleichsam zur Bewachung der Mauern aufgestellt, und an den runden Thürmchen bilde Säulen mit ihren Capitälen und Basen. Auf dieselbe Art forme an dem vorletzten Thurm, welcher niederer ist, halbe Engelbilder und ebenso Säulen. Auf dem obersten Thurme aber, welcher schlanker sein wird, mache lange und runde Fenster und auf der äussersten Höhe des Thurmes Zinnen am Umfang, in derem Mitte forme das Lamm und auf dessen Haupte Krone und Kreuz, über seinem Rücken einen kurzen Bogen, auf dessen Spitze der Ring sei, um den die mittlere Kette gelegt werde. Dies ist der obere Theil des Rauchfasses mit seiner Arbeit.

 

Ist der untere Theil in derselben Weise mit Wachs bedeckt worden, so bilde in den einzelnen Feldern je ein Bild eines Propheten mit ihren Schriften und ordne jedem Apostel den ihm entsprechenden Propheten bei, so dass ihre Zeugenschaften, die auf die Schriftrollen zu schreiben sind, zusammen passen. Um die Propheten mache jedoch keine Thore, sondern die viereckigen Felder derselben nur; in Streifen werden ihre Namen über die Häupter geschrieben. Mache auch in den Winkeln vier Thürme, in denen die Ketten, um mit den oberen zusammenzupassen, befestigt werden. Auf dem unteren runden Theile aber mache soviel Kreise als du kannst oder magst, in diesem stelle die halben Bildnisse der Tugenden dar, in weiblicher Gestalt, und schreibe ihre Namen in den Kreisen bei. Schliesslich aber bilde an dem Boden den Fuss und drehe ihn. Alle Räume um die Bildwerke oben und unten seien durchbrochen. Dann versieh alle Theile mit ihren Eingussröhren und Luftlöchern, umstreiche Alles sorgfältig mit dünnem Thon und trockne es an der Sonne, wiederhole und mache es ein drittes Mal. Diese Theile heissen die Formen. Sind sie gänzlich ausgetrocknet, so bringe sie an‘s Feuer, und nachdem sie warm

 

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258 CAPITEL LX.

 

werden, giesse das flüssige Wachs in Wasser heraus, stelle es abermals an‘s Feuer und verfahre so, bis du alles Wachs herausgebracht hast. Darauf lege an einen tauglichen und ebenen Ort grobe, kalte Kohlen, auf diese stelle die Formen mit den Oeffnungen nach unten und lagere um dieselben harte Steine, welche bei der Hitze des Feuers nicht springen können, und schichte sie so, Stein auf Stein, wie eine Mauer, aber trocken, ohne Verbindung, so dass zwischen den Steinen zahlreiche und kleine Oeffnungen bleiben. Ist das so zusammengestellt, so schütte einen halben Fuss höher als die Formen glühende Kohlen auf und dann bis ganz hinauf kalte und sorge, so viel Raum zwischen den Formen und den Steinen zu lassen, dass die Kohlen darin Platz haben. Wenn alle Kohlen glühen, müssen sie bisweilen mit einem dünnen Holze durch die Löcher zwischen den Steinen hindurch von allen Seiten her umgestört werden, um sich zu berühren und damit die Hitze von überallher gleichmässig sei. Haben sie sich so weit vermindert, dass du die Form erblickst, so fülle neuerdings kalte Kohlen bis oben auf und thue das ein drittes Mal. Wenn du die Form auswendig glühen siehst, so stelle das Gefäss mit dem Messing in‘s Feuer, welches du schmelzen willst, blase erstlich gelinde, dann mehr und mehr, bis es gänzlich flüssig ist. Ist dies vollbracht, so rühre es fleissig mit einem krummen, in einem Holz eingefügten Eisen und drehe das Gefäss auf eine andere Seite, fülle dann wieder Messing ein und erwärme es. So verfahre, bis dass es voll wird. Dann rühre von Neuem mit dem gekrümmten Eisen und reinige es von den Kohlen, blase tüchtig mit dem Balge zu und bedecke es mit grossen Kohlen. Dann hebe nach Entfernung der Steine die Form aus dem Feuer und streiche Thon darauf, der reichlich mit Wasser, dünn wie Hefe, gemengt sei, und zwar geschehe das sorgsam mit einem Linnen. Hast du dann neben dem Ofen, in dem du giessest, eine Grube gegraben und die Form dareingesetzt, so führe rings um dieselbe auch Erde auf und drücke sie mit einem unten platten Holze fleissig zusammen. Sogleich habe auch ein vielmal zusammengewickeltes Linnen zu Händen, das in ein

 

 

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260 CAPITEL LXI.

 

gespaltenes Holz gesteckt ist, nimm das Gefäss mittelst der krummgeschnäbelten Zange vom Feuer und giesse nun ein, wobei du das Linnen handhabst, um Schmutz und Asche zurückzuhalten, mit Achtsamkeit. Sind auf solche Weise beide Formen voll gegossen, so lasse sie stehen, bis das Eingussrohr oben sich dunkel färbt; ist hierauf die Erde weggeräumt und die Formen aus der Grube gehoben, so stelle sie an einen sicheren Platz, bis sie ganz kalt werden, nimm dich aber höchlich in Acht, auf die kalten Formen Wasser zu sprengen, weil die Kerne im Innern, wenn sie das Nasse durchmerken, sogleich sich aufblähen und das ganze Werk durchbrechen. Sobald sie ausgekühlt sind, beseitige den Thon, beobachte sorgsam, ob durch Nachlässigkeit oder Zufall etwas fehlerhaft sei, schabe die Stelle dann ringsumfeilend ab und setze Wachs an oder ebenso Thon ; wenn es getrocknet ist, erwärme es und so giesse es darauf an, bis das Angegossene, wenn der (Metall-) Strom in jenen Theil fliesst, festhält. Sobald du dies gewahr wirst, so löthe es, falls es zu wenig fest anhaftete, durch Verbrennung von Weinstein und Feilspänen von Silber und Kupfer, wie vorgeschrieben wurde, an. Darauf befeile alle Felder zuerst mit verschiedenen viereckigen, dreieckigen und runden Feilen, ciselire sie dann mit den Grabeisen, schabe sie mit den Schabeisen. Endlich, wenn du dein Werk mittelst oben etwas platten Hölzern mit Sand gescheuert hast, vergolde es.

 

CAPITEL LXI.

Von den Ketten.

Willst du Ketten machen, so ziehe zuerst feine und dickere Drähte von Kupfer oder Silber, und flechte sie mit der Ahle zu drei-, vier-, fünf- oder sechsfachen Ringen nach der Dicke, welche dir beliebt, im Verhältniss eines jeden Rauchfasses, des kleineren oder des grösseren. Wenn du alle Ketten des einen Rauchfasses in Ein Stück geflochten hast, so nimm ein dünnes Eichen- oder Buchenholz, mache in demselben mit einem runden und heissen dünnen Eisen viele

 

 

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Quelle:

Auszug aus:

Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance. Hrsg. R. Eitelberger v. Edelberg. VII. THEOPHILUS PRESBYTER Schedula diversarum artium I. Band. Revidirter Text, Uebersetzung und Appendix. Von Albert Ilg. Anonymus Bernensis, Herausgegeben von Prof. Dr. Herm. Hagen.

 

Schedula diversarum artium / 1

Theophilus <Presbyter> ; Hagen, Hermann Ilg, Albert Eitelberger von Edelberg, Rudolf Anonymus

Wien : Braumüller, (1874). - XLVII, 400 S.

Digitalisierung durch Münchener Digitalisierungszentrum

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Hinweis: In den Text eingefügten Fotos sind nicht im Originalwerk enthalten. Die Darstellungen sollen nur zur Veranschaulichung der Textbeschreibungen dienen.

 

 

Gervais: Lessing als dramatischer Dichter


Lessing als dramatischer Dichter.


Gottlieb Ephraim Lessing (geb. 1729 zu Camenz in Sachsen, gest. 1781) hat, abgesehen von seinen übrigen Verdiensten um die höhere Geistesbildung der Deutschen, für die Entwickelung der dramatischen Kunst eine Bedeutsamkeit, wie kein Dichter vor ihm, und nach ihm nur noch Göthe und Schiller, die durch ihn die Bahn zur Gründung eines klassischen Theaters geebnet fanden. Schon als Jüngling auf der Fürstenschule zu Meißen und vornehmlich während seiner Universitätsjahre in Leipzig, wo er an Weisse einen Mitstrebenden, an der wackern Theaterdirectrice Neuberin und ihrer gewählten Schauspielertruppe eine Pflegerin seiner Neigung fand, beseelte Lessing ein Ideal von der Kunst des dramatischen Dichters und Schauspielers, welches zu verwirklichen er alle Kräfte seines Geistes in sich aufgeregt fühlte. Das deutsche Theater zu einer Bildungsanstalt für geistige Anschauungen, zu einer Schule der Menschen und Sittenkenntniß, des Geschmacks und der Nationalität zu erheben, war das Ziel, zu dem er rastlos noch im Mannesalter hinstrebte. Leider ward auch er, wie so mancher reichbegabte Geist der

 

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Welt zu früh entrückt, und die Früchte seines Wirkens reifen zu sehen, war dem Lebenden nur spärlich gegönnt. Wie er seine schönsten Hoffnungen als Dramaturg in Hamburg vereitelt sah; wie der Reichthum seiner Erfahrungen, seines tiefsten Studiums und seiner nie erreichten Geistesschärfe weder der Bühne noch dem Publikum, für die er seine Dramaturgie schrieb, nützte, hat er in der letzteren selbst gestanden. *) Wie mancher andere gutmüthige Träumer erfuhr auch er, daß das große Publikum nur schauen und der Haufe der Mimen sich nur schauen lassen will. Und doch stand es zu Lessings Zeiten viel besser als vormals und als -- heutzutage in Deutschland. Wahrhafte Künstler glänzten auf der Bühne, auch fehlte es nicht an sinnigen Zuschauern, die sie verstanden und nicht nur an ihnen sich satt sahen. So begreift es sich denn, daß Lessing so angenehm träumte, und, für seinen schönen Traum so emsig zu handeln beflissen, practisch übte, was er theoretisch auch den producirenden Geistern vorgezeichnet hatte. An ihm bewährte sich sein sehr gewagter Ausspruch: „Wer richtig raisonnirt, erfindet auch, und wer erfinden will, muß raisonniren könne: Nur die glauben,

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*) Eine französische Truppe konnte, trotzdem, daß Lessing, die groben Fehler und Sünden der Corneille, Racine, Voltaire, Crebillon schlagend nachwies, festen Fuß in Hamburg fassen, und die deutsche Bühne ergänzte ihr Repertoir mit schlecht übersetzten französischen Stücken, ohne in der Zeit, wo Lessing auf Shakspeare unablässig hinwies, auch nur ein Stück des großen Britten zu wählen. Seine Dramaturgie schloß Lessing mit dem bittern Ausfall: „Wenn das Publikum fragt, was ist denn geschehen? und mit einem höhnischen Nichts sich selbst antwortet, so frage ich wiederum, und was hat denn das Publikum gethan, daß Etwas geschehen könne? Auch Nichts, ja noch etwas Schlimmeres, als Nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht befördert, es hat ihm nicht einmal seinen natürlichen Lauf gelassen“ u. s. w. Mißvergnügt verließ er Hamburg, das zwar für Bühnenkünstler ein Mittelpunkt blieb, für die dramatische Literatur aber keine Pflegestätte wurde. Doch über ganz Deutschland, war noch düstere Nacht verbreitet, aus der Lessing als der einzige Stern der Poesie wie der Kritik hervorleuchtet.

 

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daß sich das Eine von dem Andern trennen lasse, die zu keinem von Beiden aufgelegt sind.“ –

 

Nicht verweilen will ich bei seinen Jugendwerken, die er zwar von innerm Drange erfüllt aber mit der Welt außer ihm noch zu wenig vertraut, aus seinen lateinischen und französischen Komödienbüchern zusammenstoppelte; daher uns sein „Damon und Pythias,“ „die alte Jungfer,“ „der junge Gelehrte,“ „der Weiberhasser“ mit spätern Schöpfungen verglichen, nur beweisen, wie Lessing sich erst von der unnatürlichen und schalen Dichtungsweise seiner Zeit, die eine Komödienwelt und Komödienmenschen für Kunstideale hielt, loßreißen mußte, um Vollendeteres und endlich das Vollendetste aus eigner Geisteskraft hervorzubringen. Auch sein Lustspiel „die Juden,“ im Jahre 1749, also im zwanzigsten seines Lebens geschrieben, ist noch in Anlage und Ausführung schülerhaft, fast nur das Gerippe eines Dramas. Die Charaktere sprechen aus sich, nicht durch sich. Jeder sagt, so bin ich beschaffen, sonst erführen wir es auch gar nicht. Die Handlung dient nur der Tendenz zum Anhalt: Ein Reisender hat einen Baron aus Räuberhänden gerettet. Die Dankbarkeit dieses, die Trefflichkeit jenes, vermitteln eine innige Freundschaft; des Barons junge, unverdorbene, aber doch etwas zu naive Tochter empfindet und erweckt Liebe, doch ein Eheband zwischen ihr und dem Fremden kann nicht geknüpft werden, denn dieser entdeckt sich selber --- als Jude. Ein damaliger Kritiker, der Professor der Theologie, Michaelis, fand an dem Stücke nichts auszusetzen als: die Unwahrscheinlichkeit, daß ein so edler Charakter, wie der des Reisenden, aus dem Geschlecht der Juden hervorgehen könne. Wenn Lessing diesen Tadel öffentlich zurückwies, wenn der biedere Moses Mendelson an einen würdigen Glaubensgenossen, den Doctor Gumperz, in Berlin, höchst entrüstet schreibt: „Ist sein (Michaelis) grausamer Richterspruch gegründet?

 

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welche Schande für das menschliche Geschlecht! Ungegründet? welche Schande für ihn!“ so hatten beide den Professor der christlichen Theologie mit Recht beschämt. Wenn aber Mendelson meinte, die jüdische Nation sei Lessing viel Verbindlichkeit schuldig, daß er ein damals tiefgewurzeltes Vorurtheil gegen das Volk widerlegt habe, wenn Lessing wirklich diese Tendenz dem Stücke zu geben wähnte, so muß die Kritik ein anderes Urtheil fällen. Ist denn der Reisende ein Jude? Ohne sein Bekenntniß und die Aussage seines Dieners Christoph erriethen wir es nicht. Wir sehen in ihm nur einen großgesinnten Mann, einen von allem Sectengeist freien Gottgläubigen, der von seinen Glaubensgenossen ganz isolirt dasteht, und eben so gut sich für einen Namens-Muhamedaner als einen Namens-Juden ausgeben könnte. Das reine Menschenthum, die Religion des Geistes und des Herzens wohnen in ihm; die aber schließen jeden Parteiglauben aus. Dadurch hat Lessing seine Tendenz, die Vertheidigung der Juden als Juden aufgehoben, und diese Aufgabe zu lösen war der zwanzigjährige Dichter, der noch in einer Idealwelt lebte, nicht im Stande.

 

Erst mit dem „Freigeist“ hat Lessing seine Schule vollendet, und, wenn auch noch nicht frei von französischem Geschmack seiner Zeit, doch schon so selbstständig und mit Form und Wesen des Dramas vertraut, eine Bahn eingeschlagen, die ihn das völlig Richtige nicht mehr verfehlen ließ. Die Charaktere sind wahr und voll Leben, die Handlung gut motivirt, unterhaltend, spannend und in ihrem Ausgange der Anlage entsprechend. Lisidor, ein reicher, aber geistig beschränkter Mann, hat seine zwei Töchter, Juliane und Heinriette, zweien Liebhabern, Theophan, einem jungen Geistlichen, und Adrast, dem freigeistischen Helden des Stücks, verlobt, in der Meinung: die sentimentale, fromme Juliane werde für ersteren, die muntere, zur Freigeisterei hinneigende Heinriette

 

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für letzteren die rechte Gattin werden. Daß oft die entgegengesetzten Charaktere mehr als die gleichen sich anziehen, hat er außer Acht gelassen, und da hier der Fall stattfindet, ist die Folge, daß Adrast den vermeinten Nebenbuhler Theophan tödtlich haßt, in dessen Gesinnung und Handlungsweise nur einen jener Theologen erblickt, die, wie er die bittere Erfahrung gemacht, die Religion zum Deckmantel, die christliche Tugend als Larve gebrauchen. In Theophan aber hat Lessing eine damals sehr gewagte Aufgabe -- den Stand seines Vaters auf die Bühne zu bringen, glücklich und würdig gelöst. Der junge Geistliche ist durchaus frei von theologischem Stolz und priesterlichem Hochmuth, seine Frömmigkeit prunklos und aus der Fülle des Herzens dringend, seine Bekämpfung des Irrthums ohne Verdammungseifer und Bekehrungssucht. Der Leidenschaftlichkeit des verblendeten und vorurtheilsvollen Freigeistes Adrast setzt er die Besonnenheit des Verstandes, gepaart mit Wärme des Gemüths, Ruhe des Selbstbewußtseins der Verkennung seiner löblichen Absichten, aber auch entschiedene Zurückweisung jeder Anmaßung und Verspottung entgegen. Nur die thörichte Verblendung Adrast's, dem er das höchste Lebensglück darzubieten, den sehnlichsten Herzenswunsch zu erfüllen vermag, bringt ihn einmal außer Faßung, doch dies endlich den Argwöhnischen zur Ueberzeugung, daß die Absichten des vermeintlichen Nebenbuhlers frei von Eigennutz und Heuchelei seien. -- Daß die Personen mit Nichts als -- ihrer Herzensangelegenheit vor einander zurückhalten, macht die Intrigue des Stücks aus. Denn auch die Schwestern lassen die Wechselneigung zu den ihnen versagten Liebhabern aus zarter Rücksicht für einander nicht offenbar werden, und wenn auch nicht Haß und Verachtung, ruft der unterdrückte Herzenswunsch doch eine Gemüthsbewegung hervor, die in Neckereien und in eifriger Parteinahme jeder für den Verlobten der andern sich kund giebt. Was die Kurzsichtigkeit Lifidors so unpassend verbunden hat, weiß die scharfsichtige

 

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Lisette, beider Schwestern Kammermädchen, die hier aber nicht nur als eine Vertraute erscheint, sondern sogar zur Richterin in dem Geschwisterstreit Betreffs der Liebhaber gemacht wird, schlau und. glücklich zu lösen. Sie forscht erst Juliane und Heinriette, dann deren Liebhaber aus, bringt die Sympathisirenden, unter dem Vorwande, die erkannte Treulosigkeit des Verlobten oder der Verlobten zu strafen, einander näher und sieht endlich alle, außer sich selbst, am erwünschten Liebesziel. Tragikomisch ruft sie aus: „Wie übel ist unser eins daran, das nichts zu tauschen hat!“ An einem Bewerber fehlt ihrs nicht, ja sie hat sogar deren zwei. Aber weder die Frömmelei und Dummheit von Theophans Diener, noch die Spitzbüberei des freigeistischen Johann, des Dieners von Adrast, den sie sogar durch eine Ohrfeige zwar nicht fein, aber ganz wirksam für seine gottlosen Reden züchtigt, gewinnen ihr Herz. Dieser richtige Takt Lisettens spricht für den Lessings, der dadurch von zahllosen deutschen und französischen Dichtern, die gewiß eine Liebschaft der Diener, denen der Herrschaft zugesellt haben würden, sich unterscheidet. Wer an den vielen Freigeistern -- denn außer Adrast gehören sein Diener Johann, Heinriette und Lisidor dazu -- im Stücke irre wird, nenne dies, wie es Lessing selbst will, die Freigeister, übersehe aber die Nuancirung nicht, die zu Erschöpfung der ganzen Gattung erforderlich war. Sehr richtig läßt Lessing auch in dem Adrast die Freigeisterei nur aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen kommen. Daß durch den edeln, unermüdlichen Teophan mehr sein Herz als sein Kopf bekehrt wird, giebt einerseits seiner Sinnesänderung größere Wahrscheinlichkeit und gewinnt, andererseits unsere Theilnahme für ihn, ohne daß das Wesen seines Charakters, das hier warnend zu uns spricht, aufgehoben wird. -- Es gab eine Zeit, wo dieses Lustspiel auf allen deutschen Bühnen großen Beifall fand, da es den Schauspielern eine würdige Aufgabe für ihr Talent, den Zuschauern mehr als eine bloße. Unterhaltung für ein

 

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Paar müßige Stunden bot. Sollten heutige Schauspieler sich nicht an einem der besten Lustspiele, das wir besitzen und obendrein von einem Meister, der die Bühne und was ihr geziemt, wie kein anderer kannte, erproben und heutige Zuschauer von einer Warnung, die in heiterm Gewande eine ernste Bedeutung gewinnt, keine Notiz nehmen wollen?

 

Doch hat man nicht auch Minna v. Barnhelm fast vergessen, die bei ihrem Erscheinen (1767) so schlagartig ganz Deutschland berührte und die schöne Begeisterung nährte, die damals Friedrichs des Großen Thaten hervorgerufen und in der das Stück, gleichsam noch im Geräusch der Waffen, mitten in der Armee, aber in naher Verkündigung des Friedens, geschrieben, war. Göthe sagt: „Diese Production war es, die den Blick in eine höhere, bedeutendere Welt, aus der literarischen und bürgerlichen, in welcher sich die Dichtkunst bisher bewegt hatte, glücklich eröffnete. Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während des Krieges gegeneinander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden; durch den politischen Frieden konnte der Friede zwischen den Gemüthern nicht sogleich hergestellt werden. Dieses aber sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die Anmuth und Liebenswürdigkeit der Sachsinnen überwindet den Werth, die Würde, den Starrsinn der Preußen, und sowohl an den Hauptpersonen als an den Subalternen wird eine glückliche Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemäß dargestellt.“ Wir könnten noch andere Zeitbeziehungen, woran das Stück so reich ist, anführen, und daraus den Beifall, den es fand, erklären. Die Verherrlichung '' des Preußenthums und des großen Königs, die treue Schilderung des damaligen Soldatenstandes, der früher nur als ein Gegenstand des Gelächters oder doch nie von einer so Achtung gebietenden Seite auf die Bühne gebracht war, die Theilnahme für jene abgedankten Offiziere

 

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der Freibataillone, die nach ihrer rühmlichen Laufbahn in eine oft ärmliche Existenz zurückkehren sollten, der Gegensatz der ächtdeutschen Charaktere zu dem bisher übermäßig gepriesenen, seit Friedrichs Sieg bei Roßbach zu ebenso übertriebener Verachtung herabgesunkenen Franzosenthum, das hier in der lächerlichen Rolle des Ricaut de la Marliniere dem Spott preisgegeben ist, kurz die glückliche Benutzung der Zeit- und Volksstimmung, die, wie später Schiller, so Lessing der Nation lieb machte, rief aller Orten, wo Minna v. Barnhelm aufgeführt wurde, die Begeisterung des Publikums hervor. In Berlin erweckte sie zuerst ein Interesse für deutsche Dichtungen, und obwohl Anfangs die Aufführung Schwierigkeiten fand, weil „über Polizei und Regierung nicht dramatisirt werden sollte,“ ward sie später doch gestattet und sogleich binnen 22 Tagen 19 mal (im März 1768) gegeben, und in der Folge Monatelang täglich wiederholt. Sogar in Wien gestattete der Intendant Herr v. Gäbler ihr neben den aristokratischen Heroenstücken im Gottschedschen Geschmack und neben dem plebegischen Possenspiel einen Platz, freilich mehr um der abermals von Frankreich herübergekommenen Diderotschen Manier, die Lessing sammt der ganzen Gattung der Comoedie larmoyante in Schutz nahm und in seiner Minna noch beizubehalten schien, als um des ächt deutschen Inhalts willen.

 

Erkennen wir es rühmend an, daß Lessing die Nationalstimmung und sogar das rein materialistische Interesse des Volkes benutzte. Kein Dichter sollte sich diesen Vortheil entgehen lassen, aber auch ohne Affectation und mit Lessingschem oder Schillerschem Feinblick in die wahre Volksgesinnung zu Werke gehen, nicht wie so Viele, die ihre Exaltation für Nationalgefühl halten, in ein wunderliches Gebaren, oder auf Rodomontaden, die uns vor uns selbst und Fremden lächerlich machen, verfallen. Daß Lessing mit seinen dramatischen und dramaturgischen Producten

 

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den französischen Geschmack verdrängte, und einer selbstständigen Literatur den Sieg über fremde Nachäffereien erringen half, ist sein größtes Verdienst: Aber nur Schritt für Schritt verfolgte er sein Ziel. Bereits 1759 hatte er in den von ihm herausgegebenen Literaturbriefen Gottsched, dem Hauptallirten der Franzosen, den Fehdehandschuh hingeworfen, dann ein Jahr darauf Weiße wegen der französischen Dekonomie seiner Stücke angegriffen. Um aber diesen damals hochgefeierten Männern wirksam entgegenzutreten, und gewissermaßen den Krieg in Feindes Land zu spielen, erklärte er sich für den französischen Kunstrichter und Dichter, der dem bisherigen Geschmack der Franzosen im Drama Unnatur und Ueberladung vorgeworfen hatte und durch das bürgerliche Trauerspiel und das rührende Lustspiel die Natur und Wahrheit in der dramatischen Poesie herzustellen sich bemühte. Das war Diderot. Bereits 1762 übersetzte Lessing dessen Stücke und hoffte in dessen Manier! dem deutschen Theater Originalstücke zu liefern. Offenbar erkannte er das Zeitgemäße des Diderotschen Gegensatzes zu Corneille‘s, Raccine‘s und Voltaire‘s übertriebenem und kaltem Pathos, wenn er auch bald weder von Diderots Kritik noch von seiner Poesie das, was er selber erstrebte, hernahm, sondern aus sich selber schöpfte, und immer stärker und lauter auf Shakspeare und Aristoteles als Muster und Führer verwies. In der Hamburger Dramaturgie erkennen wir dies als seinen Hauptzweck; in Minna v. Barnhelm erscheint er noch äußerlich an Diderot angelehnt, im Kern der Dichtung aber schon weit über ihn hinausgeschritten und selbstständig. Die Wahrheit der Charaktere eines Tellheim, Paul Werner bis auf den Packknecht Just, Minnas hochherzige Liebe, die durch eine edle That des feindlichen Kriegers hervorgerufen ist, Franciskas gemüthlicher Muthwille müßten auch heute noch einen tiefen Eindruck machen, wenn es Schauspieler gäbe, die solche Charaktere richtig darzustellen wüßten, und Zuschauer, denen es um etwas

 

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Höheres als Zeitvertreib zu thun wäre. Mag Tellheims Ehrgefühl etwas zu starr; Minnas Entschluß dem Geliebten nachzureisen und, wie die vorlaute Franciska dem Wirthe angiebt, dem Könige von Preußen einen Offizier wegzukapern, ein wenig rasch und unbesonnen, ihr Benehmen gegen den Wiedergefundenen bald zu offenherzig bald zu versteckt erscheinen, von einem höheren als dem Standpunkt der Alltagswelt wird in Tellheim das Gefühl der Ehre, in Minna das der Liebe für ächt und wahr erkannt werden und Lessing, wie fast immer, vor dem strengsten Kunstrichter Recht behalten. Am häufigsten und nicht ohne Grund ist die Quälerei mit dem Ringe getadelt worden. Man darf aber nicht übersehen, daß Minna anfangs absichtslos und unbewußt die Verwechselung ihres Ringes mit dem von Tellheim beim Wirth versetzten und in ihre Hände gerathenen Verlobungsringe vornimmt. Veranlaßt dieses jene für beide so marternde Scenen, denen, weil eines Jeden Gefühl gereizt und gekränkt wird, nicht mehr ein Wort des Geständnisses, der Aufklärung, der Versöhnung, ein Ende machen kann; so spricht die Warnung vor dergleichen unbedachten Handlungen desto lauter. Wir freuen uns um so inniger die schlimmen Folgen endlich glücklich abgewandt zu sehen und fühlen tief die Worte der hartgeprüften Liebe, wenn Minna in Tellheims Armen ausruft: „Nein, ich kann es nicht bereuen mir den Anblick Ihres ganzen Herzens verschafft zu haben,“ und Tellheim erwiedert: „O boshafter Engel, mich so zu quälen!“-- Ueberdies hat Lessing sinnvoll an den Ring das Schicksal der Personen des Stücks geknüpft, nicht nur der Haupthelden, auch Werners und Franciskas. So ist der Ring das Symbol der Liebe in diesem Liebesstücke.

 

Mit Uebergehung des „Schatzes“ eines einactigen Lustspiels, das ein Stück des römischen Dichters Plautus der deutschen Bühne übergeben

 

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sollte, aber von dieser früh verschwand, wohl hauptsächlich, weil kein Frauenzimmer darin vorkommt, wenden wir uns zu Lessings Trauerspielen, die zwar in ihrer Gattung nicht mehr, wie Minna v. Barnhelm als Lustspiel, als die einzigen unübertroffenen deutschen Originale da stehen, aber die Reihe unsrer klassischen dramatischen Stücke glänzend eröffnen und den größern Meistern die Bahn zum Gipfel der Kunst ebneten. Mit Miß Sara Sampson begann (1755) Lessing die Revolution, welche die Herrschaft des Gottschedisch-französischen Geschmacks stürzte und das Gebäude hohler Theorien über den Haufen warf. Der Uebergang von dem geschraubten, der deutschen Sprache durchaus widerstrebenden Alexandriner zur Prosa, die Aufhebung der von französischen Kunstrichtern strenge gebotenen sogenannten Bühneneinheit durch Veränderung der Scenerie, die absichtliche Verlegung des Schauplatzes nach England, die Versetzung der Handlung und der Charaktere aus der höhern Region in den Mittelstand, wodurch an Stelle der bis zur Unnatur pathetischen und mit Nichts als Schwulst erfüllten Tragödie das bürgerliche Trauerspiel auf die deutsche Bühne gelangte, war ein Ereigniß in der deutschen Literatur, das sich wohl, wie Gervinus sagt, mit der Erhebung des tiers etat, des Bürgerthums in der französischen Revolution vergleichen läßt. Electrisch wirkte der Schlag und alle Bühnendichter, die von Gottsched, dem damaligen Monarchen im Gebiet der dramatischen Poesie, sich lossagten, folgten Lessings Fahne. Wer diese Wirkung erst in Goethes und Schillers Jugendstücken wahrzunehmen meint, vergißt, daß die näher liegenden Nachahmungen von Pfeil, Lieberkühn, Martini u. A. im Kriegsstürme, der damals Sachsen, besonders Leipzig, den Mittelpunkt der Bühne, bedrohte, keine Stätte zu nachhaltiger Wirkung fanden, und daß Stücke, wie Lucie Woodwill, Rhynsolt, die Lissaboner u. dergl. m. nur ephemere Erscheinungen waren, während Miß Sara Sampson, die damals sogar in Frankreich, bei dem Herzog

 

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v. Noailles zu St. Germain in Gegenwart des Hofes, mit großem Beifall aufgeführt und von Diderot als Muster neben englischen Stücken der Gattung empfohlen ward, nicht blos für den Literaturhistoriker, als das erste deutsche Trauerspiel, das dem steifen französischen Kothurn entsagte, Bedeutung hat, sondern auch dem Kritiker trotz aller Mängel, die er darin findet, ein reiches Studium darbietet.

 

Ueber die ganze Gattung der bürgerlichen Trauerspiele ist vielfach dafür und dawider gesprochen. Nicht erst Diderot ist ihr Schöpfer, denn schon früher war sie in England verbreitet und beliebt. Daß Lessing wie gewöhnlich behauptet wird, „den Kaufmann von London“ des Tillo für den Charakter seiner Marwood benutzte, wäre nicht unwahrscheinlich, da ihm gewiß die Gattung der Engländer nicht fremd war. Doch wer die Tillosche Milwood mit Lessings Marwood vergleicht, wird den Unterschied von Unnatur in jener und Natur in dieser auf den ersten Blik erkennen. Wir möchten ein ganz anderes Vorbild für die letztere bei einem ganz andern englischen Dichter suchen, was wir nachher thun wollen. Nicht in England, nicht in Frankreich hat das bürgerliche Trauerspiel den Grad der Vollendung erreicht, welchen Lessing ihm in Deutschland zu geben vermochte. Warum Diderot und sein Mitkämpfer Marmontel vergeblich wider Herkommen und Unnatur ankämpften, sagt unser Dichter in seiner Hamburger Dramaturgie: „Die Nation (der Franzosen) ist zu eitel, ist in Titel und andre äußerliche Vorzüge zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen, und Gesellschaft mit seines Gleichen ist soviel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk, die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller Wahrheit und Stärke zu zeigen versteht.“ -- Man sieht, Lessing hielt-Diderot nicht für das glückliche Genie, der Natur

 

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zu ihrem Rechte zu verhelfen. Wollte er es selber für Deutschland werden, wie er es ward, so mußte er sein Volk schonen und den Vorwurf, den dasselbe wohl mehr als das französische verdient, dem fremden machen. Um sein Publikum zu gewinnen, oder doch von dem falschen Geschmack auf ein richtiges Verständniß dramatischer Wirkungen zu leiten, nahm er das bürgerliche Trauerspiel in Schutz und Pflege. Seine Sara Sampson ist von demselben Standpunkte zu beurtheilen, den er in seiner Dramaturgie wählte, wenn er zu dem Hamburger oder vielmehr zu dem gesammten deutschen Publikum sprach: „Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen, und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter“ u. s. w. Das Mitleid für uns Gleichstehende, wie es das bürgerliche Trauerspiel zu erwecken sucht, darf indeß keineswegs auf Leiden und traurige Ereignisse, die diesen und jenen treffen können, sich beschränken, sondern muß ein allgemeineres, so zu sagen ein menschheitliches Intresse hervorrufen, zur generellen Bedeutung sich erheben, so daß dadurch es gleichgültig wird, von welcher Klasse, von welchem Range die handelnden Personen in einem Drama sind. Wenn diese höhere Tendenz des wahrhaft Tragischen vorwaltet, ist wider das bürgerliche Trauerspiel nichts einzuwenden und das glückliche Genie wird überall die ächt tragische Wirkung erreichen. Nicht die Gattung an sich, sondern nur die Verirrungen in derselben wird eine unbefangene Kritik verwerfen, wie Lessing nur die Verirrungen der höhern Tragödie, die Unnatur der französischen und der noch schlechtern deutschen seiner Zeit verwarf und durch eine in Form und Inhalt ihr entgegengesetzten zu verdängen suchte. Wer so wie Lessing die Alten kannte und Shakespeare verehrte, ja stets auf sie verwies,

 

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durfte auch von einer Gattung, die ihnen ganz fern lag, für seinen Regenerationsplan Anwendung machen, wenn nur das Wesen der Kunst in ihr bewahrt blieb. Daß ein erster Versuch, obendrein in einer neuen Gattung schon künstlerisch vollendet sei, wer darf das selbst von dem größten Genie fordern? Lessing, der sich nie für einen Dichter hielt, erkannte in reifern Jahren die Auswüchse und Fehler seines ersten Trauerspiels sehr wohl, wenn er auch einer gänzlichen Umarbeitung sich nicht unterziehen wollte. Der Vorwurf, daß in seinen Dichtungen der Verstand zu viel raisonnire und aus jedem vorgeführten Gedanken zu unserm Verstande rede, anstatt Herz und Phantasie zu erwärmen, trifft die Miß Sara Sampson besonders. Daraus entsteht eine Breite und Gedehntheit, die um so fühlbarer wird, als Lessings plane, einfache Ausdrucksweise die beabsichtigte Motivirung so scharf hervorhebt, Schillers lange Reflexionen werden durch den reichen Schmelz der Sprache verdeckt, und da sie nichts weniger als Motivirung der Handlung oder der Charaktere enthalten, fordern sie nicht den Verstand heraus, sondern beleben die Phantasie, das Gefühl, alle Seiten des Herzens. In Göthes Jugendwerken erkennt man fast eine Nachahmung des Lessingschen Styls; gerade so einfach, klar und verständig, aber der geborene Poet weiß die Gedanken in Gefühle zu verwandeln und läßt diese aus seinen Personen reden. Hätte Lessing früher als im Nathan des Verses sich bedient, so würde er dadurch zwar nicht poetischer aber gedrängter geschrieben haben. In seiner Sara Sampson ist die Breite oft unerträglich, z. B. in der Scene des 3. Akts, wo der Diener Sampsons der Sara des Vaters Brief überreicht. Wie viel Fragen, Betrachtungen, Vorwürfe, Zweifel und lange Reden, ehe sie das Schreiben zu lesen sich entschließt, was doch das Erste ist, was man erwartet.

 

Wenn trotz dieser und vieler anderen Fehler, wozu auch die

 

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allzuhäufigen Thränen, Gejammer und Gewinsel der Heldin zu rechnen sind, gleichwohl das Stück ein reiches Studium für die Kritiker genannt werden muß, so bezieht sich dies besonders auf die naturwahren Charaktere, die das Siegel treuer Menschenbeobachtung an sich tragen und schon beweisen, daß Lessing die Shakspearische Schule sich früh zu Nutze gemacht hatte. Ich will nur zwei herausheben, die uns zugleich in eine Gallerie ähnlicher Charaktere bei spätern Dichtern einführen, Mellefont, den Geliebten der Sara, und deren Nebenbuhlerin Marwood. Ersterer ist als Lüstling und Verführer scharf gezeichnet, ohne Karrikatur zu werden. Wann, hätten Charaktere, für deren höchste Spitze gewöhnlich Don Juan gilt, in der Poesie, ja im Leben nicht Beifall gefunden? Man verzeiht Mellefont seine früheren Ausschweifungen, weil er Sara wirklich liebt und nicht wieder von Marwoods Künsten sich abwenden läßt, ja selbst in den Bitten seines Kindes Arabella, die von der Mutter dazu angeleitet ist, die Stimme der Natur überhört. Verzeiht man ihm aber auch seine Scheu vor der Ehe? „Sara Sampson, meine Geliebte!“ ruft er vor sich hin, „Wieviel Seligkeiten liegen in diesen Worten! Sara Sampson meine Ehegattin! die Hälfte dieser Seligkeiten ist verschwunden.“ Und zu dem ihn unablässig mahnenden Diener Northon spricht er: „So gewiß es ist, daß ich meine Sara ewig lieben werde, so wenig will es mir ein, daß ich sie ewig lieben soll – soll!“ -- Mellefont hörte auf Wüstling zu sein, wenn er nicht so dächte, und das soll er nicht eher aufhören, als bis die tragische Katastrophe ihn gänzlich ändert, aber auch --- nothwendig ihn vernichtet.

 

Dieser Mellefont ist das Vorbild zahlloser Wüstlinge in deutschen Dramen geworden. Wer erkennte nicht in allen Jugendwerken Göthes ähnliche Charaktere? Und doch, wie überragt alle, selbst die Götheschen, dieser Mellefont! Die Clavigo, Fernando, Weißlingen. sind Schwächlinge

 

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ohne alle innere Haltung, die kein Mitleid erregen, noch weniger Furcht, keine Läuterung des Gefühls, keine Erhebung der Seele! Die Opfer ihrer Schuld können wir nur beklagen, daß sie so gänzlich Unwürdigen in Liebe sich hingaben. Erst Egmont gewinnt uns, da er ein Gegengewicht in seiner freien Männlichkeit in sich trägt und Clärchen geringer in die Wagschale fällt als Sara, die nur in Shakespeares Julia ein würdiges Gegenbild hingebender Liebe findet.

 

Dies führt uns auf das Zweite, was ich hier erwähnen will. Noch immer zu wenig haben die Erklärer Lessings aus seinen dramatischen Charakteren die Shakespearische Schule nachgewiesen. Da er den Britten so gründlich studirt und allen deutschen Dramatikern ihn als Vorbild empfohlen hat, wäre es interessant, bei ihm selbst die Muster, die er benutzte, nachzuweisen. Wir wollen versuchen ein Beispiel dafür zu geben. Nur freilich darf man bei ihm nicht auf der Oberfläche die Nachahmung suchen und eine freie Selbstschöpfung dabei ausschließen. Lehrt er doch in seiner Dramaturgie, wie man den englischen Meister nutzen müsse. „Shakespeare will studirt, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist; er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projectirt; aber er borge nichts daraus.“ Ich möchte nicht nach der gewöhnlichen Ansicht die Marwood für eine Entlehnung aus Tillos „Kaufmann von London“ halten, wo eine Lady Milwood mit aller Körper-Schönheit ausgestattet, reich an Verstand, aber mit einem wahrhaft teuflischen Herzen, um sich an allen Männern zu rächen, die sie für die kalten Verhöhner weiblicher Tugend ansieht, nicht einen solchen Schuldigen, sondern einen noch unschuldigen Jüngling von 18 Jahren zum Racheopfer erwählt und ihn zu den ärgsten Freveln, zuletzt zu Ermordung seines Oheims und Wohlthäters

 

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verleitet. Beide sterben, auf dem Schaffot, der verführte Barwell von tiefster Reue ergriffen, Milwood noch im Tode voll heißer Rache gegen das Männergeschlecht. Hätte Lessing wohl eine solche Unnatur der Nachahmung würdig erachtet? Gewiß nicht. Aber diesen weiblichen Charakter zur Natur zurückführen wollen? Das heißt ihn neu erschaffen, und das that er auch. Wenn er indessen die Grenzen, wie weit er gehen dürfe, suchte und in seine camera obscura in Shakespeare blickte, sollte ihm da nicht Richard III. Maaßstab und Muster werden? Ja für ein Resultat seiner Studien Richards, für ein Gegenstück zu diesem würde ich jene Marwood halten, ohne daß auch nur ein Zug ihm abgeborgt zu sein braucht. Was ist‘s, das uns für Richard III. Theilnahme und Bewunderung erweckt, obgleich wir seine Thaten verabscheuen? Die Energie seines Charakters ist‘s, um deretwillen wir ihm alle Listen und Ränke, Grausamkeit und Frevel verzeihen, weil die Anerkennung jener dem Abscheu an diesen ein Gegengewicht giebt und das Interesse für ihn unterhält. -- Auch bei Marwood bleibt unser Abscheu und unsere Bewunderung in der Schwebe. Wie Richard als König Gelegenheit findet die ganze Potenz seines Wesens zu entfalten, so Marwood als verlassene Buhlerin ihre weibliche Stärke. Beider Energie in höchster Steigerung, entwickelt zu sehen bis sie dem Uebermaaß der Anspannung so nahe dem Ziele erliegen, erregt ein ächt tragisches Interesse. Daß Marwood das Leben rettet, Richard in der Schlacht endet, ist an sich gleichgültig, denn geendet für den Zweck der Dichtung haben beide. Marwoods Entrinnen ist aber der Wirkung nach wiederum dem Tode Richards gleich; denn ihr leiblicher Tod ist für ihr Abtreten vom Schauplatz ihrer Thaten nicht nothwendig wie Richards Tod es ist. Wie wir diesen nicht länger leben, wollen wir jene nicht sterben sehen. Unser Abscheu ist in beiden Fällen ebenso gerechtfertigt, wie unsere Bewunderung befriedigt. Wir freuen uns zwiefach über Richards

 

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Tod und zwiefach über Marwoods erhaltenes Dasein. Geriethen beide in die Hände ihrer Richter, so wäre uns nur zur Hälfte, es wäre nur unserm Abscheu, nicht zugleich unserer Bewunderung genügt. -- Näher als mit Richard liegt freilich die Parallele mit Medea. Marwood ist in der That ein medeischer Charakter und sie selbst ist entschlossen eine Medea zu werden. Aber, was diese so widrig macht, der Kindermord wird hier nur gedroht, nicht vollzogen. Die Rache an der Nebenbuhlerin ist nicht beleidigend für das Gefühl, sie geht aus einer gerechteren Ursache als bei Medea hervor. Marwood, betrogen um Liebe und Ehre, um jedes Lebensglück, verhöhnt als Mensch und Weib, was bleibt ihr übrig als Rache? Schenken wir dem Opfer ihrer Leidenschaft unsere Thränen, der von den Furien dieser Leidenschaft Getriebenen können wir unser Mitleid nicht versagen. Die Menschheit, die Natur des Weibes ist in ihr nicht untergegangen, wir sehen nur ein betrogenes, liebendes Weib, die der Raub einer wilden Leidenschaft geworden ist. –

 

In Marwood und Orsina hat Lessing nicht nur die tragische Wirkung von Buhlerinnen auf den höchsten Punkt, den die Kunst gestattet, gesteigert, sondern in diesen beiden Figuren das Wesen der Buhlschaft, so weit es das ästhetische Gefühl nicht beleidigt, erschöpft. Bei Marwood ist es der Kopf, der ein herzloses Gemüth die Sprache der hinreißenden Ueberredung, der Rührung und Erschütterung so täuschend nachahmen lehrt, das eines Mellefont kalter Spott, seine gänzlich erstorbene Gluth erforderlich sind, um der Verführerin nicht zu unterliegen. Die Unterredung beider im zweiten Akt ist ein Meisterstück, das kaum seines Gleichen findet. Bei Orsina sucht das Herz den Verstand in Dienst zu nehmen; sie hat, um des Prinzen Liebe zu fesseln, wie Marinelli sagt, zu den Büchern ihre Zuflucht genommen und die spannen denn die aufgeregte Phantasie und ihre Nerven so sehr, daß eine Verstandeszerrüttung

 

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die nothwendige Folge ist. Marwoods glänzender Verstand, Orsinas gefühlvolles Herz, gepaart mit dem Charakter der Buhlerin, erschöpfen diesen Schiller in seiner Lady Milford nahm noch zur Hochherzigkeit, zum Nationalstolz Zuflucht, dadurch aber hob er das Wesen der Buhlerin als solcher auf. Göthes Adelheide im Götz ist nur Verführerinn, Clärchen im Egmont mehr eine vom eigenen Herzen als von dem Buhlen Verführte, die im Besitz des angebeteten Gegenstandes ihrer Liebe glücklich ist und den Stachel der Eifersucht nicht kennt. Nur wo ein Kampf um den Besitz des Geliebten stattfindet, wird der Charakter der Buhlerin eine ächt tragische Wirkung hervorbringen können. Der überwiegende Verstand in Lessing war es, der ihn zu Schöpfungen solcher Charaktere so ganz befähigte.

 

In dem einactigen Trauerspiel Philotas versuchte Lessing einmal antike Charaktere in heroischer Weise, doch ohne die manierirte Steifheit der französischen Tragiker zu zeichnen. Wenn er aber auch die Aufgabe mit gewohnter Meisterschaft löste, so dünkt mich doch, daß er mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk vollbracht habe, und daß der Vers hier nicht hätte fehlen dürfen. In dieser Gattung fand unsere dramatische Literatur nach Lessing erst wahre Bereicherung, und wenn auch nicht Gerstenbergs Ugholino, überragt den Philotas doch weit Göthes Iphigenie in nie erreichter Vollendung.

 

Wenden, wir uns zu einem Stern erster Größe, den Lessings Geist hervorgebracht, zu seiner Emilia Galotti. Wieviel ist über dieses klassische Werk schon gesagt und geschrieben worden. Auch an Tadlern hat es nicht gefehlt. Um zwei Punkte drehte sich vornehmlich der Streit der Kunstrichter. Die Einen erkannten es für einen Fehlgriff, daß der Dichter die große That des Virginius, welche einst im alten

 

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Rom eine Staatsumwälzung von höchster Bedeutung veranlaßte, in den kleinen Ramen eines bürgerlichen Trauerspiels eingeengt habe, und daß er unter so veränderten Verhältnissen; an dem Hofe eines kleinen italienischen Fürsten die Entehrung eines Mädchens nicht anders als in jenen alten Zeiten der römischen Republik, wo jedem Vater über seine Kinder volle Gewalt zustand, abwenden läßt. Die Vertheidiger Lessings entgegneten auf den ersten Vorwurf: die von Livius erzählte Geschichte erwecke nur nach altrömischen Begriffen Bewunderung, Virginius habe mehr aus beleidigtem Stolz oder aus politischen Gründen, als um der Tochter Schmach abzuwenden, sein väterliches Recht gebraucht und die That nur historische Bedeutung, weil sie die Vertreibung der Zehnmänner, die anstatt der Republik heilsame Gesehe zu geben eine tyrannische Gewalt und freche Willkür übten, veranlaßte. Die vorausgehenden und nachfolgenden Ereignisse überwögen das Interesse an Virginias Tod und seien wiederum zu umfangreich für ein Drama, eine Vereinfachung, Absonderung, Begränzung aber lasse den Dramatiker hinter dem Historiker zurück. Bekanntlich wollte Lessing Anfangs den Urstoff beibehalten und ihn nur nach seiner Anschauung auffassen. Das Ehrgefühl allein sollte die That des Virginius motiviren, Virginia als das Opfer reinerhaltener Jungfräulichkeit fallen. Diese Ansicht machte schon den römischen Boden, die heidnische Zeit, die begleitenden historischen Ereignisse ganz entbehrlich und so konnte der Dichter das, worauf es ihm ankam, in ein beliebiges, also auch in ein modernes Gewand kleiden. Schwieriger ist die Widerlegung des zweiten Tadels, den wir angaben. Gervinus sagt: *) „Es war ein Meistergriff, daß Lessing in dem einmal gegebenen Stoffe das Kind zur tragischen Figur machte, da es in der alten Fabel der Vater ist, was nach den neuen Begriffen, die dem Vater nicht soviel Macht über die

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*) S. Geschichte der Nat. Lit. der Deutschen Bd. IV. Seite 407.

 

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Tochter geben, zu ungeheuer ausgefallen sein würde.“ -- Mit dieser Art Rechfertigung ist wenig gewonnen; auch liegt ein zwiefacher Widerspruch darin. Denn einmal ist der Stoff kein gegebener zu nennen, da der Dichter davon nichts mehr behielt als einen Vater, der seine Tochter ermordete, und obendrein diese, nicht, wie der ursprüngliche Fall erheischte, den Vater zur Hauptfigur machte. Zweitens: wenn nach den neuern Begriffen dem Vater nicht die Macht über Leben und Tod des Kindes gegeben ist, so bleibt der Einwurf, daß Odoardos That bei weitem nicht so motivirt sei als die seines Vorbildes Virginius unwiderlegt, mag der Tödter oder die Getödtete die Hauptfigur sein, denn Niemand hat getadelt, daß Emilia zur Heldin des Stückes gemacht wurde. Das stand in des Dichters Belieben, wenn er einmal die alte Begebenheit mit einer selbsterfundenen vertauschte; ist also kein Meistergriff darin zu erfennen.

 

Wie haben doch Tadler und Vertheidiger nutzlose Mühe sich gegeben eine That, die nicht mehr die altrömische sein, sondern nur an diese erinnern sollte, zu verwerfen, oder zu rechtfertigen! Lessing müßte nicht Lessing sein, wenn er schwache, oder falsche Motive für dieselbe darböte. Die Charaktere und die Situationen erklären sie vollständig, wenn sie auch ganz andere als die in der römischen Geschichte sind. Und nach keinen anderen Motiven als denen, die im Stücke sich vorfinden, darf geurtheilt werden. Wer hier einen Grund zum Tadeln haben will, suche ihn darin, daß in dem Trauerspiel Alles von vornherein, auf die That im Ausgange angelegt ist; daß um dieser That willen gewissermaßen das ganze Stück gemacht ist. Damit aber spricht man Lessings Individualität aus, und, was er selbst fühlte, daß er zum Dichter nicht geboren sei, daß der Verstand, nicht die poetische Inspiration seine Produkte hervorgebracht habe, daß er mehr philosophischer als, um mich so

 

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auszudrücken, poetischer Dichter gewesen. Vermöge seiner Verstandesschärfe übte er die dichterische Kraft, stets sich des Zweckes bewußt und überall nach Wahrheit und nach Wirkung durch sie strebend. Die volle Reife seines dichtenden Verstandes wird uns in Emilia Galotti offenbar, einem Stücke, das für alle Zeiten ein unerschöpfliches Studium für den dramatischen Dichter, für den Schauspieler und für den Kunstrichter bleiben wird. Der feinste Beobachtungsgeist, die tiefste Erkenntniß der menschlichen Natur, der Leidenschaften und ihres Getriebes, die trefflichste Charakterzeichnung geben ihm den Stempel der Meisterschaft. Vom Prinzen Hettore Gonzaga bis zum Banditen Angelo herab bewegen sich vor uns Menschengebilde, treue Abbilder der Welt, aus der sie genommen sind. In dem Dialog ist jedes Wort an seiner Stelle, die Personen sprechen, nicht der Dichter. Wohin unser Blick sich wendet, überall begegnet ihm des Ganzen Ein- und Zusammenklang bis auf die kleinsten Züge nicht zu verkennender Wahrheit.

 

Nur über einige der Charakere hier noch ein Paar Worte. Zwei derselben scheinen auf den ersten Anblick eine Wiederholung aus Miß Sara Sampson, der Prinz dem Mellefont, die Gräfin Orsina der Marwood zu gleichen. Doch näher betrachtet, welche Verschiedenheit! Wir bemerkten schon vorher, daß Orsina aus einer sentimentalen Seelenstimmung die bis zum Wahnwitz getriebene Buhlerin wird, während Marwood, die mit kaltem Herzen den Plan ihrer Rache verfolgt, durch Geistesschärfe imponirt. Welche mehr unser Mitleid anregt, brauche ich nicht erst zu sagen. Aber auch als Schöpfung des Dichters steht Orsina der andern weit voran. Noch hat kein deutscher Dichter den Wahnsinn dramatisirt oder vielmehr personificirt, wie Lessing es hier gethan, jene Mischung von Verworrenheit und Klarheit, die bald unverständliche Reden erzeugt, bald wie das Hellsehen eines höher begabten Wesens emporsteigt.

 

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Keine Figur moderner Dramatiker, nicht Shakespeares Margarethe in Richard III., nicht Schillers Jungfrau von Orlean, erinnert so an die Wahrsager und Seher in den griechischen Tragödien und ist so ganz durch ihren geistigen Organismus zur Schicksalsverkündigung geeignet als diese dämonische Orsina. Dadurch gewinnt ihre Erscheinung eine höhere Bedeutung und übt auf ganz natürliche Weise den Eindruck des Wunderbaren. Denn ihr aus Liebe und Romanlectüre erzeugter Wahnsinn ist durchaus nicht unerklärbar, aber seine Wirkung um so stärker, als er durch die psychologische Wahrheit, mit der er aufgefaßt ist, uns erschüttert. Wenn Göthe einmal an Schiller schreibt: „Wir Modernen können für die Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz finden,“ so hat er der Art, wie Lessing uns einen Ersatz zu geben wußte, vergessen. Dieses einzige Beispiel eines glücklichen Ersatzes, den so viel unglückliche Versuche neuerer Dichter keine Allgemeinheit eines wünschenswerthen tragischen Elementes zu geben vermochten, läßt freilich Goethes erwähnte Mangelhaftigkeit der modernen Dramatik noch immer fühlbar werden. Schiller im Wallenstein und in der Jungfrau suchte durch Astrologie und Somnambulismus das Wunderbare in die Tragödie zu bringen. So sehr ihm dies geglückt, eine Wiederholung jener Mittel würde nicht zu empfehlen sein, während Lessings natürliche Hervorrufung wunderähnlicher Wirkung nicht so leicht abgenutzt wäre, wenn stets ein rechter Gebrauch davon gemacht würde.

 

Wie Orsina ist der Prinz eine neue Gestalt, ein ganz anderer Lüstling. als Mellefont. Von diesem erfahren wir (im Stücke selbst) eigentlich nur, daß er ausschweifend gewesen; seit er Sara liebt, ist er zwar noch ihr Verführer, aber auch entschlossen den Fehl gut zu machen. Die Scheu vor der Ehe nennt er selbst eine Grille und bei

 

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seinem guten Herzen wirken die Bitten Saras, die Mahnungen seines Dieners Norton, der Brief des alten Sampson und vor allem die wahre Liebe, die ihn erfüllt, zu mächtig, als daß wir Böses von seiner Seite zu fürchten brauchen. Ganz anders tritt Hettore Gonzaga auf. Ein Prinz, dessen Leidenschaft für eine ihm nicht Ebenbürtige erglüht, ist ein viel gefährlicherer Feind der noch nicht gefallenen Unschuld als ein Verführer, der sein Unrecht an der Verführten gut machen kann und will. Vollends Hettore, dieser verzogene Fürst, ohne Kraft und Selbstständigkeit, frech und schüchtern, aufbrausend und geschmeidig, herrisch und unterthänig, beharrlich, wo die Leidenschaft seine Sinne reizt, übrigens am Gängelbande ihn leitender Ministerwillkür; so kündigt er sich in der ersten Scene an, so steht er am Schluße da, als das Opfer blutend vor ihm liegt. Ein Fürst, der Wollüstling und Schwächling ist, war stets eine zu pikante Theaterfigur, als daß nicht tausend dergleichen von dramatischen Dichtern, wie von Romanschreibern vorgeführt worden wären. Welcher aber erreicht je Lessing in Naturwahrheit der Zeichnung? Was liegt nicht Alles in den wenigen Worten Hettores, als ihm Rota ein Todesurtheil zu unterschreiben vorlegt: „Recht gern - nur her - geschwind!“ oder in jener Zurechtweisung, als er Marinellis unbesonnenen Mordplan gegen Appiani tadelt: „Topp, auch ich erschrecke vor einem kleinen Verbrechen nicht, nur muß es ein kleines, stilles Verbrechen sein.“ Wie charakterisirt es den verwöhnten Lüstling, daß er Emilias Bildniß zur Erde wirft, als er von Marinelli erfährt, daß die, nach der er lüstern ist, durch die baldige Vermählung mit Appiani ihm entzogen werden soll! Wahre Liebe ehrt auch das Bild der Geliebten hoch. Dem Wüstling ist es Nichts, wenn er nicht den Gegenstand des Bildes erlangen kann; bei jedem Portrait einer weiblichen Schönheit fühlt er Sinnenlust, die reine Bewunderung der Schönheit kennt er nicht. „Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt,“ sagt sehr richtig der alte Galotti.

 

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Einen langen Commentar könnte man zu diesem und zu jedem Zuge des Prinzen machen.

 

An Emilia bewundert man die harmonische Bildung von Geist und Herz, und diese geistige Schönheit mußte auf einen Weiberkenner wie Hettore größern Reiz üben als die körperlichen Vollkommenheiten, die ihm der Maler Conti mit Künstler-Enthusiasmus rühmt! Den Schlüssel zu ihrem ganzen Wesen giebt uns die Mutter im 4. Akt: „Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unseres Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig, aber nach der geringsten Ueberlegung in Alles sich findend, auf Alles gefaßt. Sie hält den Prinzen in einer Entfernung, sie spricht mit ihm in einem Tone u. s. w.“ Ihr erstes Auftreten zeigt uns das verschüchterte, betäubte Mädchen in der Erzählung von dem Zusammentreffen mit dem Prinzen in der Frühmesse. Diese Erzählung ist ein Meisterstück. Seltsam möchte es scheinen, daß Emilia in dem Prinzen den Wollüstling wieder erkannte, „Was ist dem Laster Kirche und Altar“ ruft sie -- und doch zu unterliegen fürchtet, sie, die glücklichste Braut des edelsten Mannes? Man vergesse aber nicht, daß ein Lüstling, wenn er von Natur gefällige Eigenschaften besitzt und gar einen Achtung gebietenden Rang hat, für Frauen einen Reiz, eine Gewalt behält, die wohl Furcht, aber nie Widerwillen einflößen. Nur dieser schützt ein weiblich Herz vor einem Fehltritt, die Furcht verschließt nicht den Sinnenreiz und erliegt der Versuchung. -- Die Seite an Emilia, die den Prinzen so bezaubert hat, ihr Witz, ihre Munterkeit findet nirgends im Stücke Gelegenheit recht deutlich hervorzutreten, gleichwohl errathen wir sie völlig, z. B. aus den wenigen Worten, mit welchen sie ihrer Angst nach der Erzählung von dem Vorfall in der Kirche Luft macht. „Was für ein albernes furchtsames Ding ich bin! Nicht wahr, meine Mutter, ich hätte mich wohl noch anders dabei nehmen können

 

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und würde mir ebenso wenig vergeben haben.“ Die Art, wie sie dem Bräutigam ihren Brautstaat beschreibt, verräth jene Züge eines mehr heitern als sentimentalen Charakters, wozu nur die Ereignisse des verhängnißreichen Tages sie machen. Schalkheit und Tiefe des Gemüths sind oft gepaart. Sie machen Emilia zu einem ächtweiblichen Wesen von höchster Liebenswürdigkeit. Ich begreife nicht, wie man Lessings Frauencharaftere hat mißverstehen und kalt nennen können. Was haben wir mit Minna, Sara, Emilia, Recha zu vergleichen als etwa noch Göthes jungfräuliche Gestalten?

 

Die gutmüthige Eitelkeit der Claudia bedarf keines Fingerzeiges, daß aber an diese Eitelkeit, womit ihr Herz den Triumph vom Emilias Reizen in den Augen des Fürsten feiert, das ganze Verhängniß geknüpft ist, diese meisterhafte Anlage ist nicht zu übersehen. Als Emilia mit dem Vertrauen, das einer Braut geziemt, sagte: „Aber nicht, meine Mutter, der Graf muß das wissen, ihm muß ich es sagen?“ antwortet Claudia: „Um alle Welt nicht! Wozu? warum? Willst du für Nichts und wieder Nichts ihn unruhig machen? -- Was auf den Liebhaber keinen Eindruck macht, kann ihn auf den Gemahl machen. Dem Liebhaber könnt es sogar schmeicheln, einem so mächtigen Mitbewerber den Rang abzulaufen“ u. s. w. Hinter diesen weisen Mutterlehren, hinter diesem unseligen Rath liegt die unglückselige Katastrophe versteckt!

 

Der sentimentale Appiani hat vielfach Ungunst erfahren. Und doch, bei seinem kurzen Erscheinen, bei seinem grausen Geschick am Tage des höchsten Glückes, hätte da wohl eine andre Auffassung so tiefen Eindruck zurückgelassen? Die Ursache, die Appiani so ernst, feierlich und beinahe ahnungsvoll gestimmt hat, daß er nämlich auf Verlangen seiner Freunde dem Prinzen seine Verbindung mit Emilia anzeigen will, ist

 

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vortrefflich gewählt. Ebenso gute Wirkung macht sein Freiheitsstolz, die Aufwallung, als Marinelli ihn durch Geringachtung der Braut und ihrer Familie beleidigt, und die dadurch verscheuchte Schwermuth; Alles bildet mit seiner innigen Liebe ein harmonisches Ganzes, an dem man nichts Bekritteln oder anders wünschen sollte.

 

Wie Orsina war auch Marinelli eine neue Erscheinung auf der deutschen Bühne. So treu der Welt entnommen hatte man noch keine Hofschranzen und Fürstenkuppler auf der Bühne gesehen. Durch seine Dienstfertigkeit jeder Art, auch der schlechtesten, ist er der Herr seines gebietenden Herrn, mit dessen Launen, Begierden und Lüsten er spielt und sie leitet, wie sie ihm zu seinen eigenen Zwecken taugen und nützen. Dafür läßt er sich zu Zeiten Mißmuth, Spott und Hohn, Kränkungen und Beleidigungen gefallen, ermangelt indeß nicht gelegentlich zurückzugeben, was er empfangen hat. Die Kunst der Höfe das Getriebe der Leidenschaften schlau zu verbergen, Freundschaft zu heucheln, Verrath und Trug hinter der Larve des Diensteifers und der Offenheit zu verstecken, hat er bis zur höchsten Vollendung erlernt. Keck in Worten, feig in der That, ein demüthiger Diener und ein hochfahrender Herrschling stellt er sich dar, ein treuer Spiegel hofschranzischer Nichtswürdigkeit. Und wie bleibt er doch so im Recht gegen einen Fürsten wie Hettore Gonzaga! Wenn einmal Fürsten ihren Kreaturen ein schlechtes Werk auftragen, so überlassen sie es ihnen doch ganz ohne Einmischung, damit es nicht sie selber um den Gewinn bringe! Halbheit taugt so wenig zum Schlechten als zum Guten!

 

Und jetzt noch ein Wort über Odoardo. Daß auch ein Charakter wie dieser der Wirklichkeit nicht fremd sei, leidet keinen Zweifel, aber

 

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weil ihm die That, um deretwillen das ganze Stück geschrieben wurde, auferlegt war, mußte von vornherein uns klar werden, daß er ganz der Mann dazu sei. Es genügte nicht in ihm den Graukopf mit Jünglingsfeuer zu zeichnen; denn ein solcher wäre noch nicht wegen Ermordung seines einzigen Kindes gerechtfertigt, vielmehr erschiene seine That dann nur eine Uebereilung. Den raschen Entschluß erklärte höchstens jener aufbrausende Sinn; doch wir sehen ihn nach reiflicher Ueberlegung zum Unvermeidlichen schreiten. Mit List weiß er den Prinzen und den schlauen Marinelli sicher zu machen und ein Alleingespräch mit der Tochter zu erlangen. Der Gedanke den Fürsten zu ermorden kommt aus dem aufbrausenden Jünglingskopf; den Dolch in der Tochter Herz zu senken, erhält den letzten Impuls von dieser selbst, indem ihr Gefühl der drohenden Schande, seine Ueberzeugung von dem Unabwendbaren bestätigt. Welche Seite in Odoardos Charakter rechtfertigt nun diese Ueberzeugung? -- Seine übertriebene strenge Ansicht von Sittlichkeit, die im geringsten Verstoß eine Tugendverletzung erkennt, das ist‘s, was ihm sein eigen Blut nicht schonen läßt, wenn es der Schande zu verfallen in Gefahr steht. Dieß verräth gleich sein erstes Auftreten. Er fragt nach Emilia und erfährt, daß sie in die Frühmesse gegangen sei. „Ganz allein?“-- Claudia: „Die wenigen Schritte!“ Odoardo: „Einer ist genug zu einem Fehltritte!“ Und vollends als ihm Claudia von der Auszeichnung, die der Prinz Emilien im Hause der Grimaldi erwiesen habe, erzählt, hört er mit gesteigertem Zorn, der in kurzen Fragen laut wird, zu und bricht endlich los: „Und das Alles erzählst du mir in einem Tone der Entzückung? Claudia, eitle thörichte Mutter! -- Ha, wenn ich mir einbilde -- das gerade wäre der Ort, wo ich am tödtlichsten zu verwunden bin! Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt! Claudia, Claudia, der bloße Gedanke setzt mich in Wuth.“ -- Seine Menschenkenntniß und seine Liebe zur Tochter lassen ihn auch nicht falschen Argwohn

 

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schöpfen. Als Orsina ihm solchen gegen Emilien wegen der Vertraulichkeit, womit der Prinz in der Messe zu ihr gesprochen habe, einflößen will, ruft er: „Verläumdung! verdammte Verläumdung! Ich kenne meine Tochter“, -- Nur den Prinzen und Marinelli hält er für die Schuldigen, aber auch für Menschen, die kein Mittel scheuen, eine zum Opfer ausersehene Unschuld in ihre Netze zu locken. Dem zu entgehen bleibt nur Emilias Tod die einzige Rettung. Mag immerhin die Absichtlichkeit, womit Odoardos Charakter entworfen ist, zu scharf hervortreten, so ist doch seine Zeichnung durchaus vollendet. Was hier das mangelnde Dichtertalent mit sich brachte, vermöchte ein ächter Schauspieler zu ergänzen. Eckhoff soll die höchste Anforderung übertroffen haben. Wenige heutige Bühnen sind, selbst wenn das Publikum dafür neuen Geschmack gewänne, im Stande Emilia Galotti und Nathan würdig darzustellen. --

 

Nathan, in Form und Inhalt Lessings vollendetestes Meisterwerk, gehört mehr der didactischen als der dramatischen Poesie an und bedarf keines Commentars für die rechten Leser, doch stehe hier zum Schluß das Urtheil zweier Männer, von denen der eine ein Zeitgenosse und Freund des Dichters war, der andere ein gründlicher Beurtheiler Lessings ist. Moses Mendelson schrieb bald nach Lessings Tod an dessen Bruder: „Von einem Werke des Geistes, das eben so sehr über Nathan hervorragte, als dieses Stück in meinen Augen über Alles, was er bis dahin geschrieben, kann ich mir keinen Begriff machen. Er konnte nicht höher steigen, ohne in eine Region zu kommen, die sich unserm sinnlichen Auge völlig entzieht; und dies that er. Nun stehen wir da, wie die Jünger des Propheten und staunen den Ort an, wo er in die Höhe fuhr und verschwand.“ Mit Recht nennt Gervinus Lessings Nathan neben Göthes Faust das deutscheste, was unsere Poesie geschaffen hat und legt

 

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der Nation das Werk ans Herz: „Was könnte man der Folgezeit Heilsameres wünschen, als daß dieser reizende Codex religiöser und weltlicher Moral immer tiefer in die Herzen unsers Volkes greifen möchte, dem es so vorzüglich gegeben schien zu glauben ohne Aberglauben, zu zweifeln ohne Verzweiflung und frei zu denken ohne frivol zu handeln!“

 

 

 

Quelle:

Eduard Gervais: Lessing als dramatischer Dichter. Im Programm des Königlichen Progymnasiums zu Hohenstein in Preussen. Hohenstein, 1851.

Der Artikel ist als Scan in der Universitäts- und Landesbibliothek der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter folgendem Link verfügbar:

http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical/pageview/6007631

 

 

 

 

Neues aus der Unterwelt der Kasematten von Wolfenbüttel

Tag der offenen Tür im Seeliger Park:
Blick in die freigelegten Kasematten

Wolfenbüttel. Der Festungskreis der AG Altstadt lädt ein für Samstag, 10. Mai, 11 bis 15 Uhr unter dem Motto: „Neues aus der Unterwelt“.
Von Winterschlaf kann auch diesmal wieder keine Rede sein. Der Festungskreis der Aktionsgemeinschaft Altstadt Wolfenbüttel hat während der vergangenen Monate die lange Kasematte Nr. 2 unter der Seeliger Villa so vertieft,  dass das ursprüngliche, vor rund 400 Jahren angelegte Höhenniveau erreicht worden ist. Am Samstag hat die Öffentlichkeit Gelegenheit, alle drei Kasematten zu besichtigen. Der Eintritt ist frei. Die Schwelle der Tür von Kasematte 2 nach 3 hat das Arbeitsniveau bestimmt, was jetzt mit Bagger und Schaufel  nachvollzogen worden ist. Zusätzlich ist die zugeschüttete Front am Ende der Kasematte 2 mit einer stabilen Holz-Barriere gegen herab rieselndes Gestein gesichert worden. Jedermann ist eingeladen,  die erweiterten Freilegungs-  und Sicherungsarbeiten anzusehen. Natürlich werden von den ehrenamtlichen Festungsforschern  auch Erläuterungen zur Funktion und Geschichte der Bastionen  Wolfenbüttels mit ihren unterirdischen Anlagen, ganz allgemein  „Kasematten“ genannt, gegeben. Eine stabile Holzwand schließt seit einigen Wochen die Kasematte 2 nach Osten ab.


Veröffentlicht in:
Wolfenbütteler Schaufenster
Ausgabe vom 04.05.2014 S. 13

 

1000 Erstsemesterstudierende auf dem Campus Wolfenbüttel in der Ostfalia begrüßt

Bei der Begrüßung der Erstsemester in der Lindenhalle.  Foto: Ostfalia

Großer Andrang auf dem Campus Wolfenbüttel:
1000 Erstsemesterstudierende in der Ostfalia begrüßt

Wolfenbüttel. Die Ostfalia hatte für vergangenen Montag die Erstsemesterstudierenden am Campus Wolfenbüttel in die Lindenhalle eingeladen, um gemeinsam mit ihnen das Studium zu beginnen. Zum Vorlesungsbeginn am 23. September studieren dann 5.300 junge Menschen in Wolfenbüttel, an allen vier Standorten sind es über 12.000. Als Vertreterin des Präsidiums begrüßte Prof. Dr. Rosemarie Karger, Vizepräsidentin für Forschung, Entwicklung und Technologietransfer, die neuen Studierenden. „Zögern Sie nicht, die Professorinnen, Professoren oder Lehrkräfte bei Fragen, Problemen oder Verbesserungswünschen anzusprechen. Viele kommen erst, wenn das „Kind in den Brunnen gefallen ist“. Fragen kostet wirklich nichts außer Zeit, kann aber auf neue, bessere Wege führen“.
Auch Heinz-Rainer Bosse, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Wolfenbüttel, kam in die Lindenhalle, um mit persönlichen Grußworten die Erstsemesterstudierenden willkommen zu heißen. Dabei wies er auf das Serviceangebot der Stadt Wolfenbüttel hin: Das Begrüßungsgeld für Ostfalia-Studierende in Höhe von 250 Euro bekommen zum Beispiel all diejenigen, die ihren Wohnsitz für die Zeit des Studiums nach Wolfenbüttel verlegen.
Nach dem Grußwort von Bosse verlieh die Bredex GmbH ein Stipendium in Höhe von 3.000 Euro an den Informatik-Studenten Yasar lsik. Überreicht wurde diese Auszeichnung für herausragende Studienleistungen durch den Geschäftsführer des Unternehmens, Achim Lörke. Der chinesische Austauschstudent Zhenwei Miao, der im Juni 2013 seinen Master an der Fakultät Maschinenbau erworben hatte, wurde für seine hervorragenden Leistungen mit einen Stipendium des DAAD (Deutscher-Akademischer Ausstauschdienst) ausgezeichnet. Dieser Preis ist mit 1000 Euro dotiert.
Der offizielle Teil endete mit einem Vortrag der Ostfalia-Absolventin Dipl.-lng. (FH) Sina Ciesielski. Sie berichtete den Gästen der Erstsemesterbegrüßung von ihren persönlichen Erfahrungen auf dem Weg von der Schulbank ins Berufsleben, bevor der Allgemeine Studierendenausschuss das Programm der so genannten „Erstsemesterwoche“ vorstellte. In dieser Woche erwartet die „Neuen“ u. a. neben einer Stadtführung durch Wolfenbüttel, ein Kennenlern-Grillen auf dem Campus sowie eine Bafög-Beratung
und die Vorstellung des Hochschulsports.


Veröffentlicht in:
Wolfenbütteler Schaufenster Nr. 37a / 35. Jg  vom 18. September 2013 Seite 6


Einfügung:
Alle vier Standorte der Ostfalia sind in Ostfalen, einer Region des alten Sachsenlandes zwischen Weser, Lüneburger Heide, Elbe und Harz angesiedelt.

LINK: http://www.ostfalia.de/cms/de/gaeste/portrait.html

 



Radtouren des ADFC Wolfenbüttel für das 1. HJ 2013

Radtouren-Kalender für das erste Halbjahr erschienen:
Radtouren des ADFC von März bis Juni
Wolfenbüttel. Seinen neuen „Radtouren-Kalender“ für das erste Halbjahr 2013 hat der Kreisverband Wolfenbüttel des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt.
Damit bietet der ADFC Wolfenbüttel in den kommenden Monaten wieder allen Radlerinnen und Radlern aus Wolfenbüttel und Umgebung ein umfang- und abwechslungsreiches Programm für gemeinschaftliche Ausflüge und zur umweltfreundlichen Naherholung mit dem Fahrrad an. Dabei reicht das Angebot des ADFC von kurzen und leichten Touren in und um Wolfenbüttel, wie zum Beispiel eine „Kirchentour rund um Wolfenbüttel“ am 4. Mai über eine „Rundtour zum Salzgitter-Stichkanal“ am 13. April oder eine „Rundtour um Braunschweig“ am 11. Mai bis hin zu Mountainbike-Touren zum Beispiel in der Asse oder im Harz.
Einer der Höhepunkte im Programm ist sicherlich wieder die inzwischen schon traditionelle „Nachtfahrt“ des ADFC Wolfenbüttel unter dem Motto „Im Dunkeln ist gut munkeln“. Diese findet in einer der kürzesten Nächte des Jahres vom 22. auf den 23. Juni statt.
Der neue „Radtouren-Kalender“ des ADFC ist ab sofort erhältlich im „Zentrum für Umwelt und Mobilität“ (Z/U/M/) am Stadtmarkt 11 sowie auf den lntemet-Seiten des ADFC unter www.adfc-wf.de.

Veröffentlicht in:
Wolfenbütteler Schaufenster Ausgabe 8/35. Jg. Wolfenbüttel und Umgebung vom 24. Februar 2013


Verein Kulturstadt - Themenjahr Staatsbahn

Aufbruch in die Moderne
Wolfenbüttel. Als am 1. Dezember 1838 die Eisenbahnverbindung von Braunschweig nach Wolfenbüttel als erste Deutsche Staatsbahn dem Verkehr übergeben wurde, war dies ein sichtbares Zeichen großer Entwicklungen in Wirtschaft und Wissenschaft - der Aufbruch in die Moderne. Damit erfolgte in dieser Region die sukzessive Ablösung vorrangig manueller Wirtschaftsweisen durch maschinelle Fertigungsverfahren und industriell geprägte Strukturen, die im Laufe der Zeit auch im Handwerk, Handel, in der Landwirtschaft und in den neu entstehenden Fabriken Einzug hielten. So bildete sich in unserer Region der Schwerpunkt der deutschen Zuckerindustrie heraus, und es wurden Fabriken zum Beispiel zur Konservenproduktion gegründet, um den einheimischen Spargel zu verarbeiten.
Das 175. Jubiläum der ersten Deutschen Staatsbahn nimmt der Verein Kulturstadt Wolfenbüttel zum Anlass, den Aufbruch unserer Region in die Moderne nachzuzeichnen und in einem eigenen Themenjahr auch die vielfältigen Aspekte tiefgreifenden Umbruches, den das industrielle Zeitalter bewirkt hat, einzugehen.
Eröffnet wird das Themenjahr am 12. März in der Herzog August Bibliothek durch den Festvortrag von Florian Rehm, der als direkter Nachfahre der Gründerfamilie Mast in besonderer Weise die Tradition regionalen Unternehmertums verkörpert. lm Frühjahr und Sommer soll mit Werksbesichtigungen in Wolfenbütteler Unternehmen Wirtschaftsgeschichte unserer Region vor Ort erfahren werden. Auch die Rathausvorträge im Herbst widmen sich dem Thema Wirtschaft- und Eisenbahngeschichte. Darüber hinaus werden in den Rathausvorträgen herausragende Persönlichkeiten der Familie Ehrenberg, deren Vertreter auf vielfältigen Gebieten der Wirtschaft und Wissenschaft Pionierleistungen hervorgebracht haben, präsentiert. Ein weiterer Höhepunkt des Themenjahres bildet das historische Bahnhofsfest am 17. und 18. August, in dem mit unterschiedlichen Facetten an das Ereignis von 1838 angeknüpft wird. Auch Musik und Musikgeschichte hat auch in diesem Themenjahr seinen festen Platz.
Als besonderes musikalisches Ereignis, das auf das 400. Todesjahr von Herzog Heinrich Julius Bezug nimmt, steht die Aufführung der Trauermusik für Heinrich Julius am 3. November in der Hauptkirche auf dem Programm. Dazu passt, dass in diesem Jahr der dritte Band der Publikationsreihe des Vereins Kulturstadt Wolfenbüttel e.V. erscheint, der sich unter dem Tıtel „Musik als Ruhm, Lob und Ehre“ mit der Geschichte der Wolfenbütteler Hof- und Kirchenmusik befasst.

Veröffentlicht in:
Wolfenbütteler Journal  März 2013  S. 8