Sommerschenburger Kulturjahr 2013

Die Konsumgespräche starten wieder
Sommerschenburger Kulturjahr 2013
SOMMERSDORF. Am 1. März startete der sechste Jahrgang der Sommersdorfer Konusumgespräche. Das Leitthema in diesem Jahr lautet „Kulturjahr Sommerschenburg 2013“, heißt es in einer Pressemitteilung.
Der Vorbereitungskreis für die Konsumgespräche hat rund 30 Veranstaltungen zusammengestellt, die in den nächsten Monaten laufen werden. Das Kulturjahr wird eröffnet mit dem ersten Konsumgespräch am 1. März ab 19 Uhr im Dorfgemeinschaftshaus Sommerschenburg.
Die Heimathistorikerin Hildegard Müller hält einen Vortrag die Pfalzgrafen von Sommerschenburg und ihre Bedeutung für die Ortsgeschichte. Um die Pfalzgrafen geht es auch bei einer Veranstaltung am 15. März mit der Kita Regenbogen und Hildegard Müller ab 14 Uhr im DGH Sommerschenburg.
Das zweite Konsumgespräch findet am 19. April im Konsum in Sommersdorf statt. Ab 19 Uhr spricht Pfarrer Norbert Behrend über Bischof Bernward - einen Heiligen mit Sommerschenburger Wurzeln.
Das dritte Konsumgespräch im Konsum in Sommersdorf startet am 5. Iuli schon um 18 Uhr. „Graf Gneisenau – sein Leben und seine Bedeutung für Sommerschenburg“ lautet das Thema, das sich Dr. Frank Bauer, Vorsitzender der Gneisenausgesellschaft, vorgenommen hat.
Am 20. August findet das Konsumgespräch ebenfalls ab 18 Uhr statt, diese Mal in der Jägerklause in Marienbom. Es geht um „Das Potenzial unserer Kulturlandschaft – Dörfer haben Zukunft!“, es spricht Professor Dr. Bernd Reuter vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt.
Die letzten beiden Konsumgespräche werden, so die aktuelle Planung der Veranstalter, aller Voraussicht nach am 11. Oktober und 1. November stattfinden.


Veröffentlicht in:
Helmstedter Blitz Nr. 9/ 39. Jg. vom 27.02.2013 Seite 2

 

 

 

August Graf Neidhardt von Gneisenau

1841 wurde der preußische Generalfeldmarschall August Graf Neidhardt von Gneisenau in der Nähe seines Gutes im Mausoleum an der Hauptstraße nach Sommersdorf beigesetzt.

Der Bauverlauf des von Karl Friedrich Schinkel geplanten Museums ist im Wikipedia-Artikel
https://de.wikipedia.org/wiki/August_Neidhardt_von_Gneisenau
ausführlich beschrieben.
Zur Erinnerung an sein Wirken in den Befreiungskriegen 1813-1815 an der Seite des Oberbefehlshabers der Schlesischen Armee Generalfeldmarschalls von Blücher sei hier mit einem Auszug aus dem Historisch-Genealogischen Kalender auf das Jahr 1817 der Königlich-Preußischen Kalender-Deputation dieser Zeit gedacht:

 

 

Historisch-Genealogischer Kalender auf das Gemeinjahr 1817

Historisch-Genealogischer Kalender auf das Gemein-Jahr 1817

Mit Kupfern

Herausgegeben von der Kön: Preuß: Kalender-Deputation

 

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Uebersicht der Kriegsjahre
1813. 1814. 1815.

 

 

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Erster Abschnitt.

Von der Vorrückung der Russen über den Niemen bis zum Waffenstillstand.

Napoleons Welteroberungsplan war in Rußland gescheitert. Die Elemente und das Schwerdt hatten seine Heere zerstört; er selbst in armseligem Aufzuge flüchtend war mit Mühe dem Verderben entronnen. Die Nachricht dieser Begebenheiten zog wie ein Lichtstrahl über Europa hin; man begriff daß etwas Großes, Wunderbares geschehen sey; man fühlte daß eine neue Zeit sich gestalte, und eine andere Ordnung der Dinge eintreten wolle. In Deutschland, wo das französische Joch am schwersten gedrückt hatte, war auch die Wirkung jener Ereignisse am lebendigsten. Die Ueberzeugung war hier in allen Gemüthern, daß das Ende der französischen Herrschaft sich nahe, daß das Losungswort zur Freiheit vom

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Schicksale selbst ausgesprochen sey und daß alles unverzüglich nun die Waffen gegen Frankreich kehren müsse.

Wenn die Regierungen ihre Schritte berechnen und nur erst nach langem Wägen zu handeln sich entschließen, so äußern dafür die Völker ihre Gefühle so rasch wie sie entstehn, und diese Aeußerung ist um so lauter, je allgemeiner die Gefühle sind. Aus jenem Gefühle, aus jener Ueberzeugung der Umgestaltung der Dinge, und des Anbrechens einer neuen Zeit, gingen für die Ueberreste der flüchtigen französischen Armee, als diese die Gränze des russischen Reichs (den Niemenfluß) erreicht hatte, zwei sehr nachtheilige Begebenheiten hervor; nämlich einmal das Ausbleiben einer den Rückzug schützenden Bewegung von Seiten der östreichischen Armee, die am Narew stand, und deren Befehlshaber (Fürst Schwarzenberg), die weitern Instruktionen seines Hofes erwartend, einstweilen einen Waffenstillstand einging; und dann die Trennung des General York von der aus Rußland zurückkehrenden Armee des Marschalls Macdonald. Diese beiden Ereignisse ließen die Franzosen die in Ostpreußen gehoffte Ruhe nicht finden, sondern nöthigten sie zur weitern Flucht hinter die Weichsel. In den festen Plätzen

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dieses Flusses ward ihnen die erste Erhohlung; wer jedoch irgend noch Kräfte hatte, verweilte auch hier noch nicht, sondern zog weiter nach Frankreich; so daß im eigentlichen Verstande des Worts die Trümmer der französischen Armee über halb Europa ausgestreut wurden und den Leuten überall das große Strafgericht so recht zur Anschauung brachten.

Die russische Armee unter Befehl des Feldmarschall Kutusow, durch die lange Verfolgung ermüdet und geschwächt, hatte an den Gränzen des Reichs halt gemacht, um sich zu sammeln und zu erhohlen; die Verfolgung des Feindes durch Ostpreußen war den Kosaken übertragen worden.

Der Feldzug war beendigt aber nicht der Krieg, und es handelte sich jetzt um die beste Fortsetzung desselben. Viele die nur Rußlands nächste Selbstständigkeit beachteten und in den geschehenen Ereignissen die Bürgschaft für ähnliche in der Zukunft erblickten, meinten, mit der Vertreibung des Feindes sey genug gethan und man müsse nun Frieden schließen, oder sich in die gehörige Verfassung setzen, um neuen Angriffen zu begegnen, keinesweges aber über die Gränzen des Reichs hinaus angriffsweise

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zu Werke gehen. Der Kaiser sah jedoch weiter; er begriff, daß Napoleons Macht gänzlich gebrochen werden müsse, damit Rußland wahre Sicherheit genieße, und daß, wenn auch die Selbstständigkeit des Reichs, in Folge der Natur des Landes und der moralischen Kraft des Volkes, nicht gerade zu auf dem Spiele stehe, dennoch große Erschütterungen und Leiden dem Reiche bei einem erneuerten Angriff Napoleons bevorständen. Damit aber Napoleons Macht in Europa gebrochen würde, mußten die bis dahin ihm in Zwang verbündeten Mächte die Waffen gegen ihn wenden, vor allen Oestreich und Preußen; dies war jedoch nur zu erwarten, in so fern Rußland ernstlichen Willen zum Werke der Befreiung Europas zeigte, und dieser ernstliche Wille konnte sich wieder nur auf keine andere Art thätig äußern, als durch ein fortgesetzes Zurückdrängen des Feindes aus den Provinzen derjenigen Macht, deren Abfall von Frankreich vor allen nothwendig war. So ward denn also eine Vorrückung gegen die Weichsel beschlossen.

Die Armee setze sich im Anfange Januars 1813 aus ihren Kantonnirungen in Marsch, ging bei Meresz, Grodno, Bialistok u. s. w. über den Niemen und nahm ihre Richtung

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auf Plotzk und Warschau, die Einwohner Ostpreußens als Freunde und bald Verbündete behandelnd. Das Korps des General Wittgenstein, welches von Wilna aus gegen den Marschall Macdonald abgesandt worden, war über Tilsit und Königsberg in Marienwerder eingetroffen. Gleichzeitig mit der Bewegung der russischen Armee gegen die Weichsel hatten sich die Oestreicher vom Narew nach Warschau zurückgezogen, und bereiteten sich, in Folge einer geschlossenen Uebereinkunft, in ihre polnischen Provinzen abzurücken.

Auf dem linken Weichselufer befand sich vom Feinde nur noch der General Regnier bei Warschau mit einem Korps von ungefähr 12000 Mann, zusammengesetzt aus Sachsen, Polen, Franzosen und baierschen Ersatzmannschaften. Bei der augenblicklichen Hülfslosigkeit an Kriegsmitteln hatte Napoleon im Durchfluge durch Polen Befehl gegeben, das Landvolk zu bewaffnen und Kosaken zu bilden, wahrscheinlich um dem gespensterartig schreckhaften Eindruck, den überall die Kosaken machten, etwas ähnlich schreckhaftes entgegen zu setzen. Es stiegen auch wirklich einige hundert Bauern zu Pferde, und in den französischen Zeitungen las man von ganzen Wolken

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polnischer Kosaken; als jedoch die wirklichen Kosaken erschienen, verschwanden jene Wolken bis auf den Namen.

 

Als die russische Armee an der Weichsel angekommen war und dem General Regnier über das Abrücken der Oestreicher kein Zweifel mehr übrig blieb, setzte sich derselbe gegen die Oder in Marsch, nachdem sich vorher die Polen von seinem Korps getrennt hatten und unter Befehl des General Poniatowsky nach Krakau abgezogen waren.

Die Vorrückung der russischen Armee an die Weichsel hatte ihre politische Wirkung nicht verfehlt, und beim Könige von Preußen den Entschluß befestigt, mit Rußland gemeinschaftliche Sache gegen Frankreich zu machen. Der König verließ Potsdam am 18. Januar und begab sich nach Breslau, von wo er sein Volk aufrief, sich zu bewaffnen. Die wirkliche Kriegserklärung gegen Frankreich ward indeß noch zurückgehalten, um diejenigen Städte und Landschaften, welche die Franzosen noch inne hatten, nicht unnöthig rachsüchtigen Verwüstungen auszusetzen, da bei fernerem Vordringen der Russen der Rückzug der Franzosen hinter die Elbe, und somit die gänzliche Räumung

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der preußischen Provinzen nicht unwahrscheinlich war.

 

Wenn das Wort eines Königs dasjenige ausspricht, was sein Volk mit ganzer Seele will, dann hat die Geschichte Hohes und Herrliches zu melden. So geschah es in Preußen; in jedem Einzelnen lebte hier das Gefühl der Schmach französischer Unterdrückung und neben diesem Gefühl der heiße Wunsch nach Freiheit und Rache. Manche früher günstig geglaubte Gelegenheit war als Täuschung vorübergegangen; doch nun schien der Augenblick gekommen, und alles rüstete und bereitete sich und begehrte ungeduldig des Königs Ruf. Der Ruf kam, und mit ihm entzündete sich jene hohe Begeisterung, die den schweren Kampf freudig unternahm, und nach harten Prüfungen so herrlich zu Ende führte. Die ganze Jugend des Landes griff auf einmal zu den Waffen; die Lehrstühle, die Kollegien, die Werkstätten wurden leer, denn jetzt gab es nur ein Geschäft für Alle: das Vaterland zu retten. Dasselbe hohe Gefühl hatte alle Stände durchdrungen und alle Stände gleich gemacht. Im nämlichen Kriegsrock zogen Edelleute, Beamte, Gelehrte, Bürger und Studenten zu Fuß und zu Roß auf allen

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Straßen des Reichs nach Breslau, sich um den Thron ihres Königs zu stellen *). Es war als sei die alte Zeit wiedergekehrt, wo Fürsten ihre Vasallen zu Heereszügen entboten, und man erkannte, wie das Vaterland den Geist der Waffen gewaltiger zu wecken weiß, als das Ritterthum es je vermochte.

Als der Kaiser Alexander auf die Entschließungen Preußens rechnen zu können glaubte, ließ er seine Armee bei Marienwerder, Plotsk und Warschau über die Weichsel gehn und rückte auf den Straßen von Conitz über Schneidemühl und von Kollo längs der Warte auf Züllichau gegen die Oder vor. Ihre Stärke mogte sich, nach Abzug der Blokadekorps von Danzig, Thorn, Modlin und Zamoscz, auf ungefähr 30,000 Mann belaufen. Die erste Operation auf dem linken Weichselufer war die Absendung des General Wintzingerode mit einem Korps von 11 bis 12000 Mann zur Verfolgung des General Regnier. Dieser aus Furcht auf der graden Straße von Warschau nach Glogau beunruhigt zu werden, hatte den Umweg über Rawa und Sieradz auf Kalisch eingeschlagen,
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*) Erste Kupfertafel

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und dieser Umweg machte, daß die Russen, die die nächste Straße nach Kalisch marschirt waren, ihn bei diesem Orte erreichten. Ohne die Masse der Infanterie, die um einige Stunden zurück war, abzuwarten, griff die Avantgarde unter Prinz von Würtemberg sogleich an, brachte den überraschten Feind in Unordnung, und nöthigte ihn zum Rückzuge, noch ehe die Hauptabtheilung des Korps eingetroffen war; die Sachsen, denen die Deckung des Rückzugs übertragen worden war, wurden zum Theil gefangen und mehrere Geschütze erbeutet. Regnier ging bei Glogau über die Oder, verstärkte die Besatzung und marschirte von da auf Dresden, wo seine Truppen unter den Oberbefehl des Marschalls Davoust kamen, nachdem die Sachsen nach Torgau abgerückt waren. Wintzingerode ging gleichfalls unweit Glogau über die Oder, ließ ein Beobachtungskorps vor dieser Festung und rückte in Sachsen ein, den Feind durch starke Detaschements verfolgend und Streifparteien bis an die Elbe entsendend.

Um die Zeit als die russische Armee gegen die Weichsel sich bewegte, war die Division Grenier 10 bis 12000 Mann stark aus Italien in Berlin eingetroffen. Der

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Vicekönig von Italien, dem Napoleon das Kommando der Armee in seiner Abwesenheit übertragen hatte, ließ alle zur ehemaligen großen Armee noch in Marsch sich befindenden Ersatzmannschaften, so wie die nächsten Depots, Detaschements u. s. w. sich an die Division Grenier anschließen, und rückte so bei 16000 Mann stark über Frankfurt an der Oder gegen Posen vor. Der Weichselübergang der Russen, das Ausbleiben der gehofften Bewegung der Polen, so wie der Unfall bei Kalisch, bewogen ihn jedoch sich auf Frankfurt zurückzuziehn. Während er hier eine Art von Aufstellung versuchte, waren die Parteigänger Tschernitschew und Tettenborn mit ungefähr 2000 Kosaken einige Meilen unterhalb Cüstrin bei Writzen über die Oder gegangen und schwärmten um Berlin gemeinschaftlich mit dem General Benkendorf, der vom General Wintzingerode mit ungefähr 1000 Pferden zum Streifen gegen die Elbe abgesandt worden war, und sich von Dresden ebenfalls gegen Berlin gewandt hatte. In Berlin war damals der General Augereau mit 7 bis 8000 Mann. Dies reitzte die russischen Parteigänger, etwas gegen ihn zu unternehmen, wobei sie auf den Beistand der Einwohner rechneten.

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Ein zufälliges Einbrechen einiger Abtheilungen Kosaken in die Stadt bei Verfolgung eines Reuterdetaschements, welches auf Kundschaft ausgesandt worden war, bewies jedoch, daß, wenn schon der Sinn der Bürger auf eine frische Mithülfe gerichtet war, sie sich doch dem Willen ihrer Obrigkeiten fügten, die eines Theils die Rache des nahen Vicekönigs besorgten, und andern Theils, da der Krieg von Seiten Preußens noch nicht erklärt war, so gewaltsame und gewagte Maasregeln gut zu heißen sich nicht ermächtigt fühlten; und somit blieb es denn bei jenem ersten Versuch, den der Zufall eingeleitet hatte, und den die Angst der Franzosen, das Jagen und Schießen der Kosaken in allen Straßen und der Jubel und die Begrüßungen des Volks zu einer Art heitern Schauspiels erhob. Die Streifereien bei Berlin und der Uebergang des General Wintzingerode bei Glogau über die Oder bewogen den Vicekönig, von Frankfurt abzuziehn. Er marschirte nach Berlin, und blieb hier so lange, bis der General Wittgenstein bei Writzen über die Oder ging, wo er sich sodann nach Dessau in Marsch setzte und daselbst über die Elbe zog.

Die Kriegserklärung Preußens gegen Frankreich

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erfolgte gegen Ende März. Die damals schlagfertigen preußischen Truppen betrugen ungefähr 50,000 Mann, wovon 25,000 in Schlesien unter General Blücher, 15,000 Mann als Bestand des Yorkschen Korps, das aus Preußen in der Mark angekommen war, und 10,000 Mann in der Mark und Pommern neugebildeter Truppen unter General Bülow. Die noch in der Bildung begriffene Truppenzahl belief sich beinahe auch auf 50,000 Mann, und außerdem ward eifrig an der Aufstellung der Landwehr gearbeitet, die auf 150,000 Mann gebracht werden sollte. Von der russischen Armee, die sich allmählig verstärkte, und deren Gesammtzahl etwas über 50,000 Mann betragen mogte, stand damals der General Wintzingerode in Sachsen, der General Wittgenstein vor Magdeburg und in der Mark, und die Hauptarmee jenseit der Oder an der schlesischen Gränze in Kantonnirung. Gegen Ende März brach General Blücher mit seinem Korps aus Schlesien auf, ging den 3. April bei Dresden über die Elbe und besetzte den größten Theil der sächsischen Provinzen auf dem linken Ufer dieses Flusses. General Wintzingerode war mit seinem Korps unter General Blücher gestellt worden.

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Die Franzosen hatten früher schon die obere Elbe ganz geräumt und sich auf den Vicekönig zurückgezogen, der sich in der Gegend von Quedlinburg an der untern Saale aufgestellt hatte, nachdem sein Versuch, mit seinem durch die Magdeburger Garnison bis auf 30,000 Mann verstärkten Korps gegen Berlin vorzudringen, gescheitert, und er den 5. April bei Möckern von einem um vieles schwächeren Korps Russen und Preußen zurückgeschlagen worden war. Um dem Feinde überall Besorgnisse zu erregen, und überall die Deutschen zum Aufstande gegen Napoleon zu reitzen, hatte der General Wittgenstein gleich nach seinem Einrücken in Berlin starke Parteien unter den Generalen Tschernitschef, Benkendorf, Dörnberg und Tettenborn nach beiden Ufern der untern Elbe abgeschickt. Der General Morand, der bis dahin mit ungefähr 3000 Mann Sachsen und Franzosen in Schwedisch-Pommern gestanden hatte, war gleichzeitig mit dem Rückzug des Vicekönigs von Berlin nach der Elbe aufgebrochen und, von den abgeschickten russischen Parteien gedrängt, hatte er diesen Fluß unweit Bergedorf passirt, sich mit den Truppen des General Carra St. Cyr, der Hamburg

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bei Annährung der Russen aus Furcht eines Aufstandes verlassen hatte, vereinigt, und gegen Bremen zurückgezogen. Diese Vertreibung der Franzosen von der untern Elbe brachte zweierlei Vortheile; einmal die Trennung der Herzöge von Meklenburg vom Rheinbunde, und dann den Besitz der Stadt Hamburg, deren in so vieler Hinsicht bedeutender Werth sich ganz besonders noch dadurch steigerte, daß sie sich kühn von der französischen Herrschaft lossagte, sich öffentlich wieder als Reichs- und Hansestadt konstituirte, Truppen errichtete, die Bürger bewaffnete, die Wälle herstellte und so dem ganzen übrigen Deutschland voranging, als Beispiel und Muster dessen was in so verhängnißvoller Zeit Noth war. Der tüchtige Sinn der Hamburger tritt noch heller ins Licht, wenn man erwägt, daß die Franzosen nur wenige Meilen entfernt waren, nach einiger Erhohlung vom ersten Schrecken bald wieder zum Angriff schreiten, und über die meist aus Kavallerie bestehenden Streitkräfte der Russen leicht das Uebergewicht erhalten konnten. Der General Morand war auch wirklich kaum in Bremen angelangt, als er Befehl erhielt, in Zusammenwirkung mit einer unter General Sebastiani von der mittlern Elbe

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herunterziehenden starken Kolonne über Lüneburg wieder vorzurücken. Die Folgen dieser Bewegung waren vorauszusehn; doch der General Dörnberg war zur Hand. Bei weitem schwächer als Morand griff er ihn in Lüneburg selbst an, warf ihn aus der Stadt, und nachdem bei einem wiederholten Angriff der Franzosen Morand tödtlich verwundet worden, streckte das ganze feindliche Korps, von der umschwärmenden Reuterei geschreckt, das Gewehr. Durch diesen Unfall scheiterte das Unternehmen der Franzosen und Sebastiani kehrte nach der mittleren Elbe zurück.

 

Der Sinn, der die Deutschen im allgemeinen belebte, und der viele hundert Jünglinge aus allen Gegenden Deutschlands unter die preußischen Fahnen als die Paniere deutscher Freiheit trieb, ließ vermuthen, daß die Fürsten des französischen Einflusses eben so überdrüssig wären, als ihre Unterthanen des französischen Drucks, und daß sie nicht säumen würden, von Napoleon abzufallen, sobald die Gelegenheit sich böte. In dieser Voraussetzung hatten die verbündeten Monarchen, gleichzeitig mit dem Einrücken der Blücherschen Armee in Sachsen, an den König von Sachsen eine Einladung erlassen, ihrem Bunde

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beizutreten. Das sächsische Volk voll deutschen Sinnes harrte auf den Wink seines Königs; dieser erklärte indeß, daß er seine Schritte ganz von denen des östreichischen Kabinets abhängig mache, verließ Sachsen und begab sich nach München, von wo er nach einiger Zeit nach Prag ging. Da man über die Entschließungen des östreichischen Kabinets schon damals ziemlich beruhigt war, so ließen sich die Monarchen jene Erklärung gefallen, und behandelten die Sachsen als Freunde.

 

Während Preußen die angestrengtesten Rüstungen machte und die russischen Armeen sich nach und nach verstärkten, war Napoleon nicht müßig gewesen. Daß seine Herrschaft in Europa wanke, sah er ein, aber er gab es nicht auf, sie von neuem zu befestigen. Das Mittel hierzu war ein schneller kräftiger Feldzug mit glücklichen entscheidenden Schlägen; das Mittel zu einem solchen Feldzuge, überlegene Streitkräfte, und diese gab ihm ein kriechender Senat und eine gedankenlos gehorchende Nation. Alle Saiten wurden angespannt.

Mit der Konskription, als einjährig nicht hinreichend, ward über vergangene und zukünftige Jahre hinausgegriffen; aus Spanien wurden Truppen gehohlt, die

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Küstenkanoniere und Seesoldaten zur Armee geschickt, Kohorten und Ehrengarden errichtet und freiwillige Beiträge aller Art befohlen und gewaltsam zusammengetrieben. Napoleons eiserner Arm brachte in Frankreich, von fern gesehn, ungefähr dieselben Erscheinungen der Thätigkeit hervor, die man in Preußen wahrnahm; in Preußen fehlte jedoch der Zwang und in Frankreich die Begeisterung, und somit war denn der Unterschied groß genug, um selbst durch alle Geisteskraft Napoleons nicht ausgeglichen werden zu können.

 

Die Sammelplätze des französischen Heeres waren Frankfurt am Main und Würzburg. In der letzten Hälfte des Aprils setzte Napoleon dasselbe über Erfurt nach Leipzig in Bewegung, und vereinigte sich den 29. April an der Saale mit dem Vicekönig; nach dieser Vereinigung zählte die französische Armee gegen 120,000 Mann. Die Streitkräfte der Verbündeten, nachdem die russische Hauptarmee von 30,000 Mann in den letzten Tagen des Aprils in Dresden angekommen, und Abtheilungen des Wittgensteinschen, Yorkschen und Bülowschen Korps auf das linke Elbufer übergegangen waren, betrugen zwischen 80 bis 90,000 Mann. Das Vordringen

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der verbündeten Armeen über die Elbe im Anfange Aprils hatte mehr die Absicht gehabt, die Kriegsmittel Sachsens zu benutzen und die Gemüther der Deutschen anzuregen, als die Operationen sogleich mit Nachdruck fortzusetzen, wenn schon es einen Augenblick zur Sprache gekommen seyn mag, etwas gegen den Vicekönig zu unternehmen; denn da es unmöglich die Meinung des Vicekönigs seyn konnte, sich auf etwas entscheidendes einzulassen, so würde ein Marsch nach der untern Saale zu weit von der Verbindungslinie über Dresden entfernt haben, ohne sonst einen entschädigenden Vortheil zu bringen. Nichts desto weniger hatte in diesem Vordringen der Verbündeten eine Art Herausforderung gelegen, die der Streitlust der Truppen ganz angemessen war, deren Kühnheit nun aber auch durchgefochten werden mußte; denn es galt jetzt, nicht sowohl den Anforderungen der Kriegswissenschaft ein Genüge zu leisten, als vielmehr die angekündigte moralische Kraft vor Europa und vor sich selbst zu bewahren; und so ward denn mit Napoleon auf dem linken Ufer der Elbe zu schlagen beschlossen. Wer gegen Uebermacht in offnem Felde schlagen will, thut besser anzugreifen als sich angreifen zu lassen,

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und wieder sind diejenigen Angriffe die entscheidensten, die den Feind in der Bewegung treffen; daher war die Absicht, Napoleon anzugreifen, wenn er mit einem Theile seiner Armee die Saale passirt haben würde. Die Armee der Verbündeten zog sich demnach bei Borna zusammen, wo dem General Wittgenstein das Kommando übertragen wurde *), und rückte über Pegau gegen die Saale vor. Napoleon war indeß schon ganz über die Saale herüber und in vollem Marsch auf Leipzig. Die Verbündeten stießen den 2. Mai bei Groß-Görschen unweit Lützen auf das Neysche Korps, das die Arriergarde bildete. Der Angriff war so unerwartet und so ungestüm, daß der Feind auf eine beträchtliche Strecke aus seiner Stellung geworfen wurde. Die nach Leipzig in Marsch sich befindenden feindlichen Kolonnen waren indeß umgekehrt und langten nach und nach auf dem Schlachtfelde an; der Feind gewann wieder einige Vortheile, die er wieder verlohr und wieder gewann und wieder verlohr. So wechselte die Schlacht bis in die Nacht,
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*) Feldmarschall Kutusow war im Laufe des Monat März gestorben.

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und als das Gefecht zu Ende war, standen die Verbündeten in der ersten Aufstellung des Feindes. Den Kampf am andern Tage fortzusetzen war mißlich, da es alsdann eine durchgreifende Entscheidung gegolten haben würde. Die Absicht der Schlacht war erreicht, die Tapferkeit der Truppen hatte hell geglänzt, dem Feinde war imponirt und Europa von dem ernsten Willen der Verbündeten überzeugt; was gegen Uebermacht geschehn konnte, war geschehn; die Schlacht war wie ein Ehrenkampf zu betrachten, und als Ehrenkampf gewonnen; man hatte auf des Feindes Lagerplatz geschlafen, Geschütz erbeutet, Gefangene gemacht, und weder Geschütz noch Gefangene verlohren.

In großer Ordnung und matt verfolgt, zog das verbündete Heer am andern Tage gegen Dresden, ging dort über die Elbe, und da eine Vertheidigung dieses Flusses, der festen Plätze wegen, die der Feind an demselben hatte, ohnedies nicht thunlich war, so ward der Rückzug auf der Straße nach Bautzen fortgesetzt. Bei Bautzen selbst machte die Armee halt, und genoß einer mehrtägigen Ruhe. Unterdeß waren beträchtliche Verstärkungen angelangt, 14000 Russen unter Barclai de Tolly, die

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durch den Fall von Thorn disponibel geworden, und 10,000 Preußen; so waren die Verluste der Schlacht von Groß-Görschen und aller übrigen Gefechte mehr als ersetzt, und die Armee wieder gegen 90,000 Mann stark. Hier nun beschlossen die Monarchen in einer vorbereiteten Stellung eine neue Schlacht anzunehmen, um zu zeigen, daß sie Mittel und Willen hätten, um dem Feind die Stirn zu bieten, und um durch fortwährenden Rückzug die Zuversicht der Truppen nicht zu schwächen. Napoleon war vor Bautzen stehn geblieben, theils um seinerseits auch Verstärkungen an sich zu ziehen, theils um die Verbindung mit Ney abzuwarten, der bei Torgau über die Elbe gegangen war und über Hoyerswerda marschirte. Dieser Verbindung sah Napoleon bei dem unvermutheten Haltmachen der Verbündeten mit großer Aengstlichkeit entgegen, und um sie zu beschleunigen, sandte er eine Division Italiäner nach Königswarta, auf dem halben Wege von Bautzen nach Hoyerswerda. Die Verbündeten hatten Nachricht von Neys Seitenmarsch, und die Korps der Generale Barclai und York wurden abgeschickt, um ihn zu stören. Barclai fiel bei Königswarta auf die Italiäner und schlug sie

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mit bedeutendem Verlust an Menschen und Geschützen aus dem Felde. York traf gleichzeitig auf Ney, und trotz dessen Uebermacht hinderte er ihn durch die Heftigkeit seines Angriffs, jenen bei Königswarta zu Hülfe zu kommen. In der Nacht zogen sich Barclai und York wieder auf die Armee bei Bautzen.

 

Am 20. griff Napoleon an, und nach dem heftigsten Widerstande auf allen Punkten begab sich die Armee Nachts in ihre eigentliche Stellung. Des andern Tages war die Schlacht. Napoleon hatte 120,000 Mann. Es ward lange hartnäckig gestritten; da aber nach und nach der Feind den rechten Flügel bei so großer Mehrzahl an Truppen umgangen hatte, ward der Rückzug beschlossen und mit großer Ordnung ausgeführt; dem Feinde blieb der Wahlplatz, aber kein Geschütz und nur wenig Gefangene wurden verlohren. Die Armee der Verbündeten zog sich nach Schweidnitz, nachdem sie noch unterweges dem Feinde bei Haynau eine derbe Lektion in der Behutsamkeit gegeben, und die im Versteck gelegte preußische Kavallerie die sorglos in der Ebene vorgehende Division Maison größtentheils niedergehauen oder gesprengt hatte.

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Nach diesen Begebenheiten ward auf Antrag Napoleons am 8. Juni ein zehnwöchentlicher Waffenstillstand abgeschlossen, gleich wünschenswerth für beide Theile, indem beide, ohne beträchtliche Verstärkungen, den Krieg auf keine entscheidende Weise fortsetzen konnten, und der Erfolg einer solchen Fortsetzung noch außerdem auf die Art ankam, wie Oestreich in die Begebenheiten einzugreifen gesonnen war. Ganz Sachsen blieb Kraft dieses Waffenstillstandes den Franzosen, so wie derjenige Theil von Schlesien, den eine Linie bezeichnete, welche beim Durchschnittspunkte der schlesischen, sächsischen und böhmischen Gränze anfing, und über Liegnitz längs der Katzbach bis zur Oder fortlief.

Während jener Ereignisse bei der Hauptarmee hatte General Bülow ein hitziges Gefecht bei Luckau mit dem Korps des Marschalls Oudinot bestanden und dem Vordringen desselben gegen Berlin ein Ziel gesteckt. Außerdem machten Parteigänger kühne Streifzüge im Rücken der französischen Armee bis gegen die Saale hin, und hier zeigte es sich einmal wieder, was französische Treue war; denn unmittelbar nachdem der russische General Woronzow, die Vorschriften des Waffenstillstandes

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ehrend, von seinem schon befohlenen Angriffe auf Leipzig abgelassen hatte, wo der Herzog von Padua mit 2000 Mann im Begriff stand zu kapituliren, ward das im Vertrauen auf den Waffenstillstand sorglos nach der Elbe zurückmarschirende Lützowsche Korps von den Franzosen verrätherischer Weise angefallen und größtentheils aufgerieben; andere Parteien entgingen ähnlichem Verrathe nur dadurch, daß sie sich schnell nach Böhmen warfen.

Der erste Abschnitt des Feldzuges war hiermit geendigt, und Napoleons Stern, den viele schon für untergegangen gehalten, war wieder im Aufsteigen; denn wenn auch schon seine Schlachten, die er prahlend glänzende Siege nannte, zweideutig und trophäenarm ausgefallen waren, so hatte er doch seine Gegner über eine beträchtliche Strecke Landes fortgedrängt und dadurch den wankenden Glauben an seine Macht und an sein Glück zum Theil wieder befestigt, indem mehrere sich bereits von ihm abwendende Fürsten zu ihm zurückkehrten und neue Bündnisse mit ihm eingingen. So war der König von Sachsen auf die nach der Schlacht von Lützen an ihn ergangene drohende Einladung von Prag wieder

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in Dresden eingetroffen und daselbst feierlich von Napoleon empfangen worden, der sich in den Zeitungen das Ansehn gab, der Rächer und Retter Deutschlands gegen die Einbrüche nordischer Barbaren zu seyn, und dessen Bulletins von den Freudenthränen sprachen, die die Sachsen über ihre Erlösung von den Steins, den Kotzebues und den Kosaken vergossen hatten. Es ist in der That auffallend, wie Napoleon diejenigen physischen und geistigen Waffen seiner Feinde, die er für sich als nachtheilig erkannte, immer auch seinerseits sogleich anzuwenden versuchte; so erschuf er früher polnische Kosaken, um dem Schrecken der Kosaken vom Don und schwarzen Meere zu begegnen, und so gab er sich jetzt, wo die Verbündeten die Befreiung Deutschlands verhießen, für den eigentlichen Retter Deutschlands aus. Nächst dem Könige von Sachsen war auch der König von Dänemark, der schon mit den verbündeten Monarchen in lebhaften Unterhandlungen gewesen war, und sich bereits thätig zum Schutze Hamburgs gezeigt hatte, das dazumal von Davoust hart bedrängt wurde, wieder auf Napoleons Seite getreten. Die nächste Folge dieses Zurücktritts war Hamburgs Fall; denn wenn schon

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Muth und Geist bei den Bürgern dieser Stadt zu finden war, so bedurften sie, kärglich mit Kriegsmitteln ausgestattet wie sie waren, doch noch fremde Hülfe, um die Uebermacht der Franzosen auf die Dauer abzuwehren. Diese Hülfe zu leisten, waren die Russen zu schwach, die Schweden nicht entschlossen genug, und die Dänen machten gar mit dem Feinde gemeinschaftliche Sache. Schwere Leiden kamen über Hamburg, das die Strafe des Aufruhrs erdulden mußte; es ward der Martirer der deutschen Sache, trägt aber auch dafür vor allen Städten Deutschlands den Ruhm hoher Gesinnung.

 

 

Zweiter Abschnitt.

Von der Wiedereröffnung der Feindseligkeiten bis zur Ankunft der Verbündeten am Rhein.

 

Oestreich zur Theilnahme an dem großen Kampf sich rüstend, wollte gleichwohl noch einen Versuch zur Herstellung des Friedens machen und bot seine Vermittelung an. Napoleon, dem stets darum zu thun war, der

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französischen Nation vorzuspiegeln, er arbeite am Frieden, und der nächstdem glauben mogte, Oestreich durch einige Opfer gewinnen oder unthätig erhalten zu können, nahm die Vermittelung an, und so traten Abgeordnete sämmtlicher Mächte in Prag zusammen. Wo von der einen Seite kein guter Wille ist, da sind die Unterhandlungen gescheitert, noch ehe sie beginnen. Der Prager Kongreß war daher ein bloßes Spiel zur Täuschung derjenigen, die an den Ernst desselben glaubten, und das die hohen Mächte nur Anstandshalber fortsetzen. Es lag in Oestreichs Interesse, der noch unvollendeten Rüstungen wegen seine wirkliche Erklärung so weit wie möglich hinauszuschieben, um Napoleon in einer Art Ungewißheit zu lassen, die unter allen Umständen nie anders als vortheilhaft für die Koalition seyn konnte, indem sie ihn vielleicht zu falschen Maasregeln verleitete; und um diese Täuschung ganz durchzuführen, gestattete Oestreich dem Fürsten Poniatowsky mit seinem bei Krakau von den Russen eingeschlossenen kleinen Korps Polen den freien Durchzug durch Böhmen zur Armee Napoleons.

Im Anfange des August ward endlich der Waffenstillstand

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aufgekündigt, und Oestreich trat dem großen Bunde bei. Ein Theil der russischen und preußischen Truppen, die in Schlesien kantonnirt hatten, rückte unmittelbar darauf in Böhmen ein, um zur großen östreichischen Armee zu stoßen, die sich an der Eger zusammenzog. Während des Waffenstillstandes traf ein schmerzlicher Verlust die preußische Armee. Der General Scharnhorst nämlich, der bei Lützen verwundet worden war, starb zu Prag an den Folgen der Verwundung. Er, der in stiller rastloser Thätigkeit seit sieben Jahren die Vorbereitung zu den Tagen der Rettung gemacht hatte, sollte nach dem Beschlusse des Schicksals das Rettungswerk selbst sich nicht vollenden sehn.

 

Von beiden Seiten waren die Rüstungen zum neuen Feldzuge mit der größten Thätigkeit betrieben worden, und es häufte sich eine Masse von Streitkräften, wie noch kein Kriegsschauplatz sie je gesehn hatte. Die Koalition bestand damals aus Rußland, Oestreich, Preußen und Schweden; England gab Geld und Waffen. Mit Napoleon waren die Dänen und die Fürsten des Rheinbundes mit Ausnahme von Baiern, das unter dem Vorwande, seine Provinzen gegen Oestreich decken zu

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können, wenn dieses dem Bunde beiträte, seine Armee bei Regensburg zusammengezogen hatte; nächstdem aber mit Oestreich bereits unterhandelte, und auf diese Art, wie der Ausschlag fallen würde staatsklug abwartend, sich so oder so wenden konnte.

 

Die Verbündeten hatten ihre Armeen folgendermaaßen vertheilt: die Hauptarmee zusammengesetzt aus 150,000 Oestreichern (die Korps Giulay, Colloredo, Bubna, Merfeld, Lichtenstein, Klenau e. t. c.) und 50,000 Russen und Preußen (die Korps Wittgenstein und Kleist nebst allen Garden) stand an der Elbe und Eger. Den Oberbefehl führte Fürst Schwarzenberg; über ihn stand jedoch, wenn auch nicht dem Namen doch der Sache nach, der Kriegsrath der Monarchen, bei welchem der Fürst als Abgeordneter seines Kaisers erschien; in Schlesien standen über 90,000 Mann (die Korps Sacken, York und Langeron) unter General Blücher. In der Mark standen 100,000 Mann (die Korps Bülow, Wintzingerode und 20,000 Schweden), unter dem Namen Nordarmee, unter dem Kronprinzen von Schweden, dessen Oberbefehl noch außerdem der General Wallmoden untergeordnet war, der

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mit 18,000 Mann in Meklenburg stand. Alle Armeen zusammen betrugen demnach ungefähr 400,000 Mann.

 

Napoleon stand seinerseits mit etwa 200,000 Mann bei Dresden und in der Lausitz. Unter Marschall Oudinot waren 70 bis 80,000 Mann bei Wittenberg versammelt, und Davoust stand bei Hamburg mit 40,000 Franzosen und 16,000 Dänen. Napoleon hatte demnach ungefähr 340,000, Mann im Felde. Außerdem besaß er an der Elbe die Festungen Torgau, Wittenberg, Magdeburg, an der Oder die Festungen Stettin, Cüstrin und Glogau, und an der Weichsel die Festungen Danzig und Modlin, sämmtlich mit zahlreichen Garnisonen ausgerüstet. Thoren und Spandau waren von den Verbündeten erobert worden.

Der Plan der Alliirten war, mit der Hauptarmee auf dem linken Ufer der Elbe vorzudringen, während die schlesische Armee den Feind zwar beständig necken und beschäftigen, jeder Schlacht gegen Uebermacht aber ausweichen sollte. Der Kronprinz von Schweden sollte mit der Nord-Armee Berlin decken, und seine Operationen nach den Umständen mit denen der andern Armeen in Verbindung setzen. Auf diese Art hoffte man die Franzosen

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von der Elbe abzudrängen, und so nach und nach die Streitmittel Deutschlands, die jetzt noch den Franzosen zu Gebote standen, für sich selbst zu gewinnen.

 

Napoleon hatte keinen allgemeinen Bewegungsplan; die Armeen an der mittlern und untern Elbe sollten zwar gegen Berlin vordringen, er selbst aber wollte die Bewegungen seiner Gegner in Böhmen und Schlesien abwarten, um danach die seinigen zu bestimmen. Die Fehler der Verbündeten sollten ihm die Richtung geben; gleich einem geschickten Fechter erwartete er mit gesammelter Kraft den Angriff, und rechnete auf den Nachstoß.

Die Feindseligkeiten begannen den 17. August. Napoleon hatte den größten Theil seiner Truppen zwischen der Spree und dem Bober vereinigt, und durch den Einmarsch einer russisch, preußischen Armee in Böhmen vielleicht auf die Vermuthung gebracht, daß der Hauptangriff der Verbündeten von Böhmen aus gegen die Oberlausitz gerichtet seyn könne, schickte er ein Armeekorps von Zittau bis über den Paß von Gabel in Böhmen vor, um Gewißheit über die Lage der Dinge zu bekommen. Gleichzeitig mit dieser Rekognoscirung gegen Böhmen hatte die schlesische Armee die ihr gegenüberstehenden

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Korps von Ney und Macdonald angegriffen und ohne großen Widerstand bis über den Bober gedrängt. Dieses Vordringen hätte fast gleich anfangs große Resultate gegeben, indem das Neysche Korps in seinem Rückzuge plötzlich inne gehalten hatte, und so vom Bober abgeschnitten werden konnte. Daß dieses nicht geschah, lag daran, daß die Zusammensetzung der schlesischen Armee aus zwei russischen und einem preußischen Korps einem pünktlichen Zusammenwirken damals weniger günstig war, als späterhin; Dank der Schlacht an der Katzbach! Kaum waren die Franzosen über den Bober, so wandten sie wieder um; denn Napoleon selbst war mit der ganzen Armee in Anmarsch, um eine entscheidende Schlacht zu liefern. General Blücher war im Begriff über den Bober zu gehn, und seine Vortheile zu verfolgen; da er aber erfuhr, daß Napoleon mit großen Truppenmassen angelangt sey, und aus den Bewegungen des Feindes auf eine allgemeine Schlacht schließen mußte, die dem Kriegsplane gemäß vermieden werden sollte, so zog er sich zurück. Dies geschah am 21. August. Die Franzosen folgten dieser ausweichenden Bewegung, unter täglichen Gefechten, bis an die Katzbach. Hier erhielt Napoleon

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Nachricht von dem Vordringen der großen böhmischen Armee gegen Dresden, das leicht befestigt keines großen Widerstandes fähig war; er marschirte noch am nämlichen Tage (am 23. August) mit einem großen Theile der Armee dahin ab, und übertrug den Oberbefehl der Armee an der Katzbach dem Marschall Macdonald.

 

Der Abmarsch Napoleons blieb seinen Gegnern nicht lange verborgen, und General Blücher beschloß unverzüglich anzugreifen (den 26. August). Alle Truppen waren gegen die Katzbach im Marsch, als die Meldung einging, daß der Feind selbst zum Angriff anrücke und bereits über die Katzbach setze. General Blücher ließ sogleich halten und die Armee verdeckt aufstellen, um plötzlich auf den Feind zu fallen, wenn dieser mit einem Theile seiner Macht den Fluß passirt haben würde. Ein heftiger Landregen verdunkelte die Gegend, und begünstigte die verdeckte Aufstellung. Als General Blücher glaubte, daß es Zeit sey, den Feind anzugreifen, ritt er an die Truppen heran und sagte zu ihnen: „nun Kinder habe ich genug Franzosen herüber, nun vorwärts *)!"

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*) Zweite Kupfertafel.

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Es ging rasch ans Werk, und der Feind ward nach heftiger Gegenwehr in die Katzbach und wüthende Neiß gestürzt. Eben als er zu weichen begann, kam die Meldung, daß eine starke feindliche Kolonne den linken Flügel der Armee umgangen habe. Diese Kolonne gehörte augenscheinlich in die allgemeine Angriffsdisposition des Feindes. General Blücher ließ sich indeß durch diese Bewegung nicht irre machen; ohne auf die entfernte Gefahr zu achten, verfolgte er rasch den gegenwärtigen Vortheil, bis zur gänzlichen Flucht des Feindes, die unaufhaltsam bis über den Bober sich fortwälzte. Die Früchte des Sieges waren 100 Kanonen und 18,000 Gefangene. Jene Gefahr drohende Kolonne, zu spät von der Niederlage der Armee unterrichtet, sah sich, als sie sich endlich rückwärts wandte, auf allen Uebergangspunkten des Bobers von den Verbündeten zuvor gekommen, und mußte, nach einigem Herumirren längs den Ufern, bei Löwenberg das Gewehr strecken. Vom Bober ging die Verfolgung rastlos weiter bis zur Queiß, und hier, als auf der Gränze von Sachsen, ward die Befreiung Schlesiens durch ein allgemeines Viktoriaschießen gefeiert.

Auf dem nördlichen Kriegstheater hatten unterdeß folgende

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Begebenheiten Statt gefunden. Nach dem Entwürfe Napoleons sollte die Armee des Marschalls Oudinot von Wittenberg, die Magdeburger Garnison unter General Gerard, und der Marschall Davoust von Hamburg gegen Berlin aufbrechen, um es dort zu einer großen Entscheidung zu bringen. Der Kronprinz von Schweden hatte seine Armee bei Berlin vereinigt und war der Oudinotschen bis über Teltow, Heinersdorf und Blankenfelde entgegengerückt (am 24. August). General Graf Tauentzin schlug am Mittage mehrere Angriffe auf dem linken Flügel zurück. General Bülow griff am Abend das Regniersche Korps bei Groß-Beeren so schnell und ungestüm an, daß es über den Haufen geworfen war, noch ehe der Marschall Oudinot demselben zu Hülfe kommen, oder etwas wirksames gegen das russisch-schwedische Korps, dem er gegenüberstand, unternehmen konnte, dieses auch zur Theilnahme am Gefecht bei Groß-Beeren selbst nur in geringen Abtheilungen gelangte. Die Niederlage des Regnierschen Korps brachte auch unter die Uebrigen Unordnung und Verwirrung, so daß die ganze Armee, von der schon viele Offiziere nach Paris geschrieben hatten, daß sie den 24. in Berlin schlafen

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würden, ohne Aufenthalt nach Wittenberg eilte und sich erst jenseit der Elbe in Sicherheit glaubte. Berlin war an dem Tage in großer Bewegung; der, wegen der Nähe von Groß-Beeren vernehmbare Donner des Geschützes hatte jeden einzelnen Bewohner die Gefahr, die über der Stadt schwebte, erkennen lassen; die Starken rüsteten sich, die Schwachen zagten; in gespannter Erwartung horchte man auf den Schall des Kanonenfeuers, um darnach den Gang der Schlacht zu beurtheilen. Als der Schall sich endlich entfernte, verkündigte es einer dem andern als Zeichen des Sieges, und nun zogen Tausende hinaus aufs Schlachtfeld, um die Verwundeten zu trösten und zu pflegen.

Der Unfall von Groß-Beeren ward auch dem General Gerard verderblich. Die Absicht dieses Generals war gewesen, sich mit dem Marschall Oudinot zu vereinigen, und deswegen hatte er seinen Marsch von Magdeburg auf Belzig genommen. Von dem Rückzuge der Oudinotschen Armee nicht unterrichtet, und über seine weitern Bewegungen zum allgemeinen Angriff Nachrichten erwartend, hatte er sich unweit Belzig bei Hagelsberg gelagert. Der preußische General Putlitz, der zu seiner

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Beobachtung abgeschickt worden war, überfiel ihn hier, aus einem Walde im Rücken des Lagers vorbrechend, und obschon geringer an Zahl, schlug er ihn nach hartnäckigem Widerstande, und nachdem durch das Eintreffen einer nicht so nahe geglaubten Abtheilung des Feindes das Gefecht für einen Augenblick eine bedenkliche Wendung genommen hatte, aus dem Felde. Die märkischen Landwehren bewiesen an dem Tage große Tapferkeit; mehrere feindliche Massen wurden von ihnen mit Kolben erschlagen.

Die Operationen des Marschalls Davoust waren gleichfalls von keinem Erfolg. An der Spitze von 45,000 Mann Franzosen und Dänen war er von Hamburg aufgebrochen; ihm gegenüber stand General Wallmoden mit ungefähr 18,000 Mann sehr bunt durcheinander gemischter und kürzlich errichteter Truppen; von diesen 18,000 Mann lösten sich noch 4000 Schweden ab, denen, während General Wallmoden gegen die Prignitz sich bewegte, eine andere Rückzugslinie über Wismar und Rostock nach Stralsund vorgeschrieben war. Nichts desto weniger marschirte Davoust sehr behutsam und in sehr kleinen Tagemärschen nach Schwerin, woselbst er stehn

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blieb. Unterdeß hatte gleich nach dem Tage von Groß-Beeren der Kronprinz von Schweden einige Truppen zur Verstärkung des General Wallmoden abgeschickt, und große Wagenausschreibungen auf der Straße dorthin veranstalten lassen, wie zum Transport eines beträchtlichen Korps und als gelte es eine ernstliche Unternehmung gegen Davoust. Dieser, von dem Schicksale Oudinots unterrichtet, nahm jene Scheinanstalten für Ernst, und verließ am 1. September plötzlich Schwerin, sich auf Ratzeburg zurückziehend, wo er sich von neuem lagerte, stark verschanzte, und die Begebenheiten an der obern Elbe beinahe in völliger Unthätigkeit erwartete.

Wir kehren jetzt zu der Hauptarmee zurück. Die große Armee der Verbündeten war auf den Straßen von Peterswalde und Sebastiansberg in Sachsen eingerückt, und den 24. August war bereits das Wittgensteinsche Korps über Peterswalde in der Gegend von Dresden angelangt. Die ganze Armee hatte dem entworfenen Plan zu Folge den 24. vor Dresden versammelt seyn sollen, um noch an demselben Tage die Stadt anzugreifen. Durch eine zu allgemeine Geheimhaltung des Aufbruchs des Hauptquartiers aus Prag hatte es sich jedoch

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zugetragen, daß die Nachrichten vom Wittgensteinschen Korps in der Irre gingen und bereits seit zwei Tagen ausgeblieben waren, als die Hauptarmee über Sebastiansberg und Marienberg gegen Chemnitz sich bewegte, um die große Freybergerstraße nach Dresden einzuschlagen. Besorgnisse wegen des Wittgensteinschen Korps und der Gedanke, einem etwa Statt gehabten Unfall zu begegnen, machten, daß die Armee die große Heerstraße zum Theil verließ und sich, gleichlaufend mit dem Gebürgsrücken, quer über alle Thäler und Schluchten auf sehr schwierigen und bösen Wegen jenem Korps zur Unterstützung mühsam fortschob. Hierdurch kam es, daß das Eintreffen der Hauptmassen bei Dresden sich um zwei Tage verspätete, und der auf den 24. festgesetzte Angriff erst den 26. Statt haben konnte. Trotz dieser Verspätung zweifelte aber dennoch niemand an einem glücklichen Erfolg, da man die große französische Armee in Schlesien wußte. Napoleon war jedoch mit dem größten Theil dieser Armee seit dem 23. in Gewaltmärschen im Anzuge, um Dresden, den Hauptstützpunkt seiner Operationen, zu retten, und es zu einer entscheidenden Schlacht zu bringen, wonach er im Vertrauen auf seine Kunst jederzeit strebte.

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In drei Tagen legte er zwanzig Meilen zurück und war am Lage des Angriffs in Dresden, zum trüben Erstaunen der Einwohner. So ward für die Verbündeten am 26. bedenklich, was den 24. ja noch den 25. leicht gewesen wäre.

Die Verbündeten hatten den Angriff mit frühem Morgen begonnen und drangen von den Anhöhen, welche Dresden auf dem linken Elbufer im Halbkreis umgeben, unter heftigem Geschützfeuer zum Sturme vor. Die vorgeschobenen feindlichen Posten wurden nach und nach aus den Umgebungen der Stadt vertrieben, und es begann nun ein hartnäckiger Kampf um den Besitz der die Vorstädte vertheidigenden Schanzen und Redouten. Mit großem Verluste an Menschen wurden sie stürmend genommen, mit eben so großem Verluste wieder genommen und wieder verlohren und wieder genommen; mit gleicher Heftigkeit ward auf allen Punkten gefochten, und Kugeln flogen in allen Straßen der Stadt, deren Bewohner mit Bangigkeit das Ende des Riesenkampfes erwarteten, der in dem Begegnen so ungeheurer Massen der Stadt den Untergang drohte. Während dieses Kampfes zog die Armee Napoleons in mehreren Kolonnen

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ununterbrochen über die Elbe in die Stadt, und lagerte sich dicht gedrängt an den Ausgängen, das Gefecht an den Schanzen nur in dem Maaße nährend, als die Behauptung derselben es erforderte. Am Abend endlich brach Napoleon aus allen Thoren der Stadt mit großen Massen hervor und drängte die Verbündeten in ihre Stellung auf den Höhen zurück. Am andern Tage setzte er den Angriff fort, und von einem heftigen Regen in seinen Voranstalten begünstigt, gelang es ihm, den linken Flügel der Verbündeten zu werfen, und von der Freiberger Straße zu verdrängen, wodurch zugleich ein 12,000 Mann starkes östreichisches Korps, das zur Deckung dieser Straße jenseit des plauenschen Grundes stand, abgeschnitten und gefangen wurde.

Fürst Schwarzenberg, überrascht durch das unerwartete Erscheinen der großen französischen Armee, und nächst der ungünstigen Wendung des Gefechts die Nachtheile erwägend, in welche ihn ein längerer Aufenthalt in jenen Gebürgsgegenden bringen konnte, die keine Mittel zur Ernährung der Armee mehr darboten, und wo die Zufuhr unübersteiglichen Hindernissen unterliegen mußte, beschloß den Rückzug nach Böhmen über

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Dippoldswalde und Zinnwald. Doch auch dieser Rückzug hatte bereits große Schwierigkeiten; denn abgedrängt von den beiden Heerstraßen über Freiberg und Peterswalde befand sich die Armee in einem Gebürgslande zusammengeklemmt, wo die an sich schon sehr schlechten Wege durch anhaltenden Regen gänzlich verdorben waren. In trüber Stimmung trat die Armee den Rückzug nach Böhmen an; mit Mangel und Entbehrungen aller Art bereits kämpfend und von ihrem Mißgeschick gebeugt, wand sie sich mühsam durch enge Gebürgswege hin, und fühlte so das Ungemach eines Rückzuges in seiner ganzen Schwere.

Am folgenden Tage des Angriffs auf Dresden fällte eine Kanonenkugel den General Moreau an der Seite des russischen Kaisers. Dieser General war den Tag vorher, von Amerika kommend, im Hauptquartier angelangt. Es war als wenn das Schicksal nicht zugeben wollte, daß die Franzosen dereinst einmal ruhmredig sagen sollten, die Verbündeten wären nur mit Hülfe eines Franzosen im Stande gewesen, Deutschland zu befreien und Franzosen zu überwinden. Napoleon nahm von diesem Ereigniß Gelegenheit, den Franzosen auf eine pathetische Art das Schicksal als

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ängstlich über das Wohl Frankreichs wachend darzustellen, und des Himmels Rache als nahe für diejenigen unter ihnen zu verkündigen, die die Waffen gegen ihn kehren würden. So glaubte er dem schädlichen Einflusse vorzubeugen, den die Entschließung Moreaus, dessen Name immer bei der Armee und bei der Nation hochgeehrt war, für ihn haben konnte.

Napoleon hatte auf den Fall, daß die Verbündeten noch länger in ihrer Stellung vor Dresden geblieben wären, den General Vandamme mit 40,000 Mann bei Königsstein über die Elbe gehen lassen, um den rechten Flügel der Verbündeten anzugreifen. Da zur Zeit seines Uebergangs der Rückzug bereits angetreten war, so ward Vandamme zur Verfolgung der Alliirten von dieser Seite bestimmt und drang über Peterswalde in Böhmen ein, während der König von Neapel über Freiberg gegen Sebastiansberg marschirte. Auf die Nachricht des Vordringens des Vandammeschen Korps auf der Töplitzer Straße dirigirte der König von Preußen alles, was von den bereits vom Gebürge herabgestiegenen Truppen zur Hand war, gegen Culm, um den Feind so lange wie möglich aufzuhalten, damit die noch übers

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Gebürge defilirende Armee sich sammeln und zum Gefecht bereiten könnte, und das noch in den Engpässen zurückgebliebene Geschütz und Fuhrwesen gerettet würde. Den russischen Garden ward zuerst jener ehrenvolle Auftrag, dem Vordringen des Feindes ein Ziel zu setzen, und sie führten ihn mit großer Tapferkeit aus. Um die Zeit als General Vandamme in die böhmischen Ebenen hinabstieg, war das Korps des General Kleist noch auf dem sächsischen Gebürgskamm zurück, und die Engpässe vom Geyersberg, durch welche seine Marschlinie nach Böhmen ging, fanden sich dermaßen verfahren und verstopft, daß sie für Truppen schlechterdings ungangbar waren. General Kleist entschloß sich dem zu Folge, dieselbe Straße einzuschlagen, die der Feind marschirt war, und den General Vandamme im Rücken anzugreifen, um so entweder dem Gefecht im Thale bei Culm eine günstige Wendung zu geben, oder sich mit Gewalt eine bessere Rückzugslinie zu öffnen. Ohne Zeitverlust setzten sich die Truppen in Marsch; im Thale ward schon mit großer Heftigkeit gestritten. Der Feind, völlig unbesorgt um seine Rückzugslinie, von wo er nur Verstärkung aber keinesweges Gefahr erwartete, und auch wohl das Erscheinen

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der Kleistschen Kolonnen auf der Nollendorfer Höhe anfänglich für Verstärkung nehmend, sah sich plötzlich im Rücken angefallen; alle Angriffe nach vorn aufgebend, wandte er sich gegen General Kleist, um sich Luft zu machen; doch es war zu spät. Von allen Seiten scharf gedrängt, gelang es nur einer kleinen Abtheilung der feindlichen Armee, auf der großen Straße durchzubrechen, und auch diese Abtheilung ward durch eine unweit Peterswalde zur Beobachtung aufgestellte Brigade des Kleistschen Korps völlig zersprengt. Die ganze Armee war aufgelöst, theils erschlagen, theils gefangen, theils in die Gebürge gesprengt; einzeln fanden sich die Flüchtlinge ohne Waffen bei Dresden ein, und von dem 40,000 Mann starken Korps wurden nach einigen Tagen bei dieser Stadt kaum 9000 und in beklagenswerthem Zustande gemustert. Sämmtliches Geschütz war erbeutet und Vandamme selbst gefangen *). An dem Tage dieses schönen Sieges (am 30. August) traf noch auf dem Schlachtfelde die Nachricht der Siege bei der Katzbach und bei Groß-Beeren ein, und so waren denn die Unfälle
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*) Dritte Kupfertafel

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bei Dresden überreichlich aufgewogen und Hoffnung und Vertrauen in allen Gemüthern wieder befestigt.

Nach dem Siege bei Dresden hatte Napoleon die Armee der Verbündeten in der Lage, in welche sie durch die Gefechte sowohl wie durch den Rückzug gebracht worden war, wenig gefährlich mehr geglaubt, und den General Vandamme für hinlänglich haltend, die errungenen Vortheile zu verfolgen, bereitete er eine große Unternehmung gegen Berlin vor; doch mitten in dieser Vorbereitung traf ihn die Nachricht der Niederlage an der Katzbach, und gleichzeitig fast mit dieser ward ihm die Vernichtung des Vandammeschen Korps gemeldet. Diese Schläge zerstörten die geträumten Früchte seines Sieges, und hemmten die neuen hoch fliegenden Unternehmungen; denn jetzt galt es nicht mehr nach eigener Wahl den Angriff hier oder dorthin zu lenken, sondern der von allen Seiten einbrechenden Fluth Dämme entgegenzustellen und wieder gut zu machen, was versehen worden. Ohne Säumen ging er ans Werk. Die Vertheidigung der böhmischen Gebürgspässe gegen die große Armee der Verbündeten übertrug er dem General Mouton; dem Marschall Ney vertraute er die Unternehmung gegen

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den Kronprinzen von Schweden, nachdem Marschall Oudinot vom Oberbefehl entfernt worden war; er selbst wollte die Blüchersche Armee aufsuchen und zur Schlacht bringen. Den 2. September brach alles auf.

Ney hatte seine Armee bei Wittenberg versammelt, und General Bülow stand mit seinem Korps vor dieser Festung; einige Meilen hinter ihm in der Gegend von Treuenbrietzen befand sich der Kronprinz von Schweden mit der übrigen Armee. Ney, seine Gegner vor Wittenberg durch Scheinangriffe beschäftigend, hatte sich rechts über Zahne gegen Jüterbock gewandt. General Bülow war nicht sobald von dieser Bewegung des Feindes unterrichtet, als er sogleich ebenfalls auf das eiligste gegen Jüterbock aufbrach. Bei Dennewitz unweit Jüterbock traf er auf die Marschkolonne des Feindes, der bereits mit dem Tauentzienschen Korps im Gefecht war. Ohne Zögern griff General Bülow auf der Stelle an. Der Kampf war gewaltig; gegen so große Uebermacht konnte nur die Tapferkeit der Begeisterung bestehn. Lange stand die Schlacht; endlich wandte sich der Sieg für die Preußen, und als der Kronprinz von Schweden, mit dem übrigen Theil der Armee herbeieilend, dem Schlachtfelde

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nahte, hatte sich der Feind bereits in die wildeste Flucht geworfen. Bis unter die Mauern von Torgau wurden die Flüchtigen verfolgt; 90 Geschütze und viele tausend Gefangene waren die Früchte des Sieges, und dem preußischen Korps bei der Armee des Kronprinzen war vom Schicksale zum zweitenmal die Begünstigung geworden, den Kampf zur Rettung von Berlin allein durchzufechten.

Napoleon, der, wie wir gesehn, dem General Blücher eine Schlacht zu liefern trachtete, war am 4. September in der Gegend von Löbau eingetroffen, bis wohin die schlesische Armee in der Verfolgung Macdonalds vorgerückt war. Als General Blücher die Vermehrung der französischen Streitmassen wahrnahm und von der Ankunft des Kaisers unterrichtet worden war, zog er sich, seinem Plane getreu, Napoleon ausweichend von Dresden wegzulocken und dadurch der großen Armee ihre Operationen zu erleichtern, langsamen Schritts hinter die Neiße zurück. Napoleon begriff indeß das Spiel, das man mit ihm vorhatte, und beurtheilend, daß er hier nichts ausrichten könne und jedes weitere Vordringen Gefahrbringend werde, kehrte er mit den Truppen, die er von Dresden herbeigeführt hatte, wieder dahin zurück,

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wo er schon am 7. wieder eintraf, und mit der Nachricht von der Niederlage des Marschalls Ney empfangen wurde.

Die Lage Napoleos ward jetzt immer bedenklicher und gewährte großen überraschenden Unternehmungen, wie er sie wünschte und wie sie ihm nöthig waren, täglich weniger Spielraum; denn wo er mit Uebermacht erschien, suchte man ihm auszuweichen, und da, wo er nicht war, wurden seine Marschälle der Reihe nach geschlagen. Etwas mußte jedoch unternommen werden, und da die große Armee der Verbündeten um diese Zeit einige Truppenabtheilungen über die Gebürgspässe nach Sachsen vorgeschoben hatte, so wollte er sie von dort vertreiben, und nach Umständen wohl selbst gegen die Armee in Böhmen einen Angriff versuchen. Der Augenblick war auch vielleicht so ungünstig nicht; denn als Napoleon am 2. September gegen die schlesische Armee marschirte, entstand bei den Oestreichern die Meinung, als habe er einen Einbruch in Böhmen auf dem rechten Ufer der Elbe von Gabel her im Sinne, und um diesem vermeintlichen Einbruche zu begegnen, hatte sich die östreichische Armee von

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den russischen und preußischen Truppen getrennt, und war über das Mittelgebürge in größter Eil nach Leitmeritz marschirt, wobei in dem überaus schlechten Gebürgswegen Geschütz und Fuhrwesen beträchtlich litt, und die Truppen Ungemach aller Art auszustehn hatten. Als der gefürchtete Einbruch in Böhmen ausblieb und Napoleon statt dessen sich wieder gegen Peterswalde wandte, kehrte die östreichische Armee, eben so eilfertig und eben dem Ungemach Preis gegeben, wieder über das Mittelgebürge in ihre vorige Aufstellung zurück.

Napoleon setzte sich nach einigen leichten Gefechten wieder in Besitz der Gebürgspässe; jedoch die Schwierigkeit des Eindringens in Böhmen mit eignen Augen vom Kamme des Gebürgs ermessend, wo ihm gegenüber in der Ebene sich eine schlagfertige Armee entfaltete, gab er für diesmal alle weitere Unternehmungen auf und kehrte am 12. Sept. nach Dresden zurück; doch am 15. schon brach er von neuem gegen diese Seite Böhmens auf, nachdem der französische General Mouton am 14. auf der Peterswalder Straße angegriffen und bis zum Paß von Gißhübel zurückgeworfen worden war. Diesmal schien Napoleon ernstliche Absichten zu haben. Er drang

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über die Nollendorfer Höhen bis gegen Culm vor; die nachdrückliche Art, wie seine Truppen hier empfangen wurden, und die Bewegungen, die er auf allen Seiten wahrnahm, ließen ihn jedoch, Vandammes Geschick in diesen Thälern ihm ins Gedächtniß rufend, keinen großen Erfolg erwarten, und bestimmten ihn die Sache zum zweitenmal aufzugeben. Er zog sich aufs Gebürge zurück, um Böhmens Ebene nie wieder zu betreten.

Den 21. September traf er in Dresden ein und schon am andern Tage marschirte er wieder gegen General Blücher, der gleich nach dem zweiten Abzuge Napoleons aus der Lausitz am 7. September, wieder vorgerückt war und den Marschall Macdonald bis nach Schmiedefeld, zwei Meilen von Dresden, zurückgedrängt hatte. Während dieser Bewegung vereinigte sich die schlesische Armee mit dem Korps des östreichischen Generals Bubna, der über Romburg in Sachsen eingedrungen war.

Diesmal erschien Napoleon jedoch weder mit der gewohnten Uebermacht, noch mit der gewohnten Hitze, und als er nach Verdrängung der Avantgarde die schlesische Armee hinter Bischofswerda aufgestellt fand,

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bereit ihn zu empfangen, ja selbst von derselben Bewegungen zu einem Angriffe auf seine linke Flanke eingeleitet wurden, so gab er auch hier, so wie früher an den böhmischen Pässen, alle Unternehmungen plötzlich auf, und zog am 26. September sämmtliche Truppen, die unter Macdonald in die Verschanzungen bei Dresden, und die unter dem König von Neapel, der bei Großenhayn stand, bei Meissen über die Elbe zurück.

Vom rechten Elbufer war auf diese Art der Feind vertrieben. Damit er es auch vom linken Ufer würde, mußte er auf dem linken Ufer angegriffen werden. Dem zu Folge ward im Rathe der Monarchen beschlossen, daß die schlesische Armee irgendwo auf das linke Elbufer übersetzen und die Verbindungslinien des Feindes bedrohen solle; gleichzeitig mit dieser Operation solle die Hauptarmee über Sebastiansberg und Chemnitz gegen Leipzig vordringen. In ihrer Stellung bei Kulm und Töplitz war die Hauptarmee schon früher von der russischen Reservearmee, die 66,000 Mann stark unter General Bennigsen aus Polen eingetroffen war, abgelöst worden. Außerdem waren bereits starke Kavalleriekorps unter den Generalen Thielemann und Lichtenstein

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über das Erzgebürge in Sachsen eingebrochen, und hatten bis an die Saale hinstreifend mehrere glückliche Gefechte mit der Kavallerie des Königs von Neapel, so wie mit den Vortruppen des Augereauschen Korps, das aus Frankreich kam, bestanden.

General Blücher wählte zum Uebergange seiner Armee den Einfallspunkt der Elster in die Elbe unweit Wartburg, eine Meile oberhalb Wittenberg. Nachdem alles im Geheim vorbereitet war, und General Blücher auch den Kronprinzen von Schweden über die Elbe zu gehn und gemeinschaftlich zu operiren bewogen hatte, ließ er am 1. Okt. das Sackensche Korps einen Scheinangriff gegen den Brückenkopf von Meissen machen, eilte unterdeß mit der Armee nach dem Uebergangspunkt und ließ in der Nacht vom 2. zum 3. eine Schiffbrücke schlagen. General York setzte mit seinem Korps zuerst über, und schritt sogleich zu dem schwierigen Angriff des Bertrandschen Korps, das die nächsten Dörfer und vorzüglich Wartburg stark besetzt hielt und hartnäckig vertheidigte.

Hier begab es sich, daß General Blücher beim Uebergange, an der Brücke haltend, den vorüberziehenden

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Truppen zurief, es mögte diesmal ein jeder wohl zu sehn sich gehörig zu schlagen, denn er würde die Brücke hinter ihnen abbrennen lassen. Die Soldaten aber nahmen diese Art Aufmunterung übel und murrten; sie würden sich schon schlagen, riefen sie, und es kümmere sie wenig, ob die Brücke stehe oder brenne. Als der alte Feldherr so löblichen Unwillen bemerkte, beruhigte er sie und sagte ihnen freundlich, sie sollten doch gescheut seyn, er habe es so nicht gemeint, wie sie dächten, sie kennten sich ja gegenseitig *). - Der Unwille bewährte sich, und der Feind wurde so ungestüm angefallen, daß er bald aus allen seinen Stellungen vertrieben war.

Die Nordarmee ging die nächstfolgenden Tage den 4. und 5. bei Roslau über die Elbe. Seit der Schlacht von Dennewitz hatten sich die Operationen dieser Armee auf die Beobachtung der Festungen an der Elbe und auf Entsendungen von Streifpartien auf das linke Ufer dieses Flusses beschränkt. In diesem Zeitraume der Vorbereitung zu den kommenden großen Ereignissen tritt der Zug des Generals Tschernitschew nach Kassel als heitere Episode hervor. Mit 1800 leichten Pferden, meist
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*) Vierte Kupfertafel

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Kosaken, nach Märschen bei Tag und Nacht plötzlich vor jener Stadt erscheinend, schlug er die Truppen, die man ihm in der Bestürzung entgegengeworfen hatte, bemächtigte sich mit Hülfe dieser geschlagenen Truppen, die als gute Deutsche zum Theil zu ihm übergegangen waren, der Stadt, fing beinahe den westphälischen König Hieronymus, der nur mit Mühe in der ersten Verwirrung entwischte, zog triumphirend ins Schloß ein, proklamirte, daß das Königreich Westphalen aufgehört habe zu seyn, und zog nach wenigen Lagen Rast wieder davon, ehe noch die Leute in Kassel so recht zur Besinnung über die ganze Begebenheit gelangen konnten, die plötzlich wie eine Lufterscheinung gekommen und eben so spurlos verschwunden war.

Der Uebergang der schlesischen und Nordarmee über die Elbe gab, wie vorauszusehn gewesen, den großen Bewegungen des Krieges eine veränderte Richtung und zwang Napoleon, sich rückwärts zu wenden und Dresden zu verlassen. Man kann nicht umhin, sich über die Hartnäckigkeit zu verwundern, mit welcher Napoleon bis dahin den Kriegsschauplatz bei Dresden als dem äußersten Punkt seiner Vertheidigungslinie (der Elbe) festgehalten hatte. Dreimal war er gegen die große

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böhmische Armee hervorgebrochen, einmal siegend, und zweimal ohne Erfolg; dreimal desgleichen hatte er sich gegen die Blüchersche Armee gewendet und hier jedesmal fruchtlos; ohne Unterlaß und mit immer steigender Begierde das Glück einer Schlacht suchend, hatte er seine Truppen rastlos von einem Ufer der Elbe auf das andere gejagt und gleichsam zwecklos sie bis in den Tod ermüdet. Die Nachrichten von den Niederlagen seiner Marschälle hatten ihn nicht erschüttert; der durch das Vorschreiten der schlesischen Armee sich immer mehr und mehr verengende Spielraum seiner Bewegungen, die in seinem Rücken schwärmenden und täglich stärker werdenden Parteien, der Anblick des Mangels und des Elends, welche die Armee bereits litt, die mit jedem Tage durch Krankheiten und Desertion mehr noch als durch Gefechte sich häufenden Verluste, nichts hatte Eindruck auf ihn gemacht; unverrückt seine Gegner im Auge behaltend, wartete er das Aeußerste ab, und hoffte durch Ausdauer die Gelegenheit einer Blöße zu ertrotzen. Der Uebergang der schlesischen Armee auf das linke Elbufer brachte ihn endlich in Bewegung. So großer Starrsinn mußte nothwendig eine große Katastrophe herbeiführen. Auch geschah es,

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daß, wenn die Gunst des Schicksals, so lange Napoleon um Dresden verweilte, in einer Art von Gleichgewicht geschwebt hatte, diese Gunst, als er sich rückwärts wandte, von ihm abfiel, und nun in wenigen Tagen der Feldzug sich vollendete.

In Frankreich war man in dieser Zeit gutes Muthes, und warum hätte man das auch nicht seyn sollen? Der Kaiser war ja fortdauernd in Dresden, und die öffentlichen Blätter konnten nicht genug erzählen, wie die Verbündeten jederzeit flohen, so wie er sich nur zeigte; die Plätze an der Elbe, an der Oder, an der Weichsel, alles war noch in der besten Ordnung; was war da wohl zu fürchten? Im Gegentheil man hoffte, daß der Ruhm der großen Nation, durch die Tücke der Elemente vor kurzem um etwas geschmälert, bald heller als je leuchten werde und daß die Weltherrschaft noch nicht verlohren sey.

Am 7. October verließ Napoleon Dresden, nachdem er bereits seit einigen Tagen die Armee in Bewegung gesetzt hatte; ihm folgte die Königl. Sächsische Familie. Er hatte den Plan, mit großer Macht auf die Blüchersche Armee zu fallen, sie zur Schlacht zu zwingen oder über die Elbe zu treiben, und dann nach

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Dresden zurückzukehren, um das Spiel ganz in der Art wie bisher fortzusetzen. Aus diesem Grunde ließ er den General St. Cyr mit 24000 Mann in Dresden stehen, um dem möglichen Andringen der großen böhmischen Armee bis zu seiner Rückkehr zu widerstehen. Die schlesische Armee war unterdeß bereits bis Düben an der Mulde vorgedrungen und Parteien derselben streiften vor Leipzig und Torgau. Sobald General Blücher erfuhr, daß Napoleon mit großer Uebermacht in Person gegen ihn andringe, zog er sich, ihm ausweichend, zurück, immer dem allgemeinen Plane getreu, ihn abwärts zu locken und der großen böhmischen Armee das Einbrechen in Sachsen zu erleichtern. Doch ging er nicht über die Elbe zurück, sondern setzte den 9. bei Jeßnitz über die Mulde, und marschirte von hier gegen die Saale, die Verbindung mit der großen böhmischen Armee rückwärts Leipzig über Lützen und Mark-Ranstädt suchend. Auf dieses kecke Manöver hatte Napaleon ganz und gar nicht gerechnet und er sah, daß er wieder wie früher in die Luft gegriffen hatte. Um jedoch Etwas zu unternehmen, wollte er versuchen, ob er vielleicht durch Scheinbewegungen seine Gegner über die Elbe zurückbringen könnte.

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Er ließ deshalb zwei Armeekorps bei Wittenberg über die Elbe gehen, mit dem Auftrage, die Brücken bei Roslau und Aken zu zerstören und in der Art vorwärts ins Land zu manövriren, daß es aussehe, als habe er einen großen Schlag gegen Berlin auszuführen im Sinne. Man muß gestehn, daß ihm dieser Plan beinahe theilweise geglückt wäre; denn schon hatte der Kronprinz von Schweden, der bei Radegast stand, um der Möglichkeit eines solchen Unternehmens zu begegnen, angefangen, seine Armee wieder rückwärts gegen die Elbe in Bewegung zu setzen. Wichtige Ursachen erlaubten jedoch nicht, daß Napoleon dieser Täuschung mehr als ein paar Tage widmen konnte, und so lief denn die ganze Frucht der Unternehmung auf einen vergeblichen weit übers Land hin sich fortpflanzenden Schrecken hinaus. Jene wichtigen hindernden Ursachen bestanden aber darin, daß die große böhmische Armee über Chemnitz mit Macht gegen Leipzig vordrang, den König von Neapel, der jene Straße deckte, vor sich her treibend. Ohne zu säumen rief jetzt Napoleon seine Truppen jenseit der Elbe zurück und marschirte mit der ganzen Armee nach Leipzig, in der Absicht,

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der böhmischen Armee dort eine große Schlacht zu liefern, wonach er so lange sich gesehnt hatte.

Am 16. October war die französische Armee bei Leipzig versammelt. Die Armeen, die bis daher einzeln gegen die böhmische, die schlesische und die Nordarmee gefochten hatten, bildeten jetzt Eine große Masse, und zählten mit den unter Augereau angelangten Verstärkungen bei 170,000 Mann. Gegen dieses mächtige Heer zogen die Verbündeten mit noch größerer Heeresmacht heran. Von der Nordseite rückte die schlesische und die Armee des Kronprinzen an, von der Südseite die große böhmische und von der Ostseite die Benningsensche Armee, welche letztere jedoch noch mehrere Meilen zurück war; alle zusammen konnten sich auf 300,000 Mann belaufen.

Die Partha, ein kleines Wasser, fällt beinahe unter einem rechten Winkel bei Leipzig in die Elster. Südlich dieser stand die große französische Armee an die Pleisse angelehnt, in einem Viertel-Kreisbogen und in einem Abstande von ungefähr einer Meile um Leipzig herum; und zwei Armeekorps standen dem General Blücher gegenüber, der von Zörbig her vordrang. Der Kampf begann mit

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großer Hartnäckigkeit auf allen Punkten zugleich. Die östreichische Armee hatte die Absicht gehabt, zwischen der Pleisse und Elster vorzudringen, dann im Rücken der französischen Armee über die Pleisse zu gehn und sie von Leipzig abzuschneiden. Die Bewegungen zu diesem Manöver stellte sie jedoch, der entgegenstehenden Schwierigkeiten wegen, noch zu rechter Zeit ein und schloß sich dem Front-Angriffe der russischen und preußischen Armeekorps an. Die Schlacht dauerte, mit großem Verluste von beiden Seiten, bis in die Nacht; beide Armeen behielten ihre Stellungen. Während hier der Sieg unentschieden geblieben war, hatte er sich auf einem andern Punkte desto bestimmter entschieden; denn General Blücher hatte den Marschall Marmont bei Mökern angegriffen, ihn nach blutigem schweren Kampfe gänzlich aus dem Felde geschlagen und bis dicht vor Leipzig hinter die Parthe getrieben.

Napoleon, des unentschiedenen Ausgangs der Schlacht auf seiner Seite und der Niederlage bei Mökern auf der andern ungeachtet, gab sich das Ansehn gesiegt zu haben, und damit es die Leute auch glauben möchten, ließ er in Leipzig mit allen Glocken läuten. Er

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selbst glaubte indeß nicht so recht an seinen Sieg; denn nachdem er am 17. ohne angegriffen worden zu seyn, in seiner Stellung geblieben war, zog er sich in der Nacht zum 18. näher gegen Leipzig und verkürzte dadurch um ein beträchtliches seine Vertheidigungslinie, die wieder einen Viertel-Kreis bildete und das Dorf Probstheide berührte.

Der 17. verging in einer Art allgemeiner Waffenruhe, gleichsam als Vorbereitungstag zur großen Entscheidung. Den 18. erneuerte sich der Angriff längs der ganzen französischen Stellung. Napoleon hielt hartnäckig auf allen Punkten, besonders ward gewaltig bei Probstheide gestritten. Jedoch fing er bereits an, Mißtrauen in seinen Stern zu setzen; denn schon am 18. Morgens sendete er beträchtliche Truppenabtheilungen rückwärts, um die Uebergänge der Saale zu besetzen. Das Eintreffen der Nordarmee auf dem Schlachtfelde, die Nachricht von dem Anrücken des General Bennigsen und der Abfall der sächsischen Truppen mitten in der Schlacht, ließen ihn endlich begreifen, daß das Spiel verlohren gehe, und somit zog er sich am Abend, nachdem er den Tag über die Schlacht noch gehalten hatte,

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nach Leipzig zurück, von wo ohne Verzug während der Nacht der weitere Rückzug fortgesetzt ward. Um denen Truppen, die noch in Leipzig waren, einen ruhigen Abzug zu sichern, ließ er am andern Morgen, die Schonung der Stadt vorschützend, eine Waffenruhe bis zum vollendeten Abzuge anbieten. Die Monarchen wiesen alle Unterhandlungen ab und befahlen den Sturm; alle Armeen setzten sich zugleich in Bewegung, und nach kurzem Kampfe waren sie Herren der Stadt. Napoleon verließ Leipzig erst kurz vor dem Eindringen der Verbündeten; in dichten Kolonnen drängte alles über die einzige Rückzugsbrücke der Elster. Nicht lange darauf, als er hinüber war, ward sie, angeblich durch ein Versehn, in die Luft gesprengt *). Zwei Armeekorps waren noch jenseit und mit den Verbündeten im Gefecht. In wilder Flucht warf sich jetzt Alles gegen den Fluß, um noch eine Rettung zu versuchen; wenigen nur glückte es schwimmend das andere Ufer zu erreichen, viele Hunderte ertranken, unter ihnen Fürst Poniatowsky, alle übrigen wurden gefangen. So ungeheuer der dreitägige
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Kampf gewesen, so unermeßlich waren die Trophäen; 200 Geschütze, 900 Pulverwagen und über 30,000 Gefangene, worunter mehrere Generale, fielen den Siegern in die Hände. Der König von Sachsen war in Leipzig zurückgeblieben und nahm auf Einladung der verbündeten Souveräne seinen Aufenthalt in Berlin.

Die Monarchen begaben sich noch während des Gefechts nach Leipzig, wo ihnen aus allen Fenstern ein freudiges Willkommen und der Dank der Rettung zugejauchzt ward. Die allgemeine Freude über den herrlichen Sieg war unbeschreiblich. Das so schön begonnene, unter schwerem Kampfe fortgesetzte Werk war nun vollendet und gekrönt, und in einer Schlacht, wo alle Heere der Verbündeten gleichzeitig fochten, der Feind zu Boden geworfen und die Freiheit Deutschlands errungen. Darum heißt auch diese Schlacht die Völkerschlacht, und zum Gedächtniß der erkämpften Freiheit leuchten alljährlich in der Nacht nach jenem Schlachttage unzählige Feuer auf allen Höhen derjenigen deutschen Länder, wo dieser Rettungstag in Ehren ist. Die Freude über den Sieg war um so ungetrübter, da fast gar keine Deutschen mehr in den Reihen der Franzosen gefochten hatten; denn noch

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während der Schlacht vom 18. waren die sächsischen Truppen übergegangen und hatten die Waffen sogleich gegen die Franzosen gewendet. Dafür wurden sie auch als Brüder aufgenommen und behandelt, und konnten in den allgemeinen Jubel mit einstimmen.

Sobald der erste Rausch vorüber war, ging es rasch ans Verfolgen. Napoleon war bei Weissenfels über die Saale gegangen und marschirte auf der großen Straße nach Erfurt. Man glaubte einen Augenblick, daß er sich bei dieser Festung halten würde, und die Verbündeten manövrirten dem gemäß, indem die schlesische Armee auf Langensalza marschirte, um die Stellung bei Erfurt rechts zu umgehn, während ein Theil der Hauptarmee auf der großen Straße folgte, und ein anderer Erfurt links umgehn sollte. Napoleon hielt jedoch nirgend Stand, sondern setzte seinen Rückzug unaufhaltsam nach dem Rhein fort. Die Geschwindigkeit des Rückzuges brachte noch einmal fast dieselben Plagen über seine Armee, von denen die Geschichte des russischen Feldzuges erzählt. Die ganze Straße war mit Todten und Sterbenden bedeckt, die der Ermüdung und dem Hunger unterlegen hatten. Von Leipzig bis Mainz sind beinahe

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50 Meilen. Auf dieser ganzen Strecke war keine Verpflegung vorbereitet; nur die ersten Ankommenden fanden in den Städten und Dörfern nothdürftige Nahrung, die letzten gingen leer aus, und rechts oder links von der Heerstraße abzugehn wagte Niemand, aus Furcht sich zu verspäten oder vom Landvolke erschlagen zu werden. So zogen sie denn, von Pferdefleisch sich nährend, Tag und Nacht so lange fort, bis ihre Kräfte sich erschöpften und blieben dann zurück, um zu sterben.

Unglücklichen Begebenheiten, die Napoleon dem französischen Volke nicht verschweigen konnte, suchte er jederzeit zum wenigsten eine möglichst harmlose Gestalt zu geben. Die Schlacht von Leipzig, in der er mit einem Schlage ganz Deutschland verlohr, und den ihr folgenden Rückzug in harmlose Formen zu bringen, war gewiß eine etwas schwierige Aufgabe; dennoch versuchte er es und stellte die ganze Begebenheit in den pariser Blättern folgendermaßen dar: er habe am 16. einen glänzenden Sieg erfochten und diesen mit dem Läuten aller Glocken in Leipzig gefeiert; am 18. habe er gegen weit überlegene Kräfte den Kampf noch einmal aufgenommen und würde obgesiegt haben, wenn nicht die Sachsen, gerade im

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entscheidendsten Momente verrätherischer Weise zum Feinde übergegangen wären; nach Behauptung des Schlachtfeldes bis in die Nacht habe es sich nun darum gehandelt, ob er den Kriegsschauplatz nach der Elblinie verlegen, und vorwärs gegen Magdeburg marschiren, oder ob er sich gegen die Vertheidigungslinie des Rheins wenden solle; der unerwartete Abfall Bayerns habe ihn für den Rhein bestimmt; der zufällige Verlust einiger tausend Gefangenen in Leipzig sei einzig und allein einem einfältigen Kanonier beizumessen, der die Elsterbrücke voreilig gesprengt habe. Man muß gestehn, daß nach diesem Bericht die Schlacht von Leipzig für die Verbündeten fast wie eine Art Niederlage aussieht, daß in den Bewegungen Napoleons nach derselben so viel freie Wahl und abwägende Berechnung liegt, daß der Ruhm der Armee und ihrer Feldherrn ganz unversehrt aus jenen verhängnißvollen Tagen hervorgeht, und daß die Franzosen eben so gut ein Recht haben, Herr Gott dich loben wir zu singen, wie die Verbündeten.

Die Unterhandlungen zwischen Bayern und Oestreich, welche bereits im Waffenstillstande eingeleitet worden waren, hatten sich kurz vor der Schlacht von Leipzig mit

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dem Traktat von Ried geendigt, welchem zufolge Bayern dem großen Bündnisse beitrat und dafür von Oestreich den vollen Besitz aller seiner Provinzen und Vergrößerungen unter Napoleon garantirt erhielt, mit Vorbehalt eines Austausches der von Oestreich abgerissenen Länder. Unmittelbar nach der Auswechslung der Ratifikationen setzte sich General Wrede mit der bayerschen Armee, zu der noch östreichische Truppen gestoßen waren, nach dem Kriegsschauplatz in Marsch, und da gerade um diese Zeit die Nachricht der Schlacht bei Leipzig eintraf, so wandte er sich gegen den Rhein, um der französischen Armee auf der frankfurter Straße zuvorzukommen.

Napoleon hatte von diesem Marsche der Bayern Nachricht, und darum beschleunigte er seinen Rückzug so außerordentlich, um durch Verrennung der Pässe nicht gezwungen zu werden, die große Straße zu verlassen und Gebürgswege einzuschlagen, was in jener Jahrszeit ihm sämmtliches Geschütz gekostet und den Rest der Armee zu Grunde gerichtet haben würde. Er hatte das Glück, seine Absicht zu erreichen, und den Paß von Gelnhausen, drei Meilen von Hanau, eher zu gewinnen als die Bayern, die Hanau bereits besetzt hatten. Die Bayern konnten

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nun seinen Marsch weiter nicht aufhalten, sondern nur von der Seite her beunruhigen, was denn auch in dem Gefechte bei Hanau heftig genug geschah. Napoleon zog über Frankfurt nach Mainz. Ungefähr 70,000 Mann und 120 Geschütze brachte er über den Rhein. Das waren die Ueberreste jener großen Armee von vierthalb mal hunderttausend Mann und 1200 Kanonen, mit der er seine Herrschaft von neuem zu befestigen gedachte und die vor wenig Tagen noch stolz und drohend an der östlichen Gränze von Deutschland gestanden hatte.

Die Heere der Verbündeten zogen in steter Verfolgung bis an den Rhein und gingen längs dem rechten Ufer dieses Flusses in Kantonnirungen. Die Monarchen schlugen ihr Hauptquartier zu Frankfurt auf.

Die nächsten Folgen dieser großen Ereignisse waren: zuerst die Gefangennehmung des in Dresden zurückgebliebenen Korps von 24000 Mann unter General St. Cyr. Keine Nachrichten von der Armee Napoleons erhaltend, hatte dieser General vergeblich versucht, gegen Torgau durchzubrechen, und war darauf mit dem östreichischen General Klenau, der Dresden blokirte, eine Kapitulation eingegangen, vermöge welcher ihm freier Abzug nach

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dem Rhein zugestanden wurde. Diese Kapitulation ward jedoch nicht ratifizirt und General St. Cyr, der bereits zwei Märsche von Dresden entfernt war, mußte wieder dahin zurückkehren; weil er jedoch durch unrechtmäßige Zerstörung aller Pulver- und Geschützvorräthe, die er der Kapitulation nach hätte übergeben müssen, die Mittel, sich länger zu wehren, sich selbst benommen hatte, so mußte er sich wenige Tage darauf kriegsgefangen geben.

 

Eine andere Folge der Schlacht war die Sprengung des Rheinbundes. Die verbündeten Monarchen zeigten sich hier in ihrer ganzen Großmuth; allen Fürsten, die bis dahin noch im Bündnisse mit Napoleon gewesen, ward vergeben. Die Monarchen wollten nach so großer Gunst des Himmels, wie sie erfahren, keine Rache üben an denjenigen, die im Zwange gehandelt hatten. So blieben Baden, Hessen-Darmstadt, Nassau u. s. w. unangetastet. Der König Hieronymus war entflohn und der Kurfürst wieder nach Kassel zurückgekehrt. Ueber den König von Sachsen hatte das Schicksal früher bereits entschieden.

An die Stelle des Rheinbundes sollte nun etwas anderes

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treten; denn für alle die kleineren Fürsten war irgend ein Vereinigungspunkt der Kraft nöthig, damit ihrer Würksamkeit eine bestimmte Richtung nach einem gemeinschaftlichen Plan vorgezeichnet werden könnte. Da nun keine der hohen Mächte für sich allein jener Vereinigungspunkt seyn konnte, ohne die übrigen zu beeinträchtigen, so ward ein künftiger großer deutscher Bund angekündigt, und einstweilen eine gemeinschaftliche Verwaltung der drei hohen Mächte angeordnet, unter dem Namen Central-Verwaltung, die für die bestehenden regierenden Fürsten eine bloße Militärverwaltung war, während sie für solche Länder, die, wie Sachsen, das Herzogthum Berg und andere erobert und herrenlos waren, auch eine Civilverwaltung wurde und in mehrere Generalgouvernements zerfiel. Der Minister Stein ward zum Chef dieser Centralverwaltung ernannt.

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Dritter Abschnitt.

Von dem Eindringen der Verbündeten in Frankreich bis zum Frieden von Paris.

Der Untergang der französischen Armeen in Rußland hatte die Herrschaft Napoleons bis tief in Deutschland hinein erschüttert und den Abfall der mächtigsten seiner Verbündeten herbeigeführt: Eben so und noch gewaltiger rüttelte die Schlacht von Leipzig an dem Gebäude seiner Herrschaft und erschütterte seine Macht bis in die Provinzen seines eigenen Reichs.

In Holland waren die Gemüther bereits seit längerer Zeit in Gährung, welche durch die letzten Ereignisse zu einer Spannung gesteigert wurde, die in jedem Augenblick einen allgemeinen Ausbruch drohte. Die Monarchen beschlossen, diese Stimmung zu benutzen und etwas zur Befreiung Hollands zu unternehmen. Dem zu Folge ward das Korps des General Bülow von der Armee des Kronprinzen getrennt und nebst einiger leichten russischen Kavallerie nach jenen Gegenden abgeschickt. Die Holländer hatten nicht sobald erfahren, daß Truppen

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gegen ihre Gränzen marschirten, als auf mehreren Punkten des Landes Volksbewegungen gegen die Franzosen Statt fanden. Douaniers und Gensd'armes wurden gemißhandelt und erschlagen, ihre Niederlagen konfiszirter Güter zerstört, ihre Häuser verbrannt, und die öffentlichen Beamten vertrieben. Die im Lande zerstreuten französischen Truppen, von denen sich bereits die holländischen Regimenter abgesondert hatten, eilten sich in die Festungen zu werfen.

Unterdeß war General Bülow am Rhein angekommen. Er nahm Arnheim mit Sturm und drang längs der Waal vor, dem ganzen Lande seitwärts auf diese Art die Freiheit sichernd. Die Plätze Breda und Wilhelmsstadt waren im ersten Schrecken von den Franzosen verlassen, um die Garnisonen wichtigerer Plätze zu verstärken, und so von leichter russischer Kavallerie besetzt worden. Zur Besinnung gekommen wollten die Franzosen sich ihrer wieder bemächtigen, wurden jedoch von den herbeieilenden Preußen daran verhindert, die nun gehörige Garnisonen hinein legten. Die Franzosen, zu schwach, um sich mit den Streitkräften, die die Verbündeten so schnell nach Holland gebracht hatten, zu messen, gaben

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diese Provinzen gänzlich auf und beschränkten sich auf die Vertheidigung von Belgien, wohin sie aus dem Innern Frankreichs mehrere Truppen abschickten und vor allen die Festung Antwerpen mit Streitmitteln aller Art ausrüsteten.

Während auf der einen Seite Holland den Franzosen entrissen wurde, ward auf einer andern das Herzogthum Holstein der Schauplatz eben so entscheidender Ereignisse. Der Kronprinz von Schweden, der durch die Schlacht von Leipzig und den Rückzug der Franzosen über den Rhein die Sache Europas einstweilen für besorgt hielt, nahm jetzt mit Lebhaftigkeit seine eigene wieder auf, die in der Bekriegung Dänemarks zur Gewinnung von Norwegen bestand, das ihm schon im Jahr 1812 zu Abo von Rußland und England bei glücklicher Wendung der Dinge zugesichert worden war, welche Zusicherung wohl durch Rückwürkung zu dem Zerschlagen der Unterhandlungen mit Dänemark im Jahr 1813 und zur Aufopferung von Hamburg mit beigetragen haben mag. Der Kronprinz von Schweden, nachdem er mit seiner Armee in der Richtung der allgemeinen Verfolgung bis nach Göttingen gekommen war, wandte sich von hier nordwärts

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gegen Hannover, wo er im Anfang November eintraf, und marschirte sodann wieder zurück gegen die Unterelbe.

Der Marschall Davoust war bis zur Schlacht von Leipzig und selbst noch einige Zeit nachher in seiner Stellung bei Ratzeburg stehn geblieben, ohne von seinem System unthätigen Harrens abzugehn. Nur einmal hatte er es unternommen, den General Pecheux mit einer Division von 5 bis 6000 Mann auf das linke Elbufer abzuschicken, um die Streifkorps der Verbündeten zu vertreiben. Der General Wallmoden hatte indeß Kundschaft von diesem Vorhaben erhalten, und war schnell und heimlich mit überlegenen Kräften bei Dömitz über die Elbe gegangen, dem General Pecheux entgegen. Am 16. September überraschte er den Feind bei der Görde, schickte ihm eine starke Truppenabtheilung unter Begünstigung des Waldes in den Rücken, und ihn so von allen Seiten mit Ungestüm anfallend, rieb er die ganze Division dergestalt auf, daß nur wenige Hundert entrannen. Seit der Zeit ließ sich die Unthätigkeit des Marschall Davoust durch nichts mehr erschüttern. Einige Wochen darauf erfolgte die Wegnahme der Stadt Bremen, so

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daß er gar um alle Verbindung mit Frankreich kam. Sobald er vom Anmarsche des Kronprinzen von Schweden hörte, verließ er das freie Feld und zog sich mit allen französischen Truppen nach Hamburg zurück, während die Dänen unter Prinz Friedrich von Hessen nach Lübek marschirten. Der Kronprinz von Schweden, dessen Armee aus den Schweden, dem Korps des General Wallmoden und einem Theil des Wintzingerodischen bestand und gegen 50,000 Mann betragen konnte, schloß Hamburg mit einem Theil seiner Truppen ein und rückte mit dem andern gegen die Dänen. Diese zogen eiligst nach Kiel und von da über die Eider und warfen sich in die Festung Rendsburg, welche zu erreichen sie sich durch das Korps des General Wallmoden durchschlugen. So waren also wenig Tage nach Eröffnung der Feindseligkeiten keine Truppen des Feindes mehr im Felde; die Franzosen waren in Hamburg und die Dänen in Rendsburg eingeschlossen. Es kam mit den Dänen zu einem Waffenstillstande und zu Unterhandlungen, in welchen die Abtretung Norwegens gefordert wurde. Da indessen der Waffenstillstand abgelaufen war, ehe noch diese Unterhandlungen ein Resultat gegeben hatten,

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so begannen die Feindseligkeiten aufs neue. Wenig dänische Truppen waren im Felde, und die leichte russische Kavallerie durchzog ganz Schleswig und streifte in Jütland. Der König von Dänemark hatte einige Truppen auf der Insel Fühnen gesammelt, die indeß viel zu schwach waren, um irgend etwas von Nachdruck gegen die Verbündeten zu unternehmen.

Die Lage war dringend. Ganz Europa war mit der Sache Schwedens; es drohten noch größere Verluste. So ergab sich denn der König von Dänemark in sein Schicksal, und unterzeichnete in der Mitte Januars 1814 zu Kiel den Frieden, durch den er Norwegen an Schweden abtrat und sich dem Bunde gegen Frankreich anschloß.

Während dieser Begebenheit in Holland und Holstein hatten die in Frankfurt sich befindenden verbündeten Monarchen von neuem versucht, Unterhandlungen mit Frankreich anzuknüpfen. Sie glaubten, Napoleon nun endlich zur Besinnung gebracht und gefügig gemacht zu haben, der Selbstständigkeit der europäischen Staaten nicht weiter gefährlich sein zu wollen; gefährlich aber blieb er in der That so lange,

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als die Größe des französischen Reichs im Mißverhältnisse zu den Nachbarstaaten war. Napoleon indeß dachte in seinem Innern an nichts weniger als an Frieden. Kaum in Paris angelangt, war seine erste Sorge gewesen, eine Aushebung von 300,000 Mann anzuordnen. Als dies die Verbündeten erfuhren, erließen sie die bekannte Proclamation vom 1. December, durch welche sie die Franzosen über den Zweck des ferneren Krieges belehren wollten, und worin sie erklärten, daß sie den Krieg nicht gegen Frankreich, sondern gegen die Grundsätze Napleons führten, daß es nicht ihre Absicht sey, die Selbstständigkeit Frankreichs anzutasten, daß sie aber auch die ihrige gesichert wissen wollten, und daß sie nicht eher die Waffen niederlegen würden, bis dieser Zweck vollkommen erreicht sey.

Die Würkung, die diese Erklärung in Frankreich machte, bestimmte Napoleon, der die öffentliche Meinung schonen mußte, sich bereitwillig zu zeigen, in die angebotenen Unterhandlungen einzugehn. Er spielte sein altes Spiel; er sprach viel von Frieden, um hinterher die Hindernisse, die er selbst bereitete, den Verbündeten beimessen, und alle Schuld von sich abwälzen zu können.

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Während also die baldige Eröffnung der Unterhandlungen im Werke schien, wurden von allen Seiten die Waffenrüstungen mit dem größten Eifer fortgesetzt.

 

Die Streitkräfte der Verbündeten hatten sich um die Kriegsmittel von ganz Deutschland vermehrt, wo unter der Leitung theils der eigenen Fürsten, theils der Zentralverwaltung die Rüstungen ganz in dem Geiste betrieben wurden, wovon Preußen früher das Muster aufgestellt hatte; überall ward die Nation selbst zum Kriege angeregt und als Landwehr oder Landsturm bewaffnet.

Es ist bemerkenswerth, wie das gequälte, zersplitterte, im bewußtlosen Halbschlummer seit langer Zeit kaum noch athmende Deutschland, wo ein jeder Theil selbstisch in sich befangen wenig nach dem Wohl der andern fragte, und jeder, zufrieden mit seiner ärmlichen politischen Existenz, mit seinem Schattenleben, einer gänzlichen Auflösung entgegen ging, wie dieses Deutschland, geweckt durch die frühern großen Ereignisse in Rußland und den spätern Kampf an seinen östlichen Gränzen, wenn schon eben der Zersplittterung wegen noch nicht völlig ermuthigt, jetzt plötzlich, durch die

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Schlacht von Leipzig aufgeregt, in neuer junger Kraft sich erhob. Wie ein Zucken des Bewußtseyns fuhr es durch Fürsten und Völker; man sprach wieder von einem Deutschland und von deutschen Brüdern; man empfand, daß Zusammenhalten Noth sey, und daß man zusammen gehöre; man sprach von Vergehn an Deutschland, von Verdienst um Deutschland; kurz es war wieder Licht und Leben dahin gekommen, wo alles dem Tode entgegensank. Dieses Leben, dieses erwachte Bewußtseyn machte, daß man überall die Kriegsrüstungen mit herrlichem Eifer trieb. Wie in Preußen, so traten auch in den meisten übrigen deutschen Städten die Frauen zum Dienst des Vaterlandes in Vereine zusammen, die die Wartung und Pflege der Kranken und Verwundeten übernahm; sogar in Sachsen, wo doch die Abwesenheit eines geliebten Fürsten zum Theil betrauert wurde, zum Theil Erbitterung erregte, war das Gefühl des deutschen Vaterlandes das mächtigere und viele tausend Freiwillige machten sich bereit, in den Krieg zu ziehn.

Als die Monarchen aus der Verzögerung des versprochenen Beitritts zu den Unterhandlungen den bösen Willen Napoleons erkannten, so beschlossen sie,

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sich nicht länger hinhalten und ihn seine Rüstungen vollenden zu lassen, sondern die Feindseligkeiten frisch wieder zu beginnen, und den Erbfeind der Ruhe in seinem eigenen Reiche heimzusuchen. Die vorbereitenden Märsche wurden sofort angeordnet.

Der große europäische Kampf gegen französische Oberherrschaft trat jetzt in seine dritte Entwickelungsperiode. In der ersten war ganz Europa mit Napoleon gegen Rußland verbündet gewesen; in der zweiten hatten sich die europäischen Völker getheilt; die eine Hälfte hatte für, die andere wider Napoleon gefochten; in der dritten endlich hatten sich alle Völker wieder vereinigt und standen nun gegen Napoleon in Waffen. Sein Schicksal schien sich zu erfüllen, denn nach jedem Aufflammen alten Glücks hatten ihn nur desto größere Unfälle getroffen. Dennoch ließ er nicht ab zu ringen, und verschmähte sich zu beugen. Wenn er in der ersten Periode auf seine Uebermacht trotzte, wenn er in der zweiten den Ausschlag von der Einheit der Leitung und von seiner größern Geschicklichkeit erwartete, so schien er in der dritten seine Hoffnung auf das Hervorrufen derjenigen moralischen Kraft bei den Franzosen zu bauen, die ein

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Volk fast immer unüberwindlich macht. Man muß gestehn, daß seine Rechnung diesmal ihrer Anlage nach die richtigere war; denn nur an der moralischen Kraft seiner Gegner war seine Macht und seine Kunst früher gescheitert. Zum Glück reicht aber der bloße Wille eines Herrschers nicht hin, jene Kraft zu erzeugen, und Napoleon hatte sich die Mittel dazu durch seine Art zu regieren selbst verscherzt.

Frankreich ist gegen Deutschland durch eine dreifache Reihe von Festungen geschützt, wovon die erste längs dem Rheine liegt. Diese Festungen waren von jeher der Stolz der französischen Nation, da sie sowohl in Angriffs- als Vertheidigungskriegen große Vortheile gegen die Deutschen gewährten, und jetzt, wo die Schweiz sich aus dem Kampfe zurückgezogen und neutral erklärt hatte, den Verbündeten wie ein großes Schild entgegentraten, auf welches anzustürmen diese mit Recht Bedenken tragen mußten.

Der Plan der Verbündeten ging dahin, die Neutralität der Schweiz nicht anzuerkennen, indem diese Neutralität ihnen in eben dem Maaße nachtheilig seyn mußte, als sie den Franzosen vortheilbringend war;

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vielmehr mit der Hauptarmee in die Schweiz einzudringen, und so von Süden her, alle jene schützenden Festungen umgehend, zum Theil aufwärts gegen Paris, zum Theil seitwärts über Genf gegen Lyon sich zu wenden, um hier mit der Zeit eine Verbindung mit der Armee des Lord Wellington anzuknüpfen, der nach der Schlacht von Vittoria, die französische Armee vor sich hertreibend, über die Pyrenäen in Frankreich eingedrungen war. Wenn die Hauptarmee durch die Schweiz ihren Einbruch in Frankreich bewerkstelligt haben würde, dann sollten alle übrigen längs dem Rheine lagernden Armeen diesen Strom an einem Tage überschreiten, und, die Festungen rechts und links liegen lassend und leicht blokirend, in gerader Richtung von Osten nach Westen vordringen, sich so mit der nordwärts marschirenden Hauptarmee vereinigen und gemeinschaftlich gegen Paris operiren.

Dieser Plan ward ganz dem Entwurfe gemäß ausgeführt. Die große Armee, bestehend aus sämmtlichen Oestreichern, den russischen und preußischen Garden, den Bayern und Würtembergern (welche letzteren jedoch unmittelbar von Schwaben aus unweit Hüningen in Frankreich einfielen) brach Ende December in die Schweiz und

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von da in Frankreich ein und drang auf der großen Straße von Paris über Altkirchen gegen Vesoul vor, ein Armeekorps unter General Bubna durch die Schweiz gegen Genf entsendend, welcher Stadt sich derselbe durch Ueberraschung und durch den Sinn der Bürger begünstigt bemächtigte und von da gegen Lyon operirte; ein anderes Korps unter General Wrede in den Elsaß abschickend. Den 1. Januar endlich fand der allgemeine Rheinübergang statt. Die schlesische Armee ging bei Coblenz, Caub und Manheim, das Wittgensteinsche Korps bei Fortlouis unterhalb Strasburg, der Kronprinz von Würtemberg bei Merkel unweit Hüningen über, und einige Tage darauf folgte das Wintzigerodische Korps bei Düsseldorf. Dieser Rheinübergang hatte etwas festliches für alle deutsche Truppen, nicht sowohl weil sie jetzt des Feindes eigene Gränze überschritten, sondern weil der Rhein als Deutschlands Hauptstrom nun nicht mehr in der Gewalt der Franzosen war, und es ihnen vorkam, als hätten sie mit dem Tage ein lange unrechtmäßig vorenthaltenes Eigenthum zurück empfangen. Großer Jubel war demnach in allen Provinzen diesseits und jenseits des Rheins, und vor allem bei Caub, wo der

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Feldmarschall Blücher *) in der Neujahrsnacht überging. Mitten im Strom liegt hier eine Insel, auf der eine alte Burg, die Pfalz genannt, steht. Das ganze Volk der Fischer und Schiffer war in Bewegung, um das Uebersetzen und Schlagen der Brücke zu besorgen; viele zogen freiwillig mit den ersten Einschiffungen hinüber, um die Franzosen von jenseit vertreiben zu helfen **). Auf der Insel bei der Pfalz hielt der Feldmarschall und förderte und belebte die Arbeit durch seine Gegenwart. Auf beiden Ufern, auf der Pfalz, auf allen Schiffen war Freude und Frohlocken; und noch jetzt feiern die Bewohner von Caub das Andenken jener Nacht durch ein allgemeines Volksfest.

In Frankreich hatte man, im Vertrauen auf die Festungen, an einen Einbruch der Alliirten nicht recht geglaubt, und Napoleon selbst hatte diese Ansicht zu unterstützen gesucht, wie es denn auch in seinem Plane liegen mußte, ein gewisses Selbstvertrauen in die noch
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*) In den verhängnißvollen Tagen von Leipzig war General Blücher zum Feldmarschall ernannt worden.
**) Sechste Kupfertafel.

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übriggebliebenen Streitmittel zu zeigen, damit das Volk diese nicht zu geringe anschlüge. Als aber die Verbündeten durch die Schweiz und über den Rhein gedrungen waren, da vergrößerte er noch die Gefahr, um die Leidenschaften des Volks desto eher zu entzünden. Der heilige Boden Frankreichs sey verletzt, rief er den Franzosen zu, die Schweiz sey treuloserweise überfallen, und die Barbaren des Nordens seyen im Anzuge, um alles zu verheeren; Worte des Friedens im Munde, sähe man sie aller Verträge mit einem harmlosen neutralen Volke spotten, und entschlossen Frankreich zu zerstückeln; deswegen müsse die ganze Nation sich erheben und augenblickliche Opfer bringen, um so große Schmach abzuwehren und die Treulosigkeit zu bestrafen.

Wie früher durch Napoleons Machtwort alle physischen Mittel aufgeboten worden waren, nach der russischen Katastrophe den Krieg in Deutschland wieder aufzunehmen, so wurden jetzt alle geistigen Mittel in Bewegung gesetzt, um die fehlenden Streitkräfte zu ergänzen. Damit durch Oeffentlichkeit der Verhandlungen in den Wegen der Constitution die öffentliche Stimmung desto eher gewonnen würde und der Krieg als Sache des

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Volks erschiene, hatte Napoleon schon im December das gesetzgebende Korps versammelt und demselben aufgetragen, Frankreichs Wohl zu berathen. Das gesetzgebende Korps nahm jedoch die wahre Lage der Nation mehr zu Herzen, als die Absichten Napoleons, und fing damit an, die Erklärung der verbündeten Monarchen vom 1. December in Erwägung zu ziehn, nach welcher die Selbstständigkeit aller europäischen Staaten das einzige Ziel ihrer Anstrengungen war. Es erlaubte sich sodann Vorstellungen, die auf Frieden und auf billige Abtretungen hinzielten, sprach von Erschöpfung der Nation u. s. w., ja es wagte sogar Winke über die eigenmächtige Art zu regieren, und wie, wenn ja ein Nationalkrieg nothwendig wäre, ein solcher nicht anders zu erregen seyn würde, als in so fern von Seiten der Regierung alle diejenigen Institutionen in Kraft gesetzt und erhalten würden, die die politischen Rechte der Nation sicherten. Mit solchem Rathe und solchen Bemerkungen war indeß Napoleon nicht gedient. Nach einer zornigen Rede, worin er den Deputirten sagte, daß sie pflichtwidrig handelten, indem sie den Schwung der Nation durch spitzfindige Untersuchungen in dem Augenblicke lähmten,

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wo sich dieselbe in Gefahr befände; daß ein Zwölftel unter ihnen Verräther wären, daß nicht sie sondern er Repräsentant der Nation sey, und Frankreich seiner mehr bedürfe, als er Frankreichs, schickte er sie unter Drohungen fort, und sandte zugleich sieben und zwanzig Militär-Kommissarien in die Provinzen mit den unumschränktesten Vollmachten, das Aufgebot in Masse zu organisiren.

Zur Deckung des Rheins waren drei französische Korps aufgestellt gewesen; Victor am Oberrhein, Marmont am Mittelrhein von Manheim bis Koblenz, jeder mit ungefähr 12,000 Mann, und Macdonald am Niederrhein von Bonn bis Nimwegen mit etwa 20,000 Mann. Als der Feldmarschall Blücher und General Wittgenstein über den Rhein gegangen waren, machten jene Korps zwar einige Versuche, dem Vordringen zu wehren; jedoch gegen so große Uebermacht nichts auszurichten vermögend, zogen sie sich eiligst, Victor über die vogesischen Gebürge und Marmont über die Saar, zurück. Die verbündeten Heere vertrieben sie aber auch hier und rückten an die Mosel vor. Den 17. Januar war bereits der Feldmarschall in Nancy und einige

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Meilen links von ihm der General Wrede mit den Bayern in Charmes. Das rasche Vordringen der schlesischen Armee hatte die weitere Behauptung des Niederrheins von Seiten Macdonalds unthunlich gemacht; darum zog sich dieser General hinter die Maas bei Namur und öffnete dadurch den Rhein dem General Wintzigerode, der den 13. Januar überging und ihm auf den Fuß folgte.

Die große Armee drang unterdeß unaufhaltsam über Vesoul auf der Straße von Paris vor. Ueberall wich der Feind und eine Stadt nach der andern fiel in die Gewalt der Verbündeten. Am 24. Januar stellte sich ihnen der Marschall Mortier zuerst mit 12 - 14000 Mann meistens Garden bei Bar sur Aube entgegen. Die Korps des Kronprinzen von Würtemberg und Giulay griffen ihn an und verdrängten ihn nach einem lebhaften Gefecht. Mortier zog sich nach Troyes *).

Gleichzeitig mit dem Vordringen der großen Armee hatte Feldmarschall Blücher die Mosel überschritten und

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*) Die Hauptstadt der Champagne an der Seine, 20 Meilen von Paris.

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sich der festen Stadt Toul bemächtigt, sodann den Feind über die Maas gedrängt, diese bei Vaucouleurs passirt, und war hernach, den Feind verfolgend, bei St. Dizier und Joinville über die Marne gegangen und gegen die Aube marschirt. Den 26. traf bereits ein Theil der schlesischen Armee (Saken und ein Theil des Langeronschen Korps) bei Brienne hart an der Aube ein, welches auf jener Straße liegt, auf der die große Armee sich bewegte; die andern beiden Korps (York und Kleist) durch das Einschließen der Festungen, an denen die Armee vorübergezogen war, aufgehalten, befanden sich noch im Anzuge von der Maas und Mosel her. Auf diese Weise war Feldmarschall Blücher mit der großen Armee vereinigt und bildete gleichsam ihre Avantgarde. Die eigentliche Avantgarde dieser Armee hatte zwei Tage vorher das Gefecht bei Bar sur Aube (fünf Stunden von Brienne) gehabt und eine Stellung unweit Bar bezogen, in welcher sie die große Armee erwartete. So hatten denn also die Verbündeten bereits zwei Drittheile des Weges vom Rhein nach Paris zurückgelegt, ohne irgend ein Gefecht von Bedeutung gehabt zu haben.

Napoleon hatte unterdeß nicht abgelassen, die öffentliche

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Stimmung zu bearbeiten; denn er sah ein, daß sein Spiel verlohren sey, wenn er den Krieg nicht zum Volkskriege machen könne. Die Treulosigkeit, die Verwüstungen der Alliirten, ihre Zerstückelungsplane in Hinsicht Frankreichs, die Gräuel der Araber des Nordens, seine eigenen friedliebenden Gesinnungen, waren das Thema, welches die öffentlichen Blätter auf tausendfache Art variirten, indem sie zugleich von der Thorheit sprachen, womit durch übereiltes Vordringen die Verbündeten sich ihren Untergang bereiteten, und dabei das Verdienst derjenigen Städte, die wie Lyon und Chalons sur Saone durch die Kraft des Volks widerstanden hatten, bis in den Himmel erhoben, während sie Verderben herabriefen auf diejenigen, die wie Macon ihre Thore geöffnet hatten. Nächstdem hielt Napoleon Umgänge in den Vorstädten, ließ Geld unter die Handwerker vertheilen, musterte täglich die durchziehenden Truppen, und um seine Geneigtheit zum Frieden recht offenkundig zu machen, hatte er einen Gesandten mit Vollmacht zu unterhandeln an die verbündeten Monarchen abgeschickt; worauf denn in der letzten Hälfte des Januars die Abgeordneten aller Mächte zu Chatillon zusammentraten, um die

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Unterhandlungen zu beginnen. Auf den Gang des Krieges hatte indeß dieser Kongreß gar keinen Einfluß; die Verbündeten hatten gelernt, die Scheinabsichten Napoleons nicht sogleich für die wahren zu nehmen.

Während aller dieser Begebenheiten hatte Napoleon seinen überall von einem weiten Umkreis sich zurückziehenden Truppenabtheilungen eine solche Richtung gegeben, daß sie bis zum 25. Januar sämmtlich bei Chalons und Vitry eintreffen konnten. Chalons und Vitry sind zwei Städte an der Marne, die erste neun, die letzte fünf Meilen nördlich von Brienne *). Napoleons Plan war, mit gesammter Kraft von der Seite in die getrennt marschirenden Korps der Verbündeten zu fallen und sie theilweise zu schlagen. Am 23. Januar ließ er das ganze Offizierkorps der pariser Nationalgarden in den Tuillerien versammeln, trat, die Kaiserin und seinen Sohn an
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*) Es ist zu bemerken, daß die Marne, Aube und Seine zuerst von Südost nach Nordwest fließen, und sich dann sämmtlich westwärts gegen Paris wenden. Die Aube fließt zwischen der Seine und Marne, und ergießt sich ungefähr 11 Meilen unterhalb Brienne in die Seine; die Marne fällt unweit Paris gleichfalls in die Seine.

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der Hand, unter sie, und empfahl sie in einer pathetischen Rede ihrem Schutze. Alle schworen unter Thränen, so theure Pfänder mit ihrem Blute zu vertheidigen. Zwei Tage darauf reiste er zur Armee nach Chalons ab. Ungefähr 60,000 Mann waren hier versammelt, die Korps Marmont, Ney, Macdonald, Victor und die jungen Garden; die alten unter Mortier standen in Troyes.

Sobald Napoleon bei der Armee angekommen war, marschirte er auf St. Dizier (eine Stadt an der Marne vier Meilen von Vitry) und wandte sich von dort gegen Brienne, um den Feldmarschall anzufallen. Dieser, von dem Andringen feindlicher Uebermacht unterrichtet, hatte beschlossen, sich gegen Bar sur Aube zurückzuziehn, um sich der Hauptarmee zu nähern; denn von der schlesischen war nur das Korps von Saken und ein Theil des Langeronschen gegenwärtig. Doch ehe noch die Truppen in Marsch gesetzt wurden, erschien bereits Napoleon und das Gefecht mußte angenommen werden. Der Kampf dauerte bis in die Nacht und gab kein recht entscheidendes Resultat. In der Stadt, die größtentheils in Asche lag, waren die Verbündeten geblieben; dagegen

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hatten sich die Franzosen unter Begünstigung der Dunkelheit des Schlosses von Brienne bemächtigt. Napoleon war in der dortigen Kriegsschule erzogen worden. Daß er gerade hier sein erstes Gefecht in Frankreich liefern und die ganze Stadt in Flammen aufgehn sehn mußte, konnte ihm als böse Vorbedeutung gelten.

Das Gefecht hatte den 29. Januar statt gehabt. Am folgenden Tage zog sich der Feldmarschall nach Trannes auf dem halben Wege gegen Bar sur Aube zurück. Napoleon folgte und bezog eine Stellung bei La Rothiere, eine Meile vor Brienne. Die schon voraus den Franzosen prahlerisch verkündigten Resultate des Gefechts von Brienne waren sonach gescheitert, und nicht völlig zwei Armeekorps, hatten den Anstrengungen des ganzen französischen Heeres widerstanden. Napoleon, der für den Augenblick keinem großen Siege mehr entgegensehn konnte, da die Streitkräfte seiner Gegner stündlich näher zusammenrückten, beschloß, nachdem er den 31. Januar völlig unthätig geblieben war, sich bei Lesmont (anderthalb Meilen rückwärts Brienne) über die Aube zurückzuziehn, und sich der Seine zu nähern. Auch hatte er wirklich schon angefangen, Truppen dorthin in Bewegung zu setzen,

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als er plötzlich vom Feldmarschall angegriffen wurde (den 1. Februar). Der Feldmarschall war nämlich von der Hauptarmee durch die Korps Kronprinz von Würtemberg und Giulay verstärkt worden; außerdem waren die Bayern über Soulaines gegen den linken Flügel der feindlichen Stellung und die russischen und preußischen Garden von Bar sur Aube her in Anmarsch.

Wie der Feldmarschall bei Brienne, so mußte jetzt Napoleon die Schlacht wider seinen Willen annehmen. Doch die Entscheidung war diesmal anders. Die Stellung der Franzosen ward auf allen Punkten mit Ungestüm angefallen. Nach langem hartnäckigen Kampfe, der des heftigen Schneegestöbers wegen mehrmals unterbrochen werden mußte, wurden von den Verbündeten nach und nach Vortheile errungen; dennoch ward um La Rothiere bis Mitternacht gestritten. Endlich wurde auch hier der Feind zum Weichen gebracht und so überall aus dem Felde geschlagen. Napoleon zog sich bei Lesmont über die Aube auf Troyes zurück. Außer vielen Todten und Verwundeten hatte er 70 Kanonen verlohren, und dabei war eine solche Bestürzung in seine Truppen gekommen, daß auf dem kurzen Zuge von Lesmont bis

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Troyes (vier Meilen) über 10,000 Konskribirte die Fahnen verließen und sich in den Wäldern zerstreuten.

So war also die große Schlacht auf französischem Boden 24 Meilen von Paris geschlagen und gewonnen worden. Dabei waren die Korps von York, Kleist, Colloredo, Wittgenstein und sämmtliche russische und preußische Garden nicht mit im Gefecht gewesen, während die ganze französische Armee, mit Ausnahme der alten Garden, geschlagen hatte.

Die große Armee folgte der französischen nach Troyes, während die schlesische sich nordwärts gegen Chalons bewegte, um die Unternehmung des General York auf diese Stadt zu unterstützen, durch welche Marschall Macdonald sich vor dem Yorkschen Korps zurückzog. Sobald Chalons genommen worden war, wandte sich die schlesische Armee westlich und marschirte längs der Marne gegen Paris, dem allgemeinen Plan zu Folge, nach welchem die große Armee, Napoleon vor sich hertreibend, längs der Seine vordringen sollte. Napoleon hatte sich in Troyes gesetzt und schien entschlossen, sich zu vertheidigen. Zugleich aber hatte er einen Waffenstillstand anbieten lassen, in der Hoffnung, die Bewegung der Alliirten

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dadurch zu hemmen und Zeit zu gewinnen, die vom Süden heranziehenden Verstärkungen abzuwarten. Die verbündeten Monarchen wiesen jedoch alle Waffenstillstandsanträge zurück, und schlugen dagegen vor, sogleich die Friedenspräliminarien zu unterzeichnen, wobei sie zum Unterpfande die Besetzung der wichtigsten französischen Gränzfestungen verlangten. Hierauf ging aber Napoleon nicht ein und machte Gegenvorschläge, die darauf in Chatillon zu förmlichen Unterhandlungen übergingen. Wenn gleich so Napoleon seine Absicht verfehlte, so erzeugten dennoch diese Anträge, die doch die Möglichkeit einer Verständigung eröffneten, einige Unsicherheit und Langsamkeit in den Bewegungen der großen Armee, dergestalt daß bis zum 6. Februar noch nichts gegen Troyes unternommen worden war. An diesem Tage endlich brachte das Vordringen der schlesischen Armee längs der Marne Napoleon zum Rückzuge nach Nogent. *)

Seine Lage ward mit jedem Tage bedenklicher. Eine
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*) Eine Stadt an der Seine, acht Meilen von Troyes und zwölf von Paris.

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siegreiche Armee stand ihm gegenüber und eine andere befand sich in ungehindertem Anzuge auf Paris. Das Vertrauen seiner Soldaten war erschüttert und der Aufstand des Volks überall gleich im Entstehen erdrückt. Nur ein schneller Wechsel des Waffenglücks konnte in so großer Noth helfen. Die Gelegenheit hierzu bot ihm die schlesische Armee, die im Vertrauen auf ein gleichmäßiges Vorrücken der großen Armee Korpsweise in weiten Zwischenräumen die Straße nach Paris zog. Hier mitten hinein zu fallen war Napoleons Plan. Der Abstand von Nogent bis zur Marschlinie der schlesischen Armee betrug sechs bis sieben Meilen in einer Gegend, die für Armeen beinahe ungangbar zu nennen ist. Napoleon brach über Sezanne durch und fiel am 10. Februar bei Champeaubert auf eine russische Abtheilung von 5000 Mann unter General Alsufiew. An diesem Tage stand die schlesische Armee auf folgenden Punkten ihrer Marschlinie: der Feldmarschall mit einer Abtheilung des Kleistschen und einer andern des Langeronschen Korps bei Vertus (vier Meilen vorwärts Chalons); General Alsufiew bei Champeaubert (dritthalb Meilen vorwärts Vertus); General York bei Chateau Thierry (fünf Meilen

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von Champeaubert); General Sacken bei La Ferté sous Jouarre (drei Meilen vorwärts Chateau Thierry). Das Korps von Alsufiew ward größtentheils aufgerieben. Von hier wandte sich Napoleon gegen General Sacken, der sich gemeinschaftlich mit dem General York, dem General Alsufiew zur Unterstützung, zurück gegen Montmirail in Bewegung gesetzt hatte. Unweit dieser Stadt (dritthalb Meilen von Champeaubert) kam es den 11. Februar zu einem hartnäckigen Gefecht, worin der General Sacken zum Rückzuge genöthigt und vom Yorkschen Korps aufgenommen wurde. Den 12. erneuerte Napoleon das Gefecht gegen beide vereinigte Korps und drängte sie bei Chateau Thierry über die Marne. Nach dem Unfalle von Champeaubert war der Feldmarschall von Vertus aus vorgerückt, um den Feind vom General Sacken abzuziehn. Der Marschall Marmont, der ihm zur Beobachtung aufgestellt war, wich über Champeaubert bis nach Vauchamps (eine Meile von Montmirail) zurück. Hier war aber bereits Napoleon, von Chateau Thierry zurückkehrend, wieder eingetroffen. Alle Kolonnen wandten um und schritten sogleich zum Angriff (den 14. Februar). Der Feldmarschall zog sich

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nun seinerseits vor der Uebermacht zurück. Der ganze Rückzug bestand in einem fortgesetzten Gefecht; und wenn schon der Verlust bedeutend war, so scheiterten doch alle Versuche des Feindes, durch seine sehr zahlreiche Kavallerie irgend ein großes Resultat herbeizuführen. In dichten Massen mit Artillerie an der Spitze setzte die Infanterie in Ordnung ihren Marsch fort und da, wo ihr die Kavallerie den Weg verrannt hatte, machte sie sich mit Kugeln Platz. Bei Vertus hörte die Verfolgung auf. Der Feldmarschall zog sich auf Chalons, wo am 17. bereits sämmtliche Korps wieder vereinigt waren. Der Verlust aller jener Tage mochte etwa 13 bis 14000 Mann und einige zwanzig Stück Geschütze betragen haben.

Während der Bewegung Napoleons gegen die schlesische Armee war die Hauptarmee ihrerseits über Troyes gegen die Seine vorgerückt, hatte diesen Fluß nach lebhaften Gefechten gegen die Korps von Oudinot und Victor, die zur Vertheidigung desselben aufgestellt waren, bei Nogent, Bray und Montereau überschritten und das Wittgensteinsche Korps bis Nangis (acht Meilen von Paris) vorgeschoben. Ohne zu säumen, wandte sich jetzt Napoleon hieher, warf sich auf das

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Wittgensteinsche Korps bei Nangis am 17., schlug es, und griff am 18. das Korps des Kronprinzen von Würtemberg bei Montereau an, wo er nach hartnäckigem Widerstande den Uebergang über die Seine erzwang. Die große Armee, eine Schlacht unter solchen Umständen für nicht gerathen haltend, zog sich gegen Troyes zurück.

Die Lage der Dinge hatte jetzt für Napoleon plötzlich eine andere Gestalt angenommen, und wo er noch vor wenigen Tagen alles für verlohren gehalten hatte, schien nun alles wieder gewonnen zu seyn. Die Gefahr war von Paris abgewandt und die siegreichen Heere seiner Gegner hatten von allen Seiten den Rückzug angetreten; bei der Armee war wieder Muth und Vertrauen hergestellt, und in Paris, so wie in den Provinzen, begann jener Schwindelgeist zu erwachen, der einem Volkskriege nach der Absicht Napoleons günstig war. In Paris besonders stießen die Anhänger der Regierung ins Horn, als habe ihr Kaiser übermenschliche Thaten vollbracht. Die Gefangenen wurden in Triumph herumgeführt, Dank- und Freudenfeste veranstaltet und die gänzliche Vernichtung der feindlichen Heere als unausbleiblich angekündigt. Von der andern Seite waren die

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verbündeten Monarchen durch jene Unfälle in ihrem Zutrauen auf das Kriegsglück etwas wankend gemacht worden, und fingen an, ernstlicher als je an Frieden zu denken. Es wurden Waffenstillstandsanträge gemacht, die aber Napoleon verwarf. Das Glück der Waffen endlich wieder zu sich zurückgekehrt meinend, kannten seine Hoffnungen keine Gränzen, und als, gleich nachdem er den Waffenstillstand zurückgewiesen hatte, ihm die vom Kongreß zu Chatillon genehmigten Friedenspräliminarien ganz so, wie er sie wenige Tage zuvor selbst vorgeschlagen hatte, überbracht wurden, zerriß er sie mit den Worten: ich bin jetzt näher an Wien, als die Alliirten an Paris *). So verschmähte er in seinem Uebermuthe die letzte Gunst, die ihm das Schicksal bot, und durch ein vorübergehendes Waffenglück geblendet übersah er das Verderben, das ihm ganz nahe stand.

Um in die Entschließungen der Verbündeten Unsicherheit zu bringen, ja vielleicht gar sich schmeichelnd, Uneinigkeit unter ihnen zu erzeugen, hatte Napoleon nach wiederholten Waffenstillstandsanträgen endlich in Unterhandlungen
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*) Siebente Kupfertafel.

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zu einem Waffenstillstande gewilligt und es traten zu diesem Ende Abgeordnete aller Mächte in Lusigni zusammen. Unterdessen wurde jedoch der Gang des Krieges nicht unterbrochen, und die schlesische Armee, die schon am 17. wieder bei Chalons versammelt gewesen, war von dort zur Vereinigung mit der großen Armee nach Mery an der Seine aufgebrochen und daselbst am 21. eingetroffen, an welchem Tage die Hauptarmee in Troyes stand.

Zugleich waren vom nördlichen Frankreich her zwei andere Armeekorps im Anzuge, nämlich, die der Generale Wintzigerode und Bülow. Der erste, der nach seinem Uebergange über den Rhein am 13. Januar auf Namur marschirt, über Philippeville und Avesnes in Frankreich eingedrungen und gegen Rheims vorgerückt war, bemächtigte sich den 13. Februar mit einer Abtheilung seines Korps der befestigten Stadt Soissons, die er jedoch nach den Unfällen der schlesischen Armee an der Marne wieder verließ, worauf er sich nach Rheims zog. Der General Bülow hatte sich nach der Befreiung Hollands gegen Antwerpen gewandt, daselbst zu Ende Januars in Gemeinschaft mit der englischen

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Division des General Graham ein glänzendes Gefecht gegen die ihm entgegengerückte französische Besatzung bestanden, diese in die Festung zurückgeworfen und angefangen, Anstalten zur Belagerung des Platzes zu treffen, als er im Anfange Februars nach Frankreich abgerufen wurde. Er durchzog Belgien, verjagte die noch in Brüssel, Mecheln, Gent u. s. w. befindlichen französischen Truppen und brach über Mons in Frankreich ein. In der Mitte des Februars war er in Avesnes, seine Richtung gegen Laon nehmend. In Belgien war inzwischen das sächsische Armeekorps unter Befehl des Herzogs von Weimar eingetroffen.

Nachdem der Feldmarschall Blücher sich bei Mery mit der großen Armee vereinigt hatte, und die Lage der Dinge erwog, in Folge welcher nur irgend ein kühnes unerwartetes Unternehmen im Stande zu sein schien, die Fortschritte Napoleons zu hemmen, und dem Kriege wieder eine günstige Wendung zu geben, indem die Stimmung, welche durch die erlittenen Unfälle sowohl, wie durch die angeknüpften Unterhandlungen erzeugt worden war, keine große entscheidende Anstrengungen erwarten ließ, so entwarf er den Plan, sich wieder von der

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großen Armee zu trennen, sich rückwärts über die Aube und Marne zu wenden, dort die Korps von Bülow und Wintzigerode an sich zu ziehen,und so, an der Spitze von 100,000 Mann, Napoleon von der Seine fort nach einem andern Kriegsschauplatze hinzwingend, den Operationen aller Armeen einen neuen Schwung zu geben. Der Plan ward im großen Hauptquartier genehmigt.

Inzwischen hatte Napoleon im Vorüberziehn nach Troyes vom linken Seineufer her einen Angriff gegen Mery gemacht, sich der Brücke bemächtigt, die in der Eil nicht völlig hatte zerstört werden können, und die halbverbrannte Stadt besetzt. Die Preußen nahmen Mery wieder, und der Feind, den Angriff gegen diesen Punkt aufgebend und seine weitern Plane verfolgend, setzte seinen Marsch nach Troyes fort. Die Verbündeten räumten Troyes und zogen gegen Bar sur Aube und Chaumont.

Sobald das französische Heer bei Mery vorüber gezogen war, führte der Feldmarschall seinen Entwurf aus und ging bei Baudemont über die Aube zurück (den 24. Februar). Unterdeß hatten sich im großen Hauptquartier

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die Ansichten verändert. Die Lage der Dinge bei Lyon hatte es nöthig gemacht, den General Bianchi mit 12000 Mann dahin abzusenden, und da man, nach dem Abgange dieses Korps, Napoleon gegenüber, sich für zu schwach hielt, war beschlossen worden, mit der schlesischen Armee vereinigt zu bleiben, und die entworfene Unternehmung jenseit der Marne aufzugeben. Der Wiederruf kam jedoch zu spät; die Armee des Feldmarschalls war bereits größtentheils über die Aube gesetzt, und jede neue Veränderung der Marschdirektion schien bei der Nähe der französischen Armee gefährlich. Die angefangene Bewegung ward demnach fortgesetzt.

Der Marschall Marmont war zur Beobachtung der schlesischen Armee stehn geblieben. Diesen vor sich hertreibend, rückte der Feldmarschall über Sezanne gegen die Marne, und erzwang den Uebergang bei La Ferté sous Jouarre. Napoleon, der mehrere Tage in Troyes verweilt hatte, war nicht sobald von der Bewegung der schlesischen Armee unterrichtet worden, als er, die Korps von Oudinot, Macdonald und Victor vor der großen Armee bei Bar sur Aube stehen lassend, mit dem übrigen Theil der Armee sich aufmachte, um den Feldmarschall

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zu ereilen. Dieser, von dem Anzuge Napoleons benachrichtigt, hatte sich unter beständigen Seiten- und Arriergarde-Gefechten über Soissons hinter die Aisne gezogen, die in einem Abstande von ungefähr 6 bis 7 Meilen gleichlaufend mit der Marne fließt. Vielleicht wäre der Uebergang über die Aisne bei dem Nachdringen der französischen Armee nicht ganz ohne Gefecht abgegangen, wenn nicht Soissons Tages vorher (den 2. März) durch Kapitulation an den General Bülow übergegangen wäre.

Napoleon rückte eiligst gegen Soissons, um sich der Stadt wieder zu bemächtigen. Seine Angriffe wurden indeß abgeschlagen. Hierauf wandte er sich rechts über Fismes und Rheims, und setzte bei Bery au bac über die Aisne. Der Feldmarschall, eine Aufstellung hart hinter der Aisne für nicht günstig erachtend, hatte beschlossen, bei Laon die Schlacht anzunehmen und den General Bülow abgeschickt, um daselbst Posto zu fassen, während die übrige Armee im Fall eines Angriffs sich fechtend dorthin zurückziehn sollte. Napoleon brach am 7. über Craone vor und warf sich auf General Sacken, der den rechten Flügel kommandirte. Aller Ungestüm

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der Angreifenden scheiterte indessen an der Kaltblütigkeit der Russen, und das Gefecht würde eine böse Wendung für die Franzosen genommen haben, wenn nicht unvorhergesehene Hindernisse den Marsch des General Wintzigerode aufgehalten hätten, der mit 10,000 Pferden den Feind über Corbeny im Rücken anfallen sollte. General Sacken zog sich Schritt vor Schritt zurück. Am folgenden Lage stellte sich die verbündete Armee bei Laon auf. Napoleon griff am 9. den rechten Flügel von Soissons her an, indem er eine Umgehung des linken Flügels auf der Straße von Rheims angeordnet hatte. Der 10. März sollte nach seiner Meinung erst die Entscheidung bringen; doch nachdem sein Angriff auf den rechten Flügel, wahr oder scheinbar gilt hier gleich, abgewiesen worden war, wurden die Korps Mortier und Marmont, die bereits mit dem linken Flügel im Gefecht waren, bei einbrechender Nacht von dem Korps York und Kleist mit solcher Gewalt angefallen, daß sie völlig über den Haufen geworfen und zersprengt wurden. Funfzig Kanonen und 2000 Gefangene fielen den Siegern in die Hände, und in panischem Schrecken floh alles gegen Rheims. Trotz dieser Niederlage erneuerte Napoleon

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am 10. den Angriff, doch nur matt und erfolglos, und trat am andern Tage den Rückzug gegen die Aisne an.

So herrliche Früchte brachte die kühne Unternehmung des Feldmarschalls; denn da wo Tapferkeit und Schlauheit mit der Einsicht im Bunde sind, wendet das Schicksal gern seine Gunst hin.

Bei der Hauptarmee hatten ebenfalls glückliche Begebenheiten Statt gehabt. Der Fürst Schwarzenberg hatte gleich, nachdem er den Abmarsch Napoleons zur Verfolgung der schlesischen Armee erfahren, den Feind bei Bar sur Aube anzugreifen beschlossen. Die Marschälle Victor und Oudinot kamen ihm jedoch zuvor und griffen die Stellung der Verbündeten vor Bar selbst den 27. Februar an, wahrscheinlich um den Abzug Napoleons zu verheimlichen. Es waren nur die Korps von Wrede und Wittgenstein gegenwärtig. Die Franzosen wurden geschlagen und bis Bar zurückgetrieben. Eben so ward Macdonald, der einige Meilen oberhalb Bar bei La Ferté stand, vom General Giulay angegriffen und vertrieben. Sämmtliche französische Korps zogen sich nach Troyes und von da nach Nogent,

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Bray und Montereau, wo sie Posto faßten, um die Uebergänge der Seine zu vertheidigen. Die große Armee folgte bis an die Ufer der Seine und Yonne, und blieb dann stehn, um die weitern Begebenheiten abzuwarten. Ihre leichten Truppen durchzogen den Landstrich zwischen der Seine und Marne in allen Richtungen.

Um die Zeit, als Napoleon von Laon sich zurückzog, war der russische General St. Priest, der bei Vitry (vier Meilen vor Chalons) ein Korps von 9 bis 10000 Mann aus Deutschland nachrückender Reserven, die durch die Einnahme mehrerer Festungen disponibel geworden waren, gesammelt hatte, gegen Rheims marschirt und hatte die Stadt am 12. März mit Sturm genommen. Napoleon, der, von Laon zurückkehrend, nur wenige Meilen von Rheims angekommen war, warf sich am 13. mit ganzer Macht unerwartet auf dieses Korps, das ohne alle Unterstützung da stand, und rieb es zum Theil auf. Der General St. Priest blieb im Gefecht. Er war von Geburt ein Franzose, und Napoleon verfehlte nicht, auch den Tod dieses Generals als Strafe des Himmels darzustellen, indem er, um die Wirkung auf die Gemüther noch zu verstärken, hinzufügte, daß dieselbe Batterie,

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von welcher Moreau den Tod erhalten, auch St. Priest gefällt habe.

Die Unterhandlungen zu Chatillon waren im Laufe aller dieser Begebenheiten immer im Gange, ohne irgend ein Resultat zu geben. Denn wenn schon die verbündeten Monarchen ihren Unterhandlungen eine feste Basis vorgezeichnet hatten, so war dafür die Basis Napoleons desto beweglicher, und änderte sich, wie der Kriegswechsel sie gab. Wo aber so verfahren wird, scheinen immer noch günstigere Umstände eintreten zu können, und über das Abwarten der Möglichkeiten kommt nichts Wirkliches zu Stande. Die Monarchen fühlten lebendig, daß hier vor allen Dingen nur Einigkeit und Festigkeit zu dem großen vorgesetzten Ziel führen könnten, und schlossen dem zu Folge am 1. März einen neuen Traktat mit einander ab, nach welchem sie sich verbanden, von den einmal aufgestellten Grundsätzen nicht abzugehn und für die ganze Dauer des Kampfs jeder 150,000 Mann fortwährend im Felde zu erhalten. Um aber doch zugleich auf irgend eine Art mit den Unterhandlungen ins Reine zu kommen und allen Zögerungen und Ausflüchten der französischen Abgeordneten ein Ende

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zu machen, verlangten sie, daß Napoleon ihnen seine Friedensvorschläge ein für allemal auf eine bestimmte und deutliche Art zu erkennen geben solle, und setzten hierzu den 10. März als letzten Termin fest. Napoleon, theilte seinen Unterhändlern dieses Ultimatum bereits am 8. gleich nach dem Gefecht von Craone mit, das ihm ein glückliches Vorspiel zu glänzenden Erfolgen schien. Diese Erfolge abzuwarten, war das Ultimatum noch zurückgehalten worden und da sie bei Laon so ganz ohne allen Glanz ausfielen, so wurde es noch ferner zurückgehalten. Die Monarchen gestatteten einen letzten Aufschub bis zum 15. Der Vortheil, der bei Rheims am 13. errungen worden war, steigerte von neuem die Hoffnungen Napoleons, und schien ihm geschickt, seinen Unterhandlungen den gehörigen Nachdruck zu geben; und so ließ er denn am 15. sein Ultimatum überreichen. Dieses enthielt jedoch Forderungen, welche die Selbstständigkeit aller übrigen Staaten nach wie vor gefährdeten, und alle Grundzüge eines Friedens, wie die Monarchen sie sich vorgezeichnet hatten, vernichteten. Sie erkannten nun endlich, das Unterhandlungen mit einem Manne wie Napoleon zwecklos waren, und daß in einem Kampfe, wo nicht die

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Billigkeit gehört würde, die Gewalt entscheiden müsse. Der Kongreß ward hiermit aufgelöst und der Ausgang dem Schwerdte überlassen.

Napoleon hatte, wie wir gesehn, seit dem Einfall der Verbündeten in Frankreich an der Erregung eines Volkskrieges gearbeitet. Es war auch nicht ohne allen Erfolg gewesen; denn manche Nachzügler wurden erschlagen, manche Kouriere aufgehoben, manche Transporte genommen, und wo in der Nähe der französischen Armee sich Parteien der Verbündeten zeigten, ertönte in den Dörfern die Sturmglocke, und die Bauern bewaffneten sich und wagten kleine Gefechte. Alles dieses war indeß bei weitem weniger allgemein, als Napoleon es wünschen mußte. Einige strenge Züchtigungen hatten alle diejenigen geschreckt, die nicht gerade Gut und Blut daran setzen wollten; auch hatte trotz aller Prahlereien der Glaube an Napoleons Siege sehr abgenommen, weil man die Verbündeten immer wieder fechtend dahin zurückkehren sah, wo man sie vertrieben meinte. Dennoch hatte Napoleon jetzt einen Volkskrieg nöthiger als je, und darum erließ er nach der Niederlage von Laon die heftigsten Aufforderungen und Befehle, daß Alles zu den

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Waffen greifen solle, und verhing schwere Strafen gegen diejenigen Ortsbehörden, die, wie geschehn war, sich der Bewaffnung widersetzen würden. Als Anreitzungsmittel zum Aufstande mußten in den Zeitungen die Schilderungen der Kriegsgräuel dienen; ja es wurden sogar Leute als Kosaken vermummt, die allerlei Frevel verüben mußten, um die wahren Kosaken noch gehässiger zu machen. Napoleon war indeß im Irrthum, wenn er so seinen Zweck zu erreichen glaubte. Nationalkriege lassen sich nicht befehlen und erzeugen sich nicht durch bloße Drangsale und Verheerungen des Kriegs. Nur edle Bewegungsgründe und Gefühle, die die ganze Nation ansprechen, bringen die ganze Nation in die Waffen; und wo keine Liebe zur Regierung besteht, oder die Schmach der Unterjochung und Verlegung des Nationallebens nicht zu fürchten ist, da können Mißhandlungen und Verlust des Eigenthums wohl Einzelne, die davon getroffen werden, zur Rache reitzen, aber nie eine allgemeine Volksbewegung erregen.

Als die große Armee von dem Siege bei Laon Nachricht erhielt, ging sie über die Seine, um nun auch ihrerseits zum Angriffe der Korps von Victor, Oudinot und Macdonald zu schreiten, die zur Deckung

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von Paris bei Nangis und Provins aufgestellt waren. Als aber die Nachricht des Unfalls von Rheims eintraf, hielt die Armee in ihrer Bewegung zum Angriff inne. Napoleon, der von der Armee des Feldmarschall Blücher, die nach so ungeheuren Anstrengungen aller Art einiger Erhohlung bedurfte, nur bis zur Aisne verfolgt worden war, hatte vom 13. bis 16. in Rheims verweilt, die Gelegenheit zu irgend einer Unternehmung erspähend. Die Bewegung der großen Armee vorwärts gegen Paris und die große Ausdehnung ihrer Marschlinie, schienen ihm, wenn er schnell in die in weiten Zwischenräumen marschirenden Korps fiele, einen Erfolg zu versprechen. Er brach daher den 17. von Rheims auf und eilte über Epernay und Chalons gegen die Aube, wo er den 19. bei Arcis ankam.

Fürst Schwarzenberg hatte indeß, sobald er vom Anmarsch Napoleons unterrichtet worden war, alle Korps schleunig umwenden und sich hinter Arcis vereinigen lassen, und als Napoleon am 20. zum Angriff schritt, ward er so kräftig empfangen, daß er bis unter die Mauern von Arcis zurückgeschlagen wurde. Da er sich so in seiner Rechnung getäuscht fand, und, wo er

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auf ein einzelnes Korps zu stoßen glaubte, unerwartet eine ganze Armee sich gegenüber sah, so gab er auf diesem Punkt alle weitere Versuche auf und zog sich über die Aube zurück, um einen neuen Plan auszuführen. Dieser bestand darin, sich gegen die Verbindungsstraßen der großen Armee mit der Schweiz und dem Rhein zu wenden, sie so von Paris wegzuziehn, und sich selbst seinen Festungslinien zu nähern. Er marschirte dem zu Folge auf Vitry, ging, als die Garnison dieser Stadt, die von den Preußen befestigt worden war, seine Aufforderung zurückwies, oberhalb derselben über die Marne, und war am 23. in St. Dizier.

Die große Armee war der Bewegung Napoleons gegen die Marne gefolgt und gleich nach ihm bei Vitry angekommen. Zugleich war die schlesische Armee, die Marschälle Marmont und Mortier vor sich hertreibend, auf mehreren Punkten der Marne eingetroffen, und sämmtliche Armeen der Verbündeten hatten sich auf diese Art vereinigt. Es fragte sich jetzt, was zu thun sey und wohin man seine Operationen wenden solle. Durch einen aufgefangenen Brief Napoleons an die Kaiserin kannte man seinen Plan. Dennoch waren die Ansichten getheilt.

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Zuerst sollte die Verfolgung Napoleons mit gesammter Macht fortgesetzt werden; dann aber würde er gerade dasjenige erreicht haben, was er bezweckte, nämlich die Entfernung des Kriegsschauplatzes von Paris. Endlich aber drang die Meinung des russischen Kaisers durch, nämlich Napoleon ziehen zu lassen und mit allen Armeen gegen Paris zu marschiren. Winke über die Stimmung des Volks und die immer lauter werdenden Bewegungen der royalistischen Partei ließen große Resultate von dieser Unternehmung erwarten, die selbst, wenn sie scheiterte, den Vortheil bringen mußte, Napoleons Entwürfe gestört zu haben, indem sie ihn nothwendig zum Schutz von Paris zurückrief, und so, statt den Kriegsschauplatz von dort zu entfernen, wie er es dachte, ihn gerade dahin verlegte.

Noch an demselben Tage, wo jener glückliche Entschluß gefaßt worden war, wandten alle Armeen um und eilten gegen Paris. Gleich auf dem ersten Marsch stießen sie auf die Korps der Marschälle Marmont und Mortier, die, vor der schlesischen Armee sich zurückziehend, die Armee Napoleons aufsuchten, und nun nach einem sehr lebhaften Gefecht, dem sie der Ueberraschung wegen

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nicht ausweichen konnten, eiligst gegen Paris zurückmarschirten. Unmittelbar darauf gerieth in der Gegend von Fere champenoise eine andere 5000 Mann starke feindliche Kolonne, die ebenfalls die Armee Napoleons aufsuchte, in die Marschlinie der Verbündeten. Von dieser entkam nicht Ein Mann; von allen Seiten gleichzeitig angefallen, wurde sie nach langer standhafter Gegenwehr zum Theil niedergemacht, zum Theil gefangen. Am 29. März erschienen die Heere der Verbündeten vor Paris.

Von Seiten Napoleons waren die Pariser darauf vorbereitet worden, während seiner Abwesenheit, zur Ausführung des großen entscheidenden Umgehungsplans, vielleicht irgend ein feindliches Korps vor ihren Thoren erscheinen zu sehn, wobei er sie ermahnt hatte, so kühnen Parteigängerstreichen nur diejenige Entschlossenheit entgegenzusetzen, die der Hauptstadt des Reiches gezieme, und dann im Vertrauen auf den Erfolg seines Manövers nichts weiter zu fürchten. Die Pariser glaubten jetzt, jenes angekündigte Streifkorps anrücken zu sehn, und bereiteten sich zur Vertheidigung. Gegen 7 bis 8000 Mann Nationalgarden griffen zu den Waffen, und schlossen

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sich an die Korps der Marschälle Marmont und Mortier. An den Verschanzungen ward eifrig fortgearbeitet und zahlreiches Geschütz hineingeführt. Viele aus dem gemeinen Volk verlangten gleichfalls bewaffnet zu werden, und die jungen Leute aus der veterinär und polytechnischen Schule traten in die Batterien zur Bedienung der Geschütze. Joseph Napoleon befehligte das Ganze. Die Armeen der Verbündeten griffen am Morgen des 30. an. Der Angriff der schlesischen Armee und des Korps des Kronprinzen von Würtemberg war durch verspätete Instructionen verzögert worden. Daher ward im Anfange lange und hartnäckig auf der Seite von Pantin und auf den Höhen von Belleville gestritten, endlich aber aller Widerstand besiegt, jede Stellung erstürmt und der Feind bis in die Vorstädte getrieben. Nun war auch die schlesische Armee angelangt und hatte den Montmartre mit stürmender Hand genommen. Während des Gefechts wurden die Pariser ihren Irrthum inne und sahen, daß sie es nicht mit einem einzelnen Korps, sondern mit ganzen Armeen zu thun hatten. Da sank ihnen der Muth. Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, die Stadt zu vertheidigen, sondern vor Untergang

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zu bewahren. Joseph übertrug dem zu Folge dem Marschall Marmont zu kapituliren und verließ Paris, von wo die Kaiserin sich schon früher entfernt hatte. Um die Unterhandlungen zur Kapitulation einzuleiten verlangte Marmont einen zweistündigen Waffenstillstand und erhielt ihn. Während desselben begaben sich die Monarchen auf die Höhen von Belleville, und betrachteten von hier aus die bezwungene Stadt, die unter ihren Füßen weit ausgebreitet lag. Das Ende des Kampfes schien erreicht und sie wünschten sich gegenseitig Glück zu dem glänzenden Erfolge so großer Anstrengungen und so vieler Opfer. Noch auf diesen Höhen erschienen Abgeordnete *), und empfahlen die Stadt der Großmuth der Monarchen. Sie ward ihnen verheißen und später im vollem Maaße gewährt. Der Kapitulation zu Folge zog die Besatzung gegen die Loire ab und die Stadt ward ohne Bedingungen übergeben. Tages darauf rückten die Monarchen an der Spitze ihrer Armeen in Paris ein, unter dem Zulauf unzähligen Volkes und unter Begrüßungen,
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*) Achte Kupfertafel.

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die fast wie allgemeiner Jubel aussahn und die man so keinesweges erwartet hatte.

Napoleon war, wie wir gesehn, am 24. von Vitry nach St. Dizier marschirt und hatte, nachdem er daselbst auf das linke Marneufer zurückgegangen war, seine umgehende Bewegung fortgesetzt, starke Parteien auf die Verbindungslinien der großen Armee bis nach Chaumont hin entsendend. Sein plötzliches Erscheinen hatte überall Schrecken verbreitet; von allen Seiten wurden Gefangene eingebracht, ja selbst der Kaiser von Oestreich, der noch in Chaumont verweilte, wäre beinahe aufgehoben worden. Inzwischen war, als die Monarchen nach Paris aufbrachen, der General Wintzigerode mit 5000 Pferden und 50 Kanonen zu Verfolgung der französischen Armee abgeschickt worden. Gleich am andern Tage griff dieser die Arriergarde Napoleons unweit St. Dizier an. Die Menge Kavallerie und Artillerie, die hierbei entfaltet worden war, zusammengehalten mit der Gewißheit, daß die Armee der Verbündeten der Bewegung der französischen auf Vitry gefolgt war, brachte Napoleon auf die Meinung, daß diese Armee dicht hinter ihm sey, und daß, wenn er sie unvorbereitet anfiele, irgend ein

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großer Vortheil errungen werden könne. Er wandte demnach um, und griff am 26. den General Wintzigerode bei St. Dizier an. Der Widerstand, der geleistet ward, mochte ihn in seinem Irrthum bestärken; denn nachdem die russische Kavallerię zum Theil nach Bar le Duc, zum Theil nach Vitry zurückgewichen war, setzte er am 27. die Verfolgung bis dahin fort. Nun erst sah er ein, daß er in die Luft gegriffen hatte und als er jetzt auch die bestimmte Nachricht von der Unternehmung auf Paris erhielt, wandte er um, und marschirte in derselben Richtung, die er früher eingeschlagen hatte. Am 29. war er an demselben Ort, wo er am 24. gewesen war; er hatte fünf Tagemärsche verlohren. Die Monarchen standen an dem Tage vor Paris.

Tag und Nacht hindurch setzte er seinen Marsch über Troyes fort, um noch Paris zu erreichen. Gleich hinter Troyes warf er sich in eine Postkalesche, und eilte in geringer Begleitung den Truppen voraus. In der Nacht vom 30. zum 31. langte er unweit Paris an *). Es war zu spät; über Paris war schon entschieden. Jemand aus
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*) Neunte Kupfertafel.

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seiner Begleitung, den er vorausgeschickt hatte, brachte ihm die Nachricht der Kapitulation; langsam kehrte er nach Fontainebleau zurück. So mußte in der Nacht desselben Tages, wo die Monarchen auf den Höhen von Belleville, vom Glanze siegreicher Heere umgeben, standen, der stolze Napoleon, einsam und hülflos vor den Thoren seiner eignen Hauptstadt erscheinen und sie dann wie ein Vertriebener fliehn.

Im Rathe der Monarchen war beschlossen worden, Frankreich zu erhalten und nur Napoleon zu verderben. Sie erklärten demnach öffentlich, daß sie mit ihm nicht weiter unterhandeln würden, und verhießen den Franzosen einen milden Frieden, insofern sie sich von ihm lossagten; ihre künftige Regierung sollte ihrer eigenen Wahl überlassen seyn. Hierauf versammelte sich der sonst so kriechende Senat, und erklärte Napoleon des Throns verlustig. Es ward eine provisorische Regierung gebildet, der sich alsbald der Marschall Marmont mit seinem Korps unterwarf, und hinter den Linien der Alliirten Kantonnirungen bezog.

Napoleons Armee war unterdeß in Fontainebleau angelangt, und Abtheilungen der verbündeten Heere hatten

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sich ihr gegenüber gelagert. Eine Zeitlang ungewiß über das was zu beginnen sey, entschloß er sich plötzlich, noch einmal das Glück herauszufordern und gegen Paris zu marschiren. Er mochte noch ungefähr 30,000 Mann versammelt haben; denn auf die Nachricht dessen, was zu Paris vorgefallen war, hatten bereits viele tausend seine Fahnen verlassen. Schon hatte er den Befehl zum Aufbruch gegeben, schon war er zu Pferde gestiegen, als seine Marschälle ihm den Dienst verweigerten und ihn mit seiner Entthronung bekannt machten. Hierauf stellte er seinen Marsch ein, und ohne weiter mit dem Schicksale zu ringen, unterwarf er sich den Beschlüssen desselben.

In die Abdankung willigend, versuchte er noch seine Dynastie zu erhalten und übertrug die Krone seinem Sohne, dessen Rechte zu bewahren eine Regentschaft unter dem Vorsitz der Kaiserin zu Blois sich bildete; zugleich eröffnete er mit den Monarchen Unterhandlungen über die Bestimmung seines eigenen Schicksals.

Inzwischen war der Ruf nach den Bourbons in ganz Frankreich immer lauter und allgemeiner geworden. Die französischen Prinzen befanden sich schon seit einiger Zeit auf mehreren Punkten Frankreichs und hatten überall

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vielen Anhang gefunden. Am kräftigsten hatte sich der Süden, und vor allen Bordeaux ausgesprochen, wo, als Napoleons Spiel noch bei weitem nicht verlohren war, die heranziehenden Engländer mit weißen Fahnen und Kokarden empfangen wurden. Die Monarchen ließen ihrem großmüthigen Versprechen zu Folge die Franzosen gewähren, und so geschah es denn, daß das Geschlecht der Bourbons, wenn auch nicht durch die allgemeine Stimme des Volks, doch durch die für den Augenblick lauteste Partei herbeigerufen, wieder den französischen Thron bestieg.

Unter Begleitung von Kommissarien der hohen Mächte reiste Napoleon Ende Aprils nach der Insel Elba ab. Er hatte unterwegs öfters Gelegenheit, die Liebe, die man zu ihm und seiner Regierung trug, zu erfahren, und im südlichen Frankreich entging er nur durch List und Verkleidungen der Gefahr, vom Volke erschlagen zu werden.

Dies war das Ende jenes denkwürdigen Feldzuges, wo, gleichsam im dritten Gange des großen Kampfes, die Sache der Gerechtigkeit über das Reich des Frevels und des Uebermuthes unter wunderbaren Fügungen der

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Umstände endlich den Sieg davon trug und das Gebäude französischer Herrschaft in den Staub warf.

Napoleon hatte mit einer Hartnäckigkeit gekämpft, die nur dem Wahnsinn eines Spielers zu vergleichen ist, der den höchsten Gewinnst ertrotzen will. Schon als sein Thron noch nicht in Gefahr war und ihm von allen Seiten die Hände zum Frieden geboten wurden, focht er wie ein Verzweifelnder, als wenn er ohne den Glanz des höchsten Ruhms selbst auf dem Thron nicht leben möge. Um so mehr muß man sich wundern, daß, als er nun Ruhm und Herrschaft, ja sogar den Thron verlohren hatte, er auf einmal auch so zufrieden war, und, aus der Rolle eines Weltbezwingers in die eines Philosophen übergehend, mit einer ganz kleinen Haushaltung auf der Insel Elba vorlieb nahm.

Zur allgemeinen Uebersicht dessen, was im Laufe jener Begebenheiten auf andern Punkten des europäischen Kriegsschauplatzes sich zutrug, ist hier in Kurzem folgendes nachzutragen. Um die Zeit, als Paris unterlag, waren die Festungen Danzig, Modlin, Stettin, Cüstrin, Glogau, Torgau, Erfurt mit Kapitulation übergegangen und Wittenberg erstürmt worden. In Belgien waren

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außer dem sächsischen und englischen Korps noch das des General Wallmoden nebst der schwedischen Armee angelangt, welche letztere, nach beendigtem Kriege in Holstein, in kleinen Tagemärschen nach Frankreich gezogen war, indem seine Landsleute im eigenen Vaterlande zu bekriegen den Ansichten des Kronprinzen von Schweden nicht völlig zusagte. Vor Luxemburg und Thionville hatte sich ein deutsches Armeekorps, meist aus Hessen bestehend, gelagert, und ein anderes unter dem Herzog von Koburg Mainz berannt. Die übrigen Festungen Frankreichs an der östlichen und nördlichen Gränze waren blokirt. Lyon befand sich im Besitz der Oestreicher, die unter Prinz von Hessen-Homburg den General Augereau bei Macon aus dem Felde geschlagen hatten. Im Süden endlich war Wellington, nachdem er den Marschall Soult am Adour geschlagen, gegen Toulouse vorgedrungen, hatte durch ein Seitenkorps Bordeaux besetzt, und noch ganz zuletzt einen Sieg bei Toulouse selbst errungen. In Italien, wo der General Bellegarde gegen den Vicekönig kommandirte, waren kleine Gefechte ohne Entscheidung geliefert worden. Indeß konnte auch hier der Sieg den Verbündeten nicht fehlen, da der

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König von Neapel von Napoleon abgefallen, dem allgemeinen Bunde beigetreten und mit einer Armee gegen Oberitalien im Anzuge war.

Wenn schon alle diese Begebenheiten auf den großen Gang der Ereignisse bei Paris keinen unmittelbaren Einfluß hatten, so wird dem Leser doch hieraus die ganze Ausdehnung des Kampfes verständlich und ihm ein Maaßstab für den übermüthigen Sinn Napoleons gegeben, der bei der leisesten Gunst des Kriegsglücks immer gleich vermeinte, in solchem Kampf doch am Ende noch bestehn zu können, und dann eben so hochfahrende Friedensbedingungen vorschrieb, wie in den Zeiten seiner größten Macht.

Durch den Frieden, der mit Ludwig XVIII. abgeschlossen wurde, erhielt Frankreich diejenigen Gränzen, die es im Jahr 1792 gehabt hatte. Kontributionen wurden nicht gefordert und alle in Paris zusammengetragenen Kunstschätze den Franzosen gelassen; ja der russische Kaiser schenkte sogar eine große Anzahl genommener Kanonen zurück. Nie ward ein besiegtes Volk großmüthiger behandelt, als die Franzosen von den Verbündeten. Um diese Großmuth in ihrem ganzen Umfange zu begreifen

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darf man nur die Geschichte des Krieges in folgenden wenigen Worten zusammenfassen: nachdem die so lange unterdrückten, gequälten, zerrissenen Völker sich endlich in Macht erhoben und Frankreich besiegt hatten, vergaßen sie die Rache und zogen gutmüthig wieder ab, Frankreich stärker lassend, als jeder einzelne der verbündeten Staaten es war.

 

Vierter Abschnitt.
Feldzug von 1815.

Durch die politischen Erschütterungen und Umwälzungen seit der französischen Revolution war nach und nach der ganze Staatenbau Europas aus seinen Fugen getreten. Zwar hatte die allgemeine Gefahr, zuletzt alles in Eine Richtung treibend, den in sich verschobenen Verhältnissen die Scheingestalt eines geordneten Ganzen gegeben; als jedoch die Gefahr verschwunden war und die Staaten nun den Blick auf sich selbst zurückwandten, kamen alle jene Mißverhältnisse zur Sprache, und das zerrüttete

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Staatengebäude sollte nun wieder in Ordnung gebracht werden. Diese Aufgabe zu lösen, traten die vereinigten Mächte in Wien zu einem Congreß zusammen. Auch Frankreich schickte einen Abgeordneten, um da mit bauen zu helfen, wo es alles in Trümmer geworfen hatte. Wenn bei der Besorgung eines allgemeinen Interesses auch nur eine Partei, geschweige denn mehrere, das Allgemeine dem eigenen Vortheil hintenansetzt, dann ist es um das Gedeihn des Ganzen nicht gut bestellt. So geschah es, daß während alle Mächte zum Rettungsgeschäft so herrlich verbündet gewesen waren, das Wiederherstellungsgeschäft mancherlei Mißverständniß und Uneinigkeit zu Tage förderte, die, wenn schon für die Hauptangelegenheiten endlich ausgeglichen und beseitigt, dennoch eine Spannung unter den Kabinetten erzeugten, welche den noch übrigbleibenden Geschäften und besonders der Gestaltung des deutschen Bundes große Schwankungen verhieß.

In Frankreich war unterdeß ein Zustand der Dinge eingetreten, der manches für die innere Ruhe besorgen ließ. Bei einem Volke, das, wie das französische, in einer zehnjährigen Revolution alle bestehenden Formen

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hatte untergehen sehn, das nachher unter der zehnjährigen Herrschaft Napoleons von allen Bestrebungen nach politischer Freiheit abgelenkt, zu einem welterobernden Volke ausgebildet und unaufhörlich zu Ruhmsucht, Eitelkeit und Genußliebe getrieben worden war, und nun plötzlich wieder die Bourbons auf dem Thron sah, die den Erzeugungen der Revolution eben so wie dem System Napoleons entgegen seyn mußten, bei einem solchen Volke durfte man wohl nicht sobald die Herstellung eines innern Gleichgewichts erwarten. Ludwig XVIII. hatte seine Wiedereinsetzung nur einer geringen Partei zu danken gehabt, die ihre Stimme unter dem Schutze der verbündeten Heere erhob, während die andern, durch eben diese Heere geschreckt, sich nicht zu äußern wagten. Jener geringen Partei gegenüber standen zuerst die Anhänger Napoleons, meist Offiziere, Soldaten und Beamte, die, durch die Länderabtretungen und staatswirthschaftlichen Einschränkungen brodlos geworden, den vorigen Zustand der Dinge zurückwünschten, und dann die Konstitutionsmänner, die, wenn schon unter sich wieder in Parteien gespalten, doch darin überein kamen, daß sie die Gewinnung politischer Freiheit mit der

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Thronbesteigung Ludwig XVIII. unverträglich hielten. Außer diesen war nun noch, zahlreicher als alle Parteien zusammen, die Masse derjenigen, die vor allen Dingen die Ruhe wünschten, um ungestört erwerben und genießen zu können, und dann das ärmere Volk, das die Bourbons weder liebte noch haßte, eben so leicht für als gegen sie in Bewegung zu setzen war, und nach Revolutionen der bestehenden Ordnung der Dinge überall immer mehr oder weniger abgeneigt ist.

So feindselige Elemente zu bändigen und in Eintracht zu verschmelzen war menschlicher Kraft überhaupt vielleicht nicht erreichbar, und so kam es denn, daß die Gährung in den Gemüthern mit jedem Tage zunahm, ja selbst die große Masse des Volks, durch das immer dreistere Hervortreten der Royalisten zur Wiederherstellung des Alten geschreckt, sich nach und nach von der Regierung abwandte.

Napoleon unterdeß, den Gang des Wiener Kongresses, so wie die wachsende Gährung in den Gemüthern der Franzosen unausgesetzt beobachtend, letztere vielleicht nährend, hatte der Hoffnung Raum gegeben, sein verlornes Reich wieder zu gewinnen. Die Angelegenheiten

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der großen Mächte waren der Hauptsache nach abgethan und die Abreise der Monarchen bereits angekündigt. Diesen Zeitpunkt zur Ausführung seines Vorhabens für günstig haltend, schiffte er sich in den letzten Tagen des Februars 1815 mit dem Bataillon seiner alten Garde, das ihm nach Elba gefolgt war, auf einigen kleinen Kriegsfahrzeugen ein und segelte nach Frankreich. Das Schicksal begünstigte die Fahrt; denn er entging nicht nur der Wachsamkeit der zur Beobachtung des Hafens von Elba stationirten französischer Fregatte, sondern ward auch unterwegs von einem ihm begegnenden französischen Kriegsfahrzeuge, da alle seine Soldaten sich verborgen hatten, nicht angehalten.

Am 1. März stieg er unweit Antibes ans Land. Da er sich hier in einem Departement befand, wo man ihm nicht sehr zugethan war, so durchzog er diesen Landstrich mit großer Eilfertigkeit, sich gerade gegen Grenoble wendend. Nachricht seines Anmarsches war ihm vorausgegangen, und der in Grenoble kommandirende General mit der Garnison aufgebrochen, um ihn anzugreifen. Napoleon trat den Truppen, die sich zum Gefecht bereiteten, entgegen und fragte sie, ob sie auf

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ihren ehemaligen Feldherrn schießen würden? Hierauf gingen Offiziere und Soldaten zu ihm über; der General nahm die Flucht und Napoleon zog unter dem Freudengeschrei der Einwohner in Grenoble ein.

Unterdeß war in Paris alles in der größten Bewegung. Die königliche Famile gab sich das Ansehn des Muths und behandelte anfangs die Sache als geringfügig. In den öffentlichen Blättern ward das Unternehmen wie eine sinnlose Tollkühnheit dargestellt und angezeigt, daß bereits eine allgemeine Hetzjagd auf Napoleon angeordnet sey, der er unmöglich entrinnen könne. Als indeß die Nachricht eintraf, daß er in Grenoble angelangt sey, ward die Sache etwas schwerer genommen; Truppen wurden auf Wagen eiligst gegen Lyon gesandt und andere von allen Seiten gegen die Straße von Paris nach Lyon in Marsch gesetzt; die Marschälle flogen in die Provinzen und selbst die königlichen Prinzen bereiteten sich zum Aufbruch. Inzwischen langte Napoleon vor Lyon an. Was vor Grenoble geschehn war, geschah auch hier; die Truppen gingen zu ihm über und die Stadt nahm ihn mit Freudengeschrei auf. Nun führte der Marschall Ney ein starkes Truppenkorps gegen

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ihn heran; alles war gespannt, denn Ney hatte dem Könige gelobt, ihm Napoleon in einem eisernen Käfig zu bringen; doch er vergaß des eisernen Käfigs und ging gleich den andern über, worauf Napoleon unaufhaltsam gegen Paris vordrang. Einer der Prinzen auf der Reise zur Armee vor Lyon, die nun schon in Napoleons Diensten war, kehrte eiligst nach Paris zurück und ward noch einmal fortgeschickt, um Vorkehrungen zu treffen; doch alles war vergebens. Nach Maaßgabe, wie die Truppen gegen Napoleon geführt wurden, gingen sie zu ihm über, und von Station zu Station wuchs das Heer, mit dem er gegen Paris rückte. Noch hatte man indeß nicht alle Hoffnung aufgegeben, und wollte wenigstens die Krone nicht ohne Kampf verlieren. Es ward deswegen bei Melun, einige Meilen von Paris, ein Lager zusammengezogen, und die Truppen zeigten sich auch bereitwillig sich zu schlagen. Doch plötzlich kam der Schwindelgeist auch in diese Truppen; sie gingen über und die königliche Familie entfloh in Begleitung von wenigen hundert Edelleuten nach Belgien. Einige Marschälle und Generale begleiteten den König bis an die Gränze, kehrten aber, sobald er diese überschritten hatte, zurück. Am

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21. März langte Napoleon in Paris an; nicht ein Schuß war auf seinem ganzen Zuge von der Küste her gefallen, sein bloßer Schatten hatte den neuen Thron umgestürzt. Im Süden zeigte sich indeß doch einiger Widerstand. Der Herzog von Angouleme, der hieher geeilt war, hatte einige Linientruppen und Nationalgarden gesammelt und war damit gegen die Anhänger Napoleons marschirt. Nach einigen Gefechten ward er zurückgedrängt, endlich umringt, und in Folge einer Kapitulation frei gelassen. Napoleon war nach den Erfahrungen, die er gemacht hatte, der Meinung, daß ihm die Bourbons nicht weiter gefährlich wären. Von der andern Seite hatte die Herzogin von Angouleme in Bordeaux, wo sich früher ein so guter Geist gezeigt hatte, eine königliche Partei zu sammeln versucht; doch auch hier ward alles im Strohm mit fortgerissen, oder blieb gleichgültig, und die Herzogin sah sich mit wenigen Getreuen zur Flucht genöthigt. Die Vendee allein bewaffnete sich.

Wenn schon Napoleon in Beziehung auf Frankreich richtig gerechnet hatte, so täuschte er sich doch in Hinsicht der Folgen, die die gegenseitige Spannung der Verbündeten

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seiner Meinung nach haben würde. Als die Nachricht seiner Landung nach Wien kam, waren die Monarchen glücklicher Weise noch nicht abgereist, und da die allgemeine Gefahr von neuem drohte, so war die Einigkeit bald wieder hergestellt. Ein neuer Bund ward geschlossen, dem zu Folge die Rüstungen zum Kriege gegen den allgemeinen Feind sogleich angeordnet wurden. Die früher eingetretene Spannung unter den Verbündeten war vielleicht selbst heilbringend gewesen; denn in Hinsicht auf dieselbe war alles noch in Waffen geblieben, sogar die Landwehren in Preußen und die Reserven in Oestreich, und die Russen hatten in Pohlen halt gemacht. Unverzüglich und noch ehe der Einbruch Napoleons eine ernsthafte Wendung genommen hatte, wurden die zu den Rüstungen nöthigen Vorbereitungsanstalten getroffen, und sobald Paris in seinen Händen war, setzten sich die Truppen der Verbündeten von allen Seiten gegen die französischen Gränzen in Bewegung.

Napoleon hatte die Möglichkeit seiner Rückkehr nach Frankreich und seine schnellen Erfolge weniger denen, die seiner Person und seinem System anhingen, als derjenigen Partei verdankt, die die politische Freiheit

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als Schöpfung der Revolution aufrecht erhalten wollte. In den Bourbons sah diese Partei die Feinde der Revolution und den Tod politischer Freiheit; deswegen sollten sie entfernt werden. In dem Kampf, in den sie durch solches Unternehmen zuerst mit der königlichen Partei und dann mit irgend einer europäischen Macht gerathen könnte, bedurfte sie eines starken Arms, und da war ihr denn Napoleon der rechte Mann, dessen herrschsüchtigem Streben sie mit der Zeit schon Gränzen zu setzen hoffte. Napoleon auf der andern Seite, seine Lage und die Lage der Dinge vollkommen begreifend, ging in die Idee jener Partei zu Anfange ein und kündigte sich deßhalb bei seiner Landung den Franzosen als den Feldherrn seines Sohns Napoleons II. an, dessen Ansprüche auf den französischen Thron er geltend zu machen komme. Gleichzeitig mit seiner Landung waren kurz nach einander zwei Versuche gemacht worden, die Kaiserin Marie Louise nebst dem jungen Napoleon in Schönbrunn bei Wien aufzuheben; beide Versuche scheiterten indeß.

Napoleon war nicht sobald in Paris angelangt, als er einen Abgeordneten nach Wien sandte, um der

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ganzen Begebenheit eine gehörige politische Gestalt zu geben und die Monarchen derselben geneigt zu machen. Der Abgeordnete ward indeß gar nicht bis Wien gelassen, und der Grundsatz wiederhohlt ausgesprochen, den Pariser Frieden aufrecht zu erhalten und Napoleon als Thronräuber zu behandeln. Nun rüstete sich Napoleon auch seinerseits und zwar mit derjenigen Anstrengung, die der neue große Kampf, der noch allgemeiner und erbitterter zu werden drohte als die vorigen erforderte.

Einer war diesmal mit Napoleon im Bunde, der im vorigen Feldzuge gegen ihn gewesen war, nämlich der König von Neapel. Durch einen Traktat mit den Verbündeten war ihm sein Thron zwar garantirt worden; Frankreich hatte indeß diese Verpflichtung nicht mit auf sich ausdehnen wollen, und bereits Anstalten zu einem Lager bei Grenoble getroffen, um von dort aus eine Expedition gegen Neapel in Bewegung zu setzen. Diese Anstalten kamen später Napoleon zu Gute. Da Murat zugleich viele Lauigkeit bei den übrigen Mächten in Hinsicht seines Interesse gefunden und wohl eingesehn hatte, daß er unterliegen würde, so wandte er sich zu

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Napoleon zurück, um mit ihm zu stehn oder zu fallen. Von weitem her hatte er bereits seine Vorbereitungen getroffen und eine zahlreiche mit allem wohl ausgerüstete Armee versammelt. Kurze Zeit nach geschehener Landung Napoleons rückte er in den Kirchenstaat ein und zog gegen Oberitalien, wo er bereits Einverständnisse eingeleitet hatte, von denen er, ungeachtet von den Oestreichern früher schon Manches entdeckt und scharfe Maasregeln ergriffen worden waren, bei seinem Erscheinen einen allgemeinen Ausbruch zu seinem und Napoleons Gunsten gehofft hatte. Ohne Widerstand zu finden, drang er bis an den Po vor.

In Oberitalien befand sich eine östreichische Armee unter General Bianchi. In weitläuftigen Kantonnirungen vertheilt, hatten die Truppen einige Zeit gebraucht, um sich rückwärts zusammenzuziehn, und deßwegen dem Feinde anfangs einiges Feld gegeben; nun aber drangen sie wieder vor. Musrat, der in den verschiedenen Städten, die er durchzogen hatte, gar nicht mit dem Enthusiasmus aufgenommen worden war, den er vermuthet hatte, und auch aus dem Mailändischen und Piemontesischen keine Nachricht irgend einer Volksbewegung erhielt,

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gab seine Unternehmung plötzlich auf und trat eilfertig seinen Rückzug in der Richtung von Ancona an. Der General Bianchi folgte schnelIen Schritts. Bei Tolentino kam es zum Gefecht; die Neapolitaner wurden geschlagen, und als eine Kolonne, die jenseit der Apenninen marschirt war, ihnen die einzige Rückzugslinie übers Gebürge verrannte, warf sich alles in die Flucht und zerstreute sich mit Hinterlassung sämmtlichen Geschützes in die Wälder. Die Oestreicher rückten nun ohne weiteren Widerstand gegen Neapel. Murat gab seinen Thron auf und entfloh nach Korsika. Das war das Vorspiel des großen Kampfs, zu welchem sich Europa bereitete. In Murats Schicksal spiegelte sich gewissermaßen das Schicksal, das Napoleon treffen sollte, im voraus ab.

Unterdeß sammelten sich nach und nach zahlreiche Armeen der Verbündeten am Rhein, an der Mosel und an der Maaß. Die Vertheilung dieser Armeen war diesmal eine andere, als in den vorigen Feldzügen; jede der großen Mächte stand für sich. Am Oberrhein und an der Saar sollten weit über 200,000 Oestreicher, Bayern, Würtemberger, Badner, unter Befehl des Fürsten

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Schwarzenberg versammelt werden; am Mittelrhein wurden 150,000 Russen unter Feldmarschall Barclai de Tolli erwartet; an der Mosel zog sich eine Armee von 30,000 Mann deutscher Bundestruppen unter General Kleist zusammen; 150,000 Mann Preußen unter Feldmarschall Blücher und über 100,000 Mann Engländer, Holländer, Hanoveraner und Braunschweiger unter Lord Wellington sollten sich in Belgien aufstellen. Nächstdem wurden zahlreiche Reservearmeen gebildet. Auch die Spanier, Schweizer, Sardinier und Dänen rüsteten sich, mit Einem Wort, ganz Europa erhob sich und bewegte sich wie in einer allgemeinen Völkerwanderung gegen Frankreich.

Napoleon, der trotz aller seiner Anstrengungen mit den Rüstungen der Verbündeten nicht Schritt zu halten vermogte, konnte sein Heil nur von einem raschen entscheidenden Schlage erwarten, den er ausführen mußte, noch ehe jene Rüstungen ihre Vollendung erreicht hatten, und es gelang ihm bereits in der ersten Hälfte des Junius eine Armee von 200,000 Mann schlagfertig zu haben. Die Rüstungen der Verbündeten sollten erst gegen Ende des Junius vollendet seyn. Wenn schon

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Napoleon, wie es sich später zeigte, von einem Volkskriege nicht viel erwartete, so hatte er nichts desto weniger alles gethan, um so viel Streitkräfte wie möglich zu entwickeln. Ein großer Theil der Nationalgarden des Reichs war marschirt und hatte die Gränzfestungen besetzt; in allen Städten wurden Bataillone von Föderirten gebildet und ihnen Offiziere der Armee zu Führern gegeben; die Festungen wurden bewaffnet und vor allem zahlreiche Verschanzungen bei Paris aufgeführt; endlich wurden gar durch ganz Frankreich Parteigänger aufgerufen, die mit selbst ausgerüsteten Freikorps über die Gränzen und im Rücken der feindlichen Armeen streifen sollten und auf Verwüstung und Plünderung angewiesen waren.

Der Plan, den Feldherrn seines Sohns zu spielen, war übrigens von Napoleon sofort aufgegeben worden, als er die Armee so ungetheilt auf seine Seite treten sah. Wieder Kaiser zu seyn, hatte ihm bequemer geschienen, und die Partei der Freiheitsmänner mußte, da sie die schwächere war, dazu schweigen. Sie hatte geglaubt, sich Napoleons als eines Werkzeuges zu bedienen, und war von ihm als Werkzeug gebraucht

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worden. Damit alle Formen gehörig beobachtet würden und aller Anschein von Usurpation wegfiele, hatte Napoleon eine neue Huldigung angeordnet, die der Eröffnung der Feindseligkeiten vorangehn sollte. Diese Huldigung fand auf eine höchst feierliche Weise auf dem Marsfelde bei Paris statt. Die Deputirten der Nation und besonders zahlreiche Abgeordnete der Armee, die neu zu weihenden Fahnen vor sich hertragend, waren versammelt. Napoleon auf einem Throne sitzend, von den Großwürdeträgern seines Reichs umringt, empfing den allgemeinen Eid und begeisterte die Versammlung und das zahllos umherstehende Volk durch eine kurze Rede, worin er ihnen nahen Sieg verkündigte. Ein neuer Traum von Unüberwindlichkeit kam über Frankreich; - und auf demselben Marsfelde ward bald darauf der Jahrstag der Schlacht von Leipzig von 50,000 deutschen Kriegern nicht minder feierlich begangen. Nicht lange nach der Huldigung ging Napoleon zur Armee ab.

Die Verbündeten konnten ihre Rüstungen, wie schon bemerkt worden, erst gegen Ende des Junius vollenden und hatten demnach die Eröffnung der Feindseligkeiten bis dahin verschoben. Ihr Angriffsplan war dem des vorigen

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Feldzugs ähnlich. Der Einbruch in Frankreich sollte von allen Seiten zugleich geschehn, doch das Vorwärtsschreiten der Armeen von Belgien her so lange aufgehalten werden, bis daß die übrigen Armeen ungefähr in gleichem Abstande mit diesen Armeen von Paris sich befinden würden, und dann sollte alles gegen Paris marschiren.

 

Napoleons Kriegsplan war, sich zuerst gegen Belgien zu wenden, und es hier zu einer Entscheidung zu bringen, noch ehe die Verbündeten auf einer andern Seite bedeutende Vortheile erringen konnten. Er hoffte die englische und preußische Armee einzeln zu schlagen. Um seinen Plan zu verbergen, hatte er an der belgischen Gränze von Anfang her nicht zahlreichere Truppenversammlungen statt finden lassen, als auf den übrigen Gränzen, und zugleich Anstalten getroffen, die an dieser Seite auf einen bloßen Vertheidigungskrieg schließen ließen. Es wurden Verhaue angelegt, Brücken abgetragen, Wege verdorben, Ueberschwemmungen angelassen u. s. w. so daß wirklich die Meinung täglich mehr Raum gewann, daß, wenn er angreifen wolle, es auf einem andern Punkt geschehn würde. Nichts desto weniger war alles auch auf den Fall eines Angriffs vorbereitet. Ein

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geringer Zwischenraum trennte die preußische und englische Armee, und würde die eine angegriffen, so war verabredet, daß die andere den Feind von der Seite anfallen solle.

Endlich wurden die Truppenbewegungen längs der belgischen Gränze immer lebhafter und lebhafter. Kavallerie kam von der Mosel her in Eilmärschen heran, und die bei Laon aufgestellten Reserven waren zum Theil bei Avesnes eingetroffen. Am 13. Junius erschien Napoleon selbst bei der Armee. Er mochte ungefähr 140,000 Mann versammelt haben.

Die preußische Armee bestand damals aus den Korps der Generale Zieten, Pirch, Thielemann und Bülow, und betrug ungefähr 110,000 Mann. Sie stand in so engen Kantonnirungen, als die unvollkommenen Verpflegungsanstalten der Niederländer es erlaubten, und zwar auf beiden Ufern der Maaß und Sambre auf einer Linie, die von Charleroi über Namur und Hanut sich ausdehnte. Das Hauptquartier des Feldmarschalls war in Namur. Die englische Armee kantonnirte ebenfalls, und stand auf einer Linie, die von Mons über

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Ath und Nivelle sich bis Brüssel erstreckte. Wellington für seine Person war in Brüssel..

Dem Beschlusse schleuniger gegenseitiger Unterstützung gemäß, hatte der Feldmarschall, im Fall eines Angriffs, zum Vereinigungspunkt der Armee eine Stellung hinter dem Lignybach unweit Fleurus, 4 Stunden vorwärts Namur, gewählt, um sich auf diese Art der englischen Armee noch mehr zu nähern. Lord Wellington seinerseits hatte die Versicherung gegeben, solche Anstalten getroffen zu haben, daß 24 Stunden nach Eröffnung der Feindseligkeiten seine Armee auf einem der preußischen Stellung entsprechenden Punkt vereinigt seyn könne. Sobald die Nachricht von der Ankunft Napoleons eingetroffen war, wurden die verschiedenen Korps der preußischen Armee nach der bezeichneten Stellung in Marsch gesetzt.

Am 15. Morgens griff Napoleon, auf dem rechten Ufer der Sambre vordringend, die Vorposten des Korps des General Zieten an, und drängte sie über Charleroi zurück. Das Korps war am Abend hinter Fleurus vereinigt, Napoleons Absicht war, zwischen die beiden verbündeten Armeen einzudringen, zuerst die

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preußische anzufallen und sich dann zurück gegen die englische zu wenden.

Am 16. Morgens war die preußische Armee in ihrer Stellung versammelt, bis auf das vierte Korps, dessen Marsch durch Zufälligkeiten verzögert worden war. Ihre Stärke betrug ungefähr 80,000, die des Feindes bei 120,000 Mann. Um 3 Uhr Nachmittags begann die Schlacht. Die Franzosen griffen zuerst den rechten Flügel der Stellung an und warfen sich dann mit Ungestüm gegen die Mitte. Hier ward im Dorfe Ligny mehrere Stunden lang mit großer Hartnäckigkeit gestritten. Von dem Besitz des Dorfes hing der Ausgang der Schlacht ab. Beide Armeen nährten das Gefecht daselbst unaufhörlich mit frischen Truppen und richteten das Feuer ihrer meisten Geschütze dahin. Es war 8 Uhr Abends und noch war nichts entschieden; doch schon waren alle Reserven der Preußen im Gefecht. Das vierte Korps war noch nicht eingetroffen, und auch die Engländer kamen nicht zur versprochenen Hülfe; denn erst am späten Abend des 15. von dem Beginnen der Feindseligkeiten unterrichtet, hatte Lord Wellington seine Armee nicht mehr so geschwind vereinigen können, wie es Noth gewesen wäre.

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Die Preußen wußten das nicht, sonst hätten sie die Schlacht wohl vermieden. Bei Quatrebras, eine Meile vom rechten Flügel der preußischen Stellung, wo die ganze englische Armee vermuthet ward, und Napoleon ebenfalls einen Scheinangriff hingewendet hatte, schlugen am 16. englischer Seits kaum 20,000 Mann.

So geschah es denn, daß, als in der Dämmerung Napoleon seine Reserven ins Gefecht brachte und die hinter Ligny aufgestellten Truppen von beiden Seiten umgangen worden waren, das Dorf Ligny verlassen und das Schlachtfeld nach einigen vergeblichen Kavallerieangriffen geräumt werden mußte. Bei einem dieser abgeschlagenen Angriffe kam der Feldmarschall in große Gefahr. Sein Pferd, von einem Schuß durchbohrt, stürzte beim Getümmel des Rückzugs in vollem Rennen todt unter ihm zu Boden. In dem Augenblick, wo sein Adjutant, der Gr. von Nostitz, sich vom Pferde warf, um ihm beizuspringen, jagten schon die letzten preußischen Reuter vorbei und dicht hinter ihnen die Franzosen. Hülflos lag der Feldmarschall mitten unter Feinden *);

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*) Zehnte Kupfertafel

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doch ihrerseits geworfen jagten die Franzosen wieder zurück und noch einmal am Feldmarschall vorbei, ohne auf ihn zu merken. Die preußischen Dragoner brachten ihn hierauf in Sicherheit.

Die preußische Armee zog sich in der Nacht eine Viertelmeile hinter ihre Stellung zurück; zwei Dörfer auf den äußersten beiden Flügeln blieben selbst noch bis am andern Morgen besetzt. Die Armee hatte viele Todte und Verwundete, aber wenig Gefangene und eine unbedeutende Anzahl Geschütze verloren. Am andern Tage zog sie sich nach Wavre in der Richtung von Löwen, um in Verbindung mit der englischen zu bleiben und den Streit bei erster Gelegenheit wieder aufzunehmen.

Bei der französischen Armee war großer Jubel. Sie bildete sich ein, die preußische Armee vernichtet zu haben, und, ihren großen Kaiser bewundernd, träumte sie von Sieg zu Sieg zu eilen. Napoleon lebte desselben Glaubens. Während zwei Korps der preußischen Armee Nachts die gerade Richtung gegen Wavre eingeschlagen hatten, war das dritte, erst am andern Morgen sich zurückziehend, nach Gembloux marschirt, hatte sich dort mit dem vierten vereinigt und dann seitwärts gegen

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Wavre gewandt. Gembloux liegt aber vom Schlachtfelde aus gesehn in der Richtung von Mastricht, und so glaubte denn Napoleon die preußische Armee in vollem Rückzuge gegen die Maas nach Mastrich, und übertrug die Verfolgung dem General Grouchy mit zwei Armeekorps von ungefähr 35,000 Mann. Grouchy seinerseits übereilte sich nicht mit der Verfolgung; vielleicht war er der Meinung, daß in der Hauptsache auf dieser Seite nichts mehr zu thun sey, vielleicht wollte er auch, da es am 17. ungemein heftig regnete, den Truppen, die sehr gelitten hatten, einige Erhohlung gönnen, oder er brauchte Zeit, die Zerstreuten zu sammeln; kurz er brach erst Nachmittags auf, und verlohr so gewissermaßen seine Gegner aus dem Gesicht.

Napoleon marschirte mit der Armee auf der großen Straße nach Brüssel, auf welcher sich Lord Wellington nach bewerkstelligter Vereinigung seiner Armee zurückgezogen hatte. Am 17. Abends lagerte sich die englische Armee auf dem Bergrücken von Mont St. Jean vor dem Walde von Soigny. Lord Wellington wollte hier eine Schlacht annehmen, in so fern ihn der Feldmarschall mit zwei Armeekorps unterstützen könnte. Der

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Feldmarschall versprach mit der ganzen Armee zu kommen, und hielt, wie die Franzosen in ihren Berichten bemerken, nur zu gut Wort. Gegen Mittag am 18. griff Napoleon die ganze englische Linie an. Die Engländer waren gegen 60,000, die Franzosen gegen 80,000 Mann stark. Unterdeß war die preußische Armee mit frühem Morgen aus ihrem Lager bei Wavre aufgebrochen, das vierte Korps, als aus lauter frischen Truppen bestehend, voran. Sehr schwierige Defileen verzögerten den Marsch, so daß die Spitze erst gegen 4 Uhr auf dem Angriffspunkt anlangen konnte. Napoleon, in der Meinung befangen, die Preußen zögen gegen die Maas, und würden von Grouchy gedrängt, hatte gegen jene Seite hin alle Sicherheitsmaaßregeln aus den Augen gesetzt, so daß das vierte Korps sich in einem Walde ganz nahe im Rücken seines rechten Flügels verborgen aufstellen und zum Angriff vorbereiten konnte. Es waren zwar einige Meldungen vom Anrücken preußischer Truppen eingegangen; Napoleon hatte indeß eine frühere Nachricht erhalten, nach welcher ein abgedrängtes Korps von 10 bis 12000 Preußen in der Gegend wäre, und gleichsam umherirre. Auf dieses Korps bezog er jene

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Meldungen und dachte an keine Gefahr. Unterdeß ward auf allen Punkten der englischen Linie mit großer Hartnäckigkeit gefochten. Wie bei Ligny schwebte schon mehrere Stunden die Entscheidung; doch wie dort die Kräfte der Preußen sich nach und nach erschöpften, so erschöpften sich hier die Kräfte der Engländer schneller als die der zahlreichern Franzosen, und die Engländer sahen eben so nach Hülfe aus, wie die Preußen am 16. Doch diesmal kam die Hülfe. Um 5 Uhr ließ der Feldmarschall das vierte Korps gerade in den Rücken des Feindes losbrechen. Napoleon, immer nur von dem erwähnten Korps von 12000 Mann träumend, ließ sich seinerseits durch diesen Angriff gar nicht irre machen, sondern wandte nur einen Theil seiner Reserven gegen die Preußen, die Bestürmung der englischen Schlachtlinie mit derselben Lebhaftigkeit fortsetzend. Noch war das Gefecht kaum eine Stunde im Gange, als der Feldmarschall die Meldung erhielt, daß das dritte Armeekorps, das die Arriergarde bildete, mit Uebermacht bei Wavre von Grouchy angefallen worden sey. Doch wie Napoleon sich den Rückenangriff des Feldmarschalls nicht anfechten ließ, so ließ sich der Feldmarschall den Rückenangriff Grouchys nicht anfechten;

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vor ihm lag die Entscheidung des Tages, das Heil der Armee, und nicht bei Wavre, und so blieb alles nach vorwärts in Marsch. Das dritte Armeekorps ward auf sich selbst angewiesen.

Unterdeß entfaltete sich die preußische Armee in immer größerer Macht und dehnte sich immer weiter im Rücken Napoleons aus. Als Napoleon seinen Irrthum endlich begriff und das Schicksal des Tages auf der Spitze sah, blieb er eine Weile stumm und in sich gekehrt, die Schlacht, ohne Befehle zu geben, ihren Gang gehen lassend. Da erblickte er plötzlich den Dampf vom Angriffe Grouchys bei Wavre, und nun darauf rechnend, daß die Preußen den größten Theil ihrer Macht dorthin lenken würden, machte er mit sämmtlichen Garden einen Angriff gegen die Mitte der englischen Stellung; der Angriff ward abgeschlagen, und die Preußen ließen sich von Grouchy nicht ablenken. Jetzt begann Napoleon an den Rückzug zu denken; doch es war zu spät. Von vorn, im Rücken und von der Seite (wo das erste preußische Korps um 7 Uhr angriff) immer heftiger und heftiger gedrängt, hatte er keine frischen Truppen mehr, um so dem allgemeinen Anfalle zu widerstehn.

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Uebereilung und Unordnung kam in die Armee, und aus der Unordnung ward bald die wildeste Flucht. Blücher und Wellington, jener von rückwärts, dieser von vorn auf die Mitte der feindlichen Stellung andringend, trafen zufällig auf der Höhe von la belle Alliance zusammen *), von wo Napoleon die Schlacht geleitet und wenige Stunden zuvor seinen Soldaten die Thürme von Brüssel als den gewissen Preis des Tages gezeigt hatte. Zum Gedächtniß dieses Zusammentreffens und des schönen Lohns gemeinsamer Anstrengung nennen die Preußen diese Schlacht die Schlacht von Belle Alliance.

Die Preußen verfolgten den Feind unausgesetzt bis zum andern Morgen, und diese Verfolgung vollendete die Auflösung der französischen Armee. Die ganze Heerstraße war mit verlassenen Geschützen und Wagen bedeckt und in allen Feldern rechts und links wimmelte es von Flüchtlingen, die sich im Getreide zu verstecken suchten. In Gemappe fiel die Equipage Napoleons den Siegern in die Hände; er selbst war zu Pferde voraus geeilt.
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*) Elfte Kupfertafel.

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Die Flucht der Franzosen ging über Charleroi, und kaum hatte sie die französische Gränze erreicht, als sich ein großer Theil der Soldaten nach allen Richtungen hin zerstreute und entweder der Heimath zueilte, oder sich in Dörfern und Wäldern versteckte. Vergebens versuchten die Generale die Armee bei Avesnes zu sammeln; unaufhaltsam zog alles hinter die Oise und erst bei Laon konnte man die Truppen zum Stehen bringen.

Gleichzeitig als die preußische Armee sich zur Verfolgung des Feindes vom Schlachtfelde aus in Marsch setzte, war der größte Theil des zweiten Korps abgeschickt worden, um dem General Grouchy den Rückzug von Wavre, wo er das dritte Korps hart gedrängt hatte, abzuschneiden. General Grouchy, am 19. von der Niederlage des Kaisers unterrichtet, war in einer bedenklichen Lage. Um das dritte Korps, das vor ihm stand, am raschen Verfolgen zu hindern, griff er es noch am 19. mit großem Ungestüm an, drängte es noch weiter auf der Straße von Löwen zurück, und wandte sich sodann eiligst gegen die Sambre. Am 20. war er bei Namur, und hatte das Glück gehabt, auf seinem Marsch vom zweiten Armeekorps nicht angetroffen zu werden.

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Erst bei Namur kam seine Arriergarde mit den verfolgenden Preußen ins Gefecht, von wo er über Givet zur Vereinigung mit den Ueberresten der französischen Armee gegen Laon marschirte.

Unterdeß war die preußische Armee den Franzosen über Charleroi gefolgt und die englische über Mons marschirt. Die Festungslinien wurden von den siegreichen Armeen überschritten, preußischer Seits das zweite Armeekorps und englischer Seits das holländische Korps zur Blockirung und Belagerung der Festungen zurückgelassen und die Operationen ohne Aufenthalt gegen Paris fortgesetzt.

In Paris, wo man nach der Schlacht von Ligny sich schon wieder zum Theil den aller ausschweifendsten Hoffnungen hingegeben hatte, war durch den Schlag von Belle Alliance alles wie betäubt, und schleuniger Friede war der allgemeine Ruf. Napoleon selbst war ganz kleinlaut nach Paris zurückgekehrt und gab die Sache völlig auf; sogar die Anreitzungen seines Bruders Lucian, der ihn antrieb, die Masse des Volks in Paris zu bewaffnen, damit die Armee zu verstärken und nocheinmal sein Glück zu wagen, wollten nichts verfangen. Wahrscheinlich

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sah Napoleon ein, daß die Lähmung der Armee nach jener großen Niederlage und der weiten Flucht zu gewaltig war, und die etwa zu erzeugende Aufwallung des Volks zu seinen Gunsten zu vorübergehend seyn würde, um irgend ein anderes Resultat als seinen eigenen Untergang herbeizuführen; kurz er gab seinerseits allen Widerstand auf; lebte unthätig auf einem Landschlosse bei Paris, und um in keiner Art dem Abschlusse eines Friedens entgegen zu seyn, entsagte er von neuem seiner Krone, und setzte eine provisorische Regierung ein, die dann auch sogleich Unterhandlungen anzuknüpfen versuchte.

Unterdeß waren bereits die Plätze Avesnes, Guise, Cambrai und Peronne durch Kapitulation in die Hände der Verbündeten gefallen, die, statt die Franzosen in der festen Stellung bei Laon anzugreifen, über St. Quentin längs der Oise marschirten und die Uebergänge über diesen Fluß eher erreichten, als die Franzosen zu ihrer Vertheidigung von Laon hier eintrafen. Auf diese Art umgangen, gaben die Franzosen jede Aufstellung bis Paris auf, und eilten dort so viele Streitkräfte zu sammeln, als die Zeit erlaubte.

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Während dieser Bewegungen und noch ehe die Preußen die Oise erreichten, waren von der provisorischen französischen Regierung Abgeordnete eingetroffen, um einen Waffenstillstand anzubieten. Sie sagten, Napoleon habe aufgehört zu regieren; auf diese Art sey der Gegenstand des Krieges aus dem Wege geräumt und Friede und Freundschaft schon wieder eingetreten; und sie wünschten jetzt, sich über die Demarkationslinie zu einigen, die die Armeen von einander trennen möge. Preußischer Seits theilte man die Ansichten der Abgeordneten nicht ihrem ganzen Umfange nach; dennoch war man zu einem Waffenstillstande erbötig, wenn Paris von den Verbündeten besetzt, die Gränzfestungen übergeben, die Kunstschätze zurückgestellt und Napoleon ausgeliefert würde. Hierzu hatten denn nun die Abgeordneten natürlich keine Instruktionen, und als ihre Versuche auch bei Lord Wellington gescheitert waren, eilten sie nach dem Hauptquartier der Monarchen, wo sie gar nicht vorgelassen wurden.

Inzwischen rückte die preußische Armee vor Paris und dehnte sich von St. Denis längs dem Ourqkanal aus. Zwei Tage später traf die englische Armee ein und

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rückte in die Stellung der Preußen, welche plötzlich rechts abmarschirten und bei St. Germain über die Seine gingen, wo sie den Franzosen bei Zerstörung der Brücke zuvorkamen. Sie rückten nun über Versailles vor, um Paris von der Südseite her einzuschließen. Diese Bewegung ward in der Nacht vom 1. Julius ausgeführt. Am 3. war bereits das Dorf Issy, eine halbe Stunde von Paris, genommen, und alle Versuche der Franzosen, es am 4. Morgens wiederzunehmen, scheiterten. Die preußische Armee dehnte sich bereits bis zur Straße nach Orleans aus.

 

In Paris mochten gegen 40,000 Mann Linientruppen, und 12 bis 15000 Mann Nationalgarden und föderirte Bataillons seyn. Bei solchen Mitteln ließ sich wohl der Widerstand einige Zeit mit Hartnäckigkeit fortsetzen; indessen wären dabei die Stadt und die Truppen aufs Spiel gesetzt worden, ohne vermeiden zu können, doch am Ende zu unterliegen. Deswegen knüpfte General Davoust, der das Kommando der Armee übernommen hatte, einerseits, und die provisorische Regierung andererseits neue Unterhandlungen an, und da die nächste Fortsetzung der Operationen ohnedies keine größeren

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Resultate geben konnte, als diejenigen, die ein Waffenstillstand verhieß, so kam endlich am 4. eine Konvention zu Stande, nach welcher Paris übergeben und ganz Frankreich bis an die Loire den Verbündeten eingeräumt wurde. Die französische Armee erhielt freien Abzug hinter die Loire. Napoleon war nach Rochefort entflohn. Am 7. July rückten die Verbündeten in Paris ein; es war das zweitemal seit funfzehn Monaten.

Die längs dem Rhein stehenden Armeen der Verbündeten hatten gleich nach dem Einbruche Napoleons in Belgien auch ihrerseits die Feindseligkeiten begonnen, die ihnen gegenüberstehenden wenigen Truppen in die Festungen getrieben, und auf die Nachricht von der Schlacht von Belle Alliance ihren Marsch gegen Paris beschleunigt. Am ernsthaftesten hatte auf jener Seite der General Rapp widerstanden. Er war jedoch vom Kronprinzen von Würtemberg unweit Strasburg geschlagen und gezwungen worden, sich in diese Festung zu werfen. Als Paris eingenommen war, veränderten die Armeen die Richtung ihres Marsches und zogen nach der Loire, um der Konvention gemäß die Provinzen auf dem rechten Ufer dieses Flusses zu besetzen.

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Die Monarchen waren indeß ihren Truppen vorangeeilt und wenige Tage nach der Uebergabe von Paris daselbst eingetroffen. Vor ihnen war schon Ludwig XVIII. angelangt, der die ganze Zeit über in Gent gewesen war. - Die provisorische Regierung in Paris hatte sich bei Annäherung des Königs aus eigenem Antriebe aufgelöst und die Kammer der Deputirten geschlossen, und wenn sie vorschützte, daß sie nur aus Zwang so gehandelt habe, so geschah es bloß, um nicht der Volkspartei allzugehässig zu erscheinen. Die Sache war mit dem Könige im Voraus abgemacht worden, und Fouché, der ein Mitglied der provisorischen Regierung war, trat zur Belohnung ins Ministerium.

Sobald die Monarchen versammelt waren, begannen die Unterhandlungen, die einen dauerndern Zustand der Dinge herbeiführen sollten, als durch den Frieden im verflossenen Jahr geschehn war. Zwar eilte die Loirearmee, sich dem Könige zu unterwerfen, und von allen Seiten strömten Huldigungsadressen herbei, damit auf diese Art die gehässigen Fremden nur recht bald wieder entfernt werden möchten; doch die Monarchen ließen sich diesmal nicht blenden. Sie hatten das Gewicht jener

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Huldigungseide und die Treue, die sich in weißen Kokarden und Lilien aussprach, kennen gelernt, und strebten, sich eine bessere Assekuranz zu verschaffen, als das erstemal. Die ganze Loirearmee mußte sofort unter Androhung neuer Feindseligkeiten aufgelöst werden, und außerdem wurden die Belagerungen mehrerer Festungen mit großer Thätigkeit fortgesetzt, obgleich sie die weiße Fahne aussteckten und sich dem Könige Ludwig zu ergeben erboten. Die meisten dieser Festungen ließen es jedoch nicht auf das äußerste kommen und kapitulirten, sobald der Angriff etwas nachdrücklich geworden war. So kamen Maubeuge, Landrecis, Rocroi, Philippeville, Sedan, Mezieres, Longwy und Montmedy in preußische, Hüningen in östreichische Gewalt.

Napoleon hatte, sobald er die Wendung der Dinge in Paris erfahren, den Vorsatz gefaßt, nach Amerika überzuschiffen. Die Furcht, unterwegs von irgend einem feindlichen Schiffe aufgebracht zu werden, ließ ihn lange unentschlossen, was zu thun sey; endlich gab er den ganzen Plan auf und zog es vor, sich freiwillig den Engländern als Kriegsgefangenen zu übergeben und ihnen auf diese Art Verpflichtungen aufzulegen, als ihnen auf der

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Ueberfahrt vielleicht in die Hände zu fallen und dann nach Gutdünken behandelt zu werden. Er ließ den Kapitain der vor dem Hafen stationirten englischen Fregatte seine Entschließung wissen, bestieg ein Boot und fuhr in Begleitung einiger Getreuen der Fregatte zu *). Nachdem er mit allen Ehren, die seinem Range gebührten, empfangen worden, ward er noch an demselben Tage nach England abgeführt, von wo er nach St. Helena gebracht wurde.

Dies war der Schluß seines kurzen Abenteuers, das Europa auf einen Augenblick erschütterte und Frankreich bis ins Innerste verwundete.

Den Franzosen kamen die diesmaligen Grundlagen der Unterhandlungen sehr unerwartet. Sie hatten sich an die Vorstellung gewöhnt, Napoleon alle Sünden Frankreichs mit sich fortnehmen und Ludwig stets als Vermittler auftreten zu sehn, und als nun von neuen Abtretungen, Kriegsentschädigungen, und Gewährleistung ihres Betragens die Rede war, sträubten sich sich, so lange
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*) Zwölfte Kupfertafel.

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sie konnten. Als jedoch die Verbündeten nicht nachgaben und immer mehr Truppen nach Frankreich rücken ließen, deren Erhaltung zuletzt allzu große Summen kostete, so fügten sie sich und machten der Sache ein Ende. In den ersten Tagen des Novembers wurden die Traktaten unterzeichnet, deren Hauptpunkt, nächst der großen Kontribution, die fünfjährige Aufstellung einer Bundesarmee von 150,000 Mann in Frankreich selbst war.

Bei alledem hatte dieser Traktat dieselbe großmüthige Form, wie der Friede von 1814; denn Frankreich ist so stark geblieben wie es war; nur sind die gehörigen Maaßregeln getroffen, um seine Stärke auf einen gewissen Zeitraum hinaus zu brechen, und den Nachbarstaaten Muße zur Gewinnung verhältnismäßiger Kräfte zu gewähren.

Eine große Handlung der Gerechtigkeit ward in Paris geübt, über die ganz Europa frohlockte, die Zurücknahme der Kunstschätze. Sie beschließt das ganze Kriegsleben der französischen Nation neuerer Zeit auf eine höchst bedeutungsvolle Art, indem sie sich so langen Gewaltsamkeiten der Herrschsucht, so vieljährigem Getümmel

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eitler Ruhmbegier und so großen Begünstigungen des Glücks wie die einfache Moral einer Fabel anhängt.

 

v. Pfuel

 

 

 

Quelle:
Historisch-Genealogischer Kalender: auf das Gemeinjahr 1817
Herausgegeben von der Königlich-Preußischen Kalender-Deputation Berlin 1817

Die Zeitschrift ist ebenfalls in eingescannter Form über die Unibibliothek der Heinrich Heine Universität Düsseldorf unter folgenden Link online zugänglich:
https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/structure/7906115
https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1-449128

 

 

 

 

 

Der gleiche Autor, Ernst von Pfuel beschreibt in einem Beitrage zur Geschichte des letzten französisch-russischen Krieges auch die Zeit des Rückzugs der russischen Truppen und des späteren Rückzugs der Franzosen 1812.




Beiträge zur Geschichte des letzten französisch-russischen Krieges.

Von Ernst von Pfuel, Kaiserlich Russischem Major.

 

Erstes Heft

 

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Rückzug der Franzosen bis zum Niemen.

 

Vom Verfasser redigirter, einzig rechtmäßiger Abdruck mit zur Verständlichkeit desselben nötigen Nachträgen.

 

 

Von Ernst von Pfuel, Kaiserlich Russischem Major.

 

Auf Kosten des Verfassers und dessen Eigenthum.

Im März 1813.

 

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Diese Schrift ist unter dem alleinigen Titel: „Rückzug der Franzosen,“ zuerst ohne Namen des Verfassers gedruckt und nachgedruckt worden. Es erschien zweckmäßig, da der erste Wunsch des Publikums nach einer treuen Darstellung dieser denkwürdigen Katastrophe des französischen Heers befriedigt war, das ganze noch einmal durchzugehen, beträchtliche Einschaltungen zu machen und da sich die Materialien während der ersten Ausgabe vermehrt hatten, interessante Nachträge daran zu knüpfen, die als Erläuterung des Ganzen, um den Faden der Erzählung nicht zu unterbrechen, hinten angefügt sind. So erscheint diese Ausgabe als die allein rechtmäßige und vollständige mit dem Namen des Verfassers, der wenn ihm nur erst einige Muße gegönnt ist, seinen Teutschen Lesern die Fortsetzung dieses Rückzugs bis an die Elbe verspricht. Möge auf diese Art der Strahl der reinen lautern Wahrheit sich überall verbreiten und sich ihr auch die Wenigen anschließen, die noch etwa durch das Irrlicht der französischen Bulletins verführt seyn sollten.

 

 

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Der letzte Schlag unter welchem die Freiheit Europas erliegen sollte, hatte sich französischer Seits durch Zurüstungen und Vorbereitungen aller Art, mit einem Pompe und einer Festlichkeit angekündigt, die den Stolz der Soldaten, und die Erwartungen aller Anhänger des französischen Systems ungemein in die Höhe trieben, und Manchen schon über die Trümmer des russischen Reichs hinaus, von romantischen Zügen nach Persien und Indien, träumen liess. Napoleon hatte öffentlich erklärt, daß ein unvermeidliches Schicksal Rußland seinem Untergange entgegenreisse, und gab sich unverholen, für den Vollstrecker jener höhern Bestimmungen aus, nach welchen die Moskowiter, als europäischer Kultur feindselige Barbaren, nach den Steppen Asiens zurück gewiesen werden sollten. Sein Ruhm, sein Glück und eine ungeheure Armee, gaben seinen Worten das gehörige prophetische Gewicht. Dergleichen vermessene Reden waren aufs Imponiren berechnet, und in der That schloss das denkende Publikum daraus auf einen hohen Grad von Sicherheit seiner politischen und militärischen Combinationen, während das

 

 

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Nichtdenkende dadurch im Glauben an seine Unfehlbarkeit bestärkt ward.

 

Die prophetischen Worte Napoleons schienen in Erfüllung gehen zu wollen. Sobald die französischen Heere über den Niemen setzten, zogen sich die Russen von allen Seiten zurück und überließen dem Feinde die nördlichen Provinzen Polens, die sogleich die Fahne des Aufruhrs erhoben und sich den Franzosen anschlossen. Napoleon hatte seinen Soldaten versprochen, daß er sie nach Moskau führen würde, dort, hatte er ihnen gesagt, sei das Ziel aller ihrer Anstrengungen, dort erwarte sie ein rühmlicher Friede und jede Art Erholung und Genuß. Der französische Kaiser, stets die Augenblicke der Betäubung und des Schreckens zu seinen Friedensschlüssen benutzend, hatte alle seine Operationen auf die schleunige Einnahme Moskaus berechnet, denn dort war er des Friedens nicht minder gewiß als seine Soldaten. Seine Rechnung bewährte sich bis auf einen gewissen Punkt: Moskau kam in seine Gewalt; doch hier zeigte sich ein kleiner Irrthum, der Friede nämlich blieb aus, wodurch alle seine weisen Combinationen eine ziemlich missliche Wendung erhielten. Ein Umstand, der früher schon nicht ganz mit der Unfehlbarkeit seiner Berechnungen zutraf, war die Schlacht von Borodino, wo die Russen den alten sieggewohnten Banden Napoleons (ein Lieblingsausdruck französischer Bulletins), so gut zu begegnen wußten, daß diese in ihrer Gewohnheit zu siegen ganz irre gemacht wurden, indem man sie anwies, 2 Meilen rückwärts des Schlachtfeldes ihren Kaiser als Sieger zu begrüßen. Die französischen Bulletins halfen da zwar nach, wo die alten sieggewohnten

 

 

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Banden nicht ausreichten, denn nichts widersteht der Tapferkeit französischer Bulletins; doch das war nur für diejenigen berechnet, die bei der Schlacht selbst nicht gewesen waren. Ruhig und mit Ordnung setzten die Russen ihren Rückzug fort; sie wußten was sie thaten. Die Franzosen zogen kopfschüttelnd nach; die Ordnung des Rückzugs deutete mehr auf einen Plan, als auf eine durch Niederlage erzeugte Notwendigkeit, und die öden Städte und Dörfer längs der großen Straße stimmten nicht besonders mit den offenen Armen zusammen, mit denen, wie Napoleon gesagt hatte, die Einwohner sie empfangen würden.

 

Dass Napoleon Moskau ohne Schwerdtschlag gewann, schien ein Bürge mehr für die Richtigkeit seiner Berechnungen zu seyn, doch Moskau hatte aufgehört, die Hauptstadt des Reichs zu seyn, denn ihre Einwohner waren bis auf wenige Tausende ausgewandert; nichts als eine öde Steinmasse kam in die Hände des Feindes, und bald ward auch diese, als freiwilliges Opfer, in einen Aschenhaufen verwandelt, zum Wahrzeichen eines Kampfes auf Leben und Tod, und als Bürge unerschütterlicher Ausdauer des Kaisers und der Nation.

 

Die russische Armee, unter Befehl des Prinzen Kutusow Smolenskoi, hatte sich indeß durch einen kühnen Flankenmarsch zwischen Kaluga und Moskau bei Lechtatschowka aufgestellt, zur Deckung der südlichen Provinzen, und während ihr von allen Seiten Verstärkungen zuströmten, ermüdete und schwächte sie den Feind in täglichen Gefechten. Die russische Armee war zahlreich und voll guten Muthes, und auf allen Punkten des Reichs

 

 

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entwickelte der Patriotismus neue Kräfte, während französische Bulletins überall aussprengten, Rußland läge bereits in den letzten Zügen, die Armee sei so gut wie vernichtet, sie bestehe nur noch aus neu geworbenen herangezwungenen Milizen, und Schrecken und Verwirrung habe sich aller Gemüther bemächtigt.

 

Der Marsch des Fürsten Kutusow nach Lechtatschkowa ist für jeden denkenden Militär von ganz vorzüglichem Interesse, und in mehr als einer Beziehung meisterhaft zu nennen. Napoleon ward dadurch plötzlich in Moskau festgebannt, und wie sehr er sich auch durch Bewegungen mancherlei Art und durch Vorschiebung von Kolonnenspitzen in verschiedenen Richtungen das Ansehn gab, fortwährend zu manövriren: so mußten doch alle seine Operationen fruchtlos in sich selbst zurückkehren, und sich in vergeblichen Kreisen ohne Zweck und ohne Erfolg um einen und denselben Punkt herumdrehen. Nach Petersburg konnte er nicht vordringen, ohne Moskau wieder Preis zu geben, und die ganze russische Armee hinter sich her zu ziehen, wodurch sogleich seine Verbindungslinie mit Polen unterbrochen, und das Heil seiner Armee auf eine seltsame Spitze gestellt worden wäre; auf den Straßen von Jaroslaw und Wladimir konnte er eben so wenig marschiren, denn der politische Endzweck seiner Invasion war bereits in Moskau erreicht, und fernere Invasionsmärsche konnten keinen andern Gewinn bringen, als das Vergnügen, einige Städte und Dörfer mehr zu verbrennen, und einige tausend Flüche mehr auf sich zu laden. Blieb er aber in Moskau stehen, so mußte es mit ängstlich rückwärts gewendetem Gesicht seyn, denn die russische Armee

 

 

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stand seitwärts in seinem Rücken und täglich ward seine Operationslinie durch Partheygänger unterbrochen, die ohne Unterlaß die Gegend durchsteiften, seine Armee umschwärmten, und ihm durch Wegnehmung der Transporte, Auffangen der Kouriere, Verhinderung der Fouragirungen und Aufhebung aller kleinen Detaschements, Patrouillen und Marodeurs unersetzlichen Schaden zufügten. Es blieb ihm also auf die Länge nichts übrig, als entweder sich mit Macht gegen die südlichen Provinzen Rußlands zu wenden, wo er immer erst die russische Armee aufsuchen und schlagen mußte, und doch auch in diesem Falle wieder Moskau den kleinern auf den Straßen von Twer und Wladimir aufgestellten Corps Preis gab, oder ganz und gar zurückzumarschiren, welches wegen der drohenden Stellung des Fürsten Kutusow auch seine Schwierigkeit hatte.

 

Unterdess hatte Napoleon in seiner Milde freundliche Einladungen an die Bewohner Moskaus und der umliegenden Gegend ergehen lassen, zurückzukehren zu ihren Häusern, und sich des Schutzes der großen Nation zu erfreun: man begreift in der That nicht, warum alle diese Einladungen ganz und gar ohne Wirkung blieben, denn die frühern Kriege hatten ja gezeigt, wie heilig jede Art des Privat-Eigenthums den Franzosen sei: und was die Schändung der Kirchen und Altäre anbetrifft, so war dies gewiss mehr ein zufälliger Leichtsinn als absichtliche Ruchlosigkeit. Als zu gleicher Zeit auch einige Versuche, den Frieden einzuleiten mißlangen, glaubte Napoleon, daß es den Russen nur um Moskau zu thun sei, und erbot sich, großmüthiger Weise, die Brandstätte unter Bewilligung

 

 

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eines Waffenstillstandes zu verlassen, und sich bis Wäzma zurückzuziehn, wo dann von weitern Unterhandlungen die Rede seyn sollte, dieser Vorschlag ward jedoch ebenfalls abgelehnt, und dabei gesagt, daß man sich wundere, von Frieden und Waffenstillstand zu hören, da jetzt vielmehr der Krieg für die Russen erst anginge. Die Lage der französischen Armee war seltsam genug, in einem weiten

Kreise, auf den Straßen von Twer, Wladimir, Räzan und Kaluga, um das brennende Moskau wie um einen flammenden Mittelpunkt gelagert, befand sie sich in einer menschenleeren Wüste; täglich strömten die Soldaten zu Tausenden aus dem Lager nach der Stadt um zu plündern, und viele tausend Andere zerstreuten sich in der Gegend umher, und suchten nach Brod und Fourage. In den Wäldern und Morästen lagen Schaaren bewaffneter Bauern im Hinterhalte, und erschlugen jeden Tag viele Hunderte von jenen Herumzüglern, und wer den Bauern entging, fiel in die Hände der Patheigänger und Kosaken.

 

Die Lage Napoleons ward immer mißlicher und mißlicher, der Mangel täglich dringender, das Murren der Soldaten täglich lauter und der Friede täglich unwahrscheinlicher. Nach einem Aufenthalte von fünf Wochen beschloß Napoleon endlich Moskau zu räumen; vor dem Aufbruche sagte er seinen Soldaten: „ich werde euch in die Winterquartiere führen, finde ich die Russen auf meinem Wege, so werde ich sie schlagen, finde ich sie nicht, desto besser für sie.“ Mit dem Prophezeien wollte es indeß nicht mehr recht gehen, denn der Erfolg zeigte, daß er die Russen fand und nicht schlug, und daß

 

 

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es besser für die Russen war, daß sie ihm begegneten. Der französische Kaiser hatte in Moskau im Klemlin, der alten Burg der Czaren, gewohnt, ein Theil seiner Garden hatte die Besatzung ausgemacht; ringsum war alles niedergebrannt; die alte Burg hatte dagestanden wie eine Insel in einem Flammenmeere, von demjenigen seltsamer Weise erhalten, der das ganze Reich verderben wollte. Napoleon hatte indeß den Kremlin nur einstweilen für sich als Wohnung erhalten; nach seinem Abzuge ward auf seinen Befehl der ganze Bau mit Mauern und Thürmen verbrannt oder in die Luft gesprengt. Man sucht in dieser Masregel vergebens nach einem militärischen oder politischen Grunde, denn die militärische Wichtigkeit des Kremlins war höchst unbedeutend, und seine politische hatte in dem Augenblick aufgehört, wo die Opferung der Hauptstadt beschlossen worden; es scheint demnach als habe der französische Kaiser die Zerstörung in einer leidenschaftlichen Aufwallung angeordnet, um sich für seinen verfehlten Plan zu rächen.

 

Am Tage des Aufbruches selbst, am 6. Oktober alten Styls, ward 80 Werst von Moskau der König von Neapel bei Tarutina überfallen und gänzlich in die Flucht geschlagen, 26 Kanonen, 2000 Gefangene und eine Menge Bagage fielen dem Sieger in die Hände, der König selbst entging mit genauer Noth der Gefangenschaft. Wenige Tage vor diesem Treffen hatte die russische Armee eine ansehnliche Verstärkung an Kavallerie erhalten; noch ehe nämlich als das Aufgebot des Kaisers Alexander am Don ergangen war, hatte die Nachricht, dass der Feind bis zur Hauptstadt des Reichs verwüstend vorgedrungen sei, den

 

 

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ganzen Don aufgeregt; 36 Regimenter, 18000 Mann, saßen freiwillig auf und schworen feierlich das Vaterland und die Kirche zu rächen; sie marschirten 70 deutsche Meilen in 7 Tagen und trugen das ihrige zum Siege von Tarutina bei.

 

Napoleon marschirte auf der alten Straße von Kaluga. Aus seinen Anstalten scheint hervorzugehn, daß es ihm mit dem Vordringen über Kaluga kein rechter Ernst gewesen, sondern daß er vielmehr von Anfang an auf den Dnieper zurückzugehn dachte, wo sein Magazin-System organisirt war, und daß er nur auf Kaluga marschirte, um die Russen zu schrecken und zu einer falschen Bewegung zu verleiten, worauf er sodann Zeit und Vorsprung gewonnen und einen Weg, seitwärts der großen Straße von Smolensk, eingeschlagen haben würde, auf welchem noch nicht alles aufgezehrt war. Statt jedoch den Fürsten Kutusow zurückzumanövriren, fand er ihn sehr unerwartet mit der ganzen Armee bei Malojaroslawiz, wohin der Fürst Abends, den 11ten Oktober a. St., aus seiner Position aufgebrochen war. Man schlug sich am 12ten in einem hitzigen Treffen, wobei russischer Seils nur das 6te und französischer Seits nur das 4te Corps im Gefecht waren, während beide Armeen en reserve aufgestellt sich beobachteten. Dieser für die russischen Waffen rühmliche Tag machte plötzlich allen strategischen Feinheiten Napoleons ein Ende, und durchkreuzte alle seine Pläne; statt den Russen zu imponiren, hatten diese ihm imponirt, statt sie aus dem Wege zu manövriren, hatte er sie sich in eine unbequeme Nähe manövrirt, statt in die Winterquartiere gemächlich zu marschiren, mußte er sie in flüchtigem

 

 

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Rückzüge zu gewinnen suchen, und statt den Weg nach Gefallen zu wählen, mußte er auf der großen Straße ziehn, d. h. durch eine Wüste, die er sich selbst bereitet hatte. Die französische Armee trat ihren Rückzug am 14ten Oktober a. St. über Borowsk und Vereja nach Mosaisk an; 20 Kosaken-Regimenter unter General Platow und 2 Armeecorps als Avantgarde unter General Miloradowitsch folgten ihr auf dem Fuße; die große russische Armee selbst zog links seitwärts der großen Straße, wo Lebensmittel und Fourage in Fülle waren.

 

Die nächsten französischen Magazine waren in Smolensk; Malojaroslawiz ist von Smolensk aber 50 deutsche Meilen entfernt; diesen Weg ohne Brod und ohne Fourage, unter rastloser Verfolgung des Feindes, zurückzulegen, war die Aufgabe, welche die französische Armee zu lösen hatte. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe hatte die Armee ihrem Kaiser zu danken, der diesmal in wunderbarer Verblendung nichts berechnet, nichts vorhergesehn, und jede Vorsorge, die der Feldherr seinen Soldaten schuldig ist, unterlassen hatte , und so seine Armee gleichsam absichtlich ihrem Untergange entgegenführte. Ein schneller Rückzug ist da nur anwendbar, wo mäßige Räume zu durchlaufen sind; bei großen Entfernungen wird jede Eilfertigkeit verderblich, denn jeder Rückzug demoralisirt den Soldaten schon an sich; je größer die Eil, je größer die Entfernung, um so größer die Demoralisation, ein schlimmeres Uebel als jedes physische Ungemach. Napoleon handelte diesem Grundsatze entgegen, und bezahlte diesen Fehler mit dem Verluste seiner Armee und mit dem Verluste seines Ruhms. - Nicht lange, so stellte sich der Hunger

 

 

 

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bei der französischen Armee ein, die Regimenter lösten sich in Marodeurs auf, die einige Werste rechts und links der großen Straße alles plünderten und verheerten, die Pferde starben zu Tausenden, und täglich wurden eine große Menge Bagage und Munitionswagen, die ohne Bespannung blieben, verbrannt. Alle Gemeinden im Moskauschen und Kalugischen Gouvernement waren unter Waffen zur Vergeltung der geübten Gräuel, und erschlugen täglich viele tausend jener Marodeurs; hierdurch und von den verfolgenden Kosaken täglich mehr und mehr gedrängt; geschah es, daß die Franzosen fast gänzlich auf die große Straße beschränkt wurden; die ganze Armee lebte nun beinah von nichts als Pferdefleisch, schon starben täglich mehrere hundert Soldaten vor Hunger und Ermüdung, schon nahm man der Kavallerie ihre Pferde, um nur die Artillerie fortzubringen, schon blieben Kanonen zurück, und andere wurden vergraben, mit einem Worte, das Elend war bereits groß, und steigerte sich von Tage zu Tage in einer furchtbaren Progression.

 

Am 22sten Oktober a. St. war bei Wäzma ein äusserst hitziges Arriergarde-Gefecht, das 1ste Corps unter Marschall Davoust und ein Theil des 4-ten Corps, wurden mit einem Verluste von 25 Kanonen und von mehreren tausend an Todten, Verwundeten und Gefangenen durch Wäzma getrieben und bis in die Nacht verfolgt, die Stadt selbst ging, gleich den übrigen Städten und Dörfern, durch welche die

Franzosen zogen , in Rauch auf. Um diese Zeit trat die erste heftige Kälte ein, und brachte neues Elend über die französische Armee, ohne andere Nahrung als gefrorenes Pferdefleisch, ohne stärkende Getränke,

 

 

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ohne gehörige Bekleidung auf Schnee und Eis zu bivouacquiren, war mehr als menschliche Kräfte ertragen konnten; jede Nacht erfroren viele hundert, und am Tage starben eben so viel an gänzlicher Entkräftung; eine Reihe von Leichen bezeichnete den Weg, den die Armee ging. Die Soldaten warfen jetzt haufenweis die Gewehre weg; Ordnung und Disciplin hatten aufgehört, der Soldat bekümmerte sich weder um den Offizier noch der Offizier um den Soldaten, jeder war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß er auf andere keine Rücksicht mehr nahm, und weder gehorchen noch befehlen wollte; in bunten Haufen von allen Regimentern durcheinander gemischt, unterschieden sich nur noch die Corps durch Bagage-Kolonnen, die jeden Augenblick von den seitwärts streifenden Kosaken angefallen und geplündert wurden. Der Mangel an Vorsorge bei Antretung des Rückzuges war so groß gewesen, daß nicht einmal die Pferde, auf den Fall eines Frostes, in Moskau scharf beschlagen worden waren; auf der glatten Landstraße konnten die schon entkräfteten Pferde bald gar nicht mehr ziehn, 12, 14 schleppten an einer Kanone, und dennoch war der kleinste Hügel beinah immer ein unübersteigliches Hinderniß; die Kavallerie hatte schon keine Pferde mehr zu geben, sie war bis auf einige Regimenter Garden durchaus zu Fuß; die Kanonen waren demnach bald ganz und gar nicht mehr fortzubringen. Bei Dorogobusch liess das 4te Corps seine sämmtliche Artillerie, mehr als 100 Stücke Geschütz zurück, eben so das 1ste und 3te , so daß, als die Armee bei Smolensk anlangte, bereits gegen 400 Kanonen verlohren gegangen waren. Die französische Armee, die von Moskau über

 

 

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100000 Mann stark ausmarschirt war, betrug bei Smolensk kaum noch 60000 Mann, und von diesen war kaum die Hälfte unter Waffen. In Smolensk verweilte die französische Armee 2 Tage in der fürchterlichsten Verwirrung unter Plünderung und Brand; die daselbst vorgefundenen Magazine waren von keiner großen Hülfe, denn der, jedem für einige Tage zugemessene Vorrath, ward von den Heißhungrigen auf einmal verzehrt, und obenein bestanden die Portionen nicht einmal in Brod, sondern nur in Mehl; viele tausend gingen gar leer aus, denn ein jeder mußte sich im Gedränge seine Gebühr halb und halb erkämpfen; es waren auch Munitions-Distributionen angekündigt, hierzu fanden sich indeß nur wenige Soldaten ein.

 

Napoleon ließ in Smolensk, im Vorgefühl einer noch langen Reise, einen Theil seiner Equipagen um den Kosaken nicht unwillkührlich einige Andenken in die Hände zu spielen; um aber denn doch die russischen Grenzen nicht ohne ein Denkmal im großen Style zu verlassen, wovon die kommenden Geschlechter sich noch erzählten, so gab er den Befehl beim Abzuge der Arriergarde, alle noch übriggebliebenen Häuser in die Luft zu sprengen; die schnelle Ankunft des Generals Platow, der unversäumt die stadt angriff und den Feind hinaustrieb, machte leider, dass jene Pracht-Scene nicht zu Stande kam, und dass die Einwohner diesmal mit dem guten Willen Napoleons vorlieb nehmen mußten.

 

Die russische Armee war indeß von Jelna aus, Smolensk vorbei; gerade auf Krasnoi marschirt, um dort dem Feinde zuvorzukommen, sie langte daselbst am 4. November a. St.

 

 

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des Abends an, und bezog 7 Werst von der Stadt ihr Lager. So wie nach der Räumung von Moskau der Flankenmarsch nach Lechtatschkowa dem Gange der Ereigniße eine neue Wendung gab, eben so gehört der Marsch der russischen Armee nach Krasnoi unter die entscheidenden Bewegungen dieses Feldzuges; sonst war man gewöhnt, die französischen Heere vorzugsweise manövriren, und besonders unter Napoleons Anführung die Bewegungen ihrer Gegner bestimmen zu sehen; jetzt dagegen waren die Bewegungen der Franzosen, trotz ihres berühmten Anführers, äußerst passiv und kunstlos, und dagegen die Manövres des russischen Feldherrn eben so energisch wie intelligent. Von leichten Truppen fort und fort verfolgt, hatte Napoleon es sich auf keine Art träumen lassen, die russische Armee einen Vorsprung vor seiner Armee gewinnen zu sehen; er dachte sie sich vielmehr, ihrer Avantgarde schwerfällig folgend, und verweilte deswegen 2 Tage gemächlich in Smolensk. Fürst Kutusow bereitete unterdessen dem französischen Kaiser ein unangenehmes Erwachen aus seinem Traum, und schwere Reue über seinen Irrthum, und zwar, wie es wahren Feldherren geziemt, durch Ueberbietung an Schlauheit und Thätigkeit.

 

Die französische Armee war ebenfalls den 4ten November in Krasnoi eingetroffen; am 5ten kam es zur Schlacht. Napoleon leitete anfangs selbst das Gefecht, er hatte einen Theil der Garden auf der Straße nach Orscha vorausgeschickt, um die defilirende Bagage zu schützen, das 1te und 4te Corps, so wie den andern Theil der Garden hatte er in einer Linie vor Krasnoi aufgestellt und

 

 

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machte damit anfangs eine drohende Bewegung vorwärts, wahrscheinlich in der Meinung, nur eine geringe Infanterie-Abtheilung vor sich zu haben, diese drohende Bewegung vorwärts verkehrte sich indeß schnell genug in eine gezwungene rückwärts, und Napoleon, sobald er als Kenner über den Ausgang des Gefechts nicht mehr zweifelhaft war, verließ in Begleitung einiger Marschälle das Schlachtfeld und begab sich mit verhängten Zügeln nach Lädy, wo seine Garden über das mit Schaum bedeckte Pferd ihre eigenen Betrachtungen anstellten. Unterdeß waren die Franzosen durch die russischen Grenadiere bis gegen die Stadt getrieben worden; eine umgehende Bewegung der russischen Garden verwandelte den schon unordentlichen Rückzug des Feindes in Verwirrung und Flucht, und einige glänzende Kavallerie-Angriffe vollendeten die Niederlage. 25 Kanonen, die Hälfte des der Armee noch übrig gebliebenen Geschützes und mehrere tausend Gefangene fielen den Siegern in die Hände, viele Fahnen und Adler wurden erbeutet, so auch der Marschalls-Stab des General Davoust.

 

Das 3te Corps unter Marschall Ney, ungefähr 15000 Mann stark, welches seit Wäzma die Arriergarde der Armee bildete, war noch einen Marsch zurück; der Marsch der russischen Armee auf Krasnoi war Napoleon und seinen Generalen unbekannt geblieben, demnach glaubte der General Ney, als er bei Krasnoi den 6ten ankam, daß die, welche ihm den Weg verstellten, nur abgesandte Streifparthien wären, und nahm es sehr übel, als man ihn aufforderte, sich zu ergeben; er werde sich schon Platz machen, sagte er zu dem, an ihn geschickten

 

 

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Parlamentär, und griff auch sogleich dreist genug an. Die Sache war geschwind entschieden: in weniger als einer Stunde war das ganze Corps zerstreut, einige tausend Todte und Verwundete lagen auf dem Platze, gegen 11000 ergaben sich nach und nach in mehreren Abtheilungen, und der Marschall Ney selbst flüchtete sich mit einigen hundert Mann rückwärts über den Dnieper. Dieses Corps führte mehr als 20 Kanonen, und hatte nicht einen Mann Kavallerie.

 

Unter den eroberten Trophäen befanden sich mehrere Ehrenfahnen, auf denen ein prachtvolles Register gewonnener und nicht gewonnener Schlachten zu lesen war; der Fürst Kutusow begab sich am nämlichen Abend, wo sie genommen, ins Lager der Garden, und dort ließ er vor jedem Regimente jene stolzen Fahnen tief zur Erde neigen, um die Sieger von Krasnoi zu ehren, und zum Zeichen, daß jene prahlenden Namen seit dem Tage von Krasnoi ihre Bedeutung verloren hätten. Eine unermessliche Beute ward an dem Tage gemacht; der Raub von Moskau, der nicht freiwillig verbrannt worden, war großen Theils schon wieder in den Händen der Russen.

 

Der Rückzug der Franzosen lässt sich überhaupt in drei Perioden theilen, die ungeachtet einer fortwährenden Steigerung, jede einen besondern Charakter tragen, und wovon die erste sich bei

Krasnoi endigt. Die Resultate dieser Periode waren mehr als 40000 Gefangene, worunter 27 Generale, gegen 500 Kanonen, 31 Fahnen und Beute ohne Maaß. Die sogenannte große französische Armee, war zusammengeschmolzen bis auf einige 30000 Mann, unter welchen kaum 10000 Wehrhafte, 25 Kanonen

 

 

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war der Rest der ganzen Artillerie , von Kavallerie war schon längst nicht mehr die Rede; die russische Armee dagegen zählte noch gegen 70000 Mann, worunter über 16000 Mann Kavallerie, und führte gegen 600 Stück Geschütz mit sich.

 

Während Ungemach und Elend aller Art die französische Armee täglich mehr und mehr zu Grunde richtete, und Trauer über die Schmach einer so langen Flucht in der Brust eines jeden Soldaten

war, zeigten die französischen Bülletins noch einen sehr heitern Sinn, und sprachen von dem ganzen Ereigniß mit einer merkwürdigen Unbefangenheit; sie führten Briefe aus Moskau an vom 8ten October

a. St. (Moskau war am 6ten geräumt worden), nach welchen Napoleon mit seinen Garden ruhig und zufrieden fortdauernd in Moskau sich befinde, während abgeschickte Corps sich bereits nach leichtem

Widerstande der Städte Twer, Tula und Kaluga bemächtigt hätten. Von dem Treffen bei Tarutina ward gesagt, daß der König von Neapel den Russen eine derbe Lection gegeben habe , wobei die französische Kavallerie einige ganz außerordentlich schöne Angriffe gemacht hätte; in Hinsicht der Lection, so wusste der König nur zu gut, wer sie gegeben und wer sie bekommen, und was die schönen Kavallerie-Angriffe betrifft, so reduzirten sie sich darauf, daß die französischen Kürassiere und Dragoner von den Kosaken unverschämter Weise übergeritten worden waren. Als endlich vom Rückzuge selbst denn doch die Rede sejn mußte, so erfuhren alle Freunde der Franzosen mit Vergnügen aus dem 25sten Bulletin, daß Napoleon seine Armee in die wohlverdienten Winterquartiere nach dem Gouvernement

 

 

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Smolensk führe, daß die Russen den mit der größten Ordnung ausgeführten Marsch gar nicht

wagten, ernsthaft zu beunruhigen, daß die Armee in der besten Stimmung von der Welt sei und Ueberfluß an allem habe, daß das Wetter die Armee wunderbar begünstige, und daß der Kaiser den Marsch in die Winterquartiere so glücklich und meisterhaft combinirt habe, daß man ihn eigentlich wie eine offensive Operation gegen Petersburg, betrachten könne, indem Smolensk weniger entfernt von Petersburg sey, als Moskau. In solchem Grade hat wohl noch nie ein Bulletin der Wahrheit Gewalt angethan; die fürchterlichste Zerrüttung müsste denn für Ordnung gelten und Verzweiflung eine heitere, fröhliche Stimmung seyn; der Hungerstod müsste aus dem Ueberflusse entstehen, und der Zorn des Himmels eine Begünstigung genannt werden; 10000 Erfrorene und vor Hunger Gestorbene bewiesen hier etwas anderes als Begünstigung! Die französischen Soldaten würden, trotz ihres Elendes, gelächelt haben, hätten sie erfahren, daß ihr unglückseliger Marsch für eine drohende Bewegung gegen Petersburg ausgegeben werde; der einzige, der Wahrheit gemäße Ausdruck, war vielleicht die Benennung wohlverdiente Winterquartiere, denn alle die Greuel, welche über die Armee zusammen brachen, waren mit Gräuelthaten genugsam verdient.

 

Die zweite Periode des Rückzuges fängt bei Krasnoi an und geht bis zur Berezina, ein Raum von ungefähr 26 Meilen. Es schienen im Anfange dieser Periode etwas günstigere Verhältnisse für die französische Armee eintreten zu wollen, denn einmal erwartete sie jenseits des Dniepers

 

 

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die Vereinigung mit dem Victorschen, Dombrowskischen und dem Reste des Oudinotschen Corps, die zusammen über 30000 Mann stark waren, und eine sehr zahlreiche Artillerie mit sich führten, zweitens war die Verfolgung durch das Gefecht am 6ten mit dem Neyschen Corps etwas verzögert und dem gemäss weniger heftig geworden, drittens kam die Armee jetzt in ihre Magazinlinie hinein und in ein Land, daß sie, wie sich verbündet betrachten konnte, und viertens war das Wetter etwas milder geworden; doch alle diese Vortheile sanken vor dem Umstande zusammen, daß die Armee des General Tschitschagow über Minsk vordrang, um an der Berezina die französische Armee in Empfang zu nehmen, und daß der Graf Wittgenstein mit seinem, durch den General Steinheil verstärkten Corps ebenfalls von Tschasnik herannahte, um sich mit der Moldau-Armee in Verbindung zu setzen: durch die Bewegung dieser Armeen kamen die Franzosen in große Gefahr, und zum mindesten stand ihnen eine Wiederholung des Tages von Krasnoi bevor. Napoleon begriff vollkommen das Mißliche seiner Lage, und eilte in Geschwindmärschen der Berezina zu. Als er durch Orscha kam, hatten sich die Deputirten vom Mohilewschen Gouvernement eingefunden, um die Befehle des Kaisers zu vernehmen.

Der Kaiser, sonst für Aufmerksamkeiten dieser Art sehr empfänglich, schickte sie auf der Stelle fort, ohne sie gesehen zu haben, denn er wusste wohl, daß man dergleichen Leute stets imponiren müsse

und daß ein so äusserst bescheidener Aufzug, wie der seinige diesmal war, keine rechte Wirkung machen würde; auch hatte er wohl seine besondern Gründe, warum er seine Armee nicht gerne

 

 

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zur Schau gab, die freilich durch den heftigen Flankenmarsch gegen Petersburg ein wenig von ihrer Haltung verlohren hatte, und der Kälte wegen zum Theil sehr phantastisch in Priester-Gewändern und Frauenröcken gekleidet war.

 

Sobald Napoleon die oben genannten Verstärkungstruppen an sich gezogen hatte, sandte er das Oudinotsche Corp gegen Borisow, welche Stadt der Admiral Tschitschagow besetzt hatte, und warf das Victorsche Corps rechts dem Graf Wittgenstein entgegen; unter dem Schutz dieser Detaschements erreichte er mit der übrigen Armee am 13ten die Berezina, schlug 15 Werst oberhalb Borisow, bei Sembin, eine Brücke, und passirte sie ohne Zeit zu verlieren. Dieser Uebergang über die Berezina wird wegen seiner Schrecknisse lange in dem Gedächtnisse der Soldaten leben; zwei Tage dauerte der Uebergang; gleich vom Anfang drängten sich die Truppen in Unordnung hinüber, denn mit Ordnung geschah schon längst nichts mehr bei der französischen Armee; und schon damals fanden viele im Wasser ihr Grab; doch als die russischen Heere unaufhaltsam vordrangen, und der auf allen Punkten geworfene Feind in wilder Flucht der Brücke zustürzte, da erreichte Verwirrung und Schrecken bald den Gipfel; Artillerie, Bagage und Kavallerie und Infanterie, alles wollte zuerst hinüber, der Stärkere warf den Schwächern, der seine Flucht aufhielt ins Wasser, oder schlug ihn zu Boden, gleichviel ob Offizier ob nicht, viele Hundert wurden von den Kanonen gerädert, viele suchten den kurzen Raum zu durchschwimmen und erstarrten, viele versuchten über die hin und her befindliche Eisdecke zu gehen

 

 

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und versanken, überall Geschrei nach Hülfe und nirgends Rettung; als endlich die russischen Batterien die Brücke und beide Ufer zu beschießen anfingen, hatte der Uebergang ein Ende, eine ganze Division von 7500 Mann vom Victorschen Corps nebst 5 Generalen hatte sich früher schon mit Capitulation ergeben, an der Brücke selbst streckten mehere Tausende das Gewehr, andere Tausend waren ertrunken oder zwischen den Eisschollen in der Gebehrde des Schmerzes oder der Verzweiflung erstarrt, eben so viel erschlagen und eine Menge Kanonen und Bagage blieben verlassen auf dem linken Ufer zurück; dies war das Ende der zweiten Periode, die Resultate derselben waren über 20000 Gefangene, gegen 200 Kanonen und eine unermessliche Beute.

 

Die nähern militärischen Details der Gefechte an der Berezina sind in kurzer Uebersicht, folgende: Die Avantgarde der Moldau-Armee hatte den Brückenkopf bei Borisow, der von 500 Pohlen unter General Dombrowski besetzt war, mit Sturm genommen, die Besatzung theils getödtet, theils gesprengt und marschirte auf der Straße nach Bober, hier stieß sie auf das Oudinotsche Corps, welches im Anmarsch war, um bei Borisow überzugehn, die russische Avantgarde ward nach Borisow zurückgeworfen, man hatte indeß noch Zeit, die Brücke zu verbrennen, so dass nur einige Marketender- und Bagagewagen dem Feinde in dem, au fdem linken Ufer der Berezina gelegenen Theile der Stadt in die Hände fielen. Die Franzosen schlugen nun, 15 Werst oberhalb Borisow, 2 Brücken, über welche Oudinot sogleich ging, das dort zur Beobachtung aufgestellte russische Detachement verdrängte,

 

 

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links gegen Borisow am Ufer hinab marschirte und zwischen Borisow und dem Uebergangspunkte sich zur Dekkung der rückwärts defilirenden französischen Armee in den dichten, mit Morästen durchschnittenen Wäldern aufstellte. Oudinot ward den andern Tag vom General Tschitschagow angegriffen, man schlug sich den ganzen Tag in den Wäldern herum, ohne dass des Terrains wegen etwas dabei herausgekommen wäre, das 29ste Bulletin spricht zwar von großen Siegen an der Berezina und erzählt mit Wohlgefallen von Quaree-Durchbrechung und genommenen Kanonen, das sind alles nur Gebilde der blühenden Imagination französischer Bulletins, denn dichte Wälder sind glänzenden Kavallerie-Angriffen in der Regel nicht sehr günstig, und eben so war die Wirksamkeit der Artillerie nur äußerst beschränkt, es konnte von nichts anderm als Tirailleur-Gefechten die rede seyn; das Victorsche Corps war unterdeß vom Graf Wittgenstein angegriffen worden, man manövrirte und zwar der Marschall Victor mit so vielem Glück, dass die ganze Division Partonneaux von 7500 Mann, die von Borisow gegen den Uebergangsort marschirte, gefangen ward. Das Bulletin erzählt, dass die Division sich im Dunkeln verirrt und um sich in der kalten Nacht zu wärmen, den russischen Wachtfeuern genähert habe, bei welcher Gelegenheit sie gefangen worden sey. Die Geschichte mit dem wärmen und gefangen werden, kann wohl einem Reisenden als Abentheuer zustoßen, aber für eine ganze Division gehört jedoch ein besonders starker Glaube dazu.

 

Es ist gewiss der Triumpf polizeilicher Wachsamkeit, daß überall wo französische Truppen waren, man auch

 

 

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nicht das Geringste von dem Unglücke der französischen Armee bis dahin erfahren hatte. Wilna als Mittelpunkt der neukonföderirten Provinzen und als Sitz aller französischen Behörden, genoß einer vorzüglichen Aufsicht, und ward am längsten in Unwissenheit erhalten; das Publikum glaubte ganz treuherzig an die Wahrhaftigkeit des 25sten Bulletins. Man erschrak zwar, als man vernahm, daß die Moldausche Armee Minsk genommen habe und gegen Borisow zöge, jedoch beruhigten sich die Gemüther wieder so ziemlich, als die Wilnasche Zeitung erzählte, daß der Marsch jener russischen Armee ganz in dem Plane Napoleons läge, und nichts als eine Falle wäre, in die sie zu ihrem Verderben ginge. Als gleich darauf alle Couriere von der Armee ausblieben, so fingen die Bewegungen im Publikum von neuem an; nach 12 Tagen gänzlichen Mangels aller Nachrichten schickte der Herzog von Bassano einen jungen Polen, wie man sagt, als Frau verkleidet, der Armee entgegen. Dieser kehrte nach fünf Tagen zurück und brachte zur allgemeinen Freude aller Franzosen die Nachricht mit, die sogleich die Zeitungen verbreiteten, daß er den Kaiser an der Berezina gefunden habe in der besten Laune von der Welt und im Begriff auf General Tschitschagow loszugehn, der vollkommen in die ihm gelegte Falle gegangen wäre: der Kaiser hätte übrigens nur die Hälfte der Armee bei sich, die andere Hälfte habe er, weil er ihrer nicht bedürfe, bei Smolensk zurückgelassen. Einige Tage später kam Napoleon selbst, und seine heimliche Reise um die Stadt lieferte den gehörigen Commentar zu allen jenen Nachrichten.

 

Die dritte Periode des Rückzuges geht von der Berezina

 

 

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bis zum Niemen, und von da weiter ins Preussische. Obgleich sie für die Franzosen, der Steigerung aller Uebel wegen, die schrecklichste war, so hat sie doch unter allen das wenigste militärische Interesse, denn sie zeigt nichts als eine Jagd längs der großen Straße. Ohngefähr 40000 Mann mit einer noch ziemlich bedeutenden Artillerie waren über die Berezina gekommen, aber in welchem traurigen Zustande waren diese Truppen! Ein neuer heftiger Frost gab ihnen völlig den Rest. Alles warf jetzt beinah die Waffen weg, die Meisten hatten weder Schuhe noch Stiefeln, sondern Decken, Tornister oder alte Hüthe um die Füße gebunden. Jeder hatte das erste beste was er gefunden sich um Kopf und Schultern gehangen, um eine Hülle mehr zu haben gegen die Kälte; alte Säcke, zerrissene Strohmatten, frisch abgezogene Häute etc. , glücklich, wer irgendwo ein Stückchen Pelz erobert hatte; mit untergeschlagenen Armen und tief verhüllten Gesichtern zogen Offiziere und Soldaten in dumpfer Betäubung neben einander her, die Garden unterschieden sich in nichts mehr von den Uebrigen, sie waren wie diese zerlumpt, verhungert und ohne Waffen; alle Gegenwehr hatte aufgehört, der bloße Ruf: Kosack! brachte ganze Kolonnen in kurzen Trapp, und mehrere hundert wurden oft von wenigen Kosacken zu Gefangenen gemacht. Der Weg, den die Armee zog, füllte sich mit Leichen, und jeder Bivouacq glich am andern Morgen einem Schlachtfelde; so wie einer vor Ermattung hinstürzte, fielen die nächsten über ihn her und zogen ihn, noch ehe er todt war, nackt aus, um sich mit seinen Lumpen zu behängen; alle Häuser und Scheunen wurden verbrannt; und auf jeder Brandstätte

 

 

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lagen ganze Haufen von Todten, die , um sich zu wärmen, genaht waren und aus Kraftlosigkeit dem Feuer nicht mehr hatten entfliehen können. Die ganze Landstraße wimmelte von Gefangenen, die Niemand mehr beobachtete, und hier sah man Scenen des Gräuels, wie sie noch nie erlebt worden sind; von Rauch und Schmutz ganz schwarz schlichen sie wie Gespenster auf den Brandstätten unter ihren todten Kameraden herum, bis sie hinfielen und starben. Mit bloßen Füßen, in denen der Brand

schon war, hinkten Manche noch auf dem Wege bewußtlos fort, andre hatten die Sprache verloren und viele waren vor Hunger und Kälte in eine Art wahnsinniger Betäubung gefallen, in welcher sie Leichname rösteten und verzehrten, oder sich selbst Arme und Hände benagten. Manche waren schon so schwach, daß sie nicht einmal mehr Holz heran tragen konnten, diese saßen auf ihren todten Gefährten, dicht gedrängt um irgend ein kleines Feuer, das sie gefunden, herum und starben so wie dieses erlosch. Im Zustande der Bewußtlosigkeit sah man, sie freiwillig ins Feuer hinein kriechen und wimmernd sich verbrennen, in der Meinung sich zu wärmen, und andere ihnen nachkriechen und den nämlichen Tod finden.

 

Von Wilna war die aus Königsberg angelangte Division Loison, ohngefähr 10000 Mann stark, meistens deutsche Truppen, der Armee bis Oszmiana, 7 Meilen von Wilna, entgegen geschickt worden, um von dort aus den Rückzug zu decken. In vier Tagen war diese Division, ohne sich geschlagen zu haben, durch Märsche und Bivouacq bis auf 3000 Mann geschmolzen, und dieser Rest ward vor Wilna theils zusammengehauen, theils gefangen.

 

 

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Drei Regimenter Neapolitanische Garde, worunter zwei zu Pferde, wurden zwei Tage später als jene Division, dem Kaiser entgegen geschickt; am Tage des Ausmarsches war 22 Grad Kälte, die armen Südländer defilirten schon halb erstarrt en parade zum Thor hinaus, nach einigen Stunden war schon der dritte Theil der ganzen Schaar halb todt zurück gebracht, mit erfrornen Händen, Füßen und Nasen.

 

Napoleon, der Wiederhersteller Polens dessen Bulletins noch vor wenigen Wochen gesagt hatten, daß der Donner des französischen Geschützes bereits in Asien gehört werde, ging den 24sten heimlich und in geringer Begleitung durch Wilna. Die Armee defilirte vom 26sten bis 28sten früh, in der fürchterlichsten Unordnung, durch die Stadt, alle Straßen mit Leichen und Sterbenden füllend, und von den Einwohnern bejammert und verspottet zugleich: ja, als der bekannte Schreckensruf: Kosack, den 24sten morgens erscholl und die Soldaten aus den Häusern liefen und nach dem Thore flüchteten, fielen die Juden, mit der ihnen eigenen schreienden Lebhaftigkeit über sie her und erschlugen deren eine große Anzahl. Dieser abentheuerliche Kampf kostete besonders vielen Garden das Leben, denn unter allen Truppen hatten diese ganz vorzüglich die Juden gequält und ihre Rache gereizt. Die Garden hatten in dem ganzen Feldzuge keinen Schuß getan, ihr erster und letzter Strauß war mit erzürnten Juden, das Schicksal fügte es so zur Züchtigung des Stolzes und Uebermuthes. In der Eil des Durchzuges blieb die Stadt von Brand und Plünderung verschont, sie war die erste seit Moskau, die der Verwüstung entging. Von

 

 

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Wilna zogen die Franzosen nach Kowno; kaum 25000 Mann kamen über den Niemen, der größte Theil der noch übrigen Artillerie war schon vor Wilna stehen geblieben, der Rest ging bis Kowno verloren. Das Resultat des Rückzuges durch alle 3 Perioden betrug weit über 100,000 Gefangene, worunter allein 50 Generale und gegen 900 Kanonen.

 

Seit Kowno geht die Verfolgung der Kosaken ihren gewöhnlichen Gang, wenige nur werden die Weichsel erreichen und die, welche sie erreichen, werden ihre Rettung nicht lange überleben; die Kräfte der Soldaten sind zu sehr erschöpft um nicht selbst der Erholung und der Ruhe zu erliegen, wie man es täglich an den Gefangenen erfährt, die oft sogleich nach der ersten guten Mahlzeit sterben.

 

So endigte die stolze Unternehmung Napoleons, so erfüllten sich die Verheissungen, die er im Anfange des Feldzuges mit prophetischen Munde ausgesprochen zu haben vermeinte; nicht Rußland, sondern ihn traf das unvermeidliche Schicksal, das Europa durch seinen Sturz der Freiheit entgegen führt. Sein Ruhm, sein Glück sind gescheitert an der gerechten Sache, die Kaiser Alexander mit so heroischer Ausdauer vertheidigte; und über seine Armee ist Gericht gehalten worden, nach dem Maaße ihrer Ruchlosigkeit.

 

Geschrieben zu Wilna, den 10. Dec. a. St. 1812

 

 

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Die weiteren Beiträge zu größerer Verständlichkeit des Rückzuge der Franzosen (Seite 27 bis 46 des Werkes) können in der vom MDZ digitalisierten Fassung des Werkes unter folgendem Link eingesehen werden:

https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10408043?page=31 oder in der Bayerischen Staatsbibliothek Standort: München -- Eur. 583

urn:nbn:de:bvb:12-bsb10408043-5

 

 

Quelle:

Ernst von Pfuel: Rückzug der Franzosen bis zum Niemen. Gedruckt bei Pluchart und Comp. St. Petersburg 1813.

 

 

 

 

 

 

 

W. Weymarn 1914: Barklay de Tolly und der vaterländische Krieg 1812

 

Barklay de Tolly und der vaterländische Krieg 1812

 

Von F. W. von W . . . . n

 

Mit einem Porträt und einer Karte des Kriegsschauplatzes

 

Reval Franz Kluge’s Verlag 1914

 

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Abb.: General-Feldmarschall Fürst Barclay de Tolly

Nach dem im Winterpalais befindlichen Gemälde von Dawe

 

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Barklay de Tolly und der vaterländische Krieg 1812

 

Von F. W. von W . . . . n

 

Mit einem Porträt und einer Karte des Kriegsschauplatzes

 

Reval

Franz Kluge’s Verlag

1914

 

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Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei, F. Mitzlaff, Rudolstadt.

 

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Es ist dem Verfasser nicht vergönnt gewesen, die Beendigung des Drucks dieser Arbeit zu erleben, zu welcher er wie vielleicht kein anderer berufen erschien. Dem großen Feldherrn nahe verwandt, hatte er die Möglichkeit, seine Aufzeichnungen und Briefe zu benutzen und dadurch das Charakterbild seines Helden auch nach der rein menschlichen Seite zu erweitern und zu vertiefen.

 

Der Drucklegung hat das prüfende Auge des Verfassers gefehlt, doch ist dank freundlicher Beihilfe von berufener Seite diesem Mangel nach Möglichkeit abgeholfen worden, wofür den Herren Oberlehrer Hugo Lehbert und Georges Baron Wrangell auch an dieser Stelle Dank gesagt sei. Herr Lehbert hat zugleich durch Übertragung des ursprünglich russisch abgefaßten Manuskrips hervorragenden Anteil an dem Zustandekommen vorstehender Arbeit genommen.

 

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I.

Der Friedensvertrag oder besser der Freundschaftsbund Rußlands mit Frankreich, am 25. Juni und 7. Juli 1807 in Tilsit geschlossen, erwies sich als so wenig dauerhaft, daß er schon nach einem Jahre in Erfurt erneuert werden mußte. Von Napoleon war keine Aufrichtigkeit zu erwarten, wenn er den Kaiser Alexander zu einer neuen Zusammenkunst aufforderte und dabei versicherte, daß der Tag der Ankunft des russischen Monarchen in Paris für ihn wohl der schönste in seinem Leben sein würde 1), so hatte er dafür seine Gründe: die Angelegenheiten in Spanien, wo er die Bourbonen zugunsten seines Bruders Joseph stürzen wollte, begannen eine sehr ernste Wendung zu nehmen. Um diese Angelegenheiten zu ordnen, war es notwendig, sich eine Sicherung gegenüber Österreich zu schaffen, und dazu bedurfte Napoleon der Mitwirkung Rußlands.

 

Zu gleicher Zeit träumte er von einem Feldzuge nach Indien mit einem russischen Hilfskorps von 20000 bis 25000 Mann 2). Aber auch Alexander, damals im Kriege mit der Türkei und Schweden, willigte in die neue Zusammenkunst, weil er das Bündnis mit Napoleon für unumgänglich nötig erachtete; die persönlichen Gefühle der Bewunderung, die er nach der Tilsiter Zusammenkunst Napoleon gegenüber hegte, hielten nicht lange an; das geht aus den Worten deutlich hervor, die er bald nach seiner Rückkehr nach Petersburg dem französischen Gesandten Savary sagte: „Man spricht davon, daß der Kaiser mir Versprechungen macht, die er gar nicht halten will, und daß sein Verhalten sich ändern wird, sobald er von mir alles erreicht

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1) Napoleons Instruktion an seinen Gesandten in Petersburg, im Februar 1808. 2) Thiers, Teil VIII, S. 172.

 

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hat, was er wünscht 1).” — Wie richtig der russische Monarch schon damals seinen Freund durchschaut hat, geht auch aus seiner Antwort an den Fürsten Wolkonski hervor, der ihm nach der Rückkehr aus Frankreich folgende Worte Napoleons überbrachte: „Sagen Sie Ihrem Herrn und Kaiser, daß ich sein Freund bin; bleiben wir verbündet, so wird die Welt und gehören; wir können sie wie einen Apfel in zwei Hälften teilen, und jeder wird eine Hälfte erhalten.” Darauf antwortete Alexander ironisch: „Anfangs wird er sich vielleicht mit einer Hälfte des Apfel begnügen, aber später wird er sicherlich die Neigung verspüren, auch die andere Hälfte zu nehmen.”

 

Im September 1808 trafen beide Monarchen in Erfurt zusammen. Dort bestätigten sie ihren scheinbaren Bundesvertrag von neuem und verpflichteten sich gegenseitig, im voraus ihre Einwilligung zu geben: 1. dazu, daß Rußland eventuell die Donaufürstentümer erwerben und 2. dazu, daß die Napoleonische Dynastie den Thron von Spanien besteigen solle. — Bei dieser Gelegenheit gelang es Alexander doch, das Los Preußens ein wenig zu erleichtern. Schon vorher hatte er so energisch den Vorschlag zurückgewiesen, Frankreich Schlesien an Stelle der abgetretenen Donaufürstentümer zu überlassen 2), daß Napoleon ihn durch die Zusicherung zu beruhigen eilte, er habe diesen Gedanken schon aufgegeben 3). Nunmehr gelang es ihm, eine Verminderung der Kontributionen um 20 Millionen Frs., einen Aufschub der Bezahlung durchzusetzen und außerdem das Versprechen zu erzwingen, daß die französischen Truppen das preußische Gebiet räumen sollten. Was aber Österreich betraf, so führten die Versuche, den Kaiser Alexander gegen dasselbe einzunehmen, nur zu einem sehr unbestimmten Versprechen einer Mitwirkung im Falle einer österreichischen Kriegserklärung an Napoleon. Auf diese Weise war der Hauptzweck der Erfurter

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1) Thiers, Teil VIII, S. 172

2) Memoires du Prince de Talleyrand, Teil I, S. 395.

3) Brief vom 2. Februar 1808, Die Korrespondenz Napoleons I. Teil I.

 

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Komödie nicht erreicht worden. Napoleon selbst erwies sich als getäuscht. „Der Kaiser Alexander ist geneigt, alles zu tun, was ich will” 1), sagte er an Talleyrand am ersten Tage der Zusammenkunft. Vor seiner Abreise aber äußerte er sich ganz anders: „Ich habe nichts bei dem Kaiser Alexander durchsetzen können; übrigens schon das Faktum unserer Zusammenkunft hat Österreich in Schrecken gesetzt; es denkt, wir hätten einen Geheimvertrag geschlossen, und ich werde Österreich natürlich nicht eines anderen belehren“ 2). Nach einem 17tägigen Aufenthalt in Erfurt trennten sich die Monarchen, um sich nie mehr wiederzusehen.

 

Die darauffolgenden Ereignisse, einerseits der Krieg Rußlands mit Schweden und die von Rußland nach langer Waffenruhe erneuerten Kriegsoperationen auf dem Balkan, andererseits der unerwartete Widerstand, auf den Napoleon in Spanien stieß, und der im Jahre 1809 entbrannte Krieg mit Österreich, nahmen das Interesse der beiden Kaiser so sehr in Anspruch, daß ihre persönlichen Beziehungen allmählich abzukühlen begannen und in der Folge sogar scharfe Gegensätze zutage traten. Napoleon schätzte das Bündnis mit Rußland nur bis zur endgültigen Unterwerfung von Zentral-Europa; als aber dieses Ziel erreicht war, wurde der Bundesgenosse zum Nebenbuhler und damit zugleich auch zum Gegner. „Nach fünf Jahren werde ich die Welt beherrschen,“ sagte Napoleon nach dem Frieden zu Schönbrunn, „nur Rußland ist übrig geblieben, aber ich werde es zermalmen“ 3).

 

In diesen Worten liegt der Schlüssel zu seiner ganzen späteren Politik. Diese Politik war eine rein persönliche, und darum spielten persönliche Gefühle in ihr die Hauptrolle: Dies zeigt sich auch im Verhalten zu Rußland, als ein Umstand eintrat, der im eitlen Korsikaner Haß und Rachsucht weckte.

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1) Memoires du Prince de Talleyrand, Teil I, S. 423.

2) Daselbst S. 439.

3) Dans cinq ans je serai le maitre du monde; il ne reste que la Russie, mais je l’écraserai. Garden, Histoire des traités de paix.

 

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Schon in Erfurt hatte der französische Kaiser, da er ohne Thronerben war und daher beschlossen hatte seine erste Ehe aufzulösen, den Wunsch ausgedrückt, sich mit dem russischen Kaiserhause zu verschwägern; aber während der Verhandlungen wurde die Großfürstin Katharina Pawlowna in aller Eile mit dem Prinzen Georg von Oldenburg verlobt. Napoleon wollte diese Absage nicht begreifen, und nach einem Jahr richtete er sein Augenmerk auf die andere Schwester Alexanders, Anna Pawlowna; er erneuerte seinen Vorschlag, aber auch dieses Mal fand sich ein störendes Hindernis: die Großfürstin war noch zu jung. Ohne eine endgültige Antwort abzuwarten, wandte sich der gekränkte Kaiser an den österreichischen Hof, denn hier konnte er auf Erfüllung seiner Wünsche rechnen.

 

Der erste äußere Anlaß zur Entzweiung zwischen Rußland und Frankreich war die Vereinigung von Westgalizien mit einer Bevölkerung von mehr als 1½ Millionen mit dem Herzogtum Warschau. Nun begann der Petersburger Hof Unterhandlungen in der Absicht, die Wiederherstellung des polnischen Königtums zu verhindern. Anfangs verhielt sich das Kabinett der Tuilerien recht wohlwollend, es kam die Antwort aus Frankreich, der Kaiser Napoleon sei bereit, sogar darauf hinzuwirken, daß der Name Polen für immer aus den Staatsakten und der Geschichte verschwinde 1). Als die abgeschlossene Konvention aber nach Paris gesandt wurde, verweigerte Napoleon die Ratifikation; das war die erste Rache seiner beleidigten Eigenliebe. Nun aber erfolgte eine lange Reihe von Vorwürfen und Beschuldigungen. Rußland habe sich zu wenig am Kriege 1809 beteiligt; es führe die Kontinentalsperre nicht mit genügender Strenge durch; es habe in dem Traktat von Fredrikshamn versprochen, mitzuwirken, daß einige Bestimmungen dieses Systems zugunsten Schwedens verändert würden usw. Aber bei Napoleon hatten solche Beschuldigungen immer einen doppelten Zweck: für die Zukunft bereiteten sie einen schon längst beschlossenen Krieg vor,

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1) Die Depesche des französischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten vom 14. Oktober 1809.

 

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aber im Augenblick dienten sie zur Rechtfertigung verübter Gewalttaten. So geschah es auch in diesem Fall. Indem er Alexander verschiedene unkorrekte Handlungen vorwarf, erlaubte Napoleon sich selbst Handlungen, die an Willkür alle früheren übertrafen.

 

Im Juli 1810 wurde Holland mit dem französischen Kaiserreich verbunden; im November traf dasselbe Geschick die Republik Wallis. Anfang Dezember erklärte Napoleon die Hansastädte und das ganze Ufer an der Nordsee bis zur Elbe als ein Eigentum Frankreichs, und am Ende desselben Monats wurde der Herzog von Oldenburg seiner Besitzungen beraubt.

 

Diese letzte Maßregel war zum Teil gegen den russischen Monarchen gerichtet, da das Herzogtum Oldenburg, nachdem es in den Besitz der jüngeren Linie des Hauses Holstein-Gottorp gelangt war, falls diese Linie erlosch, der kaiserlich russischen Dynastie zufallen sollte. Trotzdem erfolgten auf die Vorstellungen unseres Gesandten nur ausweichende Antworten: „Kaiser Napoleon wird alles Mögliche tun, um den Herzog zu entschädigen; kleine Staaten könnten ihre Selbständigkeit nicht bewahren, sobald diese Selbständigkeit den Interessen der großen Staaten zuwider liefe” und ähnliche Phrasen. Da protestierte der Kaiser Alexander in einer förmlichen Deklaration, die auch an alle europäischen Höfe versandt wurde. Es ist bemerkenswert, daß es bei der allgemeinen sklavischen Furcht vor Napoleon den russischen Gesandten sehr viel Mühe kostete, den schriftlichen Protest den Höfen zu übermitteln, an denen sie akkreditiert waren. Diese Deklaration konnte als Akt politischer Selbständigkeit Napoleon nur reizen. Aber noch höher stieg sein Unwillen infolge einer Maßnahme der inneren Verwaltung, die gleichzeitig mit den vorhererwähnten bekannt wurde; dieses war der Tarif vom 9. (21.) Dezember 1810. Das Kontinentalsystem beraubte Rußland der Möglichkeit, seine Rohprodukte auf dem Seewege abzusetzen und zwang es daher, seine Manufaktur- und Kolonialwaren sehr teuer zu bezahlen. Für Napoleon aber war das Kontinentalsystem nicht nur wichtig als Kampfmittel

 

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gegen England, sondern es gab ihm auch die Möglichkeit, sich in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzumischen und beständig neue Forderungen an sie zu richten. Es ist daher begreiflich, mit welchem Unwillen Napoleon vom neuen russischen Tarif hörte, laut welchem der Zoll auf Kolonialwaren ermäßigt wurde, während die Luxusartikel, die hauptsächlich in Frankreich produziert wurden, entweder sehr stark verzollt oder überhaupt ganz verboten wurden. All diese Umstände steigerten das gegenseitige Mißtrauen der beiden Monarchen; Leute von politischem Scharfblick hatten schon längst erkannt, daß Napoleon den Konflikt suche, und daß es früher oder später zum Kriege kommen müsse. Auch Kaiser Alexander, obgleich er die Ansichten der Pessimisten nicht völlig teilte, sah doch die Notwendigkeit ein, sich auf einen eventuellen Kampf vorzubereiten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, wurde Barklay de Tolly berufen.

 

 

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II.

 

Barklay de Tolly genoß schon damals den Ruf eines ausgezeichneten Generals; in der Armee und in der Gesellschaft sprach man mit großer Achtung von ihm, und selbst seine späteren Gegner: Benningsen, Bagration, Fürst Araktschejew gehörten zu seinen Verehrern. Seine Teilnahme am Kriege 1806 — 1807 verschaffte ihm die erste größere Anerkennung. Das Avantgardegefecht bei Kolosomb, wo er mit einer kleinen Abteilung dem Ansturm zweier französischer Korps erfolgreich widerstand, die Schlacht bei Pultusk, in der er zum Siege so viel beitrug, die geschickten Operationen der Nachhut, durch die er den langsamen Rückzug der Armee deckte, endlich die heldenmütige Verteidigung von Preuß.-Eylau am 27. Januar (8. Februar), wo eine feindliche Kugel ihm das Handgelenk der rechten Hand zerschmetterte — das alles waren glänzende und ungewöhnliche Heldentaten. Napoleon wünschte sogar den Namen des Generals zu erfahren, der ihm mit so viel Kühnheit und Geschick den Weg von Allenstein bis Eylau versperrt hatte, und auch der Kaiser Alexander, der Ende März auf dem Kriegsschauplatz erschien und das preußische Königspaar in Memel besuchte, wo Barklay de Tolly seine schwere Wunde behandeln ließ, beschränkte sich nicht auf offizielle Versicherungen seines Wohlwollens 1), sondern besuchte ihn mehrmals in Person und unterhielt sich längere Zeit mit ihm. Diese persönliche Annäherung des Monarchen an Barklay hatten auf der einen Seite volles Vertrauen und auf der anderen Seite eine grenzenlose Ergebenheit geweckt. Die Folgen davon waren bedeutend: Alexander

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1) Es wurde ihm der St. Georgs-Orden 3. Klasse und der Wladimirs-Orden 2. Klasse verliehen; außerdem wurde er zum Generalleutnant und zum Kommandeur der V. Division ernannt.

 

 

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hatte den Mann kennen und schätzen gelernt, dem er nach einigen Jahren das Schicksal des Vaterlandes anvertraute.

 

In derselben Zeit hatte Barklay de Tolly eine interessante Unterredung mit dem bekannten Historiker Niebuhr. Hier hat Barklay sehr bemerkenswerte Ansichten darüber ausgesprochen, wie man im Kriege gegen Napoleon operieren müsse. „Sobald Napoleon die Grenzen Rußlands überschreiten sollte, müssen wir ihn,“ sagte er zu Niebuhr, „durch einen geschickten Rückzug dazu veranlassen, sich von seiner Operationsbasis immer weiter zu entfernen. Wir müssen ihn durch kleine kriegerische Operationen ermüden, und ihn immer tiefer ins Innere des Reiches locken, aber dann mit den aufgesparten kriegerischen Kräften und mit Unterstützung des Klimas, sollte es auch hinter Moskau sein, ihm ein neues Poltawa bereiten“ 1).

 

Diese Worte hatte sich Niebuhr eingeprägt, und als es im Jahr 1812 bekannt wurde, daß Barklay zum Oberkommandierenden ernannt worden wäre, teilte Niebuhr die früheren Äußerungen Barklays dem General Dumos mit und der letztere übermittelte sie dem Marschall Berthier 2).

 

Der Krieg von 1808 gegen Schweden berief Barklay, dessen Wunde kaum geheilt war, zu neuen Heldentaten. Besonderen Ruhm verschaffte ihm Anfang 1809 der glänzend ausgeführte Zug des russischen Korps über das Eis des Botnischen Meerbusens aus Finnland nach der schwedischen Stadt Umeo. Dieser schwierige Übergang — die Strecke betrug 110 Werst, — wurde durch die Meerenge von Quarken über eine weite Schneewüste ausgeführt, wo es gar keine Anhaltspunkte zum Orientieren gab, wo aber gewaltige Eismassen den Weg versperrten und noch dazu bei einem Frost von 15° und einem schneidenden Wind, der einem fast den Atem raubte. Bisweilen schritten die Soldaten in einem dichten Nebel wie in einer eisigen Wolke. Die Biwakfeuer der letzten Haltestelle und die ersten Schüsse

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1) M. Dumos, Souvenirs, Teil I, S. 416—417.

2) Dumos setzt aber voraus, daß diese Worte sicherlich Napoleon mitgeteilt wurden.

 

 

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unserer Kosaken machten auf die Bewohner einen unglaublichen Eindruck; niemand hielt es für möglich, daß russische Truppen aus Finnland übers Meer gelangen könnten, und selbst Graf Cronstedt, der kurz vorher einen Teil seiner Truppen beurlaubt hatte, erklärte das Erscheinen der Russen für ein Wunder. Es war daher nicht zu verwundern, daß er sofort Parlamentäre den Russen entgegensandte und darauf selbst erschien, um zu unterhandeln. Barklay de Tolly ging darauf ein, aber nur unter der Bedingung, daß die Schweden ihm sofort die Stadt Umeo mit allen Kriegs- und Proviantvorräten übergeben sollten. Zu gleicher Zeit verlangte er, daß sie das ganze Gebiet von Westerbotten bis Hernösand, etwa 220 Werst südlich von Umeo abtreten sollten. Am selben Tage (10. März) zogen unsere erschöpften Truppen in die Stadt ein und fanden hier außer Kriegsbeute die verschiedensten Vorräte. Um anderen Tage kam auch das letzte russische Regiment an, und Barklay, der noch aus Finnland drei Regimenter des Expeditionskorps erwartete, begann sich zu neuen Operationen vorzubereiten. Aber schon am 12. März änderte sich die Sachlage vollständig; ein Bote brachte vom Oberkommandierenden die Nachricht vom plötzlich geschlossenen Waffenstillstand und den Befehl, sofort nach Finnland zurückzukehren. Die Tatsache des Waffenstillstandes teilte ihm auch bald darauf der schwedische General Cronstedt mit. Allein Barklay de Tolly hielt es nicht für nötig, mit der Rückkehr zu eilen, so daß die erste Staffel seines Expeditionskorps erst am 15. März ausrückte, die Nachhut aber erst am 17. Zugleich gab er den Schweden die Kriegsbeute zurück und ermahnte seine Truppen durch einen besonderen Heeresbefehl, „nicht den erworbenen Ruhm zu beflecken und lieber im fremden Lande ein Andenken zu hinterlassen, das die Nachkommenschaft in Ehren halten würde.” Und sie gehorchten ihrem Befehlshaber, diese Helden von Quarken. Das geht aus den Worten Barklay de Tollys hervor: „Bei unserm Abzuge aus Umeo erschien der Gouverneur in Begleitung des Magistrats und der Deputationen bei mir, dankte für die Ordnung

 

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und Disziplin, die unsere Truppen beobachtet hätten; in seiner Rede sagte er, das Benehmen unserer Truppen würde bei ihm und seinen Mitbürgern im besten Andenken stehen. Ich muß gestehen, in diesem Moment fühlte ich mich glücklich.”

 

So endete die in der Geschichte geradezu beispiellose Expedition über den Quarken — eine Unternehmung, die den russischen Truppen und ihrem Führer so hohen Ruhm erwarb. Die erreichten Resultate aber waren noch viel bedeutender, als man erwarten konnte. Abgesehen vom moralischen Eindruck, der die schwedische Regierung zu einem eiligen Friedensschluß bewog, hatte diese glückliche Operation auch auf dem Kriegsschauplatz unmittelbare Folgen: Graf Schuwalow griff den General Grippenberg von Torneo aus an. Als Grippenberg am 13. (25.) März die Nachricht erhielt, daß die Russen in seinem Rücken die Stadt Umeo genommen hätten, sah er sich gezwungen, die Waffen zu strecken.

 

Kaiser Alexander ernannte Barklay, um ihm seine Anerkennung auszudrücken, zum General der Infanterie, obgleich Barklay zu den jüngsten Generalleutnants gehörte. Aber das Wohlwollen des Monarchen beschränkte sich nicht darauf, gleich darauf ernannte er ihn zum Oberkommandierenden der finnländischen Armee und zwei Wochen später zum Generalgouverneur von Finnland. Einem so bescheidenen Menschen wie Barklay erschien diese Ernennung als eine vorzeitige und unverdiente, so daß Graf Schuwalow ihm schrieb: „Ich kann Sie versichern, man hat Sie nur nach Verdienst gelohnt, und Ihre Expedition ist ein Gegenstand allgemeiner Bewunderung.“ — Die neuen Ernennungen ängstigten sogar Barklay; er kannte die Menschen und begriff sehr gut, daß ein solcher Erfolg leicht Neid und Feindschaft wachrufen könnte. Er kannte auch die Kunst Araktschejews, den Monarchen gegen selbständige Charaktere einzunehmen, die er ja auch selbst in seinem kurzsichtigen Hochmut nicht ertragen konnte. Von solchen Gefühlen bewegt, schrieb Barklay an Kaiser Alexander einen Brief, in welchem er den Monarchen bat, ihm sein volles Vertrauen zu

 

 

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bewahren, auch wenn seine Neider seine Handlungsweise ungünstig beurteilen und deuten würden 1).

 

Auf diesen Brief erfolgte die außerordentlich gnädige Antwort: „Als ich Ihnen das Kommando über die finnländische Armee übertrug, habe ich mich nur von dem Gefühl der Gerechtigkeit und der Achtung vor Ihrer kriegerischen Begabung und Ihren persönlichen Eigenschaften leiten lassen. Da Ich also dafür so gute Gründe habe, so kann meine Meinung über Sie sich niemals ändern. Diese meine Meinung genügt, um jeden Neid niederzuschlagen, wenn sich solch ein Neid jemals gegen Sie zu erheben wagen sollte” 2).

 

Auf diese Zeit bezieht sich auch das allerhöchste Reskript mit der Ernennung Barklays zum Generalgouverneur von Finnland, wo unter anderem gesagt ist: „Da ich Ihr eifriges Streben nach dem Guten und Ihre liberalen Grundsätze kenne, bin ich überzeugt, daß diese Ernennung den allergünstigsten Einfluß auf das allgemeine Wohl des ganzen Landes und seiner Bewohner haben wird.” Die Worte „liberalen Grundsätze” könnten manchem als nicht im Einklang mit dem stoischen Charakter Barklays erscheinen; wenn man aber in diesen Worten nichts weiter als die unbedingte Achtung für die Menschenwürde und die Rechte eines jeden, ferner den Abscheu vor der Anwendung des Rechts des Stärkeren und jenen wahrhaft edlen Sinn für Reformen erblickt, der nach Vervollkommnung strebt, so war er wirklich ein liberaler Mensch und bewies es nicht nur in seinen Beziehungen zu den Menschen, sondern auch in allen Handlungen seiner administrativen Tätigkeit.

 

Der Friede mit Schweden wurde am 5. (17.) September in Fredrikshamn unterschrieben. Rußland erwarb ganz Finnland

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1) Brief Barklay de Tolly vom 12. Mai 1809.

2) Die Antwort vom 23. Mai 1809: „En vous appelant au commandement de mon armée en Finlande, je n’ai suivi que le mouvement de la justice et de l’estime, que j'ai concu pour vos talents militaires et votre caractere personnel. Fondée sur ces motifs, mon opinion sur votre compte ne saurait jamais varier; seule elle suffira pour repousser l’envie si jamais elle osait s’elever contre vous.“

 

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mit den Alandsinseln, die politische Grenze des Reiches führte im Westen längs der Meerenge Alands-Haf, dem Bottnischen Meerbusen, den Flüssen Torneo und Umeo und war so bis zu den äußersten natürlichen Grenzen vorgeschoben worden. Dadurch war ein für allemal einer Erneuerung der seit Jahrhunderten geführten Kriege, unter denen Finnland am meisten gelitten hatte, ein Riegel vorgeschoben. Aber darauf beschränkten sich die Verdienste Alexanders nicht: er hatte nicht nur ein Land erworben, welches nach seiner geographischen Lage zu Rußland gehören mußte, sondern er verstand es auch, die Herzen seiner Bewohner zu gewinnen. Weil er wohl einsah, daß die Macht allein nichts Dauerndes schaffen kann, so strebte er nach einer solchen Vereinigung, die auch den Interessen Finnlands entsprach und die den früheren Gegner in einen treuen Bundesgenossen verwandeln würde, der sich des Segens der zukünftigen Friedensära unter dem Schutz des mächtigen Reiches vollkommen bewußt sein würde. Das war nicht nur eine humane, sondern auch eine weise Politik, ähnlich wie die, von der sich Peter der Große hatte leiten lassen, als er, zum Herren eines unterworfenen Landes geworden, die Verbindung des neuen Landes mit dem Reiche dadurch zu befestigen suchte, daß er der neuen Provinz ihre Religion, ihre Sprache ließ und ihr das Recht verlieh, ein selbständiges Leben, das sich durch Jahrhunderte eigenartig entwickelt hatte, weiterzuführen.

 

Die Tätigkeit Barklays in Finnland, das nun ein organischer Bestandteil des Reiches geworden war und in eine neue politische Ära friedlicher Entwicklung eintrat, war nicht von langer Dauer. Nach einigen Monaten wurde er nach Petersburg berufen, und den 20. Januar 1810 übernahm er den damals so wichtigen Posten eines Kriegsministers. Barklay de Tolly war damals 48 Jahre alt, aber nach seinem Aussehen zu urteilen erschien er viel älter. Es war die Folge seiner schweren Leiden während der langwierigen Heilung seiner Wunde. Übrigens ist er von diesem Leiden niemals völlig befreit worden.

 

 

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Er war nie mehr imstande, die verwundete Hand frei zu bewegen, und selbst, nachdem der Verband entfernt war, mußte er immer für die kranke Hand nach einem festen Halt suchen oder sie mit der linken Hand stützen, auch ein Pferd konnte er ohne fremde Hilfe nicht besteigen. Das bleiche längliche Antlitz trug einen Zug von Strenge und Nachdenklichkeit, aber zugleich lag im Ausdruck ungemein viel Wohlwollen; frühzeitige Runzeln durchquerten die offene hohe Stirn, die Energie und Gedankentiefe verriet. Barklay war von hohem Wuchs und hielt sich sehr gerade; in seinem ganzen Äußeren offenbarte sich eine gewisse natürliche Majestät und Würde, die ganz besonders im Kampf während der Schlacht auffiel, wenn er inmitten von Gefahr und Aufregung unbeweglich auf seinem Rosse saß, ruhig den Gang der Schlacht verfolgte und kaltblütig seine Befehle erteilte; in solchen Augenblicken weckte er in der Umgebung unwillkürlich Bewunderung, und dann schien es allen, wie einer seiner Adjutanten erzählt, als ob seine unbewegliche Figur vor ihren Augen wachsen würde 1).

 

In seinem Verkehr war Barklay einfach, höflich gegen alle und herablassend freundlich gegen die Untergebenen 2); aber im ganzen hielt er sich von den Menschen fern und trat selten mit irgend jemand in ein näheres Verhältnis. Die Verschlossenheit, die in seinem Charakter lag, wurde nach den Ereignissen des Jahres 1812 noch auffallender, so daß einer seiner Zeitgenossen das richtige Urteil fällt: Barklay, damals von ganz Rußland gehaßt, geschmäht und verspottet, habe niemals auch nur mit einem Worte der Unzufriedenheit und der Rechtfertigung seinem Herzen Luft gemacht, und selbst später, als seine Unschuld und seine großen Verdienste Anerkennung fanden,

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1) Löwenstern, Denkwürdigkeiten eines Livländers, Teil I, S. 227.

2) In den ersten Tagen des Mai 1808 schrieb S. P. Liprandi, der, zum Kolonnenführer ernannt, sich bei Barklay meldete, in seinem Tagebuch: „Da ich bis zu dieser Zeit noch keine schlachterprobten Generale gesehen hatte, so war ich überrascht von seiner Einfachheit und Höflichkeit, die in jedem eine ganz besondere Hochachtung weckte.”

 

 

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habe er nie davon gesprochen 1). Und in der Tat, wenn sich die Briefe an seine Frau nicht erhalten hätten, so hätte man nie von den inneren Kämpfen, die er während der Zeit des schweren vaterländischen Krieges durchlebte, erfahren. Mit den ihm nahestehenden Persönlichkeiten war Barklay niemals familiär, aber er nahm den innigsten Anteil an ihrem Geschick. „In den entscheidenden Augenblicken der Schlacht” erzählt Löwenstern, „das Auge auf das Ganze gerichtet, achtete er nicht der Kugeln, die um ihn einschlugen und seine nächste Umgebung tödlich oder schwerverletzend trafen. Aber waren jene Augenblicke vorüber, so war er ganz der teilnehmende Freund, der hilfreiche Vorgesetzte, dem die Leiden seiner Untergebenen und Dienstbefohlenen gerade zum Herzen gingen” 2). Er liebte die Soldaten und sorgte aufs Beste für sie, und nie hörten sie ein Schimpfwort aus seinem Munde 3). Unerbittlich war er nur, wenn die Soldaten die Disziplin verletzten oder die friedlichen Bewohner des feindlichen Landes beleidigten und maltraitierten. Seine Fürsorge erstreckte sich auch auf die Offiziere, deren kümmerliche materielle Lage er sich sehr zu Herzen nahm. In einer seiner Denkschriften an den Kaiser finden wir die Worte: „Es ist unbedingt notwendig, das Los unserer Offiziere und Unteroffiziere zu bessern, denn sie befinden sich in einer schlimmeren Lage als die Soldaten, für diese muß nur eine bessere persönliche Behandlung verlangt werden, d. h. es muß gefordert werden, daß man sie für wirkliche Menschen hält, die Gefühle und Patriotismus besitzen“ 4). Barklay war sehr streng im Dienst, zugleich aber auch durchaus gerecht; gegen die Jungen war er noch nachsichtig, aber von den höheren Chargen verlangte er die strengste Pflichterfüllung. Auch liebte er nicht

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1) Die autobiographischen Aufzeichnungen des Jegor Feodorowitsch von Bradke.

2) Denkwürdigkeiten eines Livländers, Teil I, S. 231.

3) Die Erinnerungen Bulgarins.

4) Eingabe Barklays an Kaiser Alexander vom 22. Januar 1812: „Il faut améliorer le sort de nos officiers et bas-officiers, qui sont vraiment plus mal à leur aise que nos soldats, car pour ces derniers, il ne leur faut q’un meilleur traitement.“

 

 

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viel Worte zu machen, ebensowenig mochte er die Prahlerei leiden, alles prahlerische Wesen verachtete er; tollkühnen Wagemut schätzte er ebensowenig, aber dem ruhigen Mut gab er immer den Vorzug vor der hitzigen Tapferkeit. In seiner Lebensweise und in seinen Gewohnheiten unterschied er sich von seinen Zeitgenossen nicht minder wie in den Eigenschaften seines Charakters. Barklay mußte, da er kein Vermögen besaß, sehr einfach leben, aber er sah darin keine Entbehrung. Obgleich er sich den Luxus verbieten mußte, freilich aber auch kein Bedürfnis danach empfand, war er doch zugleich ein gastfreier Wirt; allerdings traf man in seinem Hause nicht auf jenes breite behagliche Wohlleben, welches damals in den Augen der meisten gleichsam als ein unumgängliches Erfordernis eines hohen Standes galt; aber er fand kein Vergnügen darin, seine Dienstgenossen und seine Untergebenen um sich zu sehen und während der Mahlzeit die Meinungen der Jugend anzuhören; an diesen Gesprächen beteiligte er sich selbst nur wenig, aber er folgte ihnen aufmerksam und drückte von Zeit zu Zeit seine Zustimmung durch ein beifälliges Lächeln aus 1). Überhaupt liebte er die Einfachheit und betrachtete die Bücher und die Studien für den besten Zeitvertreib und fand im Familienleben und in der Erfüllung seiner Pflicht seine volle Befriedigung. Ohne ernste gute Lektüre konnte er gar nicht leben. Gewöhnlich machte er Anmerkungen in den Büchern, die er las; und wie sehr er sie liebte, sehen wir u. a. aus einem Brief an seine Frau, den er 1812 aus Tula schrieb, als er an Leib und Seele krank die Armee verlassen hatte und auf seine Dienstentlassung wartete: „Ich rechne auf nichts mehr”, schrieb er ihr am 1. Oktober, „auch nicht darauf, daß Rücksicht genommen werden wird auf meine mehr als 30jährigen ehrenvollen Dienste; — bereite Dich auf eine einsame und karge Lebensweise, verkaufe alles was Dir überflüssig scheinen wird, nur nicht meine Bibliothek, Kartensammlung und einige Handschriften in meinem Bureau. Der Mensch bedarf nicht viel und kann selbst bei einem dürftigen

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1) Aus den Erzählungen S. P. Liprandis.

 

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Auskommen glücklich sein, wenn ihm nur das Herz ruhig schlägt und er Mut genug hat, sich über das Gewöhnliche auszusetzen.” Diese Ansichten Barklays entsprachen nur wenig den Anschauungen der damaligen Zeit, in der ein glänzendes Äußere, gewandte Phrasen eine größere Bedeutung besaßen und den Weg zu einer guten Karriere ebneten. Es ist daher nicht zu verwundern, daß sogar der scharfsinnige Jermolow uns eine keineswegs richtige Charakteristik gibt. „Barklay de Tolly paßte nicht an den Hof, er verstand nicht die Personen, die dem Kaiser nahe standen, für sich zu gewinnen, infolge seiner kühlen Zurückhaltung gelang es ihm weder die Freundschaft der Gleichgestellten noch auch die Anhänglichkeit der Untergebenen zu gewinnen. Vor seiner Rangerhöhung besaß er ein sehr bescheidenes Vermögen, mußte keine Wünsche unterdrücken, keine Bedürfnisse einschränken. Ein großes Vermögen verbietet es der Seele freilich nicht nach Höherem zu streben, verdunkelt nicht die hohen Gaben des Geistes, aber die Armut erlaubt es, diese Eigenschaften glänzend vor der Welt zu entfalten, da sie das Anknüpfen vornehmer Beziehungen erschwert. Denn diese sind oft mit gegenseitigen Dienstleistungen und Opfern verbunden. Das Familienleben kann ihm in seiner Einsamkeit nicht der ganze Inhalt seines Lebens sein, die Frau ist nicht mehr jung, und sie besitzt auch nicht die Reize, die lange ihren Zauber behalten, indem sie alle übrigen Gefühle unterdrücken. Seine freie Zeit verwandte er auf nützliche Beschäftigungen, bereicherte seinen Geist mit neuen Kenntnissen. Er war gebildet, von nüchterner Denkungsart, sehr ausdauernd in der Arbeit, sehr sorgfältig und gewissenhaft in allen Angelegenheiten, konsequent in seinen Plänen, furchtlos und unerschrocken, durchaus leutselig und herablassend, voll Anerkennung für die Verdienste anderer usw. Kurz, Barklay besitzt die Fehler, die viele Menschen haben, aber auch Verdienste und Fähigkeiten, deren sich nur wenige von unseren besten Generälen rühmen können.” Von allen Gegnern Barklays hat ihm im Jahre 1812 kaum irgendeiner mehr geschadet als gerade Jermolow;

 

 

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aber dann freilich, als er seine Erinnerungen niederschrieb, hatte sich seine innere Stellung zum früheren Vorgesetzten geändert, und er hätte wohl gerne seinen früheren Fehler wieder gut gemacht. Wenn auch jetzt das von ihm entworfene Bild nur wenig Portraitähnlichkeit besitzt, so beweist das nur, daß man mit solchen Anschauungen über das Leben und die Menschen, wie sie Jermolow besaß, einen Barklay nicht verstehen konnte. Nur die konnten sein Wesen begreifen und schätzen, welche nicht im Genuß das Ziel des Lebens sahen, und nur die, welche, wenn auch nur unbewußt, es fühlten und glaubten, daß Selbstverleugnung die höchste Tugend ist; aber zu solchen Menschen gehörten nicht nur einige von den ihm nahestehenden Personen, sondern auch viele einfache Krieger, die in ihm die Verwirklichung dieser Wahrheit sahen. Und in der Tat vergötterte das dritte Jägerregiment nach dem Ausdruck Bulgarins seinen Chef 1) und ungeachtet der Intriguen und Verleumdungen und trotz der Ankunft des neuen Oberkommandierenden blieb die Armee im Jahre 1812 am großen Tage von Borodino dabei, in Barklay ihren Oberkommandierenden zu sehen, und begrüßte ihn daher auf dem Schlachtfelde mit donnerndem Hurra 2).

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1) Erinnerungen Bulgarins, Teil IV, S. 175.

2) Michailowski-Danilewski, Beschreibung des vaterländischen Krieges 1812, Teil II, S. 273.

 

 

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III.

 

 

Die oberste Heeresverwaltung besaß zu der Zeit noch nicht ihre heutige Organisation. Das Ministerium der Landstreitkräfte war an Stelle des früheren Kriegskollegiums im Jahre 1802 getreten; im selben Jahre wurde dieser Behörde eine Ingenieurexpedition zur Verwaltung der Festungen und Gebäude beigeordnet, und im Jahre 1805 fügte man noch eine besondere militärische Medizinalbehörde hinzu. Die späteren Reformen erfolgten, als Araktschejew 1808 zum Kriegsminister und zu gleicher Zeit auch zum Berichterstatter in Militärangelegenheiten ernannt wurde. Damals wurde auch die Kriegsfeldkanzlei Seiner Majestät dem Ministerium unterstellt. Darauf schuf man die Rekrutendepots, welche später auch zur Bildung der Reserven dienten. Die weiteren Reformen Araktschejews betrafen die Artillerie. Auf diese Weise dienten alle Änderungen, die sich unter ihm im Ministerium vollzogen, hauptsächlich zur Zentralisierung aller Zweige des Kriegswesens und zur Hebung der Bedeutung des Ministers. Die innere Einrichtung aber blieb vorläufig unverändert so, wie sie im Jahre 1802 war, nur daß ihre Mängel seit der Gründung der neuen Behörden sich nur noch mehr zu fühlen gaben. Zur Verbesserung der Armeeverwaltungen war ebenfalls nichts geschehen; bei dem Mangel einer gehörigen Reglementation blieben der Wirkungskreis und die gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Organe dieser Verwaltungen, besonders der Wirtschaftsbehörden, aber auch die Rechte, die Pflichten und die Verantwortlichkeit der Vorgesetzten vollständig unbestimmt, was natürlich oft einen sehr verderblichen Einfluß auf den Zustand der Armeen und auf den ganzen Gang der kriegerischen Operationen ausübte.

 

 

 

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Die eigentliche Kriegsorganisation der Armee befand sich in einem besseren Zustande, seit die früheren Inspektionen durch die Divisionen ersetzt worden waren. Aber die Divisionen wechselten in ihrem Bestande, und ihre Verwaltung wurde dem persönlichen Ermessen und der Willkür der Kommandeure überlassen; Korps gab es nur zu Kriegszeiten und dann wurden sie nach augenblicklichen Erwägungen gewissermaßen zufällig formiert. Endlich waren die kriegerischen Machtmittel des Reiches, obgleich sie durch die im Jahre 1806 und noch später formierten Truppenteile vermehrt wurden, keineswegs ausreichend, eine selbständige Politik wirksam zu unterstützen. Noch viel weniger genügten sie für den bevorstehenden gigantischen Kampf.

 

In dieser Lage befand sich das ganze Kriegswesen, als Barklay am 20. Januar 1810 zum Kriegsminister ernannt wurde. Die näheren Umstände seiner Ernennung sind uns nicht bekannt; nur soviel wissen wir, daß er keine Selbständigkeit dadurch bewies, daß er es nicht für möglich hielt, sich Araktschejew unterzuordnen, der zum Vorsitzenden des Kriegsdepartements im neugebildeten Reichsrat ernannt worden war. So erwarb Barklay dieselbe Stellung, die sein Vorgänger eingenommen hatte 1).

 

Die Aufgabe, die ihm bevorstand, war eine dreifache. Zunächst mußte das Ministerium neuorganisiert werden, ferner Behörden für die Verwaltung der Armee und ihre einzelnen Teile gegründet werden, und endlich mußten die kriegerischen Kräfte des Staates reformiert und vermehrt werden. Diese Aufgabe hatte sich Barklay selbst gestellt, und bald nach der Übernahme des neuen Postens legte er dem Kaiser zugleich mit den Projekten für die Organisation des Kriegsministeriums einen besonderen Bericht über die innere Ordnung der Armee vor. In diesem Bericht erläuterte Barklay seine Ideen über die Einführung von Bestimmungen, welche die „Pflichten die Kompetenzen, die Verantwortlichkeit einer jeden Charge und die Dienstordnung zu Friedens- und Kriegszeiten” genau bestimmten.

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1) Geschichte der Regierung Kaiser Alexanders I., Teil II, S. 490.

 

 

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Zu gleicher Zeit legte er auch seine Pläne über die Vermehrung der kriegerischen Kräfte und über Reformen dar, wie sie durch die Verstärkung der Armee und durch den Wandel in den Prinzipien der Kriegskunst gefordert wurden?).

 

Auf Grund dieses Hauptprogrammes machte sich Barklay sofort an eine intensive Arbeit, die bis Ende 1811 fortgesetzt wurde und darauf der Begutachtung des Reichsrats unterbreitet wurde. Am 27. Januar 1812 erhielten dann „die Verordnung des Kriegsministeriums und die Verordnung für die Verwaltung der großen aktiven Armee” die Allerhöchste Bestätigung.

 

Zum Ressort des Kriegsministeriums gehörten folgende Abteilungen: Das Konseil des Kriegsministeriums; zwei Kanzleien, eine allgemeine und eine spezielle; zwei Dejouren, die eine für die Armee, die andere für das Rekrutierungswesen. Eine jede stand unter der Leitung eines dejourierenden Generals. Außerdem gab es 7 Departements: Das Artillerie-, Ingenieur-, Inspektions-, Auditoriat-, Kommissariat-, Proviant- und Medizinaldepartement, dazu kamen noch das Kriegswissenschaftliche Komitee, das militärisch-topographische Depot und die Typographie. Eine jede dieser Behörden zerfiel in Abteilungen und diese wieder in sogenannte „Tische” (= Sektionen). Der Wirkungskreis der Departements, die Aufgaben der Abteilungen und der Sektionen waren mit einer Genauigkeit, die keine Unklarheit zuließ, abgegrenzt und festgesetzt. Das Quartiermeisterressort wurde, wie man sieht, nicht dem Ministerium zugezählt, obgleich es als zu dem Kartendepot S. Majestät gehörig betrachtet wurde, und obgleich dieses Depot zum Bestande des Ministeriums gehörte. Dieser Umstand erklärt sich daraus, daß der Generalstab kurz vor der Organisation des Ministeriums schon im Jahre 1810 eine neue Verwaltung unter dem Namen der Kanzlei des Direktors des Quartiermeisterwesens erhalten hatte.

 

Auch hielt es Barklay für notwendig, dieser Verwaltung

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1) Der Bericht Nr. 612 mit der Überschrift: Allgemeine Verordnung über den Bestand und die innere Ordnung der Armee.

 

 

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die Selbständigkeit zu wahren, ebenso wie die gleiche Selbständigkeit auch der Hauptverwaltung der Artillerie und der Ingenieure erhalten blieb. Nur der wirtschaftliche Teil kam unter die Leitung des Artillerie- und des Ingenieurdepartements. Barklay betrachtete das neubegründete Ministerium als die höchste wirtschaftliche und administrative Inspektionsverwaltung des Kriegsressorts und war überzeugt, daß man die Armee und die speziellen Waffengattungen diesem Ministerium nicht allzu streng unterordnen dürfe. Wohlvertraut mit der Armee hielt er es, wie aus der kurz darauf veröffentlichten „Verordnung für die Verwaltung der aktiven Armee“ zu ersehen ist, für nötig, den obersten Heerführern eine hohe und durchaus selbständige Stellung zu geben. Diesem Grundsatze entsprechend sollte auch der ganze Dienst bei der Truppe solch eine Bedeutung erhalten, daß die Stellung eines Regiments-, Divisions- und Korpskommandeurs höher geschätzt wurde als jeder andere militärisch-administrative Posten. Bei solch einer Organisation wurden auch die materiellen Interessen der Truppen wahrgenommen. Und diese selbst erwarben als Konsumenten aller Gegenstände, mit denen sie dank der Fürsorge des Ministeriums versehen wurden, eine Unabhängigkeit, wie sie in den gegenseitigen Beziehungen der Empfänger und Lieferanten so unbedingt nötig ist. Übrigens war diese Periode für den Generalstab, der in der Person des Fürsten Wolkonski einen aufgeklärten und tätigen Leiter erhielt, geradezu eine Zeit der Wiedergeburt. Aus dem Tagebuch Barklays im Jahre 1805 sehen wir, daß er dem Quartiermeisterwesen eine große Bedeutung beilegte und es für nötig erachtete, auch diesem Ressort eine entsprechende Einrichtung zu geben. Nun konnte er seine Pläne durchführen und auch dem Generalstab, wie wir sogleich sehen werden, einen großen Wirkungskreis geben und auch dem neubegründeten militärisch-topographischen Depot bedeutende Mittel zur Erweiterung seiner Tätigkeit zur Verfügung stellen. Zu gleicher Zeit mit der Verordnung des Kriegsministeriums erschien ein zweites großes Werk Barklays, „die Verordnung für die Verwaltung der großen aktiven Armee”.

 

 

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Diese Schöpfung hätte nach dem Urteil eines der bedeutendsten damaligen Generale genügt, um den Ruhm seines Namens in der Geschichte Rußlands zu verewigen 1).

 

Die Erfüllung dieser Aufgabe war mit noch größeren Schwierigkeiten verknüpft; aber Barklay ließ sich durch sie nicht zurückschrecken. Da er in den früheren Kriegen, besonders aber im Feldzuge im Jahre 1807, erfahren hatte, bis zu welchem Grade die Mängel der Organisation der Armee und den kriegerischen Operationen schaden können, so machte er sich, ohne lange zu zaudern, ans Werk und führte es bis zum Ende glücklich durch. Seine Mitarbeiter in dieser wichtigen Arbeit waren die Generale: Oppermann, Baron Möller-Sakomelski, Fürst Wolkonski, Hogel, Graf St. Priest und der Oberst Perski, die unter seinem Vorsitz eine besondere Kommission bildeten 2).

 

Die Sekretaire Barklays waren: Wojeikoff, sein früherer Brigadiermajor, und Cancrin, der später so bekannte Finanzminister. Als Material für die Ausarbeitung eines neuen Kodex dienten alle in Rußland geltenden und in Frankreich seit dem Jahre 1791 erlassenen Militärverordnungen. Nach dem neuausgearbeiteten Projekt zerfiel die höchste Verwaltungsbehörde der aktiven Armee in vier Abteilungen. In den Hauptstab und in die Hauptverwaltungen des Ingenieur- und des Artilleriewesens und der Intendantur. Zu dem Hauptstab gehörten: der Chef des Stabes, der Generalquartiermeister mit den Offizieren des Generalstabes, der Dejour-General mit den ältesten Adjutanten, der Generalauditor, der Generalgewaldiger 3), der Kommandant des Hauptquartiers, der Generalwagenmeister, der Direktor der Kriegskommunikationen, der Generalstabsarzt, der Feldpostdirektor, der Kapitän der Kolonnenführer, der Feldobergeistliche und der Konvoi des Hauptquartiers. Unter dem

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1) F. F. Schubert in seinen Aufzeichnungen.

2) Die Geschichte der Regierung Kaiser Alexander I, Teil III, S. 1-11.

3) Gewaldiger = Feldpolizeioffizier, eine Stellung, die unter Alexander II. aufgehoben wurde.

 

 

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obersten Intendanten fanden: der Generalproviantmeister mit den Proviantkommissionen und den Kommissariaten, der Generalkriegskommissar mit den Kommissariatskommissionen und die Landesverweser oder Kommissare zur Verwaltung der besetzten Gebiete, außerdem wurde dem Oberkommandierenden eine besondere Kanzlei beigeordnet mit einer diplomatischen Abteilung. Ebenso wie die Hauptverwaltung der Armee wurden die Verwaltungen der Korps und Divisionen organisiert, die man Korps- und Divisionsstäbe nannte. Diese Stäbe bestanden: Die Korpsstäbe aus dem Chef des Stabes, dem Oberquartiermeister, dem dejourierenden Stabsoffizier, dem Oberproviantmeister, dem Oberkriegskommissar, dem Obergewaldiger, dem Oberwagenmeister, dem Oberauditor, dem Korpsstabsdoktor und der Kanzlei des Korpskommandeurs.

 

Die Divisionsstäbe bestanden aus dem Divisionsquartiermeister, dem ältesten Adjutanten, dem Proviantmeister, dem Gewaldiger, dem Wagenmeister, dem Auditor, dem Divisionsarzt und der Kanzlei des Divisionschefs. Im Falle der Detachierung eines Korps oder einer Division gehörten noch zum Korpsstab: die Chefs der Ingenieure und der Artillerie, der Geistliche, der Postmeister, der Landeskommissar und Konvoi. Zum Divisionsstab gehörten dann noch der Chef des Stabes, der Chef der Ingenieure und der Artillerie, der Kriegskommissar, der Landeskommissar und der Konvoi. Sieht man sich die Organisation der großen aktiven Armee näher an, so muß man staunen, mit welcher Sorgfalt alle verschiedenen Teile, besonders die Intendantur und das Hospitalwesen, die man früher vollständig vernachlässigt hatte, ausgearbeitet waren. Bemerkenswert ist auch die Genauigkeit, mit welcher der Pflichtkreis einer jeden Verwaltung abgegrenzt war, und die erschöpfende Vollständigkeit, mit der die Rechte und die Kompetenzen eines jeden Chefs bestimmt waren. Außerdem bemerken wir noch zwei charakteristische Züge: Die selbständige Stellung der höchsten Chefs und der auf die aktive Kriegsführung berechnete Charakter der Armeeverwaltungen. Da Barklay de Tolly fest davon überzeugt war,

 

 

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daß eine jede Machtbeschränkung des Oberkommandierenden nur schädliche Folgen haben könne, so hielt er es für durchaus notwendig, dem Oberkommandierenden während eines Krieges auf allen Gebieten der Militär-, der wirtschaftlichen und der Zivilverwaltung Rechte zu gewähren, die nur durch den Allerhöchsten Willen beschränkt werden konnten. Ebenso erhielten auch die Chefs der Hauptverwaltungen — jeder in seinem Ressort — eine große Freiheit und Selbständigkeit im Disponieren, was aber die Armeeverwaltungen anbetrifft, so erhielten sie sowohl zu Friedens-, wie zu Kriegszeiten dieselbe Organisation und den gleichen Bestand; dadurch wurden die Bande zwischen den Truppen und den Chefs fester geknüpft, und in ihren gegenseitigen Beziehungen konnte das nötige Vertrauen herrschen. Endlich hatte die „Verordnung zur Verwaltung der großen aktiven Armee” auch einen bedeutenden Einfluß auf die weitere Entwicklung des Quartiermeisterwesens. Dadurch, daß die Posten von Stabschefs und von Quartiermeistern in der Armee, in den Korps und in den Divisionen geschaffen waren, und durch die Verfügung, daß die dejourierenden Stabsoffiziere in den Korpsstäben aus den Offizieren der Suite gewählt werden mußten, eröffnete die neue Organisation ein glänzendes Feld der Tätigkeit für den Generalstab; anderseits erhöhten die dem Generalstabe neuauferlegten wichtigen Befugnisse in bezug auf die „vorbereitenden Erwägungen zu den Kriegsoperationen und deren Ausführung” seine Bedeutung und verliehen ihm bei den Truppen das entsprechende Ansehen.

 

Die Verordnung zur Verwaltung der großen aktiven Armee“ ebenso wie die „Verordnung des Kriegsministeriums“ haben mehr als ein halbes Jahrhundert lang Geltung gehabt; sie waren von Leuten ausgearbeitet, die nicht nur durch ihre Kenntnisse, sondern auch durch ihre kriegerische Praxis bekannt geworden waren und an deren Spitze ein General stand, der sowohl zu Friedens- als auch zu Kriegszeiten selbständige Truppendetachements geführt hatte; beide Verordnungen, welche die ganze Organisation der Streitkräfte des Reiches zu Friedens-

 

 

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und Kriegszeiten umfaßten, haben ihre vollkommene Zweckmäßigkeit in zahlreichen und großen Kriegen des vorigen Jahrhunderts — angefangen mit dem vaterländischen — bewährt. Wenden wir uns jetzt der dritten Aufgabe Barklays, der Entwicklung und Reorganisation der Landstreitkräfte zu.

 

Als Barklay den Posten eines Kriegsministers übernahm, bestand unsere Armee aus 145 Regimentern und 3 Bataillonen Infanterie, 64 Kavallerieregimentern und 136 Artillerierotten; der Bestand der Regimenter war sehr verschieden, die Gesamtanzahl der Bataillone betrug bis 370 und der Eskadronen bis 380; die Artillerie war noch in der Formierung begriffen. Alle diese Truppen waren in 26 Divisionen verteilt, deren Bestand ein veränderlicher war. Die numerische Stärke der Feldtruppen war überhaupt schwach; aus den damaligen Verzeichnissen ist ersichtlich, daß selbst die Sollstärke 350—400 Mann pro Bataillon nicht überstieg, außerdem gab es noch Garnisons- und Invalidentruppen, sowie die irregulären Kosaken, deren Zahl je nach den Bedürfnissen wechselte.

 

Die darauffolgenden Umformungen und Verstärkungen der Armee, zum Teil hervorgerufen durch die Erwartung eines möglichen Konflikts mit Napoleon, dauerten bis zum Frühling 1812, daher fällt ihre Darstellung mit der Darstellung unserer Vorbereitungen für den vaterländischen Krieg zusammen.

 

Mit Anbruch des Jahres 1811 begann man neue Regimenter und einzelne Truppenabteilungen zu formieren. Die Garde wurde durch die Gardeequipage verstärkt, die schon Ende 1810 formiert war, ferner durch das L. G. Finnländische Regiment, das aus dem Bataillon desselben Namens gebildet war (Befehl vom 19. Oktober 1811) und durch das L. G. Litauische Regiment (Befehl vom 7. November 1811), das aus einem Bataillon des Preobraschenskischen Regiment gebildet war, welches letztere nunmehr aus 3 Bataillonen bestand. Zur Gardekavallerie wurde die L. G. Schwarzmeersotnie hinzugefügt (Befehl vom 13. Mai 1811).

 

Die Armeeinfanterie wurde anfangs durch 13 (nach dem Allerhöchsten Ukas vom 7. Januar 1811 die Regimenter: Woronesch, Brjansk, Litauen, Podolien, Estland, Orel, Galitsch, Welikoluzk, Ssaratow, Sophia, 47. und 48. Jäger) und dann noch durch 6 neue Regimenter (Allerhöchster Ukas vom 6. November 1811: Regimenter Odessa, Tarnopol, Wilna

 

 

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und Simbirsk, 49. und 50. Jäger), die aus den besten Garnisontruppen formiert waren, und außerdem durch 4 Regimenter, die aus Flottenequipagen gebildet waren und daher Seeregimenter genannt wurden. Damals wurde auch das dritte Grenadierschulbataillon formiert (den 16. Juli 1811).

 

Die Armeekavallerie wurde durch 2 neue Kürassierregimenter verstärkt (den 12. Oktober 1811, Regimenter Astrachan und Nowgorod) und die Feldartillerie durch einige Rotten, aus denen eine neue Brigade formiert wurde (den 15. Oktober 1811, die 27. Brigade). Endlich erhielten die Pionierregimenter, die aus 2 Bataillonen bestanden, noch je ein drittes Bataillon. Zur selben Zeit wurden die Musketierregimenter umbenannt: Eins hieß nun Grenadierregiment, 14 wurden zu Jägern und alle übrigen zu Infanterieregimentern. Von den neuen 23 Regimentern waren 19 Infanterieregimenter und 4 Jägerregimenter. Ende 1810 erhielten alle Infanterieregimenter einen Bestand von 3 Bataillonen und alle Bataillone einen Bestand von 4 Rotten; die in den Regimentern noch fehlenden Rotten wurden damals neu formiert. In der Kavallerie erhielten die Garde-, die Kürassier- und die Dragonerregimenter je 5 Eskadronen und die Ulanen- und Husarenregimenter je 10. Die Artilleriebrigaden bestanden aus 3 Rotten, aus einer Batterie und einer leichten Rotte; diesen Bestand erhielten alle Feldbrigaden.

 

Zugleich damit wurden auch die Garnison- sowie auch die lokalen Truppen komplettiert, verstärkt und reformiert, im Bestande von 12 Regimentern, 19 Bataillonen und 46 Gouvernements- und Halbbataillonen.

 

Die Zahl der Artillerierotten und Kommandos, mit denen die der Türkei entrissenen Festungen versehen waren, wurde auf 77 erhöht. Endlich wurden auch die Invalidenabteilungen umformiert, in fliegende Rotten und Kreiskommandos. Von den ersteren, im Bestande von 170 Mann, wurden 46 formiert, entsprechend der Zahl der Gouvernements- und Halbbataillone, von den letzteren jedoch, im Bestande von 65 Mann, 419 (27. März 1811).

 

Nach der Formierung aller oben erwähnten Truppenteile war der Bestand des Heers folgender:

 

Infanterie.

6 Garderegimenter 18 Bataillone

1 Gardeequipage 1 „

14 Grenadierregimenter 42 „

100 Infanterie- (inklusive 4 Seeinfanterieregimenter) 300 „

50 Jägerregimenter 150 „

3 Grenadierschulbataillone 3 „

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Summa 514 Bataillone.

 

 

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Kavallerie.

6 Garderegimenter 28 Eskadronen

(L. G. Kosakenregiment im Bestande von 3 Eskadronen.)

2 Garde-Ssotnien 2 „

8 Kürassierregimenter 40 „

36 Dragonerregimenter 180 „

11 Husarenregimenter 110 „

5 Ulanenregimenter 50 „

----------------------------------

Summa 410 Eskadronen.

 

Artillerie.

Gardeartillerie 6 Rotten

Feldartillerie 81 „

Reserve 40 „

---------------------------

Summa 127 Rotten.

(Von diesen waren einige eben erst in der Formierung begriffen.)

 

In den Berichten über den Zustand der Artillerie wurden Truppenteile, die eben erst formiert wurden, nicht selten schon als vollzählig vorhanden bezeichnet, und die Zählungen selbst wurden das eine Mal nach der Gattung der Artillerie, das andere Mal nach Brigaden vorgenommen, infolgedessen die Resultate verschieden ausfielen und sich auch in die Angaben über die Artillerie Fehler einschleichen konnten.

 

Ingenieurtruppen.

2 Pionierregimenter 6 Bataillone.

 

Durch ganz bestimmte Etats wurde die Zahl der in der Front dienenden Soldaten festgestellt: in der Garde sollten 764 auf das Bataillon und 160 auf die Eskadron kommen, und in der Armee 738 auf das Bataillon und 150 auf die Eskadron; in der Artillerie aber je nach der Art der Artillerie sollten die Rotten aus 250—300 Mann bestehen, und bei den Pionieren das Regiment aus 2270 Mann. Auf diese Weise sollte die volle etatmäßige Zahl der Feldtruppen folgende sein:

 

An Fußvolk ungefähr 380000 (379826) Mann

Kavallerie „ 62000 ( 61800) „

Artillerie „ 43500 (43776) „

Pionieren „ 4500 ( 4540) „

-------------------------------------

Im ganzen ungefähr 489000 Mann.

 

Die Zahl der Feldgeschütze betrug im ganzen 1600.

Um die Truppen bis zur vollen Zahl zu ergänzen, wurden im Jahre 1810 je 3 und 1811 je 4 Mann von 500 Seelen der Gesamtbevölkerung ausgehoben (Ukas vom 16. September).

 

 

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Die Gesamtzahl der Garnisontruppen und der inneren Wache betrug damals: 12 Garnisonregimenter und 19 Bataillone, ungefähr 39000 (39326) Mann; 17 Artillerie- und Laboratoriums-Garnisonsrotten und Kommandos = 16000 (16016); 46 Gouvernementsbataillone und Halbbataillone — 22000 (22008); 419 Kreis-Invaliden-Kommandos — 20000 (20112); 46 fliegende Rotten = 8000 (7820). Im ganzen ungefähr 105000 Mann.

 

Diese Truppen konnten natürlich nicht zur Verstärkung unserer Streitmacht unmittelbar dienen, aber indem sie den Garnisondienst in den Städten und zum Teil auch in den Festungen versahen, gestatteten sie uns, alle verfügbaren Feldtruppen im Kriege zu verwenden.

 

Gleichzeitig mit der Verstärkung schritt man an die Aufgabe, die einzelnen Truppenteile in geordneter und gleichmäßiger Weise zu Divisionen zu formieren. Aus 6 Regimentern der Gardeinfanterie wurde die Gardeinfanteriedivision gebildet. Aus 12 Grenadierregimentern die erste und zweite Grenadierdivision, und aus 96 Infanterie und 48 Jägerregimentern die Infanteriedivisionen Nr. 3 bis 26; und aus den 6 zuletzt formierten Regimentern entstand die 27. Division (Allerhöchster Ukas vom 6. November 1811).

 

Alle Infanteriedivisionen erhielten den gleichen Bestand von 2 Brigaden, jede Brigade zu 2 Regimentern; in den Grenadierdivisionen gab es nur Grenadierregimenter, aber in den übrigen Divisionen 4 Infanterie- und 2 Jägerregimenter. Im Orenburgschen Gebiet und in Westsibirien begann man die 28. und 29. Division zu formieren. Die Kavallerie, deren Regimenter bis zu der Zeit gesondert blieben und nur für den Kampf auf einen besonderen Befehl und mit Unterordnung unter besonders ernannte Generale vereinigt wurden, erhielt jetzt eine dauernde Organisation. Auch aus ihr wurden einzelne Divisionen, eine Gardedivision (die Gardekürassierregimenter: Chevaliergarde- und die Garde zu Pferde wurden jetzt der ersten Kürassierdivision zugezählt), 2 Kürassier- und 8 Kavalleriedivisionen, die Kürassierdivisionen sollten aus 5 Regimentern bestehen, darunter das Chevaliergarde-Regiment und die Garde zu Pferde; in den Kavalleriedivisionen sollte es 4 Dragoner und 2 Husaren- oder Ulanenregimenter geben. In der Organisation der Artillerie wurden auch Veränderungen vorgenommen: das Gardeartilleriebataillon erhielt den Namen der L. G. Artilleriebrigade (im Oktober 1811), und die Garde-Kavallerieartillerie wurde in zwei Batterien geteilt (den 2. September 1811). Die ganze Artillerie zerfiel in 1 Garde-, 27 Feld-, 10 Reserve- und 4 Ergänzungsbrigaden (den 24. Februar und den 15. Oktober 1811).

 

Jedes Pionierbataillon wurde auf den Bestand von 2 Ponton-, 1 Sappeur- und 1 Mineurrotte gebracht. Die Garnisonregimenter wurden in den Festungen und einigen Gouvernementsstädten verteilt. Die Gouvernementsbataillone

 

 

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und Halbbataillone zusammen mit den Invalidenrotten und Kommandos bildeten die innere Wache, die in 8 Bezirke geteilt war. Ein jeder Bezirk bestand aus 3 Brigaden.

 

Gleichzeitig mit der inneren Einrichtung der Truppen wurden auch Maßregeln ergriffen zur Bildung von Reserven und Ergänzungsmannschaften; zur Bildung der ersteren wurden die Grenadierrotten eines jeden Bataillons, zur Bildung der letzteren aber die zweiten Bataillone und die letzten Eskadronen eines jeden Regiments bestimmt. Zur weiteren Formierung der Reserven dienten die Rekrutendepots, deren Zahl durch die an neun Orten neugebildeten Rekrutendepots der zweiten Linie vermehrt wurden (am 10. September 1811; in Petrosawodsk, Nowgorod, Twer, Moskau, Orel, Kaluga, Kursk, Charkow, Jekaterinoslaw). Die Rekrutendepots der 1. Linie bildeten 2 Reservekorps, von denen jedes aus 2 Reservedivisionen und aus einer Reserveartilleriebrigade bestand. Ende 1811 waren alle aufgezählten Feldtruppen in folgender Weise verteilt: In der Moldau-Armee unter dem Oberkommando Kutusows folgende Divisionen: Die 8, der größte Teil der 9., die 10., die 15., die 16. und die 22. Infanteriedivision, die 6. und 7. Kavalleriedivision. Im Neurussischen Gebiet unter dem Oberbefehl des Herzogs Richelieu, die 13. Infanteriedivision, die andere Hälfte der 9. und die 8. Kavalleriedivision. Im Kaukasus und in Grusinien unter dem Oberbefehl von Ptischtschew und Marquis Paulucci die 19. und 20. Infanteriedivision und 3 Regimenter Dragoner. In Finnland unter dem Oberbefehl von Steinheil 6., 21. und die 25. Infanteriedivision und 2 Regimenter Dragoner. Die 27. Division des Generals Njewerowski wurde noch in Moskau formiert. Die 28. des Fürsten Wolkonski und die 29. des Generals Glasenapp wurden im fernen Osten formiert. Ferner befanden sich in der Umgebung von Petersburg, in den baltischen Provinzen, in Litauen, in Weißrußland und in Wolhynien folgende Divisionen: die Garde-, die 1. und 2. Grenadier-, die 3., 4., 5., 7., 11., 14., 17., 18., 23., 24., 26. Infanterie- und die 1. und 2. Kürassier-, sowie die 1. Garde-, 2., 3., 4. und 5. Kavalleriedivision.

 

 

Zu Beginn des Jahres 1812 erhielt man Nachrichten von den kriegerischen Rüstungen Napoleons, die auf den unvermeidlichen Krieg hindeuteten; da erfolgte die Anordnung, daß die Truppen aus Petersburg nach den Baltischen Provinzen zur Westgrenze abmarschieren sollten; ebenso sollten dorthin die 9. und 15. Division aus der Moldau, drei Kavallerieregimenter aus dem Süden und noch andere Kosakenregimenter vom Don beordert werden; auch war die Bildung von Reserven vorgeschrieben worden. Zu Beginn des Kriege wurden folgende

 

 

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Reserven formiert: die erste und zweite kombinierte Grenadierdivision und die kombinierte Grenadierbrigade, ebenso die 32., 33., 34., 35. und 36. Infanterie- und 9., 10. und 11. Kavalleriedivision, die noch übrigen Reserveformationen dienten zur Vervollständigung der aktiven Truppen. Nach der im Frühjahr 1812 angeordneten ergänzenden Aushebung zu je zwei Mann von 500 Seelen 1) ging man an die Bildung von zwölf neuen Infanterieregimentern 2) und bald darauf zur Bildung von vier Ukrainischen Reiterregimentern (Nr. 1 bis 4); die Infanterieregimenter, die man an dem Ort, wo sie formiert wurden, stehen ließ, begannen seit dem August bestimmte Truppenteile zur Vervollständigung der aktiven Armeen auszuscheiden, aber die Reiterregimenter gingen schon Ende Juni in den Bestand der Armee des Generals Tormassow über.

 

Im März und im April 1812 erfolgte die Bildung von Korps und Armeen aus den Truppen, die sich an der Westgrenze des Reiches gesammelt hatten. Dort, wie bekannt, konzentrierten sich zugleich mit der Garde 15 Infanterie und 8 Kavalleriedivisionen, dazu kam noch die 9. und 15. aus der Moldau, die drei zusammengezogenen Grenadierdivisionen, von denen eine den Bestand einer Brigade besaß, und drei Kavallerieregimenter, so daß die allgemeine Zahl der Infanteriedivisionen bis auf 20, die Zahl der regulären Kavallerieregimenter aber bis auf 49 stieg. Diese Truppen zusammen mit ihrer Artillerie wurden in zehn Infanterie- und fünf Kavalleriekorps geteilt, die Infanteriekorps wurden aus zwei Divisionen mit ihren Artilleriebrigaden gebildet. Die Verteilung der Kavallerie unter sie war keine gleichmäßige, ganze Divisionen von Kavallerie wurden nur dem fünften und achten Korps beigegeben, zu derem Bestande auch noch die ersten und zweiten Kürassierdivisionen kamen; zum ersten Korps wurden jetzt noch drei Regimenter hinzugefügt, aber zu den übrigen Korps je acht Eskadronen.

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1) Ukas vom 29. März 1812.

2) In Jaroslaw, Kostroma, Wladimir, Rjasan, Tambow und Woronesch.

 

 

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Aus der übrig gebliebenen Kavallerie wurden anfangs vier Korps gebildet, und dann noch das fünfte des Generals Lambert, die vier ersten Korps bestanden aus fünf, das letzte aus acht Regimentern. Die Rotten der reitenden Artillerie wurden unter die Kavallerie der Infanterie- und Kavalleriekorps verteilt.

 

Aus den neu formierten Infanterie- und Kavalleriekorps wurden anfangs zwei Armeen gebildet, die erste und die zweite Westarmee 1). Die erste Westarmee bestand aus sechs Infanterie- und drei Kavalleriekorps, die zweite aus vier Infanterie- und einem Kavalleriekorps. Die dritte, die Observationsarmee und die zwei Reservearmeen, beabsichtigte man aus den Ergänzungs- und Reservetruppen zu bilden. Aber da es sich erwies, daß vor Beginn des Krieges aus den Ergänzungs-, Reservebataillonen und -Eskadronen nur fünf Infanterie- und drei Kavalleriedivisionen formiert waren, so mußte man sich darauf beschränken, aus ihnen nur ein aktives Korps (des Generals Sacken und zwei Reservekorps der Generäle Möller-Sakomelski und Örtel) zu bilden. Bald aber erwies es sich als notwendig, unsere Kriegsmacht an den Grenzen des Herzogtums Warschau zu verstärken, wohin, wie es schien, Truppen aus allen Ländern Europas heranrückten; deshalb wurden das neunte und zehnte Korps, die aus den Truppen der Moldauarmee herangezogen waren und sich noch in der Nähe des Dnjester befanden, aus dem Bestande der zweiten Armee ausgeschieden 2) und die übrigen Truppen dieser letzteren Armee nach Norden gezogen und durch die 27. Infanteriedivision verstärkt, die den Befehl erhalten hatte, aus Moskau zur Westgrenze zu marschieren. Zur Bildung der Observationsarmee im Süden dienten außer dem neunten und zehnten Korps noch das Sackensche Korps und das obenerwähnte fünfte Lambertsche Korps. Außerdem wurden noch allen drei Armeen Kosakenregimenter beigegeben: die erste erhielt 18, die zweite

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1) Allerhöchster Befehl vom 19. März.

2) Allerhöchster Befehl vom 5. Mai.

 

 

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neun, die Observationsarmee neun und außerdem noch einige Ponton- und Pionierrotten.

 

Auf diese Weise erhielten unsere aktiven Armeen im Westen folgenden Bestand: die erste Westarmee bestand aus sechs Infanterie- und drei Kavalleriekorps, im ganzen aus 150 Bataillonen, 132 Eskadronen, 49 Artillerierotten mit 552 Geschützen, zwei Pionier-, zwei Pontonrotten und 18 Kosakenregimentern; die zweite Westarmee aus zwei Infanteriekorps, zu denen noch die 27. Division hinzugefügt wurde, und aus einem Kavalleriekorps, im ganzen aus 46 und mit der 27. Division aus 58 Bataillonen, 42 Eskadronen, 18 Artillerierotten mit 216 Geschützen, einer Ponton- und einer Pionierrotte und neun Kosakenregimentern; Die dritte, die Observationsarmee, aus zwei Infanteriekorps, aus einem Kavallerie- und dem Sackenschen Korps, im ganzen aus 54 Bataillonen, 76 Eskadronen, aus 14 Artillerierotten mit 64 Geschützen, aus einer Ponton- und einer Pionierrotte und neun Kosakenregimentern. Außerdem wurden zu Beginn des Krieges noch zwei Reservekorps formiert. Das erste aus der 32. und 33. Infanterie und der neunten Kavalleriedivision, und das zweite Korps aus der 34. und 35. und der 10. Kavalleriedivision. Der genaue Bestand der aktiven Armeen wird sich aus der später angegebenen allgemeinen Aufzählung der Truppen ergeben.

 

Betrachten wir nun den Zahlenbestand der an der Westgrenze konzentrierten Truppen, die zum Widerstande gegen die heranrückenden Truppen Napoleons bestimmt waren, so müssen wir, um genau Daten zu erhalten, folgende Zählungen vornehmen 1). Die volle Zahl aller aktiven Truppen in Rußland betrug, wie schon vorher erwähnt, 489000 Mann. Nehmen wir an, daß etwa ein Sechstel an diesen Bestande fehlten, was nach dem Zeugnis Barklay de Tollys und des Prinzen Eugen von Württemberg der Wahrheit entspricht, so erweist sich, daß in Wirklichkeit nur 407500 Mann vorhanden waren. Von dieser Zahl befanden

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1) Die weiter erwähnten Zahlen sind allen verfügbaren Quellen entnommen, ohne die Quellen im einzelnen anzugeben.

 

 

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sich: in der Moldau-(Donau-)Armee 57000 Mann; im Neurussischen Gebiet 19500; in Grusien und im Kaukasus 34000; in Finnland 30000; in den Ergänzungstruppen, nach Ausschluß des aus ihnen gebildeten Sackenschen Korps, aber zusammen mit allen Kommandos der Rekrutendepots und der Reserven etwa 72000 Mann. Endlich gab es noch Truppen, die gar nicht zum Bestande der Divisionen und Korps gehörten: die Schulbataillone, ein Teil der Pioniere und der Artillerie; hier zählte man etwa 12000 Mann. Auf diese Weise gab es also an der Weltgrenze mit Einschluß der 27. Division, die zu den Truppen der zweiten Armee vor ihrem Zusammenstoß mit dem Feinde hinzugezogen war — etwa 183000 Mann, zu denen man noch 18000 Kosaken hinzufügen muß. Auf diese Weise stieg die Gesamtzahl der Truppen in den drei Westarmeen auf 200000 Mann, und zwar gab es in der ersten 110000 Mann, in der zweiten zusammen mit der 27. Division 45000, in der dritten, der Observationsarmee, 46000 Mann. Hinter ihnen, in der zweiten Linie, befanden sich die Ergänzungs- und Reservetruppen und diejenigen Infanterie und Kavallerieregimenter, deren Formierung erst während des Krieges beendet wurde. Von den 34000 Mann Ergänzungstruppen nahm die größere Hälfte unmittelbar am Kriege teil. Die Reservebataillone und Eskadronen, obgleich sie zur Bildung zweier Reservekorps dienen sollten, wurden gleichfalls zur Ergänzung der aktiven Truppen benutzt, etwa 46000 Mann kamen in die Infanterie und über 9000 Mann in die Kavallerie. Zur Formierung von zwölf Infanterieregimentern wurden 23888 Rekruten bestimmt, und in den vier Ukraineregimentern gab es noch 3000 Mann. So ergibt sich, daß die Gesamtzahl der Truppen, die zur Ergänzung der aktiven Armee während ihres Rückzuges ins Innere Rußlands dienten, ungefähr 100000 Mann betrug.

 

Die Tätigkeit Barklay de Tollys während seiner zweijährigen Verwaltung des Ministeriums beschränkte sich nicht auf die Organisation und Verstärkung der Armee. Diese Tätigkeit dehnte sich auch auf andere Zweige des ihm untergeordneten Ressorts aus und

 

 

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äußerte sich in einer ganzen Reihe sehr wichtiger Maßregeln, unter denen seinerzeit folgende besondere Aufmerksamkeit verdienen: Die Einführung einer beständigen Beobachtung aller militärischen Institutionen und kriegerischen Kräfte der fremden Staaten; das Studium der an der Westgrenze liegenden Gebiete als des wichtigsten Kriegsschauplatzes innerhalb der Grenzen Rußlands, die Verstärkung der Defensivlinien auf diesem Kriegsschauplatz durch künstliche Befestigungen; die Einrichtung von Proviantmagazinen und Artillerieparks im Hinblick auf den zu erwartenden Krieg.

 

Für das beste Mittel, um genaue Daten über die Militärbehörden und über die Streitkräfte der Auslandstaaten zu erhalten, hielt es Barklay angebracht, bei den Gesandtschaften besondere militärisch ausgebildete Agenten zu unterhalten. Früher waren zu diesem Zweck, wenn es nötig erschien, Offiziere ins Ausland kommandiert worden.

 

So wurde Fürst Wolkonski bald nach dem Tilsiter Frieden abkommandiert und studierte hier über zwei Jahre lang die militärischen Verordnungen der europäischen Staaten, die durch ihn gewonnenen Kenntnisse waren ein wertvolles Material für die damals erfolgende Bildung unserer neuen Militärbehörden. Barklay hielt es aber für notwendig, auch einige beständige Militäragenten zu unterhalten, die alle Änderungen und Verfügungen im Kriegswesen sorgfältig verfolgen und rechtzeitig dem Ministerium Bericht erstatten sollten. In einem seiner Berichte aus den letzten Monaten des Jahres 1810 ist die Rede von kenntnisreichen und tüchtigen Militärbeamten, die für Wien und Berlin bestimmt waren. Zu gleicher Zeit wird hier um die Genehmigung nachgesucht, einen solchen Militärbeamten auch ins Herzogtum Warschau abzukommandieren. In Paris gab es keinen besonderen Militäragenten, da die Pflichten eines solchen ausgezeichnet vom Flügeladjutanten Tschernischeff erfüllt wurden. Dieser befand sich damals fast immer in der Nähe von Napoleon in seiner Eigenschaft als Vertrauensperson des Kaisers Alexander.

 

 

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Um mit der Gegend, die zum Kriegsschauplatz werden konnte, besser bekannt zu werden, begann man schon im Frühling 1810 das westliche Grenzgebiet sorgfältig zu studieren; diese Arbeit, die den Offizieren des Quartiermeisterressorts auferlegt war, wurde in großem Maßstabe ausgeführt und zwar unter der Leitung des Obersten Dovré 1). Im Jahre 1811 wurde die Arbeit wiederholt, wobei direkt darauf hingewiesen wurde, auf welche Gegenstände man besonders die Aufmerksamkeit zu richten hätte. Die Resultate dieser Arbeiten waren folgende: eine Kriegskarte des westlichen Grenzgebietes, eine Menge Pläne von Positionen und genaue Rekognoszierungen, deren zusammenfassende Bearbeitung dem General Oppermann, dem Leiter des militärisch-typographischen Depots, und seinem Flügeladjutanten Ingenieurobersten Barklay de Tolly auferlegt wurde 2). Davon unabhängig wurde das Studium des westlichen Kriegsschauplatzes auch dem bekannten Militärschriftsteller und Gelehrten Flügeladjutanten Wolzogen zur Pflicht gemacht. Von besonderem Interesse ist hier der Hinweis, den Wolzogen von Barklay de Tolly im Sommer des Jahres 1811 in bezug auf die Wahl eines Punktes zwischen Dünaburg und Bobruisk erhielt. Dieser Punkt sollte befestigt werden, um den Weg nach Orscha und Smolensk zu decken.

 

In der offenen und ebenen Gegend des westlichen Grenzgebietes bilden nur einige Flüsse durch ihren Lauf Linien, die mit einem gewissen Recht als Defensivlinien bezeichnet werden können. Die eine Linie, ganz nahe der Grenze, bilden die westliche Düna, die Beresina und den Dnjepr: diese Linie dient zugleich als Grenzscheide zwischen der russischen und nichtrussischen Bevölkerung. Dieser Umstand gab ihr eine besondere Bedeutung.

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1) Einer der fähigsten Offiziere des Generalstabes, der in den Jahren 1812—1814 in seiner Eigenschaft als Generalstabschef eines detachierten Korps und später der Armee Witgensteins sich einen Namen verschafft hat.

2) Ein Bruder des Ministers. Die Geschichte des russischen Generalstabes Fl. Glinotzki.

 

 

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Im diesem ganzen Gebiet gab es nur zwei befestigte Punkte, Riga und Kiew, die noch dazu vom Zentrum der kriegerischen Operationen entfernt lagen und sich in einem sehr mangelhaften Zustande befanden. Bald nachdem Barklay de Tolly das Amt eines Kriegsministers erhalten hatte, wurde der Beschluß gefaßt, die Befestigungen von Kiew und Riga zu restaurieren und zu verstärken und zugleich zwei neue Festungen, Dünaburg und Bobruisk anzulegen. Diese Arbeiten wurden im Frühling 1810 mit großer Energie fortgesetzt, so daß schon nach einem Jahre, im Sommer 1811, Wolzogen über die bedeutenden Resultate der neuen Festungsbauten berichten konnte. Als die Feindseligkeit Napoleons immer deutlicher zutage trat, hielt es Barklay, besorgt um die Deckung eines Rückzuges ins Innere von Rußland, für notwendig, einen passenden Punkt auf dem Wege nach Smolensk zu befestigen, und er befahl zu diesem Zweck Wolzogen, Borissow und Sembin zu besichtigen 1). Wolzogen sprach sich zugunsten Borissows aus 2), dessen Befestigung auch bald darauf begonnen wurde. Endlich, zu Beginn des Frühlings 1812, wurden, um den Verkehr zwischen den einzelnen Teilen der Armeen zu sichern und entsprechend dem Plan, den der gelehrte General Pfuhl ausgearbeitet und der Kaiser bestätigt hatte, Arbeiten unternommen bei den Flecken Mosty und Sselez, um die Passage über den Njemen und die Jassolda da zu schützen. Zugleich wurden bei Drissa und Kiew befestigte Lager angelegt. Zu Anfang des bald darauf beginnenden Krieges war das Resultat der unternommenen Arbeiten folgendes: Riga, Bobruisk und Kiew waren jetzt imstande, eine Belagerung auszuhalten, in Dünaburg hatte man nur eine Rückenbefestigung zu Ende geführt. Borissow war in Verteidigungszustand gesetzt; an den Flußübergängen waren Brückenköpfe errichtet, von den befestigten Lagern war das bei Drissa fast ganz fertig.

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1) Befehl Barklays vom 9. August des Jahres 1811.

2) Bericht vom 15. September.

 

 

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Die Organisation von Artillerieparks und Proviantmagazinen war auf breiter Basis angelegt; man kann nur sagen, daß die Truppen während des Krieges nichts zu vermissen hatten.

 

Nachdem wir die militärisch-administrativen Tätigkeiten Barklays in ihren Hauptzügen kennen gelernt haben, können wir nicht anders, als uns über die großartigen Resultate wundern, die Barklay in der kurzen Zeit seines Ministeriums erreicht hatte. In zwei Jahren waren alle Organe der Militärverwaltung sowohl für die Friedens- als für die Kriegszeit geschaffen worden, war es auch gelungen, die Streitkräfte des Reiches neu zu gestalten und zu verdoppeln, neue Kriegsmittel zu organisieren und aller Art Vorräte für den Krieg aufzuspeichern. Indessen wird dieses Tätigkeitsgebiet Barklays in unseren militärischen Schriften kaum erwähnt. Man berichtet nur über die Maßregeln, die im Hinblick auf den drohenden Krieg mit Napoleon unternommen wurden und weist auf das Ungenügende dieser Maßregeln hin. Die Streitkräfte Rußlands, heißt es da, seien nur um 50000 Mann verstärkt worden 1), seien an der Westgrenze durchaus nicht ausreichend gewesen 2). Die Festungen, die restaurierten wie die neu angelegten, hätten keinen Nutzen gebracht, während der Weg nach Moskau ohne Deckung geblieben wäre 3). Die Magazine wären zu nahe an der Grenze angelegt worden und wären daher der Gefahr ausgesetzt gewesen, in die Hände der Feinde zu fallen 4). Das alles beweise den Mangel eines klaren Kriegsplanes vor Beginn des Krieges, und der berühmte Rückzug sei nur zufällig unter dem Druck zwingender Umstände unternommen worden 5). Diese Urteile sind aber völlig unbegründet, sowohl

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1) Smitt, Aufklärung über den Krieg von 1812, S. 261.

2) Bernhardi, Tolls Denkwürdigkeiten I, S. 231—235.

3) Smitt, Aufklärung über den Krieg von 1812, S. 251.

4) Bogdanowitsch, Geschichte des vaterländischen Krieges 1812 I, S. 64—65.

5) Michailowski-Danilewski, Beschreibung des vaterländischen Krieges vom Jahre 1812 I, S. 148—149.

 

 

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was die Truppen, als auch die Festungen und die Magazine anbetrifft.

 

Wie schon aus dem früher Erwähnten hervorgeht, beschränkte sich die Zahl der neuformierten Truppenkörper, abgesehen von den Reserven, nicht auf die 76 Bataillone, die im Jahre 1811 zu dem Bestande der neugeschaffenen Armee hinzukamen, und nicht auf die 36 Bataillone, die im Jahre 1812 aus den Rekruten der letzten Aushebung formiert wurden 1); zu diesen müssen wir noch zahlreiche dritte Bataillone, deren größter Teil früher nur auf dem Papier gestanden hatte oder überhaupt nicht existiert hatte, hinzurechnen. Aber nicht darin allein bestand die Verstärkung unserer Streitkräfte; sie lag auch in der enormen Steigerung des Zahlenbestandes unserer Armee, der im Jahre 1810 so gering war, daß er nicht einmal der Hälfte der damaligen taktischen Einheiten entsprach. So zählte man z. B. im Korps Kamenski, das zu Beginn der neuen kriegerischen Operationen im August 1808 aus 13 Infanterieregimentern bestand, zusammen mit der Kavallerie und Artillerie 10500 Mann, d. h. etwa 750 Mann auf das Regiment; in den anderen Korps der finnländischen Armee, wie auch in der Moldauschen Armee war der Zahlenbestand kein höherer. Überhaupt betrug die Zahl aller Feldtruppen des Reiches, als Barklay 1810 Minister wurde, nicht mehr wie 200000 Mann. Im Jahre 1812 aber, obgleich der Krieg an der Donau und im Kaukasus fortdauerte und die Besetzung von Finnland und von Noworossisk wie bisher eine ganze Armee in Anspruch nahm, waren doch allein auf dem westlichen Kriegsschauplatz 200000 Mann konzentriert — in erster Linie, in zweiter Linie noch weitere 100000. Unter den damaligen Umständen waren das enorme Streitkräfte. Natürlich waren diese Streitkräfte geringer als die Napoleons, aber man darf nicht vergessen, daß unter den 450000 Mann, mit denen Napoleon zu Beginn des Krieges in Rußland einrückte, nur 200000 Franzosen waren, die übrigen waren Italiener, Spanier, Holländer, Westfalen,

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1) In den 12 neuen Regimentern.

 

 

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Preußen, Österreicher, Polen, Bayern, Sachsen usw. Außerdem aber, wie es Clausewitz, Wolzogen, Eugen von Württemberg und andere bezeugen, kam es damals niemandem in den Sinn, daß die Armee Napoleons einen solchen Umfang erreichen könnte. So sprach Wolzogen kurz vor Beginn des Krieges die Vermutung aus, daß die Zahl der verbündeten Truppen etwa 100000 Mann betragen werde 1), der Kronprinz von Schweden aber, kürzlich noch Marschall von Frankreich, der die Streitkräfte seines früheren Gebieters kannte, versicherte zu Beginn des Jahres 1812, daß die Truppen Napoleons etwa aus 250000 Mann bestehen würden, von denen nur 150000 zu aktiven Operationen verwandt werden würden, während 100000 Mann notwendigerweise den Rücken decken würden 2).

 

Was die Festungen anbetrifft, so fordert ihre Erbauung Zeit; es ist daher durchaus zu verstehen, daß man vor allem zuerst die vorhandenen restaurieren und stärker befestigen mußte; unter diesen Festungen konnte Riga, welches den kürzesten Weg zur Residenz deckte, eine große Bedeutung erhalten, und Riga blieb ja auch bekanntlich nicht ohne Einfluß auf den Gang des Krieges. Der Bau der Festung Dünaburg, die neu angelegt worden war, konnte nicht zu Ende geführt werden und konnte auch keinen wesentlichen Einfluß auf den Krieg von 1812 haben; Bobruisk war aber der zweiten Armee von großem Nutzen, indem es ihr den Übergang über die Beresina sicherte, woran sie leicht durch Marschall Davoust hätte verhindert werden können. So bleibt nun also nur noch der Weg nach Moskau. Es ist nicht zu bezweifeln, daß eine starke Festung auf diesem Wege dem Feinde große Schwierigkeiten bereitet hätte, aber, wie schon gesagt, Festungen lassen sich nicht im Augenblick aus dem Boden stampfen. Barklay hat auch selbst

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1) Beilage zum Memoire Wolzogens vom 3. Januar 1812.

2) Depesche des Baron Nicolai vom 10. Februar 1812. Beziehungen Rußlands zu den europäischen Großmächten, von A. N. Popow.

 

 

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die Wichtigkeit dieser Wegrichtung erkannt, als noch niemand daran dachte. Das beweist sein Befehl an Wolzogen in bezug auf die Befestigung von Borissow; die darauf begonnenen Arbeiten konnten aber aus Zeitmangel nicht allzuweit gedeihen. Außerdem aber dachte auch damals außer Barklay niemand an die Möglichkeit eines Rückzuges ins Innere von Rußland. Im Gegenteil, die diplomatischen Verhandlungen führten im Frühling 1812 zu einer Kriegskonvention mit dem Berliner Kabinett, auf Grund welcher unsere Truppen über die Grenze rücken und sich mit den Preußen vereinigen sollten. Die Konvention war schon zwischen dem preußischen Kriegsminister und Barklay verabredet, der schon die Vorbereitungen zu einer eventuellen Verschiebung der russischen Truppen in der Richtung der Weichsel begonnen hatte. Alles das erweist sich genügend klar aus den Verfügungen des Kriegsministeriums in betreff der Magazine, welche notwendigerweise in der Nähe der Grenzen angelegt werden mußten, wo sie infolge der dauernden Konzentration unserer westlichen Armeen zum größten Teil schon vor Beginn des Krieges geleert wurden. Was sollen wir zu dem daraus gezogenen Schluß sagen, als ob der Rückzug nach Moskau eine Sache des Zufalls gewesen wäre? Natürlich kann ein Rückzug, und noch dazu ein Rückzug ins Innere des eigenen Vaterlandes nicht ein derartig wünschenswertes Ziel sein, daß der Oberkommandierende es um jeden Preis hätte erreichen wollen; und es unterliegt gar keinem Zweifel, daß Barklay, als er die preußische Konvention schloß, nicht die Absicht hatte, sich nach Moskau zurückzuziehen. Aber diese Absicht trat erst dann zutage, sobald sich die Umstände soweit geklärt hatten und es bekannt geworden war, daß dieses selbe Preußen mit Frankreich einen Bund geschlossen habe, als es sich erwies, gegen welche Streitkräfte der Krieg zu führen sei. Da erst wurde es ihm klar, daß man gegen den Gegner nur im Herzen Rußlands einen tötlichen Schlag würde führen können, und diese Überzeugung diente zur Nichtschnur aller späteren Handlungen, seit dem Augenblick, wo die Lenkung der

 

 

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Armee seinen Händen anvertraut war. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß das Denkmal, das sich Barklay nach den Worten Schuberts „durch die Organisation einer großen aktiven Armee errichtet hat,“ zugleich auch von all seinen anderen Verdiensten in den verschiedenen Zweigen der Militärverwaltung Zeugnis ablegen kann.

 

Der Erfolg aller damaligen Reformen wurde auch nicht wenig durch die rege Teilnahme des Kaisers gefördert. Der Kaiser Alexander, im hohen Grade interessiert durch die neuen Projekte, beriet sich über sie mit seinem Minister, noch bevor sie ausgearbeitet wurden, und aus den Berichten jener Zeit läßt sich leicht erkennen, daß ihm viele wichtige Fragen, in denen er um keine Bestätigung gebeten wurde, schon durchaus vertraut waren. Überhaupt war das Verhältnis dieser beiden edlen Charaktere zueinander ein sehr eigenartiges. Barklay hat nie zu den Günstlingen oder den Vertrauten des Kaisers gehört; für Servilität, Schmeichelei und Intriguen nicht geschaffen, konnte er auch kein Höfling sein. Wenn er auch dem Monarchen weniger nahe stand als andere, so stand er doch unvergleichlich höher, er genoß in seltenem Grade die Achtung des Kaisers. Im dieser ausgesprochenen Achtung liegt das eigentlich Charakteristische aller Beziehungen des Kaisers Alexander zu Barklay, sowohl in den offiziellen, wie in den privaten Beziehungen. Es ist bemerkenswert, daß in den zahlreichen kaiserlichen Reskripten auf Barklays Namen uns nirgends auch nur der geringste Hinweis auf irgendeine Belohnung für erwiesene oder noch erwartete Verdienste begegnet, während sonst in ähnlichen Dokumenten jener Zeit nicht nur derartige Andeutungen, sondern auch direkte Versprechen zu finden sind. Man braucht hier nur an das Reskript vom 5. April 1812 an Kutusow zu denken, wo wir unter anderem lesen: „Ich halte es für passend, daß Sie nach Petersburg kommen, wo Sie auf Belohnungen rechnen können.“ In seinen konfidentiellen und privaten Beziehungen erwies der Kaiser, der überhaupt von bezaubernder Liebenswürdigkeit war, Barklay eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit.

 

 

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Das geht am deutlichsten aus den einfachen Erzählungen Barklays in seinen Briefen an seine Frau hervor. In einem dieser Briefe lesen wir: „Das Manöver, dem ich heute beiwohnte, dauerte von 7 bis 12 Uhr, und ich habe viel von der Hitze ausgestanden, indem ich mit Sr. Majestät dem Kaiser von 7 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags zu Pferde beim Manöverieren gewesen bin. Er hatte die Gnade, mich selbst zu dieser Revue in seiner Kalesche abzuholen und bei der Rückkehr abzusetzen; als wir vom Arsenal in die Soldatenschule fuhren, begegneten wir der Kaiserin-Mutter; er ließ anhalten und stellte sich stehend in der Kalesche, um seine Mutter mit aller Ehrerbietung zu begrüßen; ich stand neben ihm rechts und fügte mich mit meiner lahmen Hand an den Rand der Kalesche. Se. Majestät bemerkten dies und faßten mich mit seiner rechten Hand unter dem Arm, indem er sagte: ‚ich werde Dich halten, greife Deine Hand nicht an‘ 1). Mit solchen Beweisen seiner besonderen Gnade beehrt er mich bei jeder Gelegenheit, mir war es also nicht ungewöhnlich, dem Publikum aber auffallend, und wie ein Lauffeuer war es gleich in der ganzen Stadt bekannt“ 2).

 

Barklay seinerseits hegte für den Kaiser Alexander nur die Gefühle grenzenloser Ergebung, in denen auch keine Spur von Egoismus lag. Dieses Gefühl verließ ihn nie, sogar in der Epoche des Jahres 1812, als Barklay verkannt und gekränkt die Armee verließ, gestattete es sich Barklay nie anders, als in den Ausdrücken höchster Ehrerbietung vom Kaiser zu sprechen, und das nicht nur in Gegenwart fremder Personen, sondern auch in den intimen Briefen an seine Frau, in denen er all seinen bitteren Gefühlen freien Lauf ließ. Dieselbe Ehrerbietung zeigt sich auch in Barklays Tagebuch, und sie beweist, bis zu welchem Grade dieser Mann, der serviles Wesen und Schmeichelei so tief verachtete, damals vor Hochachtung von der Person des Monarchen erfüllt war.

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1) Damals grüßte man militärisch mit der linken Hand.

2) Barklays Brief an seine Frau vom 17. Juni 1811.

 

 

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Das Verhältnis Barklays zu den beiden Kaiserinnen, zu Maria Feodorowna und Elisabeth Alexejewna, zeigt denselben Charakter, ihre eigenhändigen Briefe, die sich erhalten haben, können als Beweis dafür dienen. Wir wollen hier beispielsweise auf zwei Briefe hindeuten, die Barklay am Schluß der beschriebenen Epoche erhielt, als er sich in Wilna in der Stellung eines Oberkommandierenden befand. Der Brief der Kaiserin-Witwe vom 10. Juni 1812 aus Pawlowsk enthält folgendes: „Mit Vergnügen habe ich Ihren Brief vom 5. ds. Mts. gelesen und mich sehr gefreut, daß es Ihnen lieb war, die Gegenstände, die ich den Truppen gesandt hatte, zu empfangen. Seien Sie versichert, daß ich einen ganz besonderen Trost darin finde, soweit es von mir abhängt, etwas für die Erleichterung des Loses unserer tapferen Soldaten zu tun und ihnen meine Anerkennung für ihre Liebe und Treue gegen ihren Kaiser, meinen lieben Sohn, auszudrücken. Wenn noch irgendwelche andere Gegenstände oder irgendeine andere Unterstützung nötig sein sollten, so bitte ich Sie, auf mich zu rechnen. Ich vertraue fest darauf, daß der Eifer und die Tapferkeit der Truppen, daß die Fähigkeiten und Verdienste unserer Generäle und unsere gute gerechte Sache den Beistand der Vorsehung finden werden, und ich bete täglich um Erfolg für Ihre Bemühungen und um den himmlischen Segen für die Unternehmungen des Kaisers, die das Wohl der Menschheit im Auge haben. Empfangen Sie auch meine aufrichtigen Wünsche, daß Ihnen die Gesundheit erhalten bleibe, an der ich lebhaften Anteil nehme, und seien Sie überzeugt von den Gefühlen der Hochachtung und Zuneigung, mit denen ich verbleibe als die Ihnen wohlgewogene Maria.“ Der Brief der Kaiserin Elisabeth vom 15. Juni aus Kamennoi Ostrow enthält Ähnliches: „Ich habe mit besonderer Genugtuung aus Ihrem Brief vom 5. Juni ersehen, daß die Sachen, die ich für die Hospitäler der Armee bestimmt hatte, schon angelangt sind; ich danke Ihnen für diese Nachricht. Ich bedauere, daß ich mich auf diesen schwachen Beweis meiner Liebe und meiner Teilnahme für die

 

 

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tapferste und beste Armee in dieser Welt beschränken mußte; ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich ihr eine wirksamere Unterstützung bieten könnte. Ihre Sorge für die Armee und der Teil Ihres Ruhmes, der Ihnen gebührt, bereiten mir ganz besondere Freude, Ihnen diese Gefühle auszudrücken. Ich sende zum Himmel meine heißesten Gebete empor, um Glück und Erfolg für die Armee und besonders für Sie. Ich verbleibe die Ihnen völlig wohlgewogene Elisabeth”.

 

Unterdessen begannen sich die Wetterwolken, die sich am politischen Horizont Europas gesammelt hatten, immer drohender an unseren Grenzen zusammenzuballen, so sehr sich auch Napoleon bemühte, sie durch allerlei optische Täuschungen zu verbergen.

 

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IV.

 

In dem Maße, wie die Beziehungen Alexanders zu Napoleon kälter wurden, mußte sich das Petersburger Kabinett natürlicherweise immer mehr bemühen, Bundesgenossen zu finden. Aber hier waren uns die Umstände wenig günstig. Im Süden dauerte der Krieg mit der Türkei weiter fort; im Norden war der Frieden eben erst geschlossen, und auf die Zuneigung Schwedens war, nachdem man ihm Finnland genommen hatte, nicht zu rechnen. Österreich war nach dem Erfurter Kongreß ebenfalls nicht freundschaftlich gesinnt; Preußen war so abhängig von Frankreich, daß es seiner eigenen Neigung nicht folgen konnte. Auf diese Weise konnte man an den Endpunkten unserer europäischen Grenze, sozusagen in den Flanken unserer Aufstellung, von den Nachbarn nur feindselige Aktionen erwarten; im Zentrum vor unserer Westfront war die Perspektive freilich tröstlicher, aber von dieser Seite konnte man auf den Beistand der angrenzenden Monarchien auch nicht rechnen. Bald aber erwiesen sich alle diese Voraussetzungen als unrichtig; Staaten, von denen uns im Falle eines Bruches mit Frankreich Gefahr drohte, schlossen Frieden und Bündnis, aber Mächte, deren Freundschaft uns eher gesichert erschien, stellten gegen und Truppen ins Feld.

 

Der Krieg mit der Türkei dauerte schon seit dem Jahre 1806. Er wurde ohne Energie und gleichzeitig mit Friedensunterhandlungen geführt. Die Einmischung anderer Staaten schadete nur der Sache; sowohl Frankreich, das die beiden Gegner versöhnen wollte, wie auch Österreich, deren Vermittlung zurückgewiesen wurde, reizten nur die Pforte gegen Rußland und bewogen sie, keine Zugeständnisse zu machen. Andererseits

 

 

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zwang die von Napoleon anerkannte und laut proklamierte Vereinigung der Donaufürstentümer mit Rußland gewissermaßen den Kaiser Alexander, auf die Annexion dieser schon längst okkupierten Provinzen zu bestehen 1).

 

Unterdessen erforderte der wachsende Zwiespalt mit Frankreich die Konzentrierung großer Streitkräfte im Westen und die Beendigung des türkischen Krieges. „Angesichts der geheimen Pläne, die Kaiser Napoleon gegen uns spinnt“, schrieb Ende des Jahres 1811 Fürst Kurakin, „wäre nicht der Frieden mit der Türkei und ein Bündnis mit Österreich und Preußen für uns viel vorteilhafter als die Erwerbung der Moldau und Walachei” 2). In demselben Sinne sprach sich auch Tschernischew in seinem Bericht aus Paris aus, und ebenso auch die übrigen Vertreter Rußlands an den europäischen Höfen. Aber am meisten war hier natürlich Barklay interessiert, der in seiner Eigenschaft als Kriegsminister und später auch als Oberkommandierender es täglich spürte, wie sehr der endlose Krieg im Süden alle administrativen und militärischen Anordnungen im Westen erschwerte. In seinen Notizen finden sich oft scharfe Ausfälle gegen eine Politik, die trotz der augenscheinlichen Gefahr, die dem Vaterlande drohte, nach nutzlosen Gebietserweiterungen strebte. In hohem Grade wurde seine Unzufriedenheit erregt durch die Unordnung und die Mißbräuche in der Verwaltung der Donauarmee und durch die Klagen der Eingeborenen über die Bedrückungen von seiten unserer Truppen. Er schrieb das alles dem Alter und der Schwäche des damaligen Oberkommandierenden Kutusow zu, dessen sittliche Prinzipien ihm überdies auch wenig vertrauenerweckend erschienen. Barklay hat seine Bedenken auch dem Kaiser gegenüber nicht verschwiegen, und in einem seiner Berichte lesen wir:

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1) Die Vereinigung der Donaufürstentümer mit Rußland wurde von Napoleon in Erfurt anerkannt und dem gesetzgebenden Körper in der bald darauf erfolgenden Thronrede verkündet.

2) Die Beziehungen Rußlands zu den europäischen Großmächten. Von A. N. Popow.

 

 

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Schon mehrere Male habe ich Ew. Majestät davon Mitteilung gemacht, auf welche Weise unsere Truppen in der Moldau unterhalten und mit Proviant versehen werden, und welche unwürdige und ungesetzliche Handlungen dort begangen werden” 1).

 

Aber noch mehr wurde Barklay durch den ungünstigen Einfluß dieses Krieges in strategischer Hinsicht beunruhigt. „Bei der zweifelhaften Stellungnahme Österreichs”, schrieb er aus Wilna, „kann die zweite Armee nicht weit vorrücken, weil sonst die Österreicher mit ihren zweideutigen Aktionen die Flanken, ja sogar den Rücken bedrohen. Hätten wir im Augenblick nicht Krieg mit der Türkei zu führen, so wäre unser linker Flügel durch die Donauarmee gedeckt. Wenn ich mich in die Lage dieses Flügels versetze, so bin ich jedesmal bekümmert über die Schwierigkeiten, die sich aus der Fortdauer des türkischen Krieges ergeben” 2).

 

Kaiser Alexander selbst wünschte den Frieden und sah auch keine Notwendigkeit ein, nur wichen seine Forderungen so sehr von den Vorschlägen der Türkei ab, daß es äußerst schwierig war, hier einen Kompromiß zu schaffen.

 

Außerdem entsprachen diese Forderungen keineswegs der Situation auf dem Kriegsschauplatz. Bessarabien, die Moldau und Walachei befanden sich allerdings schon seit 1806 in unseren Händen, aber die darauffolgenden Operationen des Feldmarschalls Prosorowski, des Fürsten Bagration und des Grafen Kamenski waren nicht erfolgreich genug, um die Pforte zur Annahme unserer Bedingungen zu zwingen. Unterdessen erwies es sich als notwendig, fünf Divisionen zur Verstärkung unserer Westarmee vom Kriegsschauplatz abzuberufen; natürlich wurde die Aufgabe des neuen Oberkommandierenden dadurch unvergleichlich schwieriger. Dieser neue Oberkommandierende war Kutusow. Seine Operationen entsprachen bekanntlich nicht den Hoffnungen, die seine Zeitgenossen auf ihn gesetzt hatten; die

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1) Brief Barklays vom 31. März 1812.

2) Brief vom 9. April des Jahres 1812.

 

 

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Gerechtigkeit aber erfordert es trotzdem ausdrücklich, zu betonen, daß man unter den damaligen Umständen eine bessere Wahl gar nicht treffen konnte. Seit die Truppenzahl fast auf die Hälfte herabgesetzt war, konnte an Offensivaktionen gar nicht gedacht werden; man mußte sich darauf beschränken, die bisherigen Erwerbungen zu behaupten, die Fehler des Feindes auszunutzen und ihn durch geschickt geführte Unterhandlungen von der Nutzlosigkeit einer weiteren Fortsetzung des Krieges zu überzeugen. Und deswegen mußten vom neuen Führer weniger die Fähigkeiten eines Feldherrn als die Talente eines scharfsinnigen Politikers und eines gewandten Diplomaten gefordert werden. Diese Eigenschaften gerade besaß aber Kutusow in hohem Maße, und nur ihm ist es zu danken, daß am 16./28. Mai der für Rußland so notwendige Frieden geschlossen wurde, wenn auch nicht unter so günstigen Bedingungen, wie man anfänglich gehofft hatte.

 

Schweden, durch den Krieg und innere Wirren lahmgelegt, machte unserem Kabinett nur wenig Sorge. Aber der Tod des Herzogs von Södermanland und die unerwartete Wahl des Marschalls Bernadotte zum Erben des schwedischen Thrones änderten die Situation von Grund aus. Diese Wahl war um so bedeutungsvoller, als infolge des hohen Alters und der Kränklichkeit Karls XIII. die Regierung in die Hände des Erbprinzen übergehen mußte, der nicht nur durch seine militärischen Fähigkeiten als auch durch seinen selbständigen Charakter bekannt war; andererseits konnte man die Wahl eines französischen Marschalls nur auf den Einfluß Napoleons zurückführen. Bald aber erwies sich gerade das Gegenteil; die Wahl Bernadottes gab dem französischen Kaiser den Anlaß, ihn wie einen Untergebenen zu behandeln; infolge der geographischen Lage Schwedens waren seine Drohungen ungefährlich und konnten Bernadotte nur empfindlich reizen. So geschah es auch. Da er einsah, daß der einzige Staat, von welchem dem schwedischen Territorialbesitz Gefahr drohte, das benachbarte Rußland war, so bemühte sich Bernadotte im Gegensatz zu

 

 

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der seit Jahrhunderten üblichen Politik die Gunst des Kaisers Alexander zu gewinnen, weil er von einem Bündnisse mit letzterem vielleicht die Erwerbung von Norwegen erhoffte, außerdem aber ruinierte die Kontinentalsperre, die conditio sine qua non des französischen Bündnisses, wirtschaftlich Schweden und zwang es zu einer Änderung seiner Politik. Unter diesen Umständen führte die Annäherung zwischen dem Stockholmer und Petersburger Kabinett bald zu einem Bundesvertrag, durch den sich Schweden verpflichtete, an Stelle des ihm versprochenen Norwegens, gegen Frankreich und seine Alliierten 25000 bis 30000 Mann ins Feld zu stellen. Der Vertrag wurde in Petersburg am 24. Mai (5. April) 1812 unterschrieben, wobei der Beschluß gefaßt wurde, auch England zum Anschluß an das Bündnis aufzufordern. Darauf wurde der General Suchtelen nach Stockholm gesandt. Er erhielt den Auftrag, mit dem ebenfalls in Stockholm angelangten diplomatischen Agenten Englands in Unterhandlung zu treten und mit dem Erbprinzen die zukünftigen gemeinsamen Operationen des schwedisch-russischen Korps in Norddeutschland zu vereinbaren.

 

Die Politik Österreichs war für uns von der allergrößten Bedeutung, um so mehr, als die Entscheidungen Preußens in gewissen Grade von der österreichischen Politik abhängig waren. Dieser Politik eine für uns günstige Richtung zu geben, als ihre Führung in die Hände Metternichs gelangte, war unmöglich geworden. Das Haupt des Wiener Kabinetts hielt im Gegenteil eine Annäherung Franz I. an Napoleon und einen Bruch des letzteren mit Alexander für das sicherste Mittel, Österreich die Stellung in Europa wieder zu geben, die es früher eingenommen hatte. Um die Vorurteile des Monarchen zu überwinden, genügte es ja, ihn an Erfurt zu erinnern und ihn auf die Donaufürstentümer hinzuweisen, deren Annexion durch Rußland nach den Worten Napoleons „Österreich zu seinem ewigen Feinde machen würde! 1)”

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1) Die Beziehungen Rußlands zu den europäischen Großmächten vor dem Kriege vom Jahre 1812. A. N. Popow.

 

 

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Metternich wies, indem er unmerklich Napoleon gegen den Kaiser Alexander aufreizte, auf die Möglichkeit eines Bündnisses mit Österreich hin und bot sogar seine Dienste an, um auch die Pforte und Schweden für dieses Bündnis zu gewinnen. Endlich, am 2./14. März des Jahres 1812, schloß der österreichische Gesandte in Paris, Fürst Schwarzenberg, einen Bundesvertrag, durch den sich Österreich verpflichtete, gegen Rußland ein Hilfskorps von 24000 Mann Infanterie, 6000 Mann Kavallerie und 60 Geschütze ins Feld zu stellen, wobei man ins Auge faßte, daß das Korps vom 1. Mai an in 15 Tagen in Lemberg konzentriert werden könne 1).

 

Die Nachricht davon kam nach Petersburg weder aus Paris noch aus Wien, sondern aus Stockholm, wo der österreichische Gesandte genau nach den von Schwarzenberg erhaltenen Instruktionen, Schweden zum Anschluß an das Bündnis auffordern und ihm die Wiedergewinnung Finnland versprechen sollte; Bernadotte aber wies nicht nur jede Teilnahme an diesem, wie er sich ausdrückte, schmählichen Bündnis zurück 2), sondern beeilte sich auch, alles Vorgefallene dem General Suchtelen mitzuteilen. Diese unerwartete Tatsache brachte Metternich nicht aus der Fassung; er erlaubte sich sogar, unseren Gesandten in Wien mit der Versicherung zu beruhigen, daß das von Österreich gebrachte Opfer nur durch die äußerste Notwendigkeit erzwungen sei, daß beide Regierungen ein gutes Verhältnis zu einander bewahren könnten und daß im letzteren Falle 200000 Mann Soldaten, die dem Kaiser Franz zur Verfügung bleiben würden, Rußland zum Nutzen, gegen Frankreich also, bei den Friedensunterhandlungen als Drohung dienen könnten 3).

 

Auf diese Weise sah der weitblickende Diplomat, dem es gelungen war, Österreich aus einem Feinde Frankreichs in einen Freund und dann sogar in einen Bundesgenossen zu verwandeln,

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1) Die Beziehungen Rußlands zu den europäischen Großstaaten vor dem Kriege von 1812.

2) ebenda.

3) ebenda.

 

 

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schon damals die Möglichkeit jener entgegengesetzten Politik voraus, der er nach einem Jahre folgte, als er ebenso geschickt aus dem Verhältnis der Allianz in das der Neutralität und endlich in das der Feindschaft hinüberglitt.

 

Preußen befand sich in einer anderen Lage; zwischen zwei Feuer gestellt, mußte es sich notgedrungen der einen oder der anderen kriegführenden Partei anschließen. Die Wünsche und Hoffnungen des Volkes waren auf Rußland gerichtet, denn Rußland allein konnte Preußen von seinem schweren, schimpflichen Joch befreien; aber der Instinkt der Selbsterhaltung, der besonders stark beim König und seiner Umgebung ausgeprägt war, neigte die Wagschale zugunsten Frankreichs, ein Bündnis, welches sicherer die Integrität der noch übrigen Gebiete garantierte. In dieser schwierigen Lage kehrte Friedrich Wilhelm III. unmerklich zur doppelzüngigen Politik des Jahres 1805 zurück. Zu gleicher Zeit wurden sowohl mit Frankreich wie mit Rußland geheime Unterhandlungen geführt, die dazu führten, daß Ende 1811 1) eine Militärkonvention in Petersburg, Anfang 1812 jedoch ein Bündnisvertrag in Paris geschlossen wurde 2).

 

Auf diese Weise war es dem genialen Korsikaner gelungen, alle Nationen des kontinentalen Europas gegen das einzige Volk zu waffnen, das seine Unabhängigkeit bewahrt hatte; zur selben Zeit, als die Tiroler von den Alpen, die Italiener von den Apenninen, die Spanier und Portugiesen von den Pyrenäen hinabstiegen, während die Holländer und Westfalen, die Franken und Schwaben, die Bayern und Sachsen ihre Kontingente zusammenzogen und die Franzosen mit ihren Legionen Deutschland überschwemmten, die Polen aber sich scharenweise rüsteten, um in den Dienst ihres scheinbaren Befreiers zu treten — sahen sich auch die beiden letzten, noch vor kurzem so mächtigen Staaten, die noch einige Unabhängigkeit bewahrt hatten, gezwungen, ebenfalls ihr Schwert gegen ihren früheren Bundesgenossen und

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1) Den 5. (17.) Oktober.

2) Den 12. (24.) Februar.

 

 

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Freund aus der Scheide zu ziehen. Unterdessen wurde Napoleon nicht müde, durch beruhigende Versicherungen Rußland von seinen Vorbereitungen zum Kriege abzuhalten. Seine Liebenswürdigkeiten gegenüber dem Flügeladjutanten Tschernyschew kannten keine Grenzen; er faßte ihn sogar am Ohr — der höchste Ausdruck des Napoleonischen Wohlwollens — indem er ihn bei seinem Ehrenwort versicherte (im Jahre 1811), daß er innerhalb vier Jahren uns nicht angreifen würde, und schickte ihn am Tage nach dem Abschluß des Bündnisses mit Preußen nach Petersburg mit den Worten: „Ich versichere Sie, daß ich in diesem Jahre keinen Krieg mit Ihnen anfange.“ Aber alle diese Versicherungen täuschten den scharfblickenden Tschernyschew nicht. Sorgfältig verfolgte er alle Anordnungen des französischen Kaisers und meldete darüber nach Petersburg. Dasselbe System des Betrugs und der Lüge verfolgte Napoleon in seiner ganzen äußeren Politik. „Die Vorhut der italienischen Armee befindet sich schon in München,“ schrieb der Herzog von Bassano dem Gesandten nach Petersburg „und überall vollziehen sich Bewegungen unserer Truppenkörper. Bemühen Sie sich nach Kräften, bei jeder Gelegenheit zu versichern, daß, wenn es zu einem Kriege kommen sollte, nur Rußland allein die Schuld daran trägt” 1).

 

Ganz anders war das Verhalten Alexanders. Er wünschte aufrichtig die Schrecken eines Krieges zu vermeiden, er war zu Zugeständnissen bereit, solange sie nicht die Ehre und die Würde des Reiches antasteten. Um nur den Frieden zu wahren, opferte er die Konvention über die polnische Frage, überließ die Entscheidung der Oldenburgischen Angelegenheit Napoleon selbst und erklärte sich sogar bereit, die Artikel des Tarifs, die für Frankreich unvorteilhaft und kränkend waren, zu ändern. Daher hatte er ein Recht, Napoleon zu schreiben: „Wenn es zu einem Kriege kommt, so geschieht es nur, weil Sie ihn wünschen; ich habe mich auf Äußerste bemüht, ihn zu vermeiden; jetzt werde

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1) Depesche vom 25. Februar 1812. Die Beziehungen Rußlands zu den europäischen Großmächten. A. N. Popow

 

 

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ich auch verstehen zu kämpfen und werde meine Existenz nur für einen hohen Preis verkaufen“ 1).

 

Die einwandfreie Politik Alexanders wurde auch von dem neuen Gesandten Napoleons anerkannt. Er konnte ebensowenig wie sein Vorgänger in dieser Politik das finden, was Napoleon wünschte. „Ich kann nur das sehen, was ich wirklich sehe, und nur das beschreiben, was ich sehe“, berichtete Anfang 1812 Lauriston seiner Regierung. Die Lage der Dinge ist so, wie ich sie beschrieben habe, und wenn Ihr Euch nicht mit den allein möglichen Zugeständnissen begnügen wollt, so wird es zum Kriege kommen, nur weil Sie selbst ihn wollen. Aber dieser Krieg wird entsetzlich sein, so weit ich nach allem, was ich sehe und auf meinem Wege beobachtet habe, urteilen kann.”

 

So begann jene gewaltig kriegerische Epoche, die erst im Oktober 1815 mit einem allgemeinen Frieden endete, als ihr Urheber als Gefangener nach St. Helena gebracht wurde. In dem Maße, wie die Wahrscheinlichkeit eines Bruches zwischen Frankreich und Rußland größer wurde, tauchten allerlei Pläne und Projekte von Operationen für den Fall eines Krieges auf; unter diesen Plänen zeichneten sich einige besonders aus und blieben auch nicht ohne Einfluß auf den Gang der Ereignisse. Das waren insbesondere die Denkschrift Wolzogens und der Operationsplan Pfuels. Baron Wolzogen, der im württembergischen und preußischen Heere gedient hatte, trat Ende 1807 in den russischen Generalstab und wurde 1811 zum Flügeladjutanten des Kaisers Alexander ernannt, der seinen Verstand und seine gründlichen Kenntnisse sehr hoch schätzte. General Pfuel trat Anfang 1811 in russischen Dienst; im preußischen Generalstabe genoß er den Ruf eines ungewöhnlich begabten und kenntnisreichen Offiziers. In Berlin hatten beide vom Minister Stein die ihm durch Niebuhr vermittelten Worte Barklays gehört, daß man Napoleon ins Innere von Rußland locken müsse, um einen tötlichen Schlag gegen ihn zu führen; sie sahen die

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1) Die Beziehungen Rußlands zu den europäischen Großmächten usw. A. N. Popow.

 

 

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Richtigkeit dieser Anschauung ein und empfahlen ebenfalls, besonders Wolzogen, solche Operationen, die die Möglichkeit blitzartig schneller Entscheidungen ausschlossen. Aber als ausgesprochene Theoretiker begannen sie nun allerlei tiefsinnige Projekte auszuklügeln und endlich heckten sie einen Operationsplan aus, der zur Katastrophe geführt hätte, wenn Barklay ihn nicht plötzlich verworfen hätte.

 

Die Beratungen über die in allernächster Zukunft notwendigen Operationen fanden im Kabinett des Monarchen statt. Pfuel, der seine Theorien mit großem Talent entwickelte, gelang es, das Vertrauen Alexanders so sehr zu gewinnen, daß der Kaiser die Kriegskunst nach seinen Anweisungen zu studieren begann. Pfuel selbst war ein gelehrter Doktrinär mit einem engbegrenzten geistigen Horizont, zollte dem militärischen Genie Napoleons gar keine Anerkennung und glaubte fest daran, daß auf einen Erfolg nur dann sicher gerechnet werden könne, wenn man sich die Kriegsführung Friedrich II. zum Muster und die strategischen Vorschriften Bülows zur Richtschnur nehmen würde. Er hatte vor Beginn des Krieges seine ganz bestimmten Voraussetzungen, und sobald die Wirklichkeit seinen Erwartungen nicht entsprach, wußte er nicht ein noch aus. Es ist bemerkenswert, daß er, als im November 1812 der Untergang der napoleonischen Armee augenscheinlich war, tief bekümmert sagte: „Glaubt nur, daraus kann nichts Gescheutes werden” 1). Zu diesen Beratungen, die anfangs einen allgemeinen Charakter trugen, wurde auch Barklay hinzugezogen, dem aber diese doktrinären Dispute gar nicht nach dem Sinn waren, während er notgedrungen an den endlosen, recht unnützen Beratungen teilnahm, bestand er nur darauf, daß die Armee vorrücken solle, um Zeit und Spielraum für den von ihm geplanten Rückzug zu gewinnen. In diesem Sinne wurde auch damals die militärische Konvention mit Preußen geschlossen. Als es allgemein bekannt wurde, daß Preußen ein Bündnis mit Frankreich geschlossen

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1) Der Feldzug von 1812 in Rußland. General C. v. Clausewitz, S. 9.

 

 

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habe, war man gezwungen, das Vorrücken unserer Truppen nach Ostpreußen und ins Herzogtum Warschau aufzugeben und mußte sich bereit halten, dem Gegner innerhalb der eigenen Grenzen im Felde entgegenzutreten, da übertrug der Monarch, ohne Willen Barklays, Pfuel und Wolzogen die Aufgabe, einen entsprechenden Operationsplan auszuarbeiten 1). Dieser denkwürdige Plan war nur für einen sehr engbegrenzten Kriegsschauplatz zwischen dem Njemen und der Düna berechnet, die Lieblingsprinzipien Bülows spielten hier natürlich die erste Rolle, besonders aber sein berühmtes Dogma: „wichtige Punkte lassen sich eher durch eine Flanken- als durch eine Frontalposition schützen.” Als den wichtigsten Punkt betrachtete man die Stadt Wilna und für die beste Flankenposition hielt man das befestigte Lager am linken Ufer der Düna bei Drissa, zwischen den zwei Hauptwegen nach Petersburg und Moskau, ein Lager, das mit allem Nötigen aus der Festung Dünaburg versorgt werden konnte. Auf den Vorschlag Pfuels konzentriert sich unsere erste Westarmee von 120000 Mann, sobald der Gegner in unser Gebiet einrückt, bei Swenzany, nimmt unter günstigen Umständen den Kampf auf, im anderen Falle aber weicht sie bis zum Lager bei Düna zurück, was den Feind in eine äußerst schwierige Lage versetzt: wohin er sich auch wenden mag, die russische Armee sitzt ihm in den Flanken. Wenn der Feind einen Teil seiner Streitkräfte auf das rechte Ufer der Düna wirft, so geht die erste Armee, indem sie 50000 Mann in den Befestigungen zurückläßt, mit 70000 Mann ebenfalls über die Düna und greift den Feind an, wenn aber der Feind mit der Hauptmasse seiner Streitkräfte über die Düna geht, so verläßt die ganze russische Armee das Lager und greift den Rest des feindlichen Heeres an. Unterdessen aber operiert die zweite Armee im Bestande von 80000 Mann verstärkt, durch zahlreiche Kosakenregimenter, in den Flanken und im Rücken

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1) M. Bogdanowitsch, Die Geschichte des vaterländischen Krieges vom Jahre 1812, Teil I, S. 2. Bernhardi, Denkwürdigkeiten des Grafen Toll, Teil I, S. 259.

 

 

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Napoleons. Aber was in der Wirklichkeit fehlte, ergänzte bei Pfuel die Phantasie, eine Dünaburger Festung gab es gar nicht; die erste Westarmee zählte nicht 120000, sondern 110000 Mann, die zweite nicht 80000, sondern 45000 Mann; die Streitkräfte Napoleons wurden um ein wenig höher als unsere Truppenzahl eingeschätzt, in Wirklichkeit aber hätten in den Kämpfen bei Drissa zwei Russen gegen 4 bis 5 Gegner kämpfen müssen. Ein so angesehener Militärkritiker wie Clausewitz, der damals in den russischen Kriegsdienst trat und später in seinem berühmten Werk über den Krieg auf den Nutzen einer allmählichen Erschöpfung des Feindes an Kräften und Kriegsmitteln hinwies, schreibt über das Lager bei Drissa, daß unsere Armee hier sicher im Rücken angegriffen und zur Kapitulation genötigt worden wäre. Der Operationsplan Pfuels blieb bis Ankunft des Monarchen im Hauptquartier zu Wilna ein Geheimnis, woraus man schließen kann, daß er persönlich das Oberkommando über unsere Truppen übernehmen wollte; zum Glück gelang es Barklay, der nach der Abreise des Kaisers aus Drissa seine volle Bewegungsfreiheit erhielt, rechtzeitig seine Armee aus Drissa fortzuschaffen.

 

Die Aufstellung unserer Truppen an der Westgrenze kurz vor dem Ausbruch des Krieges war folgende:

 

Die erste Westarmee unter dem Oberbefehl des Generals der Infanterie Barklay de Tolly — 150 Bataillone, 136 Eskadrons, 18 Kosakenregimenter, 49 Artillerierotten, 2 Pionier- und 2 Pontonrotten, im ganzen 110000 Mann mit 558 Geschützen — nahm das Gebiet von Rossieny bis Lida ein. Das Hauptquartier befand sich in Wilna.

 

Das I. Infanteriekorps (Divisionen: 5. Infanterie-, General Berg, 14. Infanterie-, General Ssasonow, 1. Kavallerie-, General Kachowski) des Grafen Wittgenstein — 28 Bataillone, 16 Eskadrons, 3 Kosakenregimenter, 9 Artillerierotten, 2 Ponton-, 1 Pionierrotte, im ganzen gegen 19 000 Mann — stand auf dem rechten Flügel, bei Keidany; die Vorhut stand bei Jurburg, eine Abteilung in Rossieny.

 

Das 11. Infanteriekorps (Divisionen: 4. Infanterie-, Prinz von Württemberg, 17. Infanterie-, General Olssufjew, Husarenregiment Jelisawetgrad) des Generals Baggohufwudt — 24 Bataillone, 8 Eskadrons und 7 Artillerierotten, gegen 15000 Mann — stand bei Orbriten; die Avantgarde bei Janow.

 

 

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Das III. Infanteriekorps (Divisionen: 1. Grenadier-, Graf Stroganow, 3. Infanterie, General Konownizyn, Leibkosaken) des Generals Tutschkow — 24 Bataillone, 4 Eskadrons, 1 Kosakenregiment, 7 Artillerierotten, gegen 15000 Mann — stand bei Nowyi Troky.

 

Das IV. Infanteriekorps (Divisionen: 2. Infanterie-, General Bachmetjew II [später General Tschoglokow], 23. Infanterie-, General Bachmetjew I [später General Lapschew], Husarenregiment Isjum) des Grafen Schuwalow (seit dem 1. Juli der General Ostermann) — 23 Bataillone, 8 Eskadrons und 6 Artillerierotten, gegen 14500 Mann — Stand bei Olkeniki. Diese 3 Korps bildeten das Zentrum.

 

Das VI. Infanteriekorps (Divisionen: 7. Infanterie-, General Rapzewitsch, 24. Infanterie, General Lichatschef, Husarenregiment Ssumy) des General Dochturow — 24 Bataillone, 8 Eskadrons, 7 Artillerierotten, gegen 15000 Mann — stand auf dem linken Flügel bei Lida.

 

Das III. Reserve-Kavalleriekorps des Grafen Pahlen — 24 Estadrons und einer Rotte berittener Artillerie, gegen 2500 Mann — stand bei Lebiody. Darauf in der 2. Linie:

 

Das V. (Garde) Korps (die Garde-Infanteriedivision General Jermolow [seit dem 1. Juli General Schuwalow, seit dem 23. Juli General Lawrow], die Gardeequipage, die kombinierte Grenadierdivision [7 Bataillone], 1. Kürassierdivision, General Depraradowitsch) des Thronfolgers Konstantin Pawlowitsch — 26 Bataillone, 20 Eskadrons, 5 Artillerierotten und 2 berittene Batterien, gegen 18000 Mann — stand bei Swenziany.

 

Das I. Reserve-Kavalleriekorps des Generals Uwarow — 20 Eskadrons mit einer Rotte berittener Artillerie, gegen 2000 Mann — stand bei Wilkomir.

 

Das II. Reserve-Kavalleriekorps des Barons Korff — 24 Eskadrons mit einer Rotte berittener Artillerie, gegen 2000 Mann — stand bei Smorgony.

 

Das fliegende Korps des Generals Platow — 14 Kosakenregimenter mit einer Rotte der Donschen Artillerie, im ganzen gegen 6000 Mann — bei Grodno, zwischen der ersten und zweiten Armee.

 

Die zweite Westarmee unter dem Oberbefehl des Generals der Infanterie Fürsten Bagration — 46, und nach dem Eintreffen (27. Juni) der 27. Infanteriedivision, 53 Bataillone, 52 Eskadrons, 9 Kosakenregimenter, 18 Artillerierotten, 1 Pionier- und 1 Pontonrotte, im ganzen 45000 Mann mit 216 Geschützen. — Diese ganze Armee befand sich zwischen dem Njemen und dem Bug. Das Hauptquartier war zu Wolkowisk.

 

Das VII. Infanteriekorps (Divisionen: 26. Infanterie-, General Paskewitsch, 12. Infanterie, General Koljubakin, Husarenregiment

 

 

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Achtyrka) des Generals Rajewski — 24 Bataillone, 8 Eskadrons und 7 Artillerierotten, gegen 15000 Mann — stand bei Nowyi Dwor.

 

Das VIII. Infanteriekorps (Divisionen: 2. Grenadier-, Prinz Karl von Mecklenburg-Schwerin, die kombinierte Grenadier-, Graf Woronzow [10 Bataillone], 2. Kavallerie-, General Knorring) des Generals Borosdin - 22 Bataillone, gegen 7500 Mann — auf dem Marsche nach Minsk.

 

Die 27. Infanteriedivision des General Newjerowski — 12 Bataillone, gegen 7500 Mann — auf dem Marsche nach Minsk.

 

Das IV. Kavalleriekorps des Grafen Sievers - 24 Eskadrons, 1 Rotte berittene Artillerie, 1 Rotte Pioniere, 1 Rotte Pontoniere, gegen 4000 Mann — bei Bjelostok.

 

Die III. Reserve-Observationsarmee unter dem Oberbefehl ses Generals der Kavallerie Tormassow - 54 Bataillone, 76 Eskadrons, 9 Kosakenregimenter, 14 Artillerierotten, 1 Rotte Pioniere, im ganzen 46000 Mann mit 164 Geschützen. — Diese Armee hatte Wolhynien besetzt. Das Hauptquartier lag in Lutzk.

 

Das Korps des Grafen Kamenski (18. Infanteriedivision, Fürst Tschtscherbatow, eine kombinierte Grenadierbrigade [6 Bataillone|, das Husarenregiment Pawlograd) — 15 Bataillone, 4 Artillerierotten, im ganzen gegen 12400 Mann — in der Umgebung von Lutzk.

 

Das Korps des Generals Markow (Divisionen: 15. Infanterie, General Nasimow, 9. Infanterie-, General Udom, Husarenregiment Alexandria) — 24 Bataillone, 8 Eskadrons, 7 Artillerierotten, im ganzen gegen 15800 Mann — bei Kowel.

 

Das Korps des Generals Sacken (Divisionen: 36. Infanterie-, General Ssorokin, 2. Kavallerie-, das Lubensche Husarenregiment) 12 Bataillone, 2 Artillerierotten, im ganzen gegen 10200 Mann — bei Saslow und Konstantinova.

 

Das Kavalleriekorps des Grafen Lambert — 36 Eskadrons, gegen 3600 Mann — in der Vorhuf bei Wladimir.

 

9 Regimenter Kosaken, gegen 4000 Mann — bei den verschiedenen Truppenteilen.

 

Jede von diesen Armeen hatte ihren Führer, aber es gab keinen Oberkommandierenden, obgleich die beiden Armeen auf einem und demselben Kriegsschauplatz sich schlagen sollten. Man glaubte, der Monarch wolle dieses Amt selbst übernehmen; allein es wurden in dieser Hinsicht gar keine Verfügungen getroffen. Dachte Kaiser Alexander vielleicht daran, durch seine Gegenwart dem Oberkommandierenden der ersten Armee die Attribute eines Generalissimus zu erteilen, eine Würde, mit

 

 

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der er sich nicht entschließen konnte, irgendeinen seiner Generale zu bekleiden?

 

Der älteste unter den damaligen Heerführern war Kutusow. Er war nicht sehr alt, aber schon recht hinfällig, durchaus fähig, aber ein Egoist. Er weckte kein Vertrauen, und in der Tat in einer Epoche, wo alle persönlichen Interessen vor der großen Angelegenheit der Rettung des Vaterlandes schwinden mußten, waren für einen Feldherrn andere Eigenschaften als nur Verstand und List erforderlich. Bennigsen galt für einen geschickten und erfahrenen General; aber er bewies im Jahre 1807 eine so große Sorglosigkeit und Neigung zu Intriguen, daß er den durch die Schlachten von Pultusk und Eylau wohlverdienten Ruf verloren hatte. Der russische Bayard Miloradowitsch besaß nicht die Eigenschaften eines Oberkommandierenden, ebenso wie sein tapferer Kampfgenosse Bagration, der, obgleich er diese Stellung im Jahre 1810 an der Donau bekleidet hatte, dennoch die Erwartungen, die man hegte, nicht erfüllte. Zu den besten Generalen gehörte Tormassow, aber er war von schwacher Gesundheit. Auf diese Weise handelte es sich nur noch um Barklay. Er hatte noch nicht Gelegenheit gehabt, die Fähigkeiten eines Feldherrn zu beweisen, aber er hatte in allen Kriegen so viel Kaltblütigkeit, so viel Dispositionstalent offenbart, daß der Monarch, als er seinen edlen Charakter kennen gelernt hatte, eine ganz besondere Achtung und ein unbegrenztes Vertrauen zu ihm empfand. Aber er war jünger als alle. Vielleicht war dieser Umstand daran schuld, daß die Frage in betreff des Oberkommandos offen blieb, sogar nachdem der Kaiser die Armee verlassen hatte. Alexander hat vermutlich vorausgesetzt, Barklay würde in seiner Stellung als Kriegsminister alle seine Forderungen durchsetzen können und zwar, ohne daß die dazu nötige Bedingung erfüllt war, die Ssuworow so treffend mit den Worten ausdrückte: „Die volle Gewalt dem erwählten Feldherrn.“ Nun entsteht hier die Frage: hatte der Umstand, daß eine so wichtige Frage unentschieden blieb, verderbliche Folgen oder nicht?

 

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Nach der Meinung Jominis sind die wichtigsten Eigenschaften eines Feldherrn folgende: ein wirklich großer Charakter oder moralischer Mut, der zu großen Entschlüssen anfeuert und Kaltblütigkeit oder physischer Mut, der alle Gefahren beherrscht. Das Können steht erst in dritter Linie 1). Wenn auch der Ausspruch des berühmten Schriftstellers als allgemeine Richtschnur ein wenig einseitig erscheinen könnte, so war er doch unter den Umständen des vaterländischen Krieges von unbestreitbarer Wahrheit. Gegen die dreifach überlegene Streitkraft Napoleons konnte kein Feldherrntalent ankämpfen, und jeder andere Operationsplan, so ausgezeichnet er auch durchgeführt werden mochte, hätte die allerschlimmsten Folgen gehabt. Sobald es sich erwies, daß die Streitkräfte, mit denen Napoleon unsere Grenzen überschritt, sich auf über 600000 Mann beliefen, so blieb uns nur die eine Art der Kriegsführung übrig, über die sich Barklay schon im Jahre 1807 ausgesprochen hatte, und die im Jahre 1812 befolgt wurde, d. h. den Feind durch beständige Gegenaktionen zu schwächen, ohne sich in einen entscheidenden Kampf einzulassen; bis die Kräfte beider Gegner im Gleichgewicht ständen, und sollte das auch erst hinter Moskau der Fall sein. Aber bei der Durchführung dieses Planes hatte man es nicht nur mit dem Gegner zu tun: man mußte auch mit der öffentlichen Meinung kämpfen, die in einem solchen Rückzug fast einen Verrat sah. Man mußte auch mit den Intriguen und Ränken der nächststehenden Generäle und Offiziere rechnen, die eine derartige Kriegsführung nicht begriffen und ihren Urheber haßten; man mußte auch die Kampflust der Truppen zügeln, die vor Verlangen glühten, sich mit dem Feinde zu messen; man mußte endlich mit sich selbst kämpfen, mit dem natürlichen Drange, das Glück zu versuchen und alle schweren Verdächtigungen und Verleumdungen von sich fernzuhalten. Natürlich konnte man sich den Kampf erleichtern; man brauchte ja nur die Kampfgenossen in das Geheimnis einzuweihen, daß man dem entscheidenden Kampfe mit dem Gegner

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1) Précis de l’art de la guerre, Teil I, S. 110.

 

 

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ausweichen würde, sobald es ihm gelungen wäre, seine überlegenen Streitkräfte zu entfalten. Aber das wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Verlust der Energie und Kühnheit, die dem Feinde in den späteren Defensivkämpfen so viel Schaden zufügten; das Geheimnis wäre schnell allgemein verbreitet gewesen und hätte zu schwächlichen Scheingefechten geführt, von denen kein Erfolg zu erwarten war. Es blieb also nichts anderes übrig, als den schweren Kampf mit all diesen widrigen Umständen ganz allein zu Ende zu führen. War irgendein anderer imstande, das zu leisten? Dazu war mehr als Genialität nötig, dazu war jener große Charakter und jene Kaltblütigkeit nötig, von der Jomini spricht. Barklay war kein genialer Feldherr, aber er stand unvergleichlich höher als all seine Zeitgenossen „an moralischem Mut, der zu großen Entschlüssen führt, und an physischem Mut, der die Gefahr beherrscht“. Durchdrungen von dieser starken Überzeugung schritt er schweigend, aber mit einer bis zur Selbstaufopferung unbeugsamen Energie zu dem Ziele, das für die anderen in undurchdringliches Dunkel gehüllt und nur für ihn vollkommen klar war. Er verachtete dabei die Popularität und kümmerte sich nicht im geringsten um die öffentliche Meinung.

 

Die Streitkräfte, die Napoleon für den Krieg mit Rußland bestimmt hatte, erstreckten sich bis auf 600000 Mann 1); sie waren in zwölf Infanterie- und vier Kavalleriekorps geteilt, und man zählte hier 604 Bataillone, 530 Eskadrons, 1142 Geschütze der Feld- und 130 Geschütze der Belagerungsartillerie, sowie 180000 Pferde. Es war eine Riesenarmee, wenn auch keine einheitliche: die französischen Truppen bildeten nur die Hälfte der Armee; aber auch alle übrigen Truppen kämpften unter dem Oberbefehl der Marschälle und besonders in Gegenwart Napoleons mit ausgezeichneter Bravour. Allerdings konnten nicht alle erwähnten Truppen gleichzeitig unsere Grenzen überschreiten;

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1) 472000 Mann Fußvolk und Fußartillerte, 96 000 Mann Kavallerie und berittene Artillerie, 20000 Mann Genie-, Belagerungs- und Traintruppen.

 

 

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150000 Mann blieben noch zurück, als die große Armee sich schon der Weichsel näherte; sie dienten als Reserven und überschritten die Grenze erst während des Krieges. Dieser enormen Zahl an Truppen entsprachen auch die Vorräte an Proviant- und Transportmitteln, wobei die Festung Danzig die wichtigste Niederlage für diese Mittel war. Für den Nachschub an Proviant sollten fünf- bis sechstausend Fuhren und bis zu 10000 Troßknechte aufgebracht werden. Zugleich wurde eine innere Navigationslinie von Danzig bis Kowno und Wilna, im ganzen in einer Ausdehnung von ungefähr 800 Werst, geschaffen. „Mit solchen Hilfsmitteln,“ schrieb Napoleon „überwinden wir alle Hindernisse“ 1). Aber hier taucht unwillkürlich die Frage auf: welche ungewöhnlichen Ursachen bedingten die Notwendigkeit so gewaltiger Anstrengungen? Napoleon sagt selbst in seinen Memoiren: „Rußland war augenscheinlich zu mächtig, um in das von mir umgestaltete europäische System hineinzupassen; man mußte es aus demselben hinausdrängen. Die Schwierigkeiten des Krieges konnten mich nicht zurückhalten. Mein Genius erfaßte sie schnell und fand zu gleicher Zeit die Mittel, alle Hindernisse zu überwinden“ 2).

 

Das heißt also, für Napoleon bestand die Frage nur darin, wann er den Krieg anfangen sollte, zustande kommen sollte er in jedem Falle, wie es auch aus seinem Brief an den König von Württemberg deutlich zu ersehen ist: „Krieg wird es geben, aber er wird gegen meinen Willen zustande kommen, gegen den Willen des Kaisers Alexander, gegen die Interessen Frankreichs und gegen die Interessen Rußlands“ 3).

 

Wenn er aber schrieb: „gegen meinen Willen“, so hatte er insofern recht, als sein Wille sich der geheimnisvollen dämonischen Kraft unterwarf, die er selbst sein Schicksal nannte.

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1) Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges 1812. Teil I, S. 52.

2) Napoléon au tribunal de César etc. Teil IV, S. 4—5, 8—9, 15—16,

3) Brief vom 2. April 1811. Lanfrey, Histoire de Napoléon I, Teil V, S. 441.

 

 

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Das Vorrücken der großen Armee in der Richtung nach der russischen Grenze vollzog sich, während Napoleon dem russischen Monarchen seine Freundschaft beteuerte und den Wunsch äußerte, mit ihm einen Vertrag zu schließen. Er gab der Sache den Anschein, als ob dem Frieden keine Gefahr drohe, und nachdem er zu diesem Zweck den Grafen Narbonne mit einem Brief an Alexander abgefertigt hatte, blieb er bis zum letzten Moment in Paris und brach erst am 9. Mai (neuen Stils) nach Dresden auf, wo sich alle Monarchen Mitteleuropas zu seiner Begrüßung versammelt hatten. Nach einem zwölftägigen Aufenthalt in der sächsischen Residenz reiste Napoleon durch Posen und Thorn nach Danzig, erklärte diese Stadt als zu Frankreich gehörig und langte den 31. Mai (12. Juni) in Königsberg an. Endlich, am 9. (21. Juni), versetzte er sein Hauptquartier nach Wilkowischki, wo sich schon seine Garde befand.

 

Die Richtung, welche Napoleon seinen Truppen bestimmte, sobald ihm die Lage der russischen Armeen bekannt geworden, entsprach der Art zu operieren, der er gerne den Vorzug gab, nämlich der Absicht, das Zentrum zu durchbrechen. Einen ausgearbeiteten Operationsplan gab es nicht; er hatte nicht die Gelegenheit, einen solchen schriftlich zu fixieren, und hatte es auch nicht nötig, da er die Armeen selbst befehligte, er legte sich nur einige allgemeine Ideen und Richtlinien zurecht und überließ sich in der Durchführung derselben der Inspiration des Augenblicks. Dessenungeachtet offenbaren alle seine Kriege einen tief durchdachten Plan und eine genaue richtige Berechnung. So war es auch im Jahre 1812. Alle Vorbereitungen weisen klar auf die Absicht hin, möglichst unbemerkt große Streitkräfte im Herzogtum Warschau zu konzentrieren, die kriegerischen Operationen zu eröffnen, sobald man auf Graskutter rechnen konnte, und den Krieg auf dem nördlichen Kriegsschauplatz zu führen. Alle späteren Anordnungen wiesen auf den vollständig klar durchdachten Plan einer keilförmigen Bewegung in der Richtung nach Wilna hin; auf die Absicht, die Armeen Barklays

 

 

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und Bagrations zu trennen, die erstere in den Norden zu werfen und die letztere in die Sümpfe des Pripet zu drängen, und sich so den Weg nach Moskau frei zu machen.

 

Unser befestigtes Lager zu Drissa war wie geschaffen zur Ausführung dieses Planes: Der Rückzug unserer ersten Armee hierher entfernte sie noch mehr von der zweiten und beruhigte Napoleon, der schon von der Absicht Barklays Nachricht erhalten hatte, einer entscheidenden Schlacht auszuweichen und sich ins Innere Rußlands zurückzuziehen.

 

Entsprechend diesem Plan ließ Napoleon die große Armee in drei kompakten Massen in der Richtung zum Njemen marschieren: die Hauptstreitkräfte unter dem unmittelbaren Oberbefehl des Kaisers, die Garde, die Infanteriekorps der Marschälle Davoust, Oudinot und Ney und die Kavalleriekorps der Generale Nansouty und Montbrun, im ganzen 220000 Mann, nach Kowno.

 

(Die Garde [die alte des Marschalls Lefèvre, die junge des Marschalls Mortier, die Weichsel-Legion, Kavalleriekorps des Marschalls Bessieres] 54 Bataillone und 35 Eskadrons, im ganzen 47000 Mann. Das I. Korps des Marschalls Davout, 83 Bataillone und 16 Eskadrons, im ganzen 72000 Mann. Das II. Korps des Marschalls Oudinot, 51 Bataillone und 20 Eskadrons, im ganzen 37000 Mann. Das III. Korps des Marschalls Ney,48 Bataillone und 24 Eskadrons, im ganzen 40000 Mann. Das I. Reserve-Kavalleriekorps des Grafen Nansouty, 60 Eskadrons, 12000 Mann. Das II. Reserve-Kavalleriekorps des Grafen Montbrun, 60 Eskadrons, 10000 Mann. Im ganzen mit dem kaiserlichen Konvoi mehr als 220000 Mann.)

 

Die ganze Kavallerie stand noch unter dem Oberbefehl Murats, des Königs von Neapel. Die mittlere Kolonne Prinz Eugens, des Vizekönigs von Italien — die Infanteriekorps des Vizekönigs (das italienische), das Korps St. Cyr (bayrische) und das Kavalleriekorps Grouchys, im ganzen 80000 Mann. (Das IV. Korps des Vizekönigs, 57 Bataillone und 24 Eskadrons, im ganzen 45000 Mann. Das VI. Korps des Grafen St. Cyr, 28 Bataillone und 16 Eskadrons, im ganzen 25000 Mann. Das III. Reservekorps des Grafen Grouchy, 60 Eskadrons, 10000 Mann. Im ganzen 80000 Mann) nach Preni.

 

Die rechte Kolonne des Königs Jérôme — das Infanteriekorps des Grafen Poniatowski (das polnische), des Generals Regnier (das sächsische) des Generals Junot (das westfälische) und das Kavalleriekorps Latour-Maubourgs — im ganzen ebenfalls 80000 Mann. (Das V. Korps des Grafen Poniatowski, 44 Bataillone und 20 Eskadrons, im ganzen

 

 

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36000 Mann. Das VII. Korps des Grafen Reynier, 18 Bataillone und 16 Eskadrons, im ganzen 17 000 Mann. Das VIII. Korps des Marschalls Junot, 16 Bataillone und 12 Eskadrons, im ganzen 18000 Mann. Das IV. Kavalleriekorps des Grafen Latour-Maubourg, 44 Eskadrons, 8000 Mann. Im ganzen, mit den Truppen des Hauptquartiers reichlich 80000 Mann) nach Grodno und Bialostok.

 

Die Deckung der Hauptarmee gegen Norden und Süden war den Flankenkorps zur Aufgabe gemacht. Der linke Flügel des Generals Macdonald (mit allen Teilen des preußischen Korps vereinigt), im ganzen 32500 Mann (das X. Korps des Marschalls Macdonald, 36 Bataillone [unter ihnen 16 nichtpreußische] und 16 Eskadrons, im ganzen 32500 Mann) marschierte auf Tilsit, und der rechte Flügel des Fürsten Schwarzenberg (Österreicher), im ganzen 33000 Mann (das österreichische Korps des Fürsten Schwarzenberg, 27 Bataillone und 54 Eskadrons, im ganzen 33000 Mann) rückte auf Dragotschin am Bug vor.

 

Alle diese Truppen, ungefähr 54000 Mann, wurden Mitte Juni an den Übergangspunkten konzentriert. Zur Verstärkung und Ergänzung der Verluste folgten ihnen noch das Infanteriekorps des Marschalls Viktor, 33000 Mann (das IX. Korps des Marschalls Viktor, 54 Bataillone und 16 Eskadrons, im ganzen 33000 Mann).

2 Divisionen des Reservekorps Augereau’s, 27000 Mann, und ungefähr 80000 Mann zur Komplettierung bestimmter Truppenteile und in Litauen formierter Regimenter.

 

Auf diese Weise betrug die Gesamtzahl der feindlichen Truppen, die die Grenzen Rußlands überschritten und am Feldzuge des Jahres 1812 teilnahmen, mit Einschluß der Artillerieparks und des Trosses 608000 Mann 1).

 

Die Hauptstreitkräfte der großen Armee, die den vorgeschobenen Winkel der allgemeinen Aufstellung bildeten, setzten am 12. (24. Juni) über den Njemen; dem Vizekönig war der Befehl erteilt, erst am 18. (30. Juni) den Fluß zu überschreiten, und dem König von Westfalen, der Grodno besetzt hielt, noch einige Tage später. Diese letztere Anordnung hatte augenscheinlich den Zweck, die Wachsamkeit Bagrations zu täuschen und ihn an Ort und Stelle festzuhalten, bis die Hauptstreitkräfte so weit vorgerückt waren, daß sie den rechten Flügel

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1) Nach den sehr genauen Berechnungen des Historikers M. Bogdanowitsch: „Die Geschichte des Vaterländischen Krieges 1812”.

 

 

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unserer zweiten Armee umgehen und ihr mit Hilfe des schnell vorrückenden Jérôme eine unabwendliche Katastrophe bereiten könnten. Unterdessen rückten auch die Flügelkorps in unser Gebiet ein: am 12. (24.) Juni überschritt Macdonald den Njemen bei Tilsit, und den 19. Juni (1. Juli) setzte Schwarzenberg bei Dragotschin über den Bug. Auf diese Weise hatten Ende Juni 450000 Mann feindlicher Truppen die Grenze überschritten, von denen mehr als 400000 Mann auf dem nördlichen Kriegsschauplatz konzentriert waren; unsererseits konnten ihnen nicht mehr als 155000 Mann entgegengestellt werden.

 

 

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V.

 

Die Ernennung Barklays zum Oberkommandierenden der ersten Westarmee, mit Belassung im Amt des Kriegsministers, fand am 19. März statt, und am 23. reiste er aus Petersburg ab. Nach einem zweitägigen Aufenthalt in Riga setzte er die Reise über Schaulen und Kowno nach Wilna fort. In einem Briefe, dem er seinen Bericht über den Zustand Rigas beilegte, schrieb er dem Kaiser: „Die Hauptstärke der Festung beruht jedoch auf der Person ihres Kommandanten. Ich bin überzeugt, daß er es vorziehen wird, sich unter den Trümmern der Festung begraben zu lassen, als sie dem Gegner in die Hände zu geben, aber trotzdem wird er sie nur schlecht verteidigen können“ 1). Ferner weist er auf die Notwendigkeit hin, unverzüglich die kriegerischen Aktionen zu eröffnen, und bittet daher, in den Gouvernements Wilna, Grodno, Minsk, Wolhynien, Podolien und Kjew den Kriegszustand zu erklären und das Ausrücken einiger Reservetruppen zu gestatten, um Übergangspunkte im Rücken der vorausmarschierten Armee zu besetzen und zu befestigen.

 

Nach der Ankunft in Wilna erhielt Barklay Nachrichten, die ihn sehr beunruhigten: der Gegner näherte sich in bedenklicher Schnelle der Grenze der Herzogtums Warschau, während unsere Armeen nicht von der Stelle rückten. Es war ganz klar, daß der Optimismus des russischen Kabinetts, das an einen Bruch nicht glauben wollte, oder die Scheu Alexanders den ersten Schritt zu unternehmen, uns aller Vorteile der Initiative beraubt hatten. Dieser Umstand rief von seiten

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1) Brief Barklay de Tollys vom 28. März 1812.

 

 

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Barklays energische Vorstellungen hervor; in einem Brief vom 9. April lesen wir: „Ew. Majestät Armeen sind konzentriert und bereit zu kämpfen; aber ihren Führern sind noch immer die Grenzen unbekannt, bis zu welchen man die Annäherung des Feindes dulden kann und wann der Krieg für erklärt gelten soll“. Als er sich darauf von der Unmöglichkeit überzeugt hatte, dem Gegner in Warschau und Königsberg zuvorzukommen, schrieb er in betreff eines sofortigen Vorrückens von irregulären Truppen, die durch Truppenteile der regulären Kavallerie und des leichten Fußvolkes verstärkt werden sollten. Er schließt mit den Worten: „Aber ohne einen besonderen Befehl hat niemand das Recht, derartige Operationen vorzunehmen. Sie würden das Zeichen für den Ausbruch des Krieges werden, ein Entschluß, welcher ausschließlich dem ausdrücklichen Willen Ew. Majestät vorbehalten ist.” Aber diese Vorstellungen blieben ganz erfolglos; Kaiser Alexander, der im Grunde das abwartende System Pfuhls vorzog, verzichtete auf jede Art Initiative und bereitete sich schon zur Abreise ins Hauptquartier der Armee vor, um den Plan zu verwirklichen, der hier ausgearbeitet war.

 

Der Stab Barklays war nicht ganz glücklich zusammengestellt, besonders was seine beiden wichtigsten Mitarbeiter anbetrifft: nämlich den Chef des Stabes und den Generalquartiermeister. Der erste war der Generalleutnant Lawrow, der wenig für sein Amt paßte und dabei so unbeholfen war, daß er nur mit Mühe das Pferd besteigen konnte 1), der letztere, Generalmajor Muchin, ein ausgezeichneter Zeichner und Kartograph, aber ein schlechter Generalstabsoffizier. Es ist daher nicht zu verwundern, daß beide bald nach dem Beginn der kriegerischen Operationen durch andere Persönlichkeiten ersetzt wurden und zwar: Lawrow durch den Marquis Paulucci und zehn Tage später durch den General Jermolow; Muchin aber durch den Obersten Toll. Die übrigen Chefs der einzelnen Verwaltungszweige waren: der dejourierende General Generalmajor Kikin, der Chef der Artillerie Generalmajor Graf Kutaissow, der

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1) Denkwürdigkeiten eines Livländers, S. 179.

 

 

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Chef der Ingenieure Generalleutnant Trussow, Generalintendant wirkl. Geheimrat Cancrin 1). Ferner gehörten zum Hauptquartiere noch die Chefs der Verwaltungen des Feldstabes, die Offiziere des Generalstabes 2), die Adjutanten und Ordonanzen 3). Eine Ausnahmestellung nahm der dem Oberkommandierenden beigeordnete Flügeladjutant Oberst Wolzogen ein; er genoß das ganze Vertrauen des Kaisers und stand Pfuel nahe, und darum ist es sehr wahrscheinlich, daß der Monarch selbst ihn ernannt hatte, um gewissermaßen als Mittelglied zwischen diesem letzteren und Barklay zu dienen. Jermolow, der keine Gelegenheit unbenutzt ließ, seinem Chef zu schaden, und der Wolzogen haßte, verbreitete Gerüchte über den vorwiegenden Einfluß dieses letzteren; indes wußte niemand besser als er selbst, daß Barklay den gelehrten Ausländer nur wie ein Nachschlagebuch benutzte. Von den zahlreichen Adjutanten stand der Stabskapitän Kawer Barklay besonders nahe und verließ ihn nie, alle übrigen standen zu ihm nur in mehr oder weniger dienstlichen Beziehungen, obgleich sie natürlich in verschiedenem Grade sein Vertrauen genossen; aber alle teilten mit ihm die Gefahren des Kampfes, die Mühen und Entbehrungen des Biwaklebens und die einfache soldatische Beköstigung. Nach dem Zeugnis Löwensterns verkehrte Barklay mit seinen Adjutanten

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1) In der Folge Graf und bekannter Finanzminister. Ein wenig später, am 6. Juni, wurde die Hauptbehörde für die Versorgung der Armee organisiert und die Leitung dem Geheimrat Lanskoi überlassen.

2) Der Oberst Michaud, Hauptmann Neidhardt I, die Leutnants Bogdanowitsch und Diest, die Unterleutnants Oserski und Murawjew I, die Fähnriche Murawjew II, Murawjew V, Fürst Golizyn II und der Kolonnenführer Muchin.

3) Oberst Sakrewsky, der Leiter der Feldkanzlei des Kriegsministers, Major Löwenstern und Reutz, die Kapitäne Seslawin und Weljaminow und Kramin; die Stabskapitäne Kawer, Klinger, Gurko, Naryschkin und Kaschinzow; die Leutnants Lambsdorf, Bock, Rostoptschin, Barklay de Tolly, Sivers und Grabbe, Darauf befanden sich bei ihnen noch als Ordonnanzen die Adjutanten anderer Personen: Bartholomäi, Timrod, Wardenburg, Orlow, Peterson und Tschichatschow.

 

 

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und Ordonnanzen durchaus in herzlicher Weise, aber war vielverlangend und streng 1).

 

Mitte April und zwar den 14. (26.) traf Kaiser Alexander in Wilna ein und übernahm persönlich das Oberkommando über alle seine Armeen. Dann erfolgte der Befehl, daß die zweite Armee aus Luzk nach Prushany und Wolkowisk rücken solle, das sechste Korps aber aus Prushany nach Lida. Zu gleicher Zeit wurde General Dochturow zum Kommandeur dieser Korps ernannt. Dann aber wurde der Operationsplan Pfuels als der zu verwirklichende erklärt und zum Ausgangspunkt der späteren Anordnungen bestimmt. Eine besondere Militärverwaltung gab es beim Monarchen nicht; da er den Minister bei sich hatte, hielt er eine solche augenscheinlich für unnötig, obgleich die Generäle Fürst Wolkonski und Pfuel gewissermaßen als Chef des Stabes und Generalquartiermeister ihm attachiert waren. Bei dem ersteren stand damals der Oberst Toll, aber bei dem letzteren der in der Folge so berühmte Clausewitz im Dienst. Übrigens hielt sich Wolkonski mit der ihm eigenen Bescheidenheit von jeder Einmischung zurück und beschränkte sich nur darauf, die Allerhöchsten Befehle zu übermitteln; Pfuel aber, wie es seiner Einseitigkeit und der Eigenart seiner Anschauungen entsprach, wohl aber auch infolge der völligen Unkenntnis der russischen Sprache, war unfähig zu irgendeiner Art praktischen Tätigkeit. Desto mehr Spielraum zur Einmischung erhielten andere Personen, die den Kaiser umgaben, von denen außer dem Prinzen Georg von Oldenburg und Alexander von Württemberg am meisten folgende hervortraten: General Bennigsen, Paulucci, Araktschejew und Graf Armfeld. Diese Personen bekleideten keine verantwortlichen Posten, waren ohne bestimmte Tätigkeit und beschäftigten sich daher nur mit der Kritik aller Anordnungen und mit Intriguen, zum Teil auch um persönliche Zwecke zu erreichen; dabei waren ihre Kritik und ihre Intriguen natürlich gegen Barklay gerichtet, den sie als

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1) Denkwürdigkeiten eines Livländers, S. 197.

 

 

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einen selbständigen und wenig zugänglichen Mann, der außerdem den wichtigsten militärischen Posten im Reiche einnahm, haßten. Sie sprachen nur von begangenen Fehlern und der Unfähigkeit des Oberkommandierenden; Bennigsen, der die Hoffnung nicht aufgab, zu dieser Stellung emporzusteigen, unterstützte sie lebhaft 1) und sprach seine Ansichten aus; Paulucci, mit der eigenen Art über alles zu spötteln, tadelte auch alles in Form von Scherzen, Araktschejew, gegen seinen Nachfolger erbittert, weil dieser Mißbräuche entdeckt und Reformen durchgeführt hatte, schadete ihm soviel er nur konnte 2); Armfeld endlich sah in den Intriguen einen angenehmen Zeitvertreib. Außer ihm befanden sich in der Umgegend des Monarchen auch Zivilbeamte: Graf von Rumjanzow, Graf Kotschubei, Schischkow, Graf Tolstoi, der bekannte preußische Minister Stein und andere; obgleich sie sich in die militärischen Angelegenheit wenig einmischten, aber schon ihre bloße Anwesenheit im Hauptquartier charakterisiert die damalige Heeresleitung; wie sehr dieser Umstand Barklay zur Last fiel, erkennt man daraus, daß er mit dem ersten Tage der beginnenden Operationen das Hauptquartier verließ. „Ich befinde mich bei den Truppen angesichts des Feindes“, schreibt er der Frau am 26. Juni: „im Hauptquartier befinde ich mich fast gar nicht, weil das ein wahrer Hexenkessel von Intriguen und Kabalen ist, die unseren herrlichen Monarchen unentschlossen und mißtrauisch machen“ 3). Allein Barklay gelang es nicht, den unter solchen Umständen unvermeidlichen Konflikten und Mißverständnissen zu entgehen; dies zeigt sich unter anderem in einem Briefe des Kaisers Alexander an Barklay anläßlich der Ernennung des Grafen Ostermann zum Kommandeur des IV. Korps an Stelle des Grafen Schuwalow, eine Ernennung, welche ohne Mitwirkung des Kriegsministers und Oberkommandierenden erfolgt war. Auch

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1) Wolzogen, Clausewitz, Bernhardi, Löwenstern und andere.

2) Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges vom Jahre 1812, Teil I, S. 133.

3) Brief vom 26. Juni aus Belmont.

 

 

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war im Brief die Rede davon, daß ihm die von General Essen gesandten Berichte nicht übermittelt waren; der Brief lautete: „Ich muß gestehen, Ihre gestrigen Briefe haben mich tief bekümmert. Ist es möglich, daß Sie nach so vielen Beweisen der Achtung, der Zuneigung, des Vertrauens, und Sie erlauben hinzuzusetzen, der offenen Bevorzugung sogar vor Personen meiner Familie, ein Vergnügen darin zu finden, gegen mich ungerecht zu sein? Im Moment der Abreise aus Belmont erhalte ich einen Brief vom Grafen Schuwalow, in dem er mir schreibt, daß er nicht imstande sei, das Kommando zu übernehmen, daß er sich nicht mehr auf dem Pferde halten und auch nicht zwei Gedanken im Kopfe zusammen halten könne, das sind seine Ausdrücke. Es war daher keine Zeit zu verlieren, und zu meiner Verfügung hatte ich nur noch Ostermann. Den eigenhändigen Brief Schuwalows übergab ich Wolzogen mit dem Befehl, denselben Ihnen zuzustellen und in meinem Namen sagen zu lassen, daß, angesichts der Möglichkeit einer Attacke von seiten des Gegners, ich es für nötig gefunden hätte, sofort Ostermann dorthin zu senden.” Ferner ist im Brief auch die Rede von den Meldungen des Generals Essen, und zum Schluß heißt es: „Und so müssen Sie überzeugt sein, daß von Meiner Seite nicht das geringste Mißtrauen vorlag, und daß Sie Mich ganz ungerechterweise angeklagt haben.” Dieser Brief des edlen Monarchen, der sich selbst vor seinem Untertanen rechtfertigt und ihn beruhigt, weist dennoch auf einen in der Heeresleitung vorhandenen Zwiespalt hin. Es läßt sich schwerlich zugeben, daß Barklay in einer so ernsten Zeit persönliche Ansprüche sogar in einer solchen Angelegenheit erhoben hätte, wie es die Ernennung eines Korpskommandeurs ohne sein Wissen war. Es ist viel wahrscheinlicher, daß er sich zu diesem Schritt nur nach mehreren ähnlichen Fällen entschloß mit dem Zweck, seine für den Erfolg so notwendige Unantastbarkeit der Verantwortung zu wahren; und daß das durchaus nötig war, läßt sich deutlich aus den Widersprüchen in den Instruktionen, die kurz vorher von ihm und dem Kaiser Alexander an den Fürsten

 

 

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Bagration übermittelt wurden, erkennen, Widersprüche, die, wie wir sehen werden, einen entscheidenden Einfluß auf den Gang der folgenden Ereignisse ausübten.

 

Spät am Abend des 11. (23.) Juni begannen die Hauptstreitkräfte der französischen Armee, die sich bei Kowno konzentriert hatten, über den Njemen zu setzen. Die Nachricht davon gelangte ein paar Tage später nach Wilna während eines Balles, den die Generaladjutanten in Sakret, einer Villa Bennigsens, arrangiert hatten. In dieser Nacht gab Kaiser Alexander den Befehl, daß die Truppen der I. und II. Armee, wie es dem akzeptierten Kriegsplan entsprach, sich zurückziehen sollten. Damals unterschrieb er auch den Armeebefehl und das Reskript an die Residenz auf den Namen des Feldmarschalls Graf Saltykow, das mit den Worten schloß: „Ich werde die Waffen nicht niederlegen, solange sich noch ein einziger feindlicher Krieger in meinem Reiche befindet“. In der darauffolgenden Nacht wurde Generaladjutant Balaschow mit einem Brief zu Napoleon gesandt, dem der Monarch sagen ließ: Wenn er die Absicht hätte, in Unterhandlungen zu treten, so könnten diese sofort beginnen, aber nur unter einer unabänderlichen Bedingung, nämlich daß seine Armeen wieder über die Grenzen zurückgingen. So sonderbar es erscheint, aber der Übergang des Feindes über den Njemen kam für viele völlig unerwartet. Das höfische, nichtmilitärische Hauptquartier wollte überhaupt nicht daran glauben, daß der Krieg gleich beginnen müsse, ja, daß er schon gewissermaßen begonnen habe. Die halbe Million Krieger Napoleons rückte schon auf unsere Grenzen los, aber der Minister des Äußeren, Graf Rumjänzow, wurde nicht müde zu versichern, daß alles mit einer Demonstration enden würde. Diese unverständliche Politik des Zögerns und Abwartens, gegen die sich Barklay schon Anfang April energisch ausgesprochen hatte, dauerte bis zum letzten Augenblick fort und hatte zur natürlichen Folge, daß viele außerordentlich notwendigen Anordnungen zu spät erfolgten. Dadurch erklärt es sich auch, daß es erst am 3. (15.) Juni den Korpskommandeurs

 

 

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vorgeschrieben wurde, Maßregeln zu ergreifen, um die Vorräte zu entfernen oder diejenigen zu vernichten, die man im Fall eines Rückzuges hätte zurücklassen müssen, und daß nicht vor dem 12. (24.) der Befehl gegeben wurde, die Kasse und die Archive aus Wilna zu entfernen. Viele Schriftsteller beschuldigen Barklay deswegen, weil einige Vorräte in die Hände der Feinde fielen; aber erstens war dieser Verlust ganz unbedeutend, mit Ausnahme des Koltynjanskschen Magazins, und zweitens hingen die Anordnungen vor dem Kriege nicht von ihm ab.

 

Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß die Nachricht aus Kowno wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel wirkte. „Bei der allgemeinen Verwirrung war auf allen Gesichtern innere Erregung, Unruhe, Erbitterung zu lesen“, so schreibt ein Augenzeuge 1), „und das ganze höfische Hauptquartier beeilte sich, am Morgen des 14. (26.) Juni aus Wilna nach Swenziany abzuziehen. Dieser eilige Rückzug gefiel Barklay gar nicht 2). Schon aus dem Grunde, weil er von den Truppen bemerkt werden konnte, während er dem Rückzuge derselben vom ersten Tage an einen ganz anderen Charakter geben wollte, und deshalb gab er die Anordnung, daß die Truppen der ersten Armee nach Swenziany abrücken sollten, und blieb noch zwei Tage in Wilna. Entsprechend diesen Anordnungen bewegten sich die Truppen: das I. Korps nach Wilkomir, wo es sich mit dem I. Kavalleriekorps vereinigte, das II. Korps nach Schirwinty; das III. und VI. Korps nach Wilna; das VI. Infanterie- und das III. Kavalleriekorps nach Olschany und Smorgoni; das II. Kavalleriekorps nach Michalischki, die Garde blieb bei Swenziany. Dem Hetmann Platow befahl Barklay, sich zurückzuziehen, um sich mit der ersten Armee zu vereinigen. Dabei sollte er sich bemühen, durch kleine Operationen den Gegner zu beunruhigen und sein Vorrücken zu stören. Nachdem er endlich dem Fürsten Bagration den konzentrischen Rückzug aller Truppen

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1) Löwenstern, Denkwürdigkeiten eines Livländers, S. 164.

2) Aufzeichnungen Wolzogens, S. 99.

 

 

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der ersten Armee mitgeteilt hatte und ihn aufgefordert hatte, keine Operationen darnach zu wählen, schrieb Barklay, der den Wunsch hatte, die zweite Armee näher an sich heranzuziehen: „Bemühen Sie sich, daß der Feind Ihnen nicht die Wege durch Minsk nach Borissow abschneidet und schützen Sie Ihre rechte Flanke”. Die Instruktion vom 15. (27.), aus Wilna abgesandt, erreichten am 16. Bagration, der am selben Tage in der vorgeschriebenen Richtung abzog, wo er mit der 27. Division, die aus Moskau zur Verstärkung der zweiten Armee heranrückte, zusammentreffen sollte. Unterdessen kam vom Kaiser Alexander am 16. ebenfalls ein Befehl an Bagration, sich der ersten Armee zu nähern, aber nicht über Minsk und Borissow, sondern in der Richtung über Beliza oder Nowogrudsk zur Wileika; und deshalb schwenkte Bagration von Slonim nach Nowogrudsk, vereinigte sich mit der 27. Division und rückte auf Nikolajew zu, wo er über den Njemen zu setzen begann. Darauf eilte er, um auf den früheren Weg zurückzugelangen, konnte aber dem Feinde in Minsk nicht zuvorkommen und zog daher nach Bobruisk. Die Folge war, daß die gewünschte Vereinigung mit der ersten Armee um fast einen Monat verschoben wurde.

 

Barklay machte sich aus Wilna am 16. Juni mit der Arrieregarde der letzten Truppenteile auf, aber nicht zu Pferde, sondern in einer Kalesche, was alle sehr in Staunen fegte, da er sonst seine Reisen nie anders als zu Pferde unternahm. Hier aber wollte er zeigen, wie seine Vertrauten überliefern 1), daß der Rückzug freiwillig unternommen wurde und eine Eile daher nicht nötig wäre. Bald erreichten die Franzosen unsere Arrieregarde. Bei Antopol kam es zu einem kleinen Gefecht zwischen ihrer Reiterei und unseren Kosaken, wobei die letzteren ungefähr zehn Reiter, darunter den Grafen Ségur, gefangennahmen. Nach vier Tagen, am 19. Juni (1. Juli) langten die Hauptstreitkräfte der ersten Armee in Swenziany an, von wo das kaiserliche Hauptquartier sich kurz vorher nach Widsy entfernt

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1) Löwenstern, Wolzogen.

 

 

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hatte. Der andauernde Aufenthalt in Wilna und die langsame Bewegung der Truppen beunruhigten Pfuel aufs höchste, denn er fürchtete, daß Napoleon uns in Drissa zuvorkommen würde; in dieser Veranlassung schickte er einige Male seinen Adjutanten Clausewitz zu Barklay, doch der Adjutant, wie er selbst erzählt, kehrte jedes Mal mit ein und derselben Nachricht zurück, daß der Oberkommandierende völlig ruhig sei und sich gar nicht zu beeilen wünsche. Eine andere Erzählung desselben Clausewitz charakterisiert die damalige Lage der Dinge. In Widsy erhielt man die Nachricht über die Bewegung großer Streitkräfte mit der Absicht, unsere Flanke zu umgehen. Das rief natürlich eine große Aufregung hervor. Pfuel, Araktschejew und Wolkonski trafen bei dem Kaiser zusammen, um sich über die Angelegenheit zu beraten und einen Entschluß zu fassen. Von dem ersteren, als dem Strategen, erwarteten alle einen positiven Vorschlag, aber er hatte vollständig die Fassung verloren und wiederholte immerfort, daß alles Unglück durch die Langsamkeit Barklays veranlaßt sei. Da beschlossen die Adjutanten der Generäle, welche in jedem Augenblick das Erscheinen des Monarchen befürchteten, ihnen ihre Meinung zu sagen, die darin bestand, daß man nichts unternehmen müsse, sondern alles beim alten lassen möge. Diese Meinung, die außerordentlich einfach und bequem war, trug den Sieg davon; dieser Entschluß erwies sich auch als der allerbeste, da es sich sehr bald zeigte, daß die Nachricht von der Umgehung der Flanke eine falsche war 2). Ähnliche Episoden und Mißverständnisse blieben dem Scharfblick des Kaisers Alexander nicht verborgen und mußten in ihm Zweifel erwecken, ob der angenommene Kriegsplan der richtige wäre. Die Bewegungen des Gegners bewiesen vom ersten Tage an, daß die Voraussetzungen Pfuels nicht zutrafen und daß der Auftrag, der Bagration und Platow gegeben worden war, unausführbar sei. Dieser Umstand mußte den Glauben an die unerschütterliche

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2) General Karl von Clausewitz, Der Feldzug von 1812 in Rußland.

 

 

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Festigkeit des Lagers bei Drissa zum Wanken bringen, besonders nachdem der aus dem Lager am 16. (24.) zurückgekehrte Clausewitz, anstatt ein Lob auszusprechen, wie es alle erwarteten, sich sehr zurückhaltend über die Vorzüge der von ihm besichtigten Position ausgesprochen hatte.

 

Die weitere Bewegung unserer Truppen nach Drissa vollzog sich ungehindert. Die Verfolgung dieser Truppen hatte Napoleon dem König von Neapel, Murat, übertragen, wobei es zu zahlreichen Zusammenstößen kam, unter denen sich die kühne Attacke des Rittmeisters Golew Lorbeeren erwarb. Er schlug sich mit seiner Eskadron bei der Rückkehr von einer Rekognoszierung durch drei Regimenter der französischen Kavallerie mit Erfolg durch. Ein ernsteres Treffen fand am 23. Juni (5. Juli) bei Rotschegrischgy statt, wo von beiden Seiten mehr als 200 Menschen kampfunfähig gemacht wurden und unter den Gefangenen sich sogar ein Prinz Hohenlohe befand. In all diesen Scharmützeln bewies unsere Kavallerie eine solche Kühnheit, daß Barklay über dieselbe in einem kurzen Brief an seine Frau aus Belmont folgendes mitgeteilt: „Unsere Kavallerie, und was besonders bemerkenswert ist, die polnische Reiterei schlug sich mit ungewöhnlicher Tapferkeit”. Der Rückzug der Truppen unseres rechten Flügels vollzog sich ebenso leicht. Als er den 15. (27. Juni) in Wilkomir anlangte und sich dort mit dem ersten Kavalleriekorps vereinigt hatte, rückte Wittgenstein durch Swenta, unterstützt von der Arrieregarde Kulnews, der am 16. (28.) ein Gefecht bei Deweltowo hatte. Am Morgen des oben erwähnten Tages zeigten sich die ersten Truppenteile des Korps Oudinot, welche mit der Kürassierdivision Dumerque gegen Wittgenstein abkommandiert war, auf dem Wege nach Wilkomir. Kulnew traf sie mit zwei Jäger- und dem Grodnoschen Husarenregiment und sechs Geschützen vor Deweltowo und setzte darauf den Kampf in einer vorteilhaften Position hinter diesem Orte fort. Ferner setzte Wittgenstein, nachdem er die Truppenabteilungen Wlastows, die aus Rossieny kamen, und die Transportfuhren der Magazine von Telschi und

 

 

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Schaulen an sich gezogen hatte, seinen Zug nach Druja fort und setzte dort auf das rechte Ufer der Düna über. Der Rückzug des linken Flügels Barklays und der Truppen der zweiten Armee stieß häufiger auf Hindernisse; um sich diese klar zu machen, müssen wir einen Blick auf die Operationen des Gegners werfen.

 

Wie schon erwähnt, bestand der Plan Napoleons darin, indem er seine Truppen in Form eines Keiles vorrücken ließ, unsere westlichen Armeen voneinander zu trennen und dabei den linken Flügel der ersten Armee von ihren Hauptstreitkräften abzuschneiden. Zu diesem Zwecke rückten die bei Kowno konzentrierten Streitkräfte schon am 13. (25.) Juni nach Wilna vor, mit Ausschluß der Truppen des Marschalls Oudinot, die gegen Wittgenstein abkommandiert waren. Nach der Einnahme am 16. (28.) von Wilna folgte Murat, unterstützt von dem Korps Barklay, und Graf Nansouty wurde mit zwei Kavallerier- und einer Infanteriedivision nach Michalischki abkommandiert, um Dochturow abzuschneiden; zu derselben Zeit wurde Marschall Davoust mit 40000 Mann 1) nach Wischnew und Woloshin abkommandiert, um Bagration den Weg zu versperren. Unterdessen rückte der Vizekönig, nachdem er am 18. (30. Juni) bei Preni über den Njemen gesetzt war, mit seinem Korps auf Smorgoni los und richtete das Korps St. Cyr gegen Wilna, und von hier zog letzterer unmittelbar hinter der französischen Garde nach Glubokoje. Endlich rückte der König Jérôme am 22. Juni (4. Juli) mit seinen drei Infanterie- und einem Kavalleriekorps aus Grodno und Bjelostok vor mit der Absicht, Bagration anzugreifen, und ihn unter Mitwirkung des Marschalls Davoust nach Poljessje zurückzuwerfen. Dessenungeachtet trugen diese vorzüglichen Pläne Napoleons ihm nicht die erwarteten Vorteile ein. Entsprechend den Befehlen Barklays sollte das sechste Korps Dochturows durch Smorgoni vorrücken,

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1) Die Infanteriedivisionen Defaix und Compans, die Kavalleriedivisionen Chastel, Lagoussé und die Brigaden Pajol, Bordesoulle und Valence.

 

 

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um sich mit den Hauptstreitkräften der Armee zu vereinigen, und das dritte Kavallerierkorps Pahlens erhielt den Auftrag, diese Flankenbewegung zu decken. Dochturow rückte am 16. (28. Juni) vor und setzte die Bewegung in der bezeichneten Richtung fort, indem er dabei einen Zusammenstoß mit der Abteilung Nansoutys vermied. Pahlen aber rückte am 14. (26.) aus Lida vor, schob das Seitendetachement Kreutz 1) nach Oschmiäny vor, deckte die oben erwähnte Bewegung und folgte darauf dem sechsten Korps. Unterdessen warf sich der Oberst Kreutz, als er Oschmiäny vom Gegner besetzt fand, am 17. (29.) früh morgens in die Stadt und drängte die Franzosen aus derselben hinaus; es war die am weitesten vorgerückte Abteilung der Kolonne Davousts. Bald aber wurde er selbst von überlegenen Streitkräften angegriffen und begann zurückzuweichen. Darauf setzten beide Korps, nachdem sie mit den Streitkräften der ersten Armee Fühlung gewonnen hatten, ihre Bewegung nach Drissa fort.

 

Weniger erfolgreich waren die Operationen Dorochows und Platows, welche, anstatt die vorgeschriebenen Vereinigungen mit der ersten Armee zu erreichen, zur zweiten stießen. General Dorochow, der die Avantgarde des VI. Korps befehligte 2), erhielt die Nachricht, daß der Feind den Fluß bei Kowno überschritten habe, und zog sich entsprechend den ihm gegebenen Instruktionen am 15. (27. Juni) nach Olkeniki zurück, wo er aber sein Korps nicht mehr vorfand. Am selben Tage wurde der Adjutant Barklays, Kapitän Seslawin, ihm entgegengesandt mit dem Befehl, nicht nach Wilna zu gehen, von wo die erste Armee am folgenden Tage ausrücken sollte, sondern auf dem kürzesten Wege nach Michalischki 3) zu ziehen; aber aus einem

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1) Vier Eskadrons Sibirischer Dragoner und zwei Eskadrons Mariupolscher Husaren.

2) Regimenter: 1. und 18. Jäger, die Isjumschen Husaren, zwei Kosakenregimenter und eine Artillerierotte.

3) Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges von 1812. Teil I, S. 150.

 

 

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uns unbekannten Grunde erhielt Dorochow diesen Befehl nicht am Abend desselben Tages, sondern 24 Stunden später, d. h. in der Nacht auf den 17., als der ihm bezeichnete Weg nicht mehr frei war. Da schwenkte Dorochow auf Olschani ab, aber als er erfuhr, daß man von dort nicht mehr nach Michalischki gelangen könne, bewegte er sich in der Richtung auch Woloshin und Komenj, um sich mit der zweiten Armee zu vereinigen; nach ermüdenden Märschen erreichte er den zuletzt genannten Punkt am 23. Juni (5. Juli) und kam dort in Fühlung mit Platow. Der Hetmann seinerseits war mit seinem Kosakenkorps von Grodno nach Lida gerückt, zog von dort am 20. Juni (2. Juli) nach Iwije, wo er erst am folgenden Tage anlangte; als er am 22. die Nachricht von der Einnahme Wischnews durch den Feind erfuhr, schwenkte er auf Batschky ab, um sich Dorochow zu nähern. Auf diese Weise gaben Dorochow und Platow es auf, das ihnen vorgeschriebene Ziel zu erreichen, der erstere, weil er den genannten Befehl nicht erhalten hatte, der letztere aber infolge seiner allzugroßen Langsamkeit. Beide vereinigten sich am 25. Juni (7. Juli) mit den Truppen der zweiten Armee.

 

Unterdessen rückte Fürst Bagration nach seiner Rückkehr von der Nikolajewschen Furt nach Mir vor in der Absicht, die Bewegung nach Minsk fortzusetzen. Aber in Mir erhielt er eine Meldung Dorochows, daß die Franzosen bei Minsk schon erschienen wären. Da Bagration sich nicht entschließen konnte, sich mit Gewalt den Weg zu bahnen, zog er nach Neswish, wo er am 26. Juni (8. Juli) die Abteilung Dorochows mit sich vereinigte und von dort nach Slutzk und Bobruisk rückte. Die Deckung dieser Truppenbewegung von seiten des Ortes Nowogrudsk, wohin sich schon in dieser Zeit die ersten Truppenteile des Könige Jérôme genähert hatten, wurde Platow aufgetragen, der am 25. Juni (7. Juli) in Karelisch anlangte. Dort kam es am 26. Juni (8. Juli) zwischen der feindlichen Kavallerie und unseren Kosaken zu einem Handgemenge, worauf sich der Hetmann nach Mir zurückzog. Hier fand am folgenden Tage

 

 

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ein noch viel ernsteres und sehr glückliches Treffen statt. Der den Kosaken gelungene Angriff aus dem Hinterhalt hatte zum Resultat die Niederlage von drei Regimentern der Ulanendivision des Generals Roshnicki. Allein an Gefangenen verIoren die Regimenter an 248 Mann 1). Am 28. Juni (10. Juli) konnte man das Erscheinen noch bedeutenderer feindlicher Streitkräfte erwarten, und darum wurde Platow durch 16 Eskadronen des Generaladjutanten Wassiltschikow unterstützt. Und in der Tat auf demselben Schlachtfelde, auf welchem den Tag vorher der Kampf stattgefunden hatte, wurde Wassiltschikow von sechs Kavallerieregimentern angegriffen. Allein die Operationen beider kämpfenden Parteien blieben lange erfolglos. Da erschien unerwartet in den Flanken des Feindes die Kosakenabteilung des Generalmajor Kuteinikow, der von Rekognoszierungen zurückkehrte; dieser Umstand diente als Zeichen zu einem erneuten einmütigen Angriff unserer verschiedenen Kavallerieabteilungen. Der Erfolg war, daß der Feind die Flucht ergriff.

 

Bei ihrem weiteren Rückzuge bestand die Arrieregarde der zweiten Armee, verstärkt durch das fünfte Jägerkorps, einzelne Zusammenstöße in der Nähe von Njeswish, und am 2. (14. Juli) gab es ein erfolgreiches Treffen bei Romanow, wo der Feind 13 Offiziere und 360 Gemeine als Gefangene einbüßte 2). Nach dieser Affaire hörte die Verfolgung Bagrations im Rücken auf; die Truppen Jérômes, die unter dem Oberbefehl des Marschalls Davousts heranrückten, erhielten eine andere Bestimmung und zogen: das achte westfälische Korps nach Minsk-Orscha, das fünfte polnische, sowie das Kavalleriekorps Latour-Maubourgs nach Igumen-Mohilew und das siebente sächsische zurück nach Slonim, von wo es gegen Tormassow abkommandiert wurde. Der Entschluß, den der Oberkommandierende der zweiten Armee in Mir gefaßt hatte, nämlich der Entschluß, dem Kampfe auszuweichen, durch den

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1) Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges 1812. Teil I, S. 162.

2) Daselbst S. 209.

 

 

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er sich den Weg zur ersten Armee hätte bahnen können, wurde von ihm noch damit erklärt, daß er den Befehl erhalten hätte, entscheidende Schlachten mit einem stärkeren Feinde zu vermeiden. Daß der Marschall Davoust nur zwei Divisionen bei sich hatte, mag ihm unbekannt gewesen sein, aber er setzte aus irgendeinem Grunde voraus, daß ihm die ganze Armee Napoleons gegenüberstände, und er macht Barklay den Vorwurf, daß die erste Armee die feindliche Armee nicht angreife, um wenigstens einen Teil ihrer Streitkräfte von der zweiten Armee abzulenken 1). Der Zeitverlust infolge der Nichtübereinstimmung in der Richtung, die Barklay bezeichnet und derjenigen, welche der Kaiser vorgeschrieben hatte, infolgedessen Bagration dem Gegner in Minsk nicht zuvorkommen konnte, ferner die unbegreifliche Vorsicht, die ihn bewog, nach Bobruisk abzuschwenken, hatten zur Folge, daß die erste Armee ihre weiteren Operationen den langwierigen und komplizierten Truppenbewegungen der zweiten Armee anpassen mußte. Aber alle diese zufälligen und unvorhergesehenen Umstände fügten uns keinen Schaden zu, während Napoleon sich überzeugen mußte, daß seine geschickten Kombinationen ganz resultatlos blieben. Weder wurde Dochturow aufgehalten, noch wurde Dorochow gepackt, und auch Bagration fiel keiner Katastrophe zum Opfer. Dieser letzte Mißerfolg erregte besonders den Unwillen des Kaisers gegen seinen Bruder, den er beschuldigte, in seinen Bewegungen zu langsam gewesen zu sein und sich zu wenig den Operationen Davousts angepaßt zu haben, und darum stellte er seinen Bruder unter den Oberbefehl dieses Marschalls. Die Antwort Jérômes bestand in der Abreise nach seiner Residenz Kassel. Indessen hatten die Dauermärsche die französischen Truppen auf den schlechten Wegen sehr ermüdet und in unerträglichem Grade die Verpflegung erschwert. Schon am 17. (29. Juni) begannen heftige Regengüsse und darauf folgte eine unerträgliche Hitze, der Troß geriet in Unordnung und blieb zurück, so daß die Abteilung des Königs Jérôme sich bald ohne Brot und Salz sah; die übrigen Truppenteile,

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1) Brief des Fürsten Bagration an General Jermolow.

 

 

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besonders das Korps des Prinzen Eugen, verloren eine Menge Pferde, besonders Artilleriepferde. Nun trat gewissermaßen ein allgemeiner zeitweiliger Stillstand ein.

 

Unterdessen zog am 27. bis 29. Juni (9. bis 11. Juli) unsere erste Armee in das Lager von Drissa. Dank dem langsamen Rückzuge Barklays konnten sich Wittgenstein und Dochturow ruhig mit ihm vereinigen. Der erste, der am 28. Juni (10. Juli) auf das rechte Ufer der Düna bei Druja übergesetzt war, wo er durch die Reserven (2200 Fußvolk und 1300 Mann Kavallerie) verstärkt wurde, nahm eine Position gegenüber Leonpol ein, indem er sich an den rechten Flügel des Lagers anschloß. Dochturow bildete durch seine Position eine Verlängerung des linken Flügel der Befestigung. Die übrigen Truppen besetzten das Lager selbst und zwar in folgender Ordnung: das zweite Korps auf dem rechten Flügel, das dritte Korps im Zentrum, das vierte Korps auf dem linken Flügel, hinter ihnen drei Kavallerie- und das Gardekorps. Durch einen Allerhöchsten Befehl vom 27. Juni (9. Juli) verkündete der erhabene Führer seinen Truppen, daß sie das Ziel, nach welchem sie gestrebt, erreicht und sich an dem vorgeschriebenen Orte vereinigt hätten. Ja, das Ziel war erreicht, dasselbe Ziel, das aus der Ferne und auf dem Papier den Kabinettstrategen als unerschütterlich festes Bollwerk erschienen war, an welchem alle Anstrengungen des Feindes zu schanden werden sollten. Aber als was erwies sich dieses Bollwerk in der Nähe und in Wirklichkeit?

 

Das befestigte Lager befand sich auf dem linken Ufer der Düna, die ein wenig unterhalb Drissa ein Knie bildet, das den Rüden der Position einschloß, die Front dieser Position besaß eine Länge von über vier Werst, und die Tiefe beim Zentrum betrug drei Werst. Diese ganze Strecke war von Schluchten durchschnitten, die den Verkehr, die Bewegungen der Reserven und das Hinabsteigen am Fluß sehr erschwerten. Zur Befestigung der Position waren Redouten und Lünetten mit Batterien, Palisaden und Verhauen aufgeführt, in der ersten Linie gab es zehn, in der zweiten Linie sechs, in der dritten

 

 

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Linie eine, und zum Schutz der vier Brücken gab es Brückenköpfe. Vor der Front war die Gegend teilweise mit Wald und Sumpf bedeckt, aber im Rücken offen und zugänglich. Auf diese Weise hätte es sich erwiesen, daß eine von Pfuel vorausgesehene Ausfallbewegung, der 70000 Mann Truppen aus dem Lager zu einer Attacke auf diesen oder jenen Teil der feindlichen Partei, wenn auch der Unterschied in dem zahlenmäßigen Bestande kein Hindernis gewesen wäre, doch eine sehr schwierige sein mußte, während die Angriffe des Feindes in der Front durch den Wald gedeckt waren, indem man im Rücken durch nichts geschützt war. Aber in welcher Lage hätte sich in diesem Lager unsere erste Armee befunden, die einen Truppenbestand von 110000 Mann besaß, wenn sie von den Truppen Napoleons, des Vizekönigs von Italien und fast der ganzen früheren Armee Jérômes, d. h. von etwa 250000 Mann eingeschlossen worden wäre. Daß ein befestiges Lager eine große Bedeutung haben konnte, das gab auch Barklay zu, aber er wünschte ein solches Lager als den Endpunkt eines dauernden, mit hartnäckigen Kämpfen verbundenen Rückzuges der Armee, die, um dem Feind zu begegnen, bis hinter Königsberg hätte vorgeschoben sein müssen, ebenso wie ein befestigtes Lager bei Kiew der stützende Endpunkt für den Rückzug der zweiten Armee von Warschau aus hätte sein können; als aber das Vorgehen der Armee abgelehnt wurde und Pfuel den Auftrag erhielt, seinen Operationsplan auszuarbeiten, da konnte das befestigte Lager von Drissa nur zu einem zu vorzeitigen Kampf verleiten. Es ist daher nicht zu verwundern, daß auch jetzt noch einige Tage vor der Besetzung des Lagers durch unsere Armee Barklay sich noch einmal bemühte, den Monarchen zu überreden, den verhängnisvollen Entschluß aufzugeben 1). Infolge dieser Vorstellung, oder aus irgend einem anderen Grunde wurde der Flügeladjutant Oberst Michaud, ein vorzüglicher Ingenieur, der aus sardinischem Dienst zum russischen übergetreten war, sofort zur Besichtigung des befestigten Lagers

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1) Die Vorstellung Barklays vom 25. Juni aus Belmont.

 

 

 

 

 

abkommandiert, und schon am 27. Juni begab sich der Kaiser persönlich ebenfalls zum Lager, um es in Augenschein zu nehmen. General Pfuel, der ihn begleitete, erklärte die Vorteile der Position und die Bedeutung der Befestigungen, die sich als sehr schwach erwiesen, und deshalb befriedigten seine Erklärungen augenscheinlich niemanden. Der Kaiser bemühte sich, die Gedanken der ihn umgebenden Generäle zu erraten, aber außer Mißtrauen war auf ihren Gesichtern nichts zu lesen. Allein weder an diesem noch am folgenden Tage erfolgten irgendwelche Änderungen in den wichtigsten Anordnungen, so daß Barklay am 28. Juni seiner Frau aus Drissa schrieb: „Ich habe die Armee hierher geführt, weil der Kaiser es wünschte, und jetzt warte ich darauf, was nun weiter kommen wird“ 1). Unterdessen wurde die schwierige Situation Pfuels nach der stattgefundenen Besichtigung, die alle enttäuschte, unerträglich; als ein ehrenhafter Mensch mußte er es deutlich fühlen, daß die sittliche Verantwortung für die augenscheinliche Gefahr, in die die Armee geraten war, auf ihn falle; und deshalb, aber auch überzeugt von den Argumenten des ihm vertrauten Clausewitz, entschloß er sich, den Kaiser um eine Audienz zu bitten und es ihm als Notwendigkeit zu beweisen, den Oberbefehl und die absolut selbständige Führung der Truppen Barklay de Tolly zu übertragen 2). Dies bedeutete soviel wie seinen eigenen Plan aufzugeben und ihn als einen mißlungenen anzuerkennen. Der Kaiser Alexander empfing Pfuel mit der ritterlichen Höflichkeit, die ihn immer auszeichnete und nahm seine Erklärungen mit großem Wohlwollen entgegen. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß der Monarch schon selbst zu diesem Entschluß gekommen war, um so mehr da einige von den vornehmsten Personen seines Gefolges von der Überzeugung durchdrungen waren, daß der Monarch nicht das Recht habe, seine Person irgendwelchen Zufälligkeiten des Krieges auszusetzen, die man gar nicht voraussehen

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1) Brief Barklay de Tollys an seine Frau vom 28. Juni 1812.

2) Diese Erzählung des so wahrheitliebenden Clausewitz findet ihre Bestätigung.

 

 

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konnte, und da auch drei von ihnen, Balaschow, Araktschejew und Schischkow, dem Kaiser eine eindringliche schriftliche Vorstellung in diesem Sinne gemacht hatten 1). Nun berief am 29. Juni der Kaiser Alexander einen Kriegsrat, um die Frage zu beraten und zu entscheiden: Soll das Lager zu Drissa verteidigt werden oder nicht? An dieser Beratung nahmen teil: Barklay, Araktschejew, der Prinz von Oldenburg, Wolkonski und Wolzogen, der letztere als Vertreter des abwesenden Pfuel. Der Beratung ging ein Bericht des Obersten Michaud über die von ihm besichtigten Befestigungen voraus. Darauf schilderte Barklay, ohne die Vorteile einer befestigten Position für jeden Truppenteil, der sich gegen einen bedeutend stärkeren Gegner zu halten habe, zu leugnen, die Lage einer Armee, die in solch einer Position vom Feinde eingeschlossen würde und die von Truppenmassen umgeben wäre, die doppelt so stark wären wie sie. In solch eine Lage wäre die erste Armee geraten, und dann hätte ihre unvermeidliche Vernichtung, wenn auch bei einem gleich starken Verlust des Feindes, uns des Hauptmittels zur Fortsetzung des Krieges beraubt.

 

Um die Armee unversehrt zu erhalten, erklärte Barklay es für nötig, sie aus dem Lager von Drissa abziehen zu lassen. Alle übrigen, sogar Wolzogen mit eingeschlossen, von dem man eine eifrige Verteidigung des Lagers erwartet hatte, stimmten seiner Ansicht bei. In dem darauf gefaßten Beschluß des Kriegsrats war aber nicht angegeben, wohin die Armee ziehen sollte. Nach Michailowski-Danilewski beschloß man nur, irgendeine andere Richtung einzuschlagen 2). Eine so merkwürdige Entscheidung kann nur durch die Absicht Kaiser Alexanders erklärt werden, dem Oberkommandierenden eine vollständige Freiheit der Verfügung zu lassen, und durch den Wunsch, den von Barklay gefaßten und dem Kriegsrat mitgeteilten

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1) N. Schilder, Kaiser Alexander I. Teil III. S. 86—88.

2) Michailowski-Danilewski, Die Beschreibung des Vaterländischen Krieges 1812, I, S. 226.

 

 

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Plan einer Flankenbewegung in der Richtung auf Witebsk zu geheim zu halten. Daß er schon vorher diesen Plan gehegt hat, geht daraus hervor, daß Barklay auf die Frage Araktschejews bezüglich der Verpflegung der Armee antwortete, daß eine solche Verpflegung durch das Magazin von Welish gesichert sei. Seine geheimen Gedanken finden wir auch in einem Brief an seine Frau vom 29. Juni; hier lesen wir: „Der Feind ist mit einem Teil seiner überlegenen Streitkräfte zwischen der ersten und zweiten Armee vorgerückt, um sich einen Weg in das Herz Rußlands zu bahnen. Mit Gottes Hilfe hoffe ich, daß diese Absicht vereitelt werden kann. Ich befinde mich eben auf einem gefährlichen Wege, auf dem gar viel vom Glück abhängt; wenn der Herr unserem Unternehmen, das ich vorhabe, Erfolg schenkt, so werde ich den verdienten Dank des Vaterlandes erwerben. — Deine Gebete und unsere aufrichtige Hoffnung auf Gott werden mir in diesem Unternehmen helfen“ 1). Die von Barklay geplante und so kühne Flankenbewegung wurde, wie wir sehen werden, durchaus glücklich ausgeführt.

 

Unter den Personen in der Umgebung des Kaisers Alexander befand sich auch der Prinz Alexander von Württemberg, der in seiner Stellung als Generalgouverneur von Witebsk vom Oberkommandierenden in dessen Absichten, auf Witebsk vorzurücken, eingeweiht war. Der Prinz kannte die Umgebung seiner Residenz ausgezeichnet und konnte Barklay die wichtige Mitteilung machen, daß sich in der Nähe der Stadt eine außerordentlich vorteilhafte Position befände, um die Schlacht aufzunehmen. Das entsprach denkbar gut den Absichten Barklays, der die Hoffnung hatte, sich bei Witebsk mit dem Fürsten Bagration zu vereinigen und eine Schlacht zu liefern 2). Am selben Tage,

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1) Brief Barklay de Tollys an seine Frau vom 29. Juni (11. Juli) 1812.

2) M. Bogdanowitsch schreibt in seiner Geschichte des Krieges vom Jahre 1812, Teil I, S. 172: Auf den Vorschlag des Herzogs Alexanders von Württemberg, der von Barklay unterstützt wurde, beschloß man, die Richtung auf Witebsk zu einzuschlagen, wo die erste Armee eine vorteilhafte Position besetzen und sich mit der zweiten Armee vereinigen sollte. -- Hier liegt augenscheinlich ein Mißverständnis vor. Der Herzog, zur Beratung gar nicht hinzugezogen, konnte daher auch keinen Vorschlag machen; wohl aber wurde ihm als dem Generalgouverneur von Witebsk der gefaßte Beschluß von Barklay unverzüglich) mitgeteilt, wobei er auch eine Position in der ihm bekannten Gegend vorschlagen konnte. In demselben Sinn wird über diese Episode in den Aufzeichnungen des Grafen Toll, Teil I, S. 301 berichtet.

 

 

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gleich nach der Sitzung des Kriegsrates, verließ der Kaiser Alexander die erste Armee und fuhr zuerst für einige Tage nach Polozk und darauf, wie er es verabredet, der zweiten Armee entgegen. Als diese Absicht aber nicht mehr auszuführen war, begab er sich direkt nach Moskau. Als er Drissa verließ, begab sich der Kaiser zu Barklay, blieb über eine Stunde bei ihm, umarmte ihn bei der Trennung, drückte ihm die Hand und sagte: „Leben Sie wohl und nochmals leben Sie wohl! Ich überlasse meine Armee Ihrer Fürsorge. Sie dürfen nie vergessen, daß ich nur eine habe.” Die letzten Verfügungen vor der Abreise bestanden in folgendem: die Donauarmee des Generals Tschitschagow erhielt den Befehl, auf Wolhynien vorzurücken, um sich mit der Armee des Generals Tormassow zu vereinen 1). Der General Tormassow hatte den Befehl erhalten, den Feind anzugreifen. Außer den zwölf Regimentern, die vom Fürsten Lobanow-Rostowski neu formiert waren, erhielt General Kleinmichel den Befehl, noch sechs neue Regimenter aus dem Rekrutendepot zu formieren. Miloradowitsch erteilte man den Befehl, aus dem Rekrutendepot in Kaluga ein Korps von 55 Bataillonen, 26 Eskadrons und 14 Rotten Artillerie zu formieren; auch wurde ein Manifest veröffentlicht, über ein neues Aufgebot in einigen Gouvernements von fünf Rekruten auf je 500 Seelen. Endlich erschien ein Manifest über ein allgemeines Aufgebot. In diesem letzten Anlaß schrieb der

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1) Die Geschichte der Regierung des Kaisers Alexander I., Teil III, S. 221, und die Geschichte des Vaterländischen Krieges vom Jahre 1812. Teil I, S. 170.

 

 

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Kaiser an Barklay noch am 27. Juni: „Ich habe den Entschluß gefaßt, das Volk zur Vernichtung des Feindes, der in unser Reich eingedrungen ist, aufzubieten, wie zu einem heiligen Kriege, den der Glaube selbst uns auferlegt. Ich hoffe, daß wir hier den Spaniern nicht nachstehen werden.” Damals fand auch der Personalwechsel im Hauptstabe der Armee statt, den wir schon erwähnten, indem nämlich als Chef des Stabes Lawrow, und an Stelle des zeitweilig diesen Posten bekleidenden Paulucci der General Jermolow trat und an Stelle des General-Quartiermeisters Muchin der Oberst Toll.

 

Beim Namen Jermolow kommen wir unwillkürlich auf den Gedanken, wie oft doch der Ruhm von Menschen erworben wird, auf den sie eigentlich gar kein Anrecht haben. Die Fähigkeit, vor dem großen Haufen eine Rolle zu spielen und sich seinen Instinkten anzupassen, verschafft solchen Persönlichkeiten große Popularität, und eine glückliche Verkettung der Umstände, oft sogar nur ein einziger Zufall hebt sie plötzlich in die Augen der Masse zu Volkshelden empor. Solch ein Mensch war auch Jermolow, in dessen Leben man nur schwer eine Tat finden wird, die seinem später erworbenen Ruhm entsprach. Das Geheimnis seiner Popularität beruhte vielleicht darauf, daß alle Äußerungen seines scharfen Verstandes und seines schroffen Charakters eine nationale Färbung annahmen; indem er seinen Haß gegen alles Fremdländische offen zur Schau trug, wurde er das Ideal der Patrioten, welche nur die nationalen und orthodoxen Fanatiker als vollberechtigte Untertanen im russischen Staat anerkennen. Von solch einem Geiste wurde auch die Tätigkeit Jermolows in seiner neuen Stellung als Chef des Hauptstabes bestimmt und gefärbt, obgleich er nur sehr oberflächlich an der Leitung der kriegerischen Operationen teilnahm, hielt er sich doch für berechtigt, an den kriegerischen Operationen des ihm verhaßten Oberkommandierenden, der ein Balte war, scharfe Kritik zu üben. Jermolow fand ein wahres Vergnügen daran, beständig, wenn auch in verdeckter Weise, seinen Tadel auszusprechen. So wurde er bald die Seele der Opposition

 

 

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gegen den Mann, dem er eigentlich aus Pflichtgefühl und echtem Patriotismus mit allen Kräften hätte helfen müssen. Die Meinung Barklays über seinen nächsten Mitarbeiter ist uns unbekannt, denn Jermolow bewies äußerlich keine Hochachtung und gab sich auch den Schein, als ob er ihm durchaus ergeben wäre, und deshalb konnte der edle, vornehme Barklay unmöglich in ihm einen geheimen Feind vermuten; so viel ist nur sicher, daß Barklay ihm wenig Vertrauen schenkte, ihm nicht näher trat und sich nicht mit ihm beriet. Jermolow natürlich erzählt in seinen Aufzeichnungen ganz andere Dinge. Er erzählt allerlei von Ratschlägen und Plänen, die er ihm gegeben habe, aber worin diese bestanden hätten, blieb für alle ein Geheimnis. Als erfunden erweist sich auch seine Erzählung über die Unzufriedenheit Barklays mit Toll, der trotz der Fürsprache Jermolows den Befehl erhalten habe, die Armee zu verlassen, und der sich nach Moskau begab, wo er dann auch, ohne einen Posten zu bekleiden, blieb. Aber natürlich können wir daran gar nicht zweifeln, daß der Chef des Stabes, Jermolow, wissen mußte, daß mit seinem täglichen Mitarbeiter, dem General-Quartiermeister Toll, nichts Derartiges passiert war. Der Oberst Baron Toll war ein ausgezeichneter Offizier des Generalstabes, von hervorragender Begabung, reich an Kenntnissen, sehr energisch und ein durchaus edler Charakter. Hätte er dabei noch den nötigen Takt besessen, so wären seine Beziehungen zu Barklay auch vertrauter gewesen; aber der ehrliche und wahrhafte Toll kannte keine anderen Motive als das Gefühl der Pflicht und das, was zum Nutzen der allgemeinen Sache diente.

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1) Die Denkschrift A. P. Jermolows, herausgegeben im Jahre 1863, S. 72.

2) Die Erinnerungen des damaligen Adjutanten Barklays, des Generals Löwenstern. Denkwürdigkeiten eines Livländers, S. 180 -181.

 

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VI.

 

Nach der Abreise des Kaisers wurde Barklay, wie ein Augenzeuge erzählt, noch ruhiger und klarer in seinen Anordnungen. Wie auf den Wink eines Zauberstabes wurde alles um ihn anders. Das Wartezimmer, das seit einiger Zeit leer gestanden hatte, füllte sich wieder mit den Personen, welche ihn noch vor kurzem so scharf getadelt hatten, aber er blieb kalt und ruhig wie immer, man merkte nicht die geringste Veränderung in seinem Wesen; mit all seinen geheimen Neidern ging er höflich wie immer um. Da er aber für die Personen der zurückgebliebenen Suite keine Beschäftigung hatte und es ihm an Räumlichkeiten fehlte, so traf Barklay die Anordnung, daß sie, unter ihnen der Herzog von Württemberg, Bennigsen, Armfeldt u. a. wie früher einen Tagesmarsch weit von der Armee entfernt blieben. Diese Maßregel, die ihnen nicht die Möglichkeit raubte, am Kampfe sich zu beteiligen, weckte nichtsdestoweniger eine große Unzufriedenheit in den bezeichneten Persönlichkeiten, von denen viele allmählich abreisten. Trotz seiner äußeren Ruhe konnte Barklay sich nicht die ganze Schwierigkeit seiner Situation verhehlen: der Erfolg der von ihm geplanten Unternehmungen hing nicht nur von den Operationen der ersten Armee ab, über die er allein frei verfügte, sondern auch von den Operationen der zweiten Armee, die nicht unter seinem Kommando stand. Viel vor allem hing von dem guten Willen des Fürsten Bagration ab, auf den man durch Überredung und Bitten versuchen mußte, einzuwirken. Der ehrenhafte Krieger und feurige Patriot war natürlich nicht imstande, aus persönlichen Motiven der allgemeinen Angelegenheit

 

 

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zu schaden. Aber er konnte die allgemeine Lage nicht übersehen und richtig beurteilen. „Wir würden die Truppen des Feindes wie nichts über den Haufen werfen“, schrieb er Jermolow am 3. Juli, „ich sehe es aber, wir sind verkauft, man führt uns ins Verderben“. Und sogar noch später, am 29. Juli, als die allgemeine Lage sich vollständig geklärt hatte, schrieb er: „Ich begreife ihre klugen Manöver nicht. Mein Manöver heißt: suchen und schlagen”. Außerdem strebte Bagration selbst nach der Würde des Oberkommandierenden. Das zeigt sich sehr deutlich am Ende desselben Briefes: „Aber was soll ich dem Kaiser schreiben, ich weiß es wahrhaftig nicht. Ich habe ihm geschrieben, daß wir uns vereinigt hätten, ich habe ihn gebeten, zu bestimmen, daß nur einer der Oberkommandierende sein soll, aber nicht zwei. Wenn ich meine Meinung schreiben wollte, so würde ich schreiben, der Kaiser möchte mir das Kommando über beide Armeen übergeben; dann würde der Kaiser denken, daß dieses Streben meinen Verdiensten und Talenten nicht entspricht, sondern nur der Eitelkeit entspringt“.

 

Wie konnte Barklay unter solchen Umständen auf irgendeine Mitwirkung hoffen? Auch er glühte vom Wunsche, den Kampf zu wagen, aber er hielt sich nicht für berechtigt, an eine Schlacht zu denken, bevor sich nicht die Möglichkeit gezeigt hätte, den Sieg oder irgendeinen Erfolg zu erringen, aber daß zu einem solchen Entschlusse mehr Mut und Selbstverleugnung erforderlich war, das konnten Persönlichkeiten wie Bagration damals nicht begreifen.

 

Nah einem dreitägigen Aufenthalt in dem Lager zu Drissa setzten die Truppen der ersten Armee am 2. (14.) Juli unbemerkt auf das rechte Ufer der Düna über; auf dem linken Ufer blieben, um den Übergang zu maskieren und zur weiteren Beobachtung nur das zweite und dritte Kavalleriekorps stehen. Um nun sichere Nachricht vom Feinde zu erhalten, unternahm am folgenden Tage, den 3. (15.) Juli die Avantgarde des ersten Korps eine Rekognoszierung jenseits des

 

 

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Flusses Druja, wobei die Kosaken und Grodnoschen Husaren des Obristleutnants Rüdiger die französische Kavallerie angriffen, verfolgten und 140 Mann gefangen nahmen. Unter den Gefangenen befand sich der General Saint Géniers und drei Offiziere 1).

 

Ungefähr in derselben Zeit, das heißt in den ersten Tagen des Juli, kam es auch zu kriegerischen Operationen bei Dünaburg. Die dort angelegte Festung hatte noch kaum die Bedeutung eines Hindernisses, aber die Befestigung der Vorstadt befand sich schon im Verteidigungszustande und war von einigen, wenn auch recht schwachen Reservebataillonen eingenommen. Die Franzosen (von dem Korps Oudinote) versuchten einige Male diese Befestigungen zu nehmen, wurden aber zurückgeschlagen; in demselben Zeitraum wurden alle Kranken und alles Kroneigentum aus Dünaburg wegtransportiert, und erst am 15. (27.) Juli, als die Vorhut Macdonalds aus Kurland heranzurücken begann, fing auch der dort kommandierende General Hamann an, sich langsam in der Richtung auf Drissa zurückzuziehen.

 

Die Scharmützel an der Drissa und bei Dünaburg haben augenscheinlich den Gegner in der Meinung bestärkt, daß wir das Lager an der Drissa behaupten würden, jedenfalls geschah nichts, um unsere Bewegung nach Witebsk zu erschweren, was Clausewitz dem Napoleon als einen großen Fehler anrechnete 2).

 

Napoleon selbst sah es auch ein, aber schrieb seinen Mißgriff einem bösen Mißgeschick zu: „In diesem Kriege”, so sagt er in seinen Erinnerungen 3) „befand ich mich unter dem Einfluß eines bösen Genius, der mir in entscheidenden Augenblicken

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1) Außerdem verlor der Feind an Gefallenen und Verwundeten gegen 300 Mann, von unserer Seite schieden 75 Mann aus der Front. M. Bogdanowitsch, Vaterländische Geschichte des Krieges. Teil I, S. 173.

2) Der Feldzug von 1812 in Rußland.

3) Vie politique et militaire de Napoléon, Teil IV, S. 70-71.

 

 

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Hindernisse in den Weg warf, die gar nicht vorauszusehen waren. Konnte ich denn voraussehen, daß die russische Armee nicht länger als drei Tage im Lager bleiben werde, das so enorme Summen Geldes und mehrere Monate Arbeit gekostet hatte.“

 

Barklay ließ Wittgenstein bei Drissa, um den Weg nach Petersburg zu decken, und rückte am 4. (16.) Juli mit den übrigen Truppen nach Witebsk vor. An der Spitze marschierte das erste Kavalleriekorp Uwarows, ganz zuletzt das sechste Korps Dochturows; die Deckung dieser Bewegung war die Aufgabe des zweiten und dritten Kavalleriekorps des Barons Korff und des Grafen Pahlen, die die Düna bei Drissa und Disna drei Tage später überschritten. Am 7. (19) Juli machte die Armee in Polozk einen Tag Rast mit Ausnahme des Korps von Uwarow, der vorausgeschickt war, um Witebsk einzunehmen und zu decken. Nach der Ankunft in Witebsk nahm die Armee folgende Stellung ein: das dritte, vierte und fünfte Infanterie- und das erste Kavalleriekorps an dem Iinken Ufer der Düna an dem Flüßchen Lutschessa, einer von dem Herzog von Württemberg empfohlene Position; das zweite Infanterie- und das zweite Kavalleriekorps besetzten die Gegend auf dem rechten Ufer der Stadt. Das sechste Infanteriekorps Dochturows, das der Armee in der Entfernung eines Tagesmarsches nachfolgte, besetzte die Gegend bei einem alten Dorfe an dem Wege nach Polozk, das dritte Kavalleriekorps Pahlens, einen halben Tagesmarsch von dem letzteren entfernt, bildete die Arrieregarde.

 

In Witebsk erhielt man die Nachricht, da die Avantgarde des Fürsten Bagration schon in Mohilew eingerückt sei. Hocherfreut darüber hielt F. Barklay die Vereinigung der Armeen für gesichert. Aber bald kam eine andere Nachricht, aus der es klar wurde, daß die oben erwähnten Truppen noch nicht in Mohilew eingerückt seien, wohl aber in den nächsten Tagen einrücken würden. Da beschloß Barklay, die Operationen seines Kriegsgefährten zu unterstützen, indem er eine Abteilung

 

 

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nach Orscha sandte. Um diese Absicht auszuführen, mußte er die Streitkräfte Dochturows und Pahlens heranziehen, außerdem aber auch noch zuverlässige Nachrichten über den Feind erhalten. Zu diesem Zweck wurden folgende Abteilungen nach verschiedenen Richtungen abkommandiert: Tutschkow nach Babinowitschi, Orlow-Denissow nach Ssenno und das durch vier Kavallerieregimenter verstärkte Korps Ostermann-Tolstoi nach Ostrowno. Die Abkommandierung so bedeutender Streitkräfte nach Ostrowno war deshalb notwendig geworden, weil die Vorposten berichtet hatten, daß bedeutende Streitkräfte des Gegners auf Beschenkowitschi vorrückten. Barklay benachrichtigte den Oberkommandierenden der zweiten Armee von seiner Absicht und forderte die entsprechenden Operationen auch von seiner Seite. Auch hielt er es für geboten, den Flügeladjutanten Wolzogen zu ihm abzubeordern, um ihn zu bitten, den Operationen der ersten Armee entsprechend zu handeln und über keine Operationen Bericht zu erstatten. In der Befürchtung, das Selbstgefühl des Fürsten, der einen höheren Rang bekleidete, zu verletzen, schrieb er ihm: „Vor der Erwägung, daß mir in diesem entscheidenden Augenblick die Verteidigung des Vaterlandes anvertraut ist, müssen alle übrigen Bedenken schweigen, und alles, was sonst in gewöhnlichen Zeiten die gegenseitigen Beziehungen beeinflußt. Das Heil des Vaterlandes fordert gebieterisch unsere Eintracht, denn hier liegt das sicherste Pfand für unsere Erfolge. Wollen wir zusammenhalten und unseren Feind zu Boden werfen. Das Vaterland wird Sie segnen, wenn Sie einwilligen! 1)“

 

Unterdessen näherte sich die französische Armee Witebsk. Murat, der die Nachricht erhalten hatte, daß die Russen das befestigte Lager verlassen und sich nach Polozk zurückgezogen hätten, schickte das Korps Oudinots mit der Kavalleriedivision Doumere an die Drissa und rückte mit den übrigen Streitkräften, dem Korps Ney und drei Divisionen vom Korps

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1) Schreiben Barklay vom 13. (25.) Juli. Die Aufzeichnungen Tolls bei Bernhardi. Teil I, Seite 314— 315.

 

 

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Davoust und den Kavalleriekorps Nansouty und Montbrun auf die Drissa los. Dort ließ er Montbrun auf das rechte Ufer übersetzen und setzte den Zug nach Beschenkowitschi fort, wo auch bald die ersten Truppenteile des Prinzen Eugen eintrafen. In derselben Seit, 12. (24.) Juli, langten auch die übrigen Truppen des Vizekönigs hier an: das Korps Saint-Cyr, die alte Garde, die junge Garde und das Kavalleriekorps Grouchy.

 

Am Abend des 12. (24.) Juli kam auch Napoleon selbst in Beschenkowitschi an. Er befahl, sofort eine Brücke über die Düna zu schlagen und das rechte Ufer des Flusses zu rekognoszieren; als er sich überzeugt hatte, daß sich die russische Armee schon bei Witebsk befände, gab er Montbrun den Auftrag, Dochturow und Pahlen im Auge zu behalten, und bereitete sich darauf vor, sich mit der ganzen gesammelten Streitmacht auf Barklay zu stürzen. Unter diesen Umständen konnte der geplante Zug unserer ersten Armee nach Orscha zur Vereinigung mit der zweiten Armee nicht ausgeführt werden. Aber was sollte man tun? Den Rückzug fortsetzen?, das hieß für lange Zeit auf eine Unterstützung des Fürsten Bagration verzichten; die Schlacht annehmen hätte aber soviel bedeutet, wie allein gegen zwei Gegner zu kämpfen, um sicher geschlagen zu werden. Barklay fand einen anderen Ausweg aus dieser schwierigen Situation, einen Ausweg, wie er seinem allgemeinen Kriegsplan gegenüber den überlegenen Streitkräften Napoleons entsprach; er begann sich energisch auf eine Schlacht vorzubereiten, mit der festen Absicht, einem entscheidenden Kampfe auszuweichen, wenn nicht die zweite Armee heranrücken würde, um an der Schlacht teilzunehmen. In beiden Fällen, so schrieb Barklay in seinen eigenhändigen Aufzeichnungen, würde er Napoleon zwingen, viel Zeit zu verlieren. Denn Napoleon mußte in ermüdenden Märschen seine Hauptkräfte nach Witebsk rücken lassen und die übrigen Truppen Davousts von Mohilew an sich heranziehen. Dieser Zeitverlust Napoleons hatte es wieder Bagration leichter gemacht, über den Dnjepr zu setzen,

 

 

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um sich mit der ersten Armee zu vereinigen. Sieben Werst vor Witebsk trafen die ersten Truppenteile des Grafen Ostermann auf die Avantgarden des Generals Nansouty. Diese machten kehrt, und von unserer Kavallerie verfolgt, zogen sie sich bis hinter Ostrowno zurück. Ostermann machte vor Ostrowno halt und besetzte die Position zu beiden Seiten des Weges, indem er sich mit seinen Flügeln an sumpfiges und bewaldetes Gelände anlehnte. Seine Abteilung bestand aus 23 Batterien, 28 Eskadrons und 70 Geschützen 1).

 

Früh am Morgen des 13. (25.) Juli ließ Murat die ganze Kavallerie Nansoutys nach Ostrowno vorrücken; zugleich auch ein Jägerregiment; an der Spitze zog die Brigade Piret. Unsererseits rückten ohne alle Vorsichtsmaßregeln zwei Eskadrons Leibhusaren entgegen, gefolgt von sechs Geschützen der reitenden Artillerie, sobald die Franzosen sie bemerkten, stürmten sie heran, zerstreuten die Husaren und erbeuteten die Geschütze. Unterdessen entfaltete die ganze Brigade Piret ihre Streitkräfte, sie war noch mit der Aufstellung zum Kampfe beschäftigt, als sich auf ihrem rechten Flügel unser Njeschinsches Regiment zeigte, allein es gelang zwei Regimentern der französischen Kavallerie, unsere Dragoner zu attackieren, sie über den Haufen zu rennen und 200 Mann gefangen zu nehmen. Dagegen wurden die zwei anderen Regimenter vom Korps Nansouty, die aus Ostrowno ausgerückt waren und sich auf die Infanterie Ostermanns gestürzt hatten, mit einem starken Feuer empfangen und unter großen Verlusten zurückgeworfen. Das Korps Ostermanns war in zwei Linien aufgestellt: in der ersten Linie stand die zweite Division in Frontaufstellung, in der zweiten Linie die 23. Division in Bataillonskolonnen und die Kavallerie; vor der ersten Linie befanden sich die Batterien. Gegenüber diesen Batterien und unserer Schützenkette lagen

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1) Die 26. Infanteriedivision Bachmetjews II., die 23. Infanterie-Division Bachmetjews I: Das Isjumsche, Sumsche und das Leibhusaren-Regiment, das Ingermanländsche und Njeschinsche Dragoner-Regiment, 6 Rotten Infanterie und 6 Rotten reitende Artillerie.

 

 

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zerstreut französische Jäger. Da befahl Graf Ostermann drei Bataillonen des linken Flügels, diese Jäger zurückzuwerfen, was aber nicht gelang, da sofort, kaum daß unsere Bataillone sich in Bewegung gesetzt hatten, einige Eskadrons der feindlichen Kavallerie mit einem Flankenangriff drohten. Alle übrigen Versuche Ostermanns gegen die beiden Flügel Murats blieben erfolglos, da die Kavallerie Murat so sehr überlegen war. Übrigens bestand ja seine Aufgabe hauptsächlich darin, das Anrücken der Gegner zu verlangsamen und zu erschweren, bis Mittag des Tages gelang diese Aufgabe ganz gut, als aber die ganze Division Delzons, d. h. 19 Bataillone, in Ostrowno anlangten, wurde das Übergewicht der französischen Streitkräfte überwältigend groß. Trotz dieser Übermacht setzte Ostermann, dessen Standhaftigkeit wohl der wertvollste Charakterzug dieses Kriegsmannes war, ruhig und entschlossen die Verteidigung seiner Position fort. Der Oberkommandierende sandte ihm zu dieser Zeit drei Regimenter Kavallerie zur Hilfe, aber sie traten nicht in Aktion. Andererseits war aber auch die Division Delzons vom Eilmarsche so ermüdet, daß sie sich damit begnügen mußte, ihre Artillerie auffahren zu lassen. So hielt sich Ostermann trotz der großen Verluste, die einige seiner Regimenter durch das Artilleriefeuer erlitten, bis zum Einbruch der Nacht. In dieser Situation hatte er die bekannten Worte ausgesprochen, die in der Folge so oft wiederholt wurden: Auf die Nachricht von den großen Verlusten durch die feindlichen Kartätschen und auf die Frage, was man tun sollte, antwortete er: „Man soll nichts tun als standhalten und sterben“; aber auf den Bericht des Batteriekommandeurs, daß eine Menge Kanoniere gefallen und auch Geschütze beschädigt seien, und auf die Frage, was denn der Graf zu tun befehlen, antwortete der letztere: „Man soll aus den übrig gebliebenen Kanonen schießen“. Barklay de Tolly, dem der Stand der Angelegenheiten stündlich durch seine Adjutanten mitgeteilt wurde, hielt es doch für geboten, das Korps Ostermanns durch eine andere Truppenabteilung zu ersetzen. Am selben Tage wurde die dritte

 

 

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Division des Generals Konownizyn, verstärkt durch einige Kavallerieregimenter, auf der Landstraße nach Ostrowno geschickt und besetzte eine gute Position zwei Werst von Witebsk. Die Front war durch eine Schlucht, der rechte Flügel durch die Düna und der linke durch einen sumpfigen Wald geschützt. Konownizyn erhielt den Befehl, die Truppen Ostermanns und Uwarows durchzulassen und das weitere Vorrücken des Feindes zu hemmen; Ostermann erhielt den Befehl, mit Tagesanbruch das Lager abzubrechen, dann bis hinter die Position Konownizyns sich zurückzuziehen, um in der Reserve zu bleiben. Am Morgen des 14. (26.) Juli rückte der König von Neapel mit den Truppen Nansoutys und des Vizekönigs von Italien auf der Witebskschen Straße vor und langte um 8 Uhr vor der Position Konownizyns an. Sehr bald entbrannte der Kampf auf der ganzen Linie. Anfangs versuchte der Feind, durch starkes Feuer die Standhaftigkeit unserer Truppen zu erschüttern; dann begann das Fußvolk des Vizekönigs die Attacke auf beide Flügel, und zugleich begannen einige Eskadrons unsere Positionen zu umgehen, indem sie einige Furten über die Düna benutzten. Die Attacke auf dem linken Flügel wurde zurückgeschlagen; auf dem rechten Flügel wichen unsere Bataillone zurück. Da ließ Konownizyn seine Reserven vorrücken, die durch zwei Regimenter der zweiten Division verstärkt wurden, und drängte den Gegner von neuem zurück; bei dieser Gelegenheit ließ sich eines von seinen Bataillonen hinreißen, bis über die Schlucht vorzurücken, und wurde von der feindlichen Artillerie angegriffen. Das war das Signal für einen allgemeinen Ansturm der Franzosen, der unsere Abteilung zuletzt zwang, sich bis hinter Witebsk zurückzuziehen. Um längsten hielt sich das Zentrum und die Artillerie, die ihre Position nicht aufgab; sie geriet sogar durch den Ansturm der Kavallerie in große Gefahr, aber die tapferen Pernauer und Keksholmer verteidigten sie, und die Tschernigower nahmen den Franzosen sogar drei schon erbeutete Geschütze wieder ab. Der Rückzug Konownizyns erfolgte darauf in völliger Ordnung, und Murat,

 

 

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der hinter ihm die kampfbereiten Truppen Ostermanns erblickte, wagte keine weitere Verfolgung. Als Napoleon anlangte, begann der Kampf von neuem, aber er blieb resultatlos. Konownizyn hielt sich bis 5 Uhr morgens beim Dorfe Komary auf, zog dann weiter, um sich mit seinem dritten Korps zu vereinigen, welches sich ebenso wie die Truppen Ostermanns, Dochtunows, Umarows und Pahlens den Hauptstreitkräften der Armee angeschlossen hatte. Um den Rückzug der Armee zu decken, wurde eine besondere Abteilung aus acht Bataillonen Infanterie unter dem Oberbefehl des Grafen Pahlen gebildet, der auf dem linken Ufer der Lutschessa Position einnahm, einige Werst weit von den Hauptstreitkräften der Armee.

 

Die Operationen am 13. (25.) und 14. (26.) und an welchen Tagen Ostermann und Konownizyn, jeder für sich mit der Avantgarde der französischen Armee kämpfte, die jedem einzelnen von ihnen an Zahl überlegen war, ruft unwillkürlich die Frage hervor, warum Barklay de Tolly nicht gegen diese Avantgarde beide Abteilungen vereinigt vorrücken ließ und sie nicht verstärkte, um den Gegner nicht nur zurückzuwerfen, sondern ihn auch zu verfolgen und zu schlagen. Aber Barklay war ein zu erfahrener Stratege, um nicht die wahrscheinlichen Folgen einer solchen Operation vorauszusehen; unseren überlegenen Streitkräften gegenüber hätte sich Murat nicht halten können, und durch seinen Rückzug nach Beschenkowitschi hätte er unsere Abteilung gerade den Hauptstreitkräften Napoleons, die von allen Seiten nach Witebsk eilten, entgegengeführt, ein Umstand, der leicht zu einer völligen Vernichtung unserer Truppenabteilung hätte führen können. Außerdem gab es für Barklay noch einen anderen Grund, seine Truppen zusammenzuhalten; indem er den Fürsten Bagration aufforderte, aus Mohilew an die Orscha vorzurücken, vermied er es gleichzeitig, Truppenteile abzukommandieren, wenn es nicht gerade absolut notwendig war.

 

Gleichzeitig mit dem Aufbruch der ersten Armee aus dem Lager von Drissa und ihrem Rückzug nach Polozk und Witebsk, erhielt Graf Wittgenstein von Barklay den Befehl, auf der

 

 

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schon eingenommenen Position an der Drissa zu bleiben, die ganze Gegend nördlich von der Düna zu decken und im Falle eines Rückzuges sich auf Ssebesch und Pleskau zurückzuziehen. Die ihm anvertrauten Truppen bestanden nach ihrer Verstärkung durch die Reservebataillone und Eskadrons der Generalmajore Gamen und Fürsten Repnin aus 36 Bataillonen, 27 Eskadrons und einem Kosakenregiment in einer Gesamtstärke von etwa 25000 Mann mit 108 Geschützen. Die dem Grafen Wittgenstein am nächsten stehenden Kriegsgefährten waren: General Dovré, Chef des Stabes, Oberst Diebitsch, Oberquartiermeister, und Fürst Jaschvil, Chef der Artillerie. Außer dem Marschall Macdonald, dem die Operationen in den baltischen Provinzen aufgetragen waren, gab Napoleon dem Marschall Oudinot mit seinem Korps, das bald durch das Korps Saint-Cyrs verstärkt wurde, den Befehl, Wittgenstein entgegenzutreten. Allein die kriegerischen Operationen beider Marschälle konnten in einer Ausdehnung von 300 Werst keinen inneren Zusammenhang haben, und dieser Umstand bewog den Grafen Wittgenstein, eine zentrale Position an der Rassitza einzunehmen, die Operationen der feindlichen Korps abzuwarten und mit den Hauptkräften das zunächst stehende Korps anzugreifen; zugleich aber ließ Wittgenstein eine kleinere Abteilung zurück, um das andere Korps aufzuhalten. Unterdessen war seine Avantgarde unter dem Kommando des Generals Kulnjew den 13. (25.) Juli über die Düna gegangen, hatte einen feindlichen Transport vernichtet und dabei 434 Mann gefangen genommen. Einige Tage später erhielt Wittgenstein die Nachricht, daß Oudinot aus Polozk auf der Petersburger Landstraße heranrücke; da beschloß er, den Gegner auf seinem Marsche anzugreifen. Dies führte zu den Kämpfen am 18. (30.) und 19. (31.) Juli bei Kljästizy und den 20. Juli (1. August) bei Golowschtschiza. Der Marschall wurde geschlagen und gezwungen, nach Polozk zurückzuweichen. Als aber Saint-Cyr anlangte, unternahm Oudinot einen neuen Angriff; es erfolgten neue blutige Treffen, und beide Feldherren wurden verwundet: Wittgenstein

 

 

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leicht, Oudinot aber so schwer, daß er das Oberkommando seinem Kriegsgefährten übergeben mußte. Trotz der bedeutenden Übermacht der feindlichen Streitkräfte schlug sich Wittgenstein so erfolgreich mit den Franzosen in den Schlachten am 5. (12.) und 6. (18.) August bei Polozk, daß Saint-Cyr endlich in diese Stadt zurückwich und sich in ihr verschanzte, während sein Gegner 30 Werst von der Stadt eine befestigte Position bei Ssiwoschino besetzte. In dieser Stellung verharrten die Feldherren bis zum 4. (16.) Oktober, indem sie sich auf den Kleinkrieg beschränkten.

 

Wie bekannt, befand sich die zweite Armee Anfang Juli auf dem Zuge nach Bobruisk, wo sie am 6. (18.) Juli anlangte. Am nächsten Tage kam aus Drissa der Befehl: „Sofort über Mohilew und Orscha weiterzurücken, um sich mit der ersten Armee zu vereinigen.“ Zur selben Zeit kam die Nachricht, daß Marschall Davoust aus Minsk nach Igumen vorgerückt sei. Da sandte Fürst Bagration, in der Hoffnung, dem Feinde in Mohilew zuvorzukommen, unverzüglich das Korps Rajewskis dorthin, und am folgenden Morgen, am 8. (20.) Juli, folgte er ihm mit den übrigen Truppen, die noch durch sechs Reservebataillone von den 18, welche die Garnison in Bobruisk bildeten, verstärkt wurden. Aber auch Davoust eilte nach Mohile. Nachdem er dem Kavalleriekorps Grouchy, das er zu der Hauptarmee Napoleons abkommandiert hatte, den Auftrag erteilt hatte, Borissow zu besetzen, rückte er an den Dnjepr und langte schon den 8. (20.) Juli morgens mit den Hauptkräften in Mohilew an 1). Obgleich die schwache Garnison der Stadt, der sich noch 400 Mann, die schon früher aus Borissow ausgerückt waren, angeschlossen hatten, unter dem Oberbefehl des Obersten Gresser energischen Widerstand leistete, mußte sie doch bald zurückweichen und wurde bei ihrem weiteren Rückzuge stark durch die feindliche Artillerie bedrängt. Während dieses Rückzuges stieß Gresser

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1) Die Infanteriedivision Defaix und Compans, die Kavalleriedivision des Generals Valence und die Kavalleriebrigaden Pajol und Bordesoulle.

 

 

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am folgenden Tage auf die Avantgarde Rajewskis und erhielt so eine unerwartete Unterstützung: die Dragoner und Kosaken Rajewskis warfen sich plötzlich auf die verfolgenden französischen reitenden Jäger und brachten ihnen eine völlige Niederlage bei; allein an Gefangenen verloren die Franzosen einen Obersten, acht Offiziere und mehr als 200 Gemeine 1). Seine rechtzeitig und fast ungehinderte Einnahme Mohilews verdankte Marschall Davoust zum Teil dem Umstand, daß er auf gar keinen Widerstand von Seiten Borissowos an der Beresina stieß.

 

Indessen war dieser Punkt, wie es aus den Aufzeichnungen Barklays hervorgeht, in Verteidigungszustand versetzt worden, mit 18 schweren Geschützen versehen und von zwei Bataillonen besetzt 2).

 

Natürlich konnte dieser Ort das weitere Vordringen des Feindes nicht verhindern, aber die Eroberung dieses Punktes hätte Davoust aufgehalten und hätte es ihm unmöglich gemacht, dem Fürsten Bagration in Mohilem zuvorzukommen. Indessen wurde Mohilew — so lesen wir in denselben Aufzeichnungen — infolge eines Fehler des Oberkommandierenden der zweiten Armee entwaffnet, und dieser Umstand hat später die Vereinigung beider Armeen erschwert.

 

Allein die Eroberung Mohilews war für uns ebenso notwendig wie für den Gegner, diesen Punkt behaupten zu können. Unter diesen Umständen war ein Kampf unvermeidlich; und zu diesem Kampf kam es auch am 11. (23.) Juli bei dem Dorfe Saltanowka.

 

Da es ihm an einer guten Position bei Mohilew fehlte, ließ Davoust seine Truppen, die etwa 26000 bis 28000 Mann stark waren, auf dem Wege nach Stary Bychow vorrücken und besetzte mit ihnen das linke Ufer eines Flüßchens, das sich in den Dnjepr bei Saltanowka ergießt. Die Front dieser schnell befestigten Position war für die Verteidigung recht günstig;

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1) M. Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges vom Jahre 1812. Teil I, S. 213.

2) Eigenhändige Aufzeichnung Barklays.

 

 

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der linke Flügel stützte sich auf den Dnjepr; der rechte Flügel aber blieb ungedeckt und konnte leicht umgangen werden, und deswegen wurde der größte Teil der Infanterie und die ganze Kavallerie des Feindes an diesem Punkte aufgestellt. Da Fürst Bagration ein so bedeutendes Übergewicht an Streitkräften besaß, so fiel es nicht schwer, die Position der Franzosen zu umgehen und sie zur Aufnahme des Kampfes unter weniger günstigen Bedingungen zu zwingen; zu diesem Zweck brauchte man nur die Ankunft der Hauptkräfte der Armee abzuwarten, die sich am Abend des 11. (23.) Juli mit Rajewski hätten vereinigen können. Anstatt dessen befahl Bagration dem General Rajewski, der nicht mehr als 15000 Mann zur Verfügung hatte, den Gegner am Morgen des 11. Juli anzugreifen. Die Folgen solch einer Anordnung konnten keine günstigen sein. Die Frontangriffe Koljubakins und Paskewitschs wurden trotz der Tapferkeit der Truppen und der Selbstaufopferung der Feldherren zurückgeschlagen, und der blutige Kampf endete mit dem Rückzug des siebenten Korps zu dem Punkte, von wo aus die Operationen begonnen hatten und wo nachts die übrigen Truppen der zweiten Armee anlangten. Die Verluste auf beiden Seiten waren sehr bedeutend; der Feind verlor etwa 3400 Mann, wir 2504 1).

 

Am anderen Tage erwartete Davoust einen zweiten Angriff, aber ein solcher erfolgte nicht, die zweite Armee zog sich nach Nowy Bychow zurück, wo schon alles zum Übergang über den Dnjepr vorbereitet war. Nur Rajewski blieb noch in der Nähe von Daschkowka zurück, um den Rückzug zu decken, und folgte dann der Armee nach. Die Truppen Platows und Dorochows 2) gingen bei Daschkowka und Workolabow über den Fluß, um sich schneller mit der ersten Armee zu vereinigen.

 

Der Angriff auf die Soltanowsche Position allein mit dem Korps Rajewski und die rechtzeitigen Vorbereitungen zum Passieren

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1) M. Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges vom Jahre 1812. Teil I, S. 216.

2) Das 1. Jäger- und das Isjumsche Ulanenregiment; das 18. Jägerregiment war bei der II. Armee geblieben.

 

 

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des Flusses bei Nowy Bychow berechtigen zur Annahme, daß Fürst Bagration nicht die feste Absicht hatte, sich den Weg über Mohilew zu bahnen und möglicherweise auch die unaufschiebbare Vereinigung beider Armeen nicht für so sehr wünschenswert hielt. Diese Annahme wird durch die Erzählung Wolzogens von seiner Begegnung mit Bagration am 13. (25.) Juli bei Nowy Bychow bestätigt. Er war aus Witebsk hergeschickt worden, als man dort verschiedene sich widersprechende Nachrichten über die zweite Armee erhalten hatte, mit deren Operationen Barklay unzufrieden war; er hatte den Auftrag erhalten, von der Lage der Dinge Kenntnis zu nehmen und den Fürsten Bagration von der Notwendigkeit einer schnelleren Vereinigung mit der anderen Armee zu überzeugen und ihm den entsprechenden Allerhöchsten Befehl zu übermitteln. Der Flügeladjutant Wolzogen traf die zweite Armee an dem Orte, wo sie den Übergang über den Dnjepr bewerkstelligte, war aber nicht imstande, den Fürsten davon zu überzeugen, daß ein Zug nach Smolensk möglich sei. Der Fürst willigte in diesen Zug nur ein, weil er sich durch den Allerhöchsten Willen dazu gezwungen sah. Die Motive, von denen sich Bagration leiten ließ, bestanden nicht darin, daß er sich dem Willen Barklays nicht unmittelbar fügen wollte, wie einige ausländische Schriftsteller behaupten, und auch nicht darin, daß er es etwa für nützlicher hielt, der zweiten Armee eine selbständige Rolle zu sichern, wie andere vermuten; er hielt einfach den Marschall Davoust für viel stärker, als dieser in der Tat war, und war überzeugt, daß er Davoust in Smolensk zuvorkommen würde.

 

Die Nachrichten, die der Leutnant Fürst Mentschikow von dem Übergang über den Dnjepr und von der darauffolgenden Bewegung des Fürsten Bagration brachte, befreiten Barklay von der Notwendigkeit, dem Feinde eine Schlacht zu liefern. Hier erzählen unsere Militärschriftsteller Einzelheiten, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen. So lesen wir bei dem einen 1), daß die betreffenden Nachrichten am Morgen des 16. (28.) Juli auf der Position in dem entscheidenden Augenblick erhalten wurden, als

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1) Michailowski-Danilewski.

 

 

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das Signal zum Beginn der Schlacht gegeben werden sollte; aber dagegen spricht das einfache Faktum, daß Menschikow schon am Abend vorher, wenn auch spät in der Nacht, angekommen war.

 

Ein anderer beruft sich auf die Erzählung Jermolows, Barklay habe auch, nachdem er die betreffenden Nachrichten erhalten habe, die Schlacht nicht aufgeben wollen und habe seine Absicht erst auf das energische Drängen Jermolows hin fallen gelassen, der ihm als Ausgang einer Schlacht den unvermeidlichen Untergang der Armee prophezeit habe. Abgesehen davon, daß die Ratschläge Jermolows vor der Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen niemandem bekannt waren, erscheint ein derartiger Rat von seiten Jermolows schon aus dem Grade unwahrscheinlich, da er den nationalen Forderungen der damaligen Führer widerspricht, deren Seele gerade er war. Andererseits entspricht die dem Oberkommandierenden zugesprochene Absicht absolut dem Kriegsplan Barklays, an dem er gerade im Gegensatz zu den nationalen Forderungen unerschütterlich festhielt. Man kann sogar daran zweifeln, ob er überhaupt die Absicht gehabt hat, in der Nähe von Witebsk den Kampf aufzunehmen. Wenn er solch eine Absicht gehegt hat, so hatte er jedenfalls nur den Zweck ins Auge gefaßt, der zweiten Armee zu helfen, die man auf dem Marsche aus Mohilew nach Orscha vermutete, wo sie im Falle eines unaufhaltsamen Rückzuges der ersten Armee von den gesamten Streitkräften Napoleons und Davousts zermalmt worden wäre. Aber es liegt ja auf der Hand, daß, sobald man an deren Zweck, sowie an irgendeine Mitwirkung von seiten des Fürsten Bagration nicht mehr denken konnte, auch Barklay auf eine Schlacht gar nicht bestehen konnte, die völlig nutzlos in seinen Augen und geradezu als ein Verbrechen gelten mußte, weil die Armee sinnlos hingeopfert worden wäre. Sogar ein Sieg, so schrieb er, hätte uns gar keinen Nutzen gebracht, wenn Davoust unterdessen Smolensk eingenommen hätte; ich hätte 20000 bis 25000 Mann geopfert, ohne daß es nur möglich gewesen wäre, selbst nach einem Siege den Feind zu verfolgen 1).

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1) Bericht über die kriegerischen Operationen der I. Armee.

 

 

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Was diesen Gegenstand anbetrifft, sind die Gedanken Barklays noch genauer in seinen eigenhändigen Aufzeichnungen ausgedrückt, wo wir folgendes lesen: „Napoleon kannte seinen Gegner nicht und seine Rechnung war falsch. Auch die allgemeine Stimmung der russischen Armee konnte ihn auf falsche Gedanken bringen, denn das Heer glühte vor Verlangen, sich zu schlagen. Und dazu kamen noch die öffentlichen Kundgebungen ihres Führers, der beständig von der bevorstehenden Schlacht sprach; er wußte es nicht, daß dieser Veteran seinem Monarchen das Wort gegeben hatte, die Armee nicht einer nutzlosen Gefahr auszusetzen, da auf der Erhaltung dieser Armee die Erhaltung des ganzen Vaterlandes beruhte” 1).

 

Trotzdem blieb Barklay seinem Prinzip treu, beim Rückzug nicht allzusehr zu eilen. Auch jetzt war es noch durchaus notwendig, den Irrtum Napoleons aufrecht zu erhalten und ihn zu veranlassen, durch gesteigerte Ansprüche an eine möglichst schnelle Konzentration der Truppen diese zu ermüden. Und in der Tat, in demselben Augenblick, als der russische Oberkommandierende dem General Winzingerode den Befehl erteilte, mit zwei Reservebataillonen und zwei Kosakenregimentern Platows zur Deckung von Smolensk und Krassnoi vorzurücken, und der Hetman den Auftrag erhielt, zu demselben Zweck mit den übrigen Truppen seiner Abteilung Liosna einzunehmen, zu derselben Zeit, als er seinen Troß nach Poretschje, die schwersten Gepäckstücke aber nach Dorogobusch schickte, sprengten die Ordonanzen des Kaisers der Franzosen den heranrückenden Kolonnen entgegen mit dem Befehl, ihren Marsch zu beschleunigen 2), obgleich die Hitze in diesen Tagen bis auf 28 Grad im Schatten stieg. Am Morgen des 16. (28.) Juli stellte Barklay de Tolly die Armee unter Gewehr, ließ einige Jägerregimenter zur Unterstützung des Grafen Pahlen vorrücken und stellte zwischen ihm und der Armee einen Teil der Kavallerie mit ihrer reitenden Artillerie auf, mit einem Wort, traf alle Vorbereitungen zum

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1) Die eigenhändigen Aufzeichnungen Barklays.

2) Thiers, Histoire du Consulat et de I’Empire.

 

 

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Kampf. Er hatte bald die Genugtuung, zu sehen, wie sich der Feind ans Rekognoszieren machte und seine Truppen, sobald sie ankamen, in Schlachtordnung aufstellte 1).

 

Unterdessen wurden alle Vorbereitungen zu einem allmählichen, ruhigen, möglichst unbemerkbaren Rückzug unserer Armee getroffen. Graf Pahlen, der den Befehl erhalten hatte, dem Feinde den Weg nach Witebsk zu versperren und zu dem Zweck zur Unterstützung 14 Bataillone, 32 Eskadrons und zwei Kosakenregimenter mit 40 Kanonen erhalten hatte, stellte seine Abteilung acht Werst weit von der Stadt auf in einer ausgedehnten Position, die auf dem rechten Flügel durch die Düna, an der Front durch ein in die Düna mündendes Flüßchen gedeckt war. Bald darauf erschien die Infanteriedivision Broussiers unmittelbar hinter dem 16. reitenden Jägerregiment vor Pahlen. Vor ihrem Angriff erneuerten die Franzosen die zerstörte Brücke, die über den Fluß führte, wobei die Arbeiter und ihre Deckung schwer unter dem Feuer unserer reitenden Artillerie litten. Dann begannen die Franzosen mit großer Kühnheit ihren Angriff, und der Kampf entbrannte bald in der ganzen Linie. Aber Pahlen hielt sich standhaft und führte den Kampf so geschickt, daß Barklay, der seinen Operationen folgte, einen Adjutanten zu ihm sandte, um ihm seine Anerkennung auszudrücken 2). Es unterliegt indessen keinem Zweifel, daß Napoleon, der ebenfalls den Verlauf der Schlacht verfolgte, an diesem Tage nicht allzu energisch operieren wollte, er wollte im Gegenteil die Wachsamkeit des russischen Oberkommandierenden täuschen, ihn in bezug auf seine wirklichen Streitkräfte im Unklaren lassen, um ihm desto sicherer am nächsten Tage eine völlige Niederlage zu bereiten. Erst spät am Nachmittage wurden die übrigen Kavallerieregimenter vom Korps Nansoutys und die Infanteriedivisionen Delzons dem General Broussiers zur Unterstützung gesandt; natürlich war es jetzt unmöglich, sich gegenüber all diesen Truppen zu halten, und Graf Pahlen zog sich hinter die Lutschessa zurück.

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1) Löwenstern, Denkwürdigkeiten eines Livländers, S. 186.

2) Ebenda.

 

 

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Das geschah um 5 Uhr. Aber zu dieser Zeit hatte der Rückzug der weiter nach hinten liegenden Truppen unserer Armee schon begonnen und bald nach ihnen begannen allmählich auch die vorne postierten Truppen zurückzuweichen, so daß zur Nacht nur noch die Abteilung Pahlens auf der Position zurückblieb, indem sie in ihrer ganzen Linie die Biwakfeuer unterhielt. Aus den Truppen dieser Abteilung wurden drei Arieregarden unter dem Oberbefehl Pahlens, Korffs und Schewitschs gebildet. Sie erhielten den Auftrag, den Rückzug der drei Armeekolonnen nach Poretschje und Rudnja zu decken.

 

So vollzog sich der berühmte Rückzug aus Witebsk, der Napoleon eines Sieges beraubte, an den er sicher geglaubt hatte, und den er so nötig hatte. Dieses unerwartete, fast spurlose Verschwinden der russischen Armee rief bei den Franzosen eine tiefe Enttäuschung hervor, im Kaiser aber weckten sie die ersten Zweifel an einem glücklichen Ausgang des geplanten Unternehmens. Anderthalb Monate dauerte schon der Krieg, aber was hatte man erreicht? Die geschickten Kombinationen und Anschläge gegen die zweite Armee waren mißlungen; ungehindert hatte sich die Armee nach Smolensk zurückgezogen. Alle Operationen gegen die erste Armee mit dem Zweck, die Korps an den Flanken abzuschneiden, den linken Flügel zu umgehen, ihn im Lager zu Drissa zu vernichten oder ihm bei Witebsk eine völlige Niederlage zu bereiten, hatten keinen Erfolg gehabt; der linke Flügel hatte ungehindert sein Ziel erreicht. Ferner hatten die kleineren und dabei doch oft recht blutigen Gefechte nur empfindliche Verluste und äußerste Erschöpfung der Truppen zur Folge gehabt. Inzwischen waren von den 300000 Mann, die nach dem Übergang über den Njemen gegen Bagration und Barklay gesandt worden waren, nachdem man Mohilew und Witebsk erreicht hatte, kaum 200000 Mann nachgeblieben. Und ebensowenig erfreulich war der innere Zustand der Armee. Die unausgesetzten Märsche der Truppen bald hierhin, bald dorthin hatten bis zu dem Grade ihre Verproviantierung erschwert, daß viele Truppenteile

 

 

 

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schon damals an gesunder Speise Mangel litten. Ebenso hatten die Requisitionen, zu denen Napoleon so gern seine Zuflucht nahm, in einem so armen und dünn bevölkerten Lande wenig Erfolg; einen Nutzen hatten von diesen Requisitionen allenfalls noch die privilegierten Teile der Armee: das Hauptquartier, die Stäbe, die Garden, die Masse mußte sich mit schnell gekochtem Fleisch von Frisch geschlachteten Rindern begnügen, oft ohne Salz und Brot. Auf solche Mißerfolge und Entbehrungen waren die Truppen, die an Siege und Wohlleben gewöhnt waren, nicht vorbereitet, natürlich wirkte dieser Umstand schlecht auf die Stimmung und die Disziplin im Heere, so daß Fälle von Marodieren nicht zu den Ausnahmen gehörten. Auch die Pferde litten sehr unter dem unreifen Korn, mit dem sie gefüttert wurden. Schon bei Witebsk verblieben viele Kavalleristen zu Fuß bei den Regimentern in Erwartung von Remonten. Die Artillerie ergänzte ihre Verluste aus dem Train, der dadurch noch unbeweglicher wurde. Alle diese Umstände mußten die Truppenführer beunruhigen, ebenso wie auch den Kaiser, der zu begreifen anfing, daß ein sofortiger Sieg für ihn eine Lebensfrage war. Da er in seiner Umgebung lauter deprimierte Gesichter sah, faßte Napoleon einen Beschluß, der seinem Charakter und seiner gewöhnlichen Handlungsweise eigentlich gar nicht entsprach — nämlich sich mit denen zu beraten, denen er bisher nur Befehle erteilt hatte. Viele Schriftsteller nehmen an, daß diese Beratung bei Smolensk stattgefunden hat, andere aber setzen diese Beratung in die Zeit der Ankunft in Witebsk, was auch viel wahrscheinlicher ist. Ein Vorrücken bis Smolensk führte zu ununterbrochenen kriegerischen Operationen, während bei Witebsk eine Unterbrechung eintrat, die die Möglichkeit gab, die wichtigsten Kriegsgefährten fast der ganzen dort konzentrierten Armee zur Beratung heranzuziehen. Zudem konnten die in der Beratung ausgesprochenen Gedanken unter den damaligen Umständen nur in Witebsk laut werden. Der wichtigste Gegenstand der Beratung bestand darin, ob man die begonnene Kampagne in derselben Weise fortsetzen

 

 

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sollte oder ob man an der Grenze Litauens halt machen, sich bequem einquartieren, eine besondere innere Verwaltung des Landes einrichten und dasselbe bewaffnen sollte und dann im Frühling den Krieg mit neuen Kräften fortsetzen sollte. Der Gedanke, mit den kriegerischen Operationen innezuhalten, jetzt, wo noch nichts erreicht worden war und noch dazu in der besten Jahreszeit, paßte so wenig zum Charakter Napoleons und zu seiner Handlungsweise, daß sich die Erörterung dieser Frage im Krieggrat nur durch seinen Wunsch erklären läßt, die ganze Sinn- und Zwecklosigkeit einer derartigen Entscheidung klar zu machen: „Wir dürfen um keinen Preis unserem Gegner Zeit lassen, seine Rüstungen zu beenden, die er zum Teil erst begonnen hat, wir müssen vorrücken und entscheidende Schläge führen, Smolensk und Moskau wird man uns nicht ohne Kampf überlassen; wir werden auf die gewünschte Schlacht und den Sieg nicht lange zu warten haben. Unternehmungen, wie wir sie begonnen haben, gelingen nur gewissermaßen in einem Zuge oder nie. Unsere Truppen werden gerne vorwärts dringen; die Offensive wird sie anfeuern. Meine Kunst besteht im Schlagen, meine Politik im Erfolg. Für uns ist nichts so gefährlich wie ein sich in die Länge ziehender Krieg.” Napoleon hatte Recht, wenn er von der Gefahr sprach, die in einem sich in die Länge ziehenden Feldzuge lag; aber ungeachtet dessen konnte er die kriegerischen Operationen auch jetzt nicht beschleunigen, er mußte den Truppen einige Ruhe gönnen und für eine bessere Verproviantierung sorgen. Und deshalb war auch die Verfolgung unserer Arieregarden eine sehr schwache, und die gesammelten Truppen lagerten sich zur Erholung bei Witebsk, Poretschje, Rudnja und Orscha, allein mit der Berechnung, daß man im Falle eines Angriffes von seiten der russischen Armeen durch einen Tagesmarsch mehr als 100000 Mann konzentrieren konnte und eine fast ebenso große Zahl zur Verfügung hatte, um die beiden Flügel und den Rücken des Feindes zu umgehen und Smolensk einzunehmen. Napoleon setzte voraus,

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1) Fr. von Smitt, Aufklärung über den Krieg von 1812.

 

 

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daß sofort nach der Vereinigung unserer Armeen der Durst nach Heldentaten und die scheinbare Leichtigkeit eines Erfolges unsere Armee zur Offensive verleiten würde; dann verbreitete er selbst das Gerücht von einem erzwungenen Aufenthalt und von einer notwendig gewordenen ausgedehnten Aufstellung seiner Armee 1).

 

Durch diese Kriegslist hoffte Napoleon, die so sehnlichst erwünschte Entscheidung herbeiführen zu können.

 

Unterdessen näherten sich unsere Armeen Smolensk und schlugen hier ein Lager auf. Die erste Armee am 20. Juli (1. August) auf dem rechten Ufer, und die zweite Armee den 22. Juli (3. August) auf dem linken Ufer des Dnjepr. Die Arieregarden Pahlens und Schewitsch, die erstere verstärkt durch die Kavallerie Korffs, deckten wie früher die erste Armee auf den Wegen nach Poretschje und Rudnja. Die Beobachtung des Iinken Flügels der feindlichen Armee wurde dem General Winzingerode auferlegt. Er verfügte über ein Dragoner- und vier Kosakenregimenter; die unter seinem Kommando in Krassnoi stehenden Reserven blieben hier bis zur Ankunft der 27. Division des Generals Njewerowski stehen. Vor der Ankunft seiner Armee begab sich Bagration in Begleitung seines Stabes und der Generale Najewski, Borosdin, Paskewitsch und des Grafen Woronzow 2) nach Smolensk zu Barklay, der einerseits, da er nicht imstande war, seinem an Dienstjahren älteren Kriegskameraden zuvorzukommen, eilig die Schärpe anlegte und Bagration mit den Worten empfing: „Ich war eben im Begriff, mich zu Ihnen zu begeben“ 3).

 

Diese gegenseitige Höflichkeit machte einen sehr guten Eindruck, konnte aber alle Schwierigkeiten in den gegenseitigen Beziehungen der beiden Oberkommandierenden nicht völlig aus dem Wege räumen. Im Gegenteil, diese Schwierigkeiten konnten

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1) Spectateur militaire.

2) Aufzeichnungen des Adjutanten Barklays, Löwensterns. S. 188.

3) Aufzeichnungen Löwensterns, S. 188. M. Bogdanowitsch, Teil I, S. 219.

 

 

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noch empfindlicher werden, da es leichter war, die Allerhöchsten Befehle ohne offizielle Vollmacht schriftlich, als mündlich und unmittelbar weiter zu geben. Kaiser Alexander, der persönlich die Pflichten und die Verantwortlichkeit eines Oberkommandierenden Barklay auferlegt hatte, wollte auch jetzt noch nicht diese Tatsache in seinen Reskripten 1) ausdrücklich aussprechen, die er jetzt beiden Oberkommandierenden in Anlaß ihrer Vereinigung übersenden ließ.

 

Er schrieb an Barklay: „Ich habe mich sehr gefreut, als ich von der freundschaftlichen Eintracht hörte, die zwischen Ihnen und dem Fürsten Bagration besteht. Sie fühlen ja selbst den ganzen schweren Ernst des Augenblicks und sehen ja selbst ein, daß jedes persönliche Moment hier wegbleiben muß,“ und an Bagration schrieb er: „Ich bin überzeugt, daß Sie in dieser für unser Vaterland so ernsten Zeit alle persönlichen Motive zum Schweigen bringen werden und immer einmütig und in ungestörter Eintracht handeln werden, wodurch Sie ein neues Anrecht auf meine Anerkennung erwerben“ 2).

 

Es liegt auf der Hand, daß durch solche Ermahnungen die Schwierigkeit der Situation nicht gehoben wurde: Bagration unterordnete sich scheinbar Barklay, und diese Unterordnung wurde, weil sie freiwillig war, von allen gerühmt; aber gerade in dieser Freiwilligkeit lag etwas Schlimmes, da sie nicht den Fürsten verpflichtete, sondern Barklay. Und in der Tat zeigte es sich bald, daß sich Bagration nur so lange unterordnete, als seine Meinung, d. h. eigentlich die Meinung der hinter ihm stehenden Personen, als richtige anerkannt wurde; an diese Personen schlossen sich natürlich alle übelwollenden Elemente aus dem Hauptquartier der ersten Armee an. Nun begann für Barklay eine Zeit beständiger Kompromisse, die ihm so verhaßt waren, jene schwere Zeit, die er selbst in einer später dem Monarchen überreichten Denkschrift so beschreibt: „Noch nie

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1) Vom 28. Juli.

2) M.Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges vom Jahre 1812. Teil I, S. 219.

 

 

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hat sich der Oberkommandierende irgendeiner Armee in einer ähnlichen Lage befunden, wie ich sie damals durchkosten mußte. Beide Oberkommandierende der vereinigten Armee hingen in gleicher Weise und ausschließlich von Ihrer Majestät ab und hatten die gleichen Rechte. Beide konnten unmittelbar Ihrer Majestät Rapport abstatten und nach eigenem Gutdünken über die ihnen anvertrauten Truppen verfügen. In meiner Stellung als Kriegsminister hatte ich natürlich das Recht, im Namen Ihrer Majestät Allerhöchste Befehle zu veröffentlichen, aber in Angelegenheiten, von denen das Schicksal ganz Rußlands abhing, konnte ich dieses Recht ohne Ihre spezielle Erlaubnis nicht benutzen. Auf diese Weise war ich gezwungen, um übereinstimmende, auf ein gleiches Ziel gerichtete Operationen zu erzielen, zu allen möglichen Mitteln zu greifen, um zwischen mir und dem Fürsten die Eintracht zu erhalten; ich mußte seiner Eigenliebe schmeicheln und Zugeständnisse gegen meine Überzeugung machen, um mir in wichtigeren Fällen die Möglichkeit zu wahren, auf meiner Meinung zu beharren; mit einem Wort, ich mußte mich zu einer Art des Auftretens zwingen, die mir fremd war und meinem Charakter und meinen Gefühlen gar nicht entsprach. Aber ich hoffte wenigstens dadurch mein Ziel wirklich zu erreichen; allein die späteren Ereignisse überzeugten mich vom Gegenteil.”

 

Die erste Frucht der erzielten Eintracht war die Abkommandierung der 27. Division des Generals Njewerowski, verstärkt durch einen Teil der Smolensker Landwehr, durch das Charkower Dragonerregiment und drei Kosakenregimenter nach Krassnoi zum Ersatz der Reservetruppen, die zusammen mit den in Smolensk gebliebenen Truppen — im ganzen 17 Bataillone und vier Artillerierotten — zur Vervollständigung der Streitkräfte bei der Armee dienen sollten 1).

 

Dann schritt man zur Beratung der nächst folgenden Operationen beider Armeen. Aber hier trat der tiefe Gegensatz

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1) Die in Smolensk stehenden 8 Reserve-Eskadronen wurden nach Kaluga geschickt, um Truppenkadres zu bilden, die dort formiert wurden.

 

 

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zwischen dem vorsichtigen Barklay und dem Fürsten Bagration zutage, der zum Werkzeug der Partei herabsank, die durch eine sofortige Attacke auf die ausgedehnte Linie der feindlichen Streitkräfte den Franzosen einen tödlichen Schlag zu versetzen hoffte. Aber dieses Mal wurde auch Toll zum entschiedenen und natürlich offenen Anhänger der letzteren Idee. Noch am Vorabend der Beratung, zu der der Fürst Bagration, der Großfürst Konstantin Pawlowitsch, die beiden Chefs der Stäbe und die General-Quartiermeister beider Armeen sowie der Oberst Wolzogen eingeladen wurden, legte er Barklay seinen Angriffsplan vor, der darin bestand: durch ein schnelles Vorrücken auf Rudnja und Witebsk die feindlichen Streitkräfte zu trennen und dann die beiden Teile einzeln zu schlagen. Wie sehr der heiße Drang nach entscheidenden Schlägen damals sogar den tüchtigsten Kriegsleuten die Augen blendete, läßt sich aus einem Brief Toll an den Fürsten Wolkonski vom 30. Juli erkennen, in welchem er seine Kombinationen darlegt und die Stellung und Zahl der feindlichen Streitkräfte so darstellt, als ob unsere Armeen durchaus imstande gewesen wären, das feindliche Zentrum mit Erfolg zu attackieren, das ja aus nicht mehr als etwa 65000 Mann bestehen konnte. Die Nachrichten, die Barklay und Bagration über den Feind erhielten, lauteten gleich; der Unterschied bestand nur darin, daß Barklay in diesen Nachrichten zum Glück nicht das lesen konnte, was die anderen darin lesen wollten, nämlich, daß Napoleon seiner Armee keine richtige Stellung gegeben habe. Übrigens sprach sich Barklay nicht gegen einen Angriff aus; drei Tage vor der Sitzung des Kriegsrates und bevor ihm Toll seinen Kriegsplan vorgelegt hatte, meldete er dem Kaiser: „Ich habe die Absicht, vorzurücken und das nächststehende feindliche Korps anzugreifen; es ist, wie mir scheint, das Korps Neys bei Rudnja“ 1). Aber er verstand darunter nur eine Attacke, wie sie zum ganzen System seines Kriegsplanes paßte, d. h. er wollte dem Gegner möglichst großen Schaden zufügen und eine voreilige und daher leicht verderbliche entscheidende

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1) Bericht Barklay de Tollys vom 22. Juli.

 

 

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Schlacht durchaus vermeiden. Und in der Tat, eine zwischen Smolensk und Witebsk verlorene Schlacht mußte die Verfolgung der besiegten Armee und ihre völlige Vernichtung zur Folge haben.

 

Auf dem Kriegsrat, der am 25. Juli (6. August) zusammentrat, legte Barklay die Gründe dar, weswegen es geboten erschien, mit großer Vorsicht vorzugehen. „Wir haben es mit einem unternehmenden Feldherrn zu tun,” sagte er, „der gewiß keine Gelegenheit unbenützt lassen wird, seinen Gegner zu umgehen und ihm dadurch den Sieg aus den Händen zu winden“).

 

Zu gleicher Zeit wies er im Falle, daß unsere Armee vorrückte, auf die Gefahr hin, die von Poretschje her drohte, wo sich nach erhaltenen Meldungen 40000 Mann feindlicher Streitkräfte befanden. „Wenn wir mit dem Angriff Murats (bei Rudnja) beginnen, was wird die Folge sein, wenn er sich nach Babinowitschi zurückzieht? Ihn verfolgen werden wir nicht dürfen, da wir, so lange der Vizekönig in Poretschje steht, auch nicht drei Tagesmärsche weit von Smolensk uns entfernen können“ 2).

 

Aber im Kriegsrat bestanden alle, mit Ausnahme von Wolzogen, stürmisch auf einem sofortigen Angriff, wobei der Großfürst besonders schroff die sofortige Ausführung desselben forderte. Im selben Sinne schrieb ihm auch der Kaiser, so daß Barklay jetzt unmöglich im Namen des Kaisers befehlen konnte. Es blieb Barklay nichts anderes übrig, als nachzugeben und er gab auch nach, aber stellte die Bedingung, daß man sich nicht weiter als drei Tagesmärsche weit von Smolensk entfernen würde 3).

 

Nie habe ich Barklay in einer größeren inneren Bewegung gesehen, weil er mit sich selbst nicht im Reinen war. Einerseits

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1) Bernhardi, Denkwürdigkeiten des Grafen Toll. Teil I, S. 342.

2) Konfidentielle Aufzeichnungen Barklays über den Feldzug vom Jahre 1812.

3) Bernhardi, Denkwürdigkeiten des Grafen Toll. Teil l, S. 342.

 

 

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sah er alle Vorteile der vorgeschlagenen Bewegungen, aber andererseits auch die Gefahren”. So schreibt sein Adjutant Löwenstern 1).

 

Die Bedingung, die Barkley stellte, weckte noch größere Unzufriedenheit und Haß gegen ihn; aber sie rettete die Armee vor einer sicheren Katastrophe!

 

Am Morgen des 26. Juli (7. August) rückten beide Armeen in der Richtung auf Rudnja vor. Die zweite Armee in einem Bestande von ungefähr 30000 Mann regulärer Truppen, vor sich die Avantgarde Wassiltschikows, überschritt den Dnjepr und rückte weiter bis Katan; ein Regiment Infanterie blieb in Smolensk zurück. Die erste Armee, außer den Kosaken aus etwa 70000 Mann bestehend, folgte in zwei Kolonnen: Die linke unter Dochturows Führung (das 5., 6. Infanterie- und 3. Kavalleriekorps), geführt von der Avantgarde des Grafen Pahlen, rückte auf Prikas-Wydra vor — die rechte des Generals Tutschkow (das 2., 3., 4. Infanterie- und das 1. und 2. Kavalleriekorps) unter Deckung der Avantgarde Passeks rückte auf dasselbe Ziel los — über Srabno. Eine besondere Abteilung des Generalmajors Fürsten Schachowskoi zog als Flankenvorhut, rechts von Tutschkow, und noch mehr nach rechts die Kosakenabteilung Krasnows. Endlich gab es noch eine Zwischenabteilung, um den Zusammenhang beider Armeen aufrecht zu erhalten, dem General Njewerowski wurde zur Pflicht gemacht, seine Wachsamkeit in der Richtung nach Dubrownja zu verdoppeln; man sandte Kosakenpatrouillen aus, um den Feind zu beobachten. So hatte man an alles gedacht, um den allgemeinen Angriff zu sichern. Aus den ergriffenen Maßregeln ergibt es sich, daß Barklay von seiten Napoleons, sobald sich diesem die Möglichkeit bieten sollte, Operationen gegen einen seiner Flügel erwartete, aber gegen welchen, war schwer vorauszusehen.

 

Der Angriff sollte am 27. Juli mit dem Vorrücken einer Abteilung Kosaken unter dem Kommando des Hetmans Platow

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1) Denkwürdigkeiten eines Livländers.

 

 

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beginnen, der von leichten regulären Truppenteilen unterstützt werden sollte. Er stand mit 10 Regimentern bei Sarubenka und bereitete sich vor, einen unerwarteten Angriff auf die Avantgarde des Gegners bei Molewa-Boloto zu unternehmen; zu seiner Verstärkung war die Abteilung Pahlens bestimmt, die aus 32 Eskadronen und 8 Jägerbataillonen bestand und sich bei Prikas-Wydra postiert hatte. Gleich hinter diesen vorgeschobenen Truppenteilen sollte die erste Armee den Angriff in der Richtung von Inkowa und die zweite in der Richtung von Nadwa fortsetzen. Alles ließ auf ernste Operationen schließen; allein es kam anders. In der Nacht auf den 27. Juli kam von Generaladjutanten Winzingerode die Meldung, daß sich bei Porjetschje bedeutende Streitkräfte konzentrierten: das Korps des Vizekönigs von Italien, das Kavalleriekorps Nansoutys, die Kürassierdivision des Generals Defrance; die Kosaken aber meldeten, daß sich die Vorposten der Franzosen, außer auf dem Wege von Porjetschje, überall zurückzögen 1).

 

Unter diesen Umständen faßte Barklay den Beschluß, den begonnenen Angriff auf den schon vorbereiteten Überfall der vorgeschobenen feindlichen Truppen zu beschränken und die Armeen mehr in der bedrohten Richtung zu konzentrieren. Um 3 Uhr morgens am 27. Juli begab er sich persönlich zu Graf Pahlen und befahl ihm, Platow energisch zu unterstützen. Darauf ließ er die Kolonne Tutschkows auf den Weg nach Porjetschje hinübermarschieren und schlug Bagration vor, nach Prikas-Wydra zu marschieren, von wo Dochturow nach der Ankunft der zweiten Armee zur Vereinigung mit der ersten Armee ausrücken sollte. Unterdessen war der Angriff, den Platow und Pahlen unternommen hatten, von glänzendem Erfolge gekrönt worden. Der erstere erhielt von Anführern seiner Avantgarde die Meldung über die Annäherung der feindlichen Kavallerie und Infanterie in der Richtung von Leschnja her, rückte jetzt vor und ließ 12 Geschütze reitender Kosakenartillerie auf einer Position vorfahren. Generalmajor Denissow, der die Avantgarde

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1) Denkwürdigkeiten des Grafen Toll. Teil I, S. 344.

 

 

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kommandierte, warf anfangs bei Molewa-Boloto die vorgeschobenen Truppenteile der Division des Generals Sebastiani aber zog sich, als er auf dessen Hauptkräfte stieß, zu den Truppen Platows zurück. Da griff der Feind seinerseits unsere Abteilung an, wobei keine Infanterie unserer Artillerie so nahe kam, daß diese in Gefahr geriet; allein die tapferen Donschen Regimenter Melnikows und Charitonows eilten, um die Batterie zu retten, herbei und verdrängten den Gegner. Dieser Erfolg wurde das Signal zu einer allgemeinen Attacke der Kosaken, sowie der Isjumschen, Ssumschen und Mariupolschen Husaren, die die Verfolgung des Feindes erst einige Werst von Rudnja entfernt einstellten und darauf nach Leschnja zurückkehrten. Die Verluste der Franzosen waren bedeutend; allein an Gefangenen verloren sie über 300 Mann, unter ihnen 10 Offiziere. Über unsere Verluste haben sich keine Nachrichten erhalten 1).

 

Unter den Gegenständen, die unseren Kosaken in Molewo-Boloto in die Hände fielen, befand sich eine Notiz Murats, die im Quartier des Generals Sebastiani gefunden wurde; in dieser Notiz meldete er den bevorstehenden Angriff der Russen bei Rudnja und gab den Befehl, sich zur Infanterie zurückzuziehen. Augenscheinlich hatte Sebastiani die Notiz unmittelbar vor dem Erscheinen der Kosaken erhalten, sonst wäre die Notiz nicht auf seinem Tische gefunden worden. Aber wie war der von uns geplante Angriff Murat bekannt geworden? Dieses Rätsel ist lange ungelöst geblieben, und erst einige Jahre später klärte es sich auf, daß ein Brief des Flügeladjutanten und Fürsten Ljubomirski an seine Mutter, die auf ihrem Gute Ljady lebte, wahrscheinlich in die Hände Murats geriet, der dort sein Quartier aufgeschlagen hatte; in diesem Briefe hatte Ljubomirski, der aus früheren Gesprächen von der beabsichtigten Operation erfahren hatte, seine Mutter gebeten, Ljady zu verlassen 2).

 

1) Bogdanowitsch, Die Geschichte des Vaterländischen Krieges vom Jahre 1812. Teil I, S. 233.

2) Diese durchaus wahrscheinliche Erzählung hat Fürst Menschikow

 

1818 in Aachen dem Flügeladjutanten Wolzogen mitgeteilt; Wolzogen, Memoiren.

 

 

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Aber damals veranlaßte die Notiz Murats im Hauptquartier eine Menge Vermutungen und Verdächtigungen: man sprach von Verrat, und die nationale Partei beschuldigte sogar dem Oberkommandierenden nahestehende Persönlichkeiten wie Wolzogen und Löwenstern, ja sogar den im Dienst des Chefs der zweiten Armee stehenden Jean Bart.

 

Barklay schenkte natürlich derartigen Anklagen kein Gehör und schrieb den Vorfall nicht einem Verrat zu, sondern der Unvorsichtigkeit und Schwatzhaftigkeit müßiger Leute, deren es im Hauptlager so viele gab. Zugleich kannte er Wolzogen und den tiefen Haß des früheren preußischen Offiziers gegen den schlimmsten Feind seines Vaterlandes zu gut, um nicht in all diesen Beschuldigungen nichts weiter als blinden Haß gegen den Ausländer zu sehen; und darum schenkte er all diesen Anklagen nicht das geringste Gehör. Anders verhielt er sich zu den Verdächtigungen Löwensterns, nicht etwa, weil er an seiner Unbescholtenheit gezweifelt hätte, sondern weil gewisse Umstände eine besondere Handlungsweise von seiten Barklays forderten. Gleich zu Beginn des Krieges war Löwenstern als Parlamentär aus Widsy zu Murat gesandt worden und hatte sich dort etwa 24 Stunden bei demselben General Sebastiani aufgehalten, auf dessen Tisch man in Molewo-Boloto die Notiz gefunden hatte; vor der letzten Operation bei Rudnja hatte man ihn mit einem Auftrag zu den Vorposten geschickt. Dieses zufällige Zusammentreffen erschien so kompromittierend, daß Barklay, um einen Zusammenstoß zwischen seinem Adjutanten und irgendeinem der fanatischen Patrioten zu verhüten, es für nötig fand, ihn für furze Zeit aus dem Hauptquartier zu entfernen, und darum schickte er ihn nach den Schlachten bei Smolensk und Dubin mit Papieren zum Grafen Rostoptschin und bat letzteren, Löwenstern unter irgendeinem schicklichen Vorwande in Moskau festzuhalten 1).

 

Es fiel dem ehrlichen Kriegsmann recht schwer, dem nichtsahnenden Adjutanten seine Bitte abzuschlagen, ihn nicht jetzt

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1) Briefe Barklay de Tollys an Rostoptschin vom 11. und 21. August 1812.

 

 

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nach Moskau zu schicken, wo gerade eine Schlacht bevorstand: „Lieber Löwenstern, Sie müssen reisen,“ antwortete Barklay mit vor Erregung zitternder Stimme, „ich hoffe, Sie werden bald zurückkommen und ich denke, daß in der Zwischenzeit kein Haupttreffen sich ereignen wird“ 1).

 

Und wirklich, schon nach zwei Wochen, befand sich Löwenstern — es war bei Borodino — bei seinem Chef und wurde in der Schlacht verwundet.

 

Als man die Nachricht erhalten hatte, daß sich die Truppen des linken französischen Flügel nach Liosna hin gerückt wären, das Zentrum aber aus Witebsk nach Babinowitschi, da ließ der Oberkommandierende die erste Armee wieder auf den Weg nach Rudnja rücken, um Napoleon, dessen Angriff auf Smolensk absolut sicher schien, auf einer außerordentlich vorteilhaften Position bei Wolokow entgegentreten zu können. Es ist bemerkenswert, daß in derselben Zeit, als unsere Chauvinisten so hartnäckig auf einem Angriff bestanden, Napoleon Murat und Ney den Befehl erteilte, durch einen schwachen Widerstand bei Rudnja die Russen zu einem weiteren Vorrücken zu verlocken, um sich dann mit dem erdrückenden Übergewicht seiner Streitkräfte auf sie zu stürzen. Der vorsichtige und erfahrene Barklay hat das vorausgesehen; das erkennen wir ganz klar aus dem Brief an seine Frau am 27. Juli: „Ich dachte, es würde in diesen Tagen zu einem ernsten Zusammenstoße mit dem Feinde kommen, aber er begann zurückzuweichen und wollte mich augenscheinlich in eine Falle locken; in dieser Hoffnung wird er sich aber getäuscht sehen“ 2).

 

Die unerschütterliche Festigkeit Barklays hatte von neuem die Armee vor einer Niederlage bewahrt. Aber sein Staunen war nicht gering, als er erfuhr, daß die zweite Armee, die er bei Prikas-Wydra gelassen hatte, ohne seine Erlaubnis, ja sogar ohne sein Wissen nach Smolensk zurückgeführt worden war, wegen Mangel an frischem Wasser. Nur die Avantgarde

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1) Denkwürdigkeiten eines Livländers. Teil I, S. 200.

2) Brief Barklay de Tollys vom 27. Juli 1812.

 

 

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der Armee und die ihr zur Unterstützung hergegebene Abteilung des Fürsten Gortschakow waren bei Wolokow geblieben. Bagration erhielt die unweigerliche Aufforderung, sich sofort der ersten Armee zu nähern, infolgedessen das 8. Korps nach Nadwa rückte und sich mit den Abteilungen Wassiltschikows und Gortschakows vereinigte, die zweite Kürassierdivision nach Katani, das 7. Korps aber auf dem Wege des 8. Korps, von welchem es sich nur 12 Werst entfernt hatte.

 

In der Nacht auf den 3. (15. August) erhielt der Oberkommandierende die Nachricht von einem Unternehmen Napoleons, das von Clausewitz als das Unbegreiflichste im ganzen Kriege bezeichnet wurde. Dieses Unternehmen bestand darin, daß Napoleon mit großer Schnelligkeit alle seine Streitkräfte auf das linke Ufer des Dnjepr hinüberwarf in der Absicht, den linken Flügel der russischen Armeen zu umgehen, in ihrem Rücken Smolensk zu nehmen und sie so zu einer entscheidenden endgültigen Schlacht zu zwingen.

 

Sobald Napoleon die erste Nachricht vom Zuge der Russen nach Rudnja gehört hatte, beeilte er sich sofort seine Truppen im Gebiet von Liosna, Babinowitschi, Ljubawitschi und Rasasna zu konzentrieren. Als er sich aber davon überzeugt hatte, daß der vorsichtige Barklay nicht die Absicht habe, sich allzuweit von Smolensk zu entfernen, änderte er sofort seinen Plan; die Truppen, die sich auf dem linken Ufer des Dnjepr befanden, wurden über Romanowo nach Smolensk dirigiert und die übrigen nach Rasasna und Chomino, um auf schon erbauten Brücken über den Fluß gesetzt und dann nach Krassnoje und Smolensk geschickt zu werden. Murat, Ney und drei Divisionen Davousts überschritten schon am 1. (13.) August den Dnjepr, und den Tag darauf folgten ihnen die übrigen Truppen. Gegen 3 Uhr desselben Tages erschien Murat, hinter ihn Ney, mit drei Kavalleriekorps vor Krassnoje und griff sofort Njewerowski an.

 

Die bedeutendsten Militärautoritäten, Clausewitz, Saint-Cyr und andere, tadeln diese Operation Napoleons. Der erstere ist

 

 

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der Meinung, Napoleon hätte Barklay von Rudnja aus angreifen sollen, wo Barklay sich zu einer Hauptschlacht vorbereitet hatte, Saint-Cyr meint, daß der Angriff am besten von Porjetschje aus hätte erfolgen können, wie es Barklay auch anfangs erwartet hatte. Aber wahrscheinlich befürchtete Napoleon, wie er es auch selbst in seinen Memoiren gestand, daß der russische Oberkommandierende wieder einem entscheidenden Kampfe ausweichen würde, und hoffte durch die unerwartete Einnahme von Smolensk und durch die Besetzung des Hauptweges nach Moskau Barklay zu einer Schlacht zwingen zu können. Und man muß zugeben, wenn die russischen Armeen nicht so nahe bei Smolensk geblieben wären, wäre das Manöver Napoleons, das so meisterhaft durchgeführt wurde, sicher noch von Erfolg gekrönt gewesen.

 

Der Widerstand des Generals Njewerowski, der gleichzeitig von den Kavalleriekorps Grouchy, Nansouty und Montbrun und dem Infanteriekorps Neys angegriffen wurde, konnte nicht von langer Dauer sein. Anfangs wichen die Dragoner zurück, dann begann die Infanterie zurückzugehen, die in dichten Kolonnen stand, um die Kavallerieattacken besser zurückwerfen zu können. Dieser Rückzug von zehn Bataillonen, die den unaufhörlichen Attacken von 15000 Reitern ausgesetzt waren, liefert einen glänzenden Beweis für die Überlegenheit einer Infanterie, die genügend Mut und Ruhe besitzt, über eine hitzige Kavallerie, die ihre Attacken ohne die nötige Vorbereitung durch die Artillerie wiederholt. Njewerowski, der sich — wie Segur sagt — wie ein Löwe zurückzog, gelang es, obgleich nicht ohne empfindliche Verluste 1), abends Korytnja zu erreichen, wo er von dem 50. Jägerregiment mit 2 Geschützen empfangen wurde. Das Feuer dieser Geschütze hielt die weitere Verfolgung auf. Am folgenden Tage setzte unsere Abteilung den Rückzug nach Smolensk ruhig fort, bis wohin noch etwa 20 Werst zurückzulegen waren; einige Werst vor der Stadt begegnete er dem Korps Rajewskis und vereinigte sich mit ihm.

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1) Dieser Verlust belief sich außer 7 Geschützen auf 1500 Mann, darunter 800 Gefangene.

 

 

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General Rajewski nahm auf einer Position 3 Werst von der Stadt seine Aufstellung. Um fünf Uhr mittags zeigte sich seine Avantgarde, die sich zurückzog, weil bedeutende feindliche Streitkräfte ihren linken Flügel zu umgeben drohten. Da zog sich Rajewski nachts nach Smolensk zurück, in dessen Vororten und hinter dessen Mauern er Stützpunkte zu finden hoffte, um den überlegenen Streitkräften des Feindes hartnäckigen Widerstand zu leisten. Obgleich die alte Stadtmauer, 40 Fuß hoch und 18 Fuß dick, mit ihren 17 Türmen nicht zur Verteidigung geeignet war, stellte sie doch ein so ernstes Hindernis dar, daß man es nur überwinden konnte, wenn man zwei Tore und einen Durchbruch eroberte. Auf der westlichen Seite der Stadtmauer erhebt sich eine fünfeckige Befestigung aus den Zeiten Sigismunds III., die sogenannte Königs-Bastion, und vor ihrer Front und vor ihren Flanken liegen die Vororte: Krasnenskoje, Mstislawskoje, Roslawlskoje, Nikolskoje und Ratschenko. Das dritte Tor und der zweite Durchbruch 1) dienten als Ausgänge zum Dnjepr. Eine hölzerne Brücke verband die Stadt mit der Petersburger Vorstadt; zur besseren Sicherung der Verbindungen im Rücken der Armeen über den Fluß waren noch zwei Pontonbrücken über den Fluß geschlagen worden. Auf dieser Position stellte Rajewski seine Truppen in folgender Weise auf: die 26. Division mit 20 Geschützen im Vorort Krasnenskoje, 5 Regimenter der 12. Division mit 28 Geschützen im Vorort Mstislawskoje und Nikolskoje; 2 Regimenter der 27. Division mit 24 Geschützen im Vorort Roslawlskoje; je ein Regiment der 12. und der 27. Division mit 4 Geschützen bei der Brücke am Dnjepr, die übrigen 3 Regimenter in der Stadt hinter der Mauer und in der Reserve; 2 Kavallerie und 4 Kosakenregimenter auf dem linken Flügel, zur Deckung der Moskauer Straße. Am folgenden Tage, den 4. (16.) August um 9 Uhr morgens zeigte sich die Kavallerie Murats in der Richtung von

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1) Diese Durchbrüche stammten aus der Zeit, als die Kaiserin Katharina Smolensk besuchte, da sich die Tore als zu eng für ihre Kutsche erwiesen.

 

 

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Krasnenskoje und entwickelte sich rechts vom Wege; hinter ihr folgte die Infanterie Neys und stellte sich gegenüber der Königsbastion auf, mit dem linken Flügel an den Dnjepr stoßend. Bald begann der Artilleriekampf, der bis zum Abend, aber ohne besondere Resultate dauerte. Die Versuche des Feindes, unsere verhältnismäßig so schwache Kavallerie zu attackieren, bewirkten nur den Rückzug derselben zum Vorort Nikolskoje, die übrigens äußerst lässigen Versuche Neys, sich der Bastion zu bemächtigen, hatten keinen Erfolg. So verlief der Tag viel ruhiger, als man es erwarten konnte, und Rajewski selbst sagt in seinen Aufzeichnungen: „Wenn ich einerseits die Wichtigkeit des überstandenen Kampfes, andererseits die geringen Verluste erwäge, die meine Truppen erlitten haben, so muß ich den Erfolg wohl weniger meinen eigenen Anordnungen, als der Schwäche der Attacken Napoleons zuschreiben.” Diese „Schwäche der Attacken“ war zweifellos eine beabsichtigte; die Hauptkräfte des Gegners befanden sich noch unterwegs und konnten erst in der Nacht ankommen, und deshalb wäre eine Eroberung Smolensk durch die Truppen Murats und Neys nur ein Teilerfolg gewesen. — Napoleon brauchte aber einen ganzen und entscheidenden Sieg. Aber in dieser Nacht langten auch die übrigen Truppen unserer Armeen an.

 

Da die Absicht Napoleons; den linken Flügel unserer Truppen zu umgehen und sowohl Smolensk, als den Weg nach Moskau einzunehmen, klar zutage trat, so mußte man annehmen, daß er das große Übergewicht seiner Streitkräfte ausnutzen würde 1) und einen Teil derselben nach Dorogobusch dirigieren würde. Und deshalb kam Barklay mit Bagration überein, daß die zweite Armee nach ihrer Vereinigung mit dem Korps Rajewskis direkt auf Dorogobusch rücken, die erste Armee aber die Verteidigung

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1) Unter den Papieren Berthiers, die beim Rückzug der Franzosen gefunden wurden, erwiesen sich auch offizielle Meldungen, die da von 225000 Mann, als bei Smolensk konzentriert, berichteten. (Eigenhändige Aufzeichnungen Barklays.) In dem Vaterländischen Kriege von Bogdanowitsch finden wir die Streitkräfte des Gegners mit 180000 Mann angegeben.

 

 

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von Smolensk auf sich nehmen sollte bis zum Eintreffen der Nachricht, daß die erste ihr Ziel (Dorogobusch) erreicht habe. Hierbei verpflichtete sich Fürst Bagration bei der Furt von Prudischewsk eine starke Abteilung zur Deckung des späteren Zuges der ersten Armee zurückzulassen. Zur Verteidigung aber von Smolensk wurden außer dem 6. Korps, welches das 7. ablöste, die 27. und die 3. Division, das 6. Jägerregiment der 12. Division und 3 Dragonerregimenter bestimmt.

 

Um 4 Uhr morgens des 5. (17.) August zog die zweite Armee nach Dorogobusch, und Dochturow besetzte Smolensk mit seinen Truppen in folgender Weise: auf dem rechten Flügel stand die 24. Division Lichatchews im Vorort Krasnenskoje und auf der Königsbastion, im Zentrum die 7. Division Kapzewitsch bei den Vororten Mstislawskoje und Roslawskoje; auf dem linken Flügel die 27. Division Njewerowskis beim Vorort Nikolskoje und Ratschenko, vor ihm standen die Dragoner des Generalmajors Scalon; in der Reserve die dritte Division Konownizyns. Das Gefecht begann mit einem Gewehrfeuer, währenddessen Dochturow um 8 Uhr einen Ausfall machte, wobei es ihm gelang, den Feind aus den Vororten hinauszudrängen. Augenscheinlich hoffte Napoleon, daß Barklay, um die Stadt zu retten, unter dem Schutz ihrer Mauern den Fluß überschreiten und sich zu einer Schlacht entschließen würde. Aber Barklay dachte auch nicht daran, mit seinen 70000 bis 75000 Mann gegen eine Armee von 140000 Mann anzurücken, die gegen Abend noch eine Verstärkung von 40000 Mann erwartete; er bereitete sich nun darauf, den Angreifenden energisch Widerstand zu leisten und ließ zu diesem Zweck auf den Höhen rechts und links von der Stadt Batterien auffahren, um die anstürmenden Kolonnen zu beschießen. Bald erkannte Napoleon, daß seine Hoffnungen vergeblich waren; als er die Meldung von der Bewegung der zweiten Armee nach Dorogobusch erhalten hatte, begriff er sofort, daß nicht Barklay, sondern er selbst über den Dnjepr gehen müsse. Aber wie sollte man über den Fluß gelangen? Die Furten waren nicht bekannt, und ein

 

 

 

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Brückenbau hätte zu lange gedauert; es blieb nur eins übrig, die Stadt zu nehmen. Napoleon zögerte keinen Augenblick. Gegen 3 Uhr stieg eine Rakete empor, dann noch eine, dann eine dritte, die letzte war das Signal, denn gleich darauf sausten 200 Kanonenkugeln und Granaten in die bisher verschont gebliebene Stadt. Diese Kanonade war der Vorbote eines allgemeinen Sturmes. Zuerst wurden von der Division Bruyères unsere Dragoner angegriffen, die über den Haufen gerannt wurden und eiligst in die Stadt zurückwichen, wobei General Scalon umkam. Zu gleicher Zeit rückte Poniatowski mit seiner Infanterie gegen die Vororte Nikolskoje und Ratschenko vor und ließ 60 Geschütze am Ufer des Flusses auffahren, um unsere Brücken und die Batterien des Generals Nilus, die Barklay auf der rechten Seite des Dnjepr postiert hatte, zu beschießen. Einige Gebäude fingen von den feindlichen Granaten an zu brennen; das benutzten die Polen und setzten den Angriff fort, wobei General Grabowski ums Leben kam; als sie aber bis an die Mauern kamen und keine Leitern hatten, wurden sie unter furchtbaren Verlusten zurückgeworfen, unter den Verwundeten befand sich auch der Chef der Division, General Sajontschek. Unterdessen hatte Ney auf unserem rechten Flügel ohne große Anstrengung den Vorort Krasnenskoje erobert; aber er wagte es nicht, die Königsbastion anzugreifen. Vielleicht wollte Napoleon auch keine allzu großen Verluste hier riskieren, da die Hauptattacke gegen unser Zentrum gerichtet war. Diese Aufgabe hatte er dem Marschall Davoust auferlegt, der drei Divisionen seines Korps, die Divisionen Morand, Gudin und Friant, gegen die Vororte Mstislawskoje und Roslawskoje vorrücken ließ. Nach hartnäckigem Widerstand wichen Kapzewitsch und der ihn unterstützende Konownizyn in die Stadt zurück. Da schickte Dochturow einen Boten zu Barklay de Tolly und bat um Unterstützung. Barklay antwortete: „Sagt Dmitri Sergejewitsch, daß von seinem Mut die Rettung unserer Armee abhängt“ und schickte ihm zur Verstärkung die 4. Division des Prinzen Eugen von Württemberg

 

 

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und das Leib-Garde-Jägerregiment. Unterdessen machte auch der Feind neue Anstrengungen, sich der Stadt zu bemächtigen. 36 Batteriegeschütze wurden aufs neue vor den Mauern Smolensks aufgestellt, so daß ihre Gesamtzahl auf 150 stieg; die Geschosse schadeten den dicken Mauern nur wenig, aber die über die Mauern fliegenden trafen die Menschen auf den Straßen und verursachten Feuersbrünste. Um 5 Uhr befahl Napoleon dem Marschall Davoust, die Stadt zu stürmen, und gleich darauf begannen die Franzosen so kühn und entschlossen den Angriff, daß sie sich beinahe des Malochowschen Tores bemächtigt hätten; aber dort trafen sie auf die frischen Truppen der 4. und 3. Division. Der Prinz von Württemberg kam seiner Division zuvor, besprach sich in großer Eile bei diesem Tore mit Dochturow und Konownizyn, eilte dann seiner Division entgegen und schickte die Regimenter Tobolsk und Wolhynien zur Ratschenka gegen die Polen, und die Regimenter Krementschug und Minsk auf den rechten Flügel Lichatschef zur Hilfe. Er selbst aber mit dem 4. Jägerregiment und Konownizyn mit einem Teil seiner Division stürzten sich auf die Franzosen, die auf Malachow Iosrückten und warfen sie zurück. Hier kam es zu einem hitzigen Gefecht, wobei Konownizyn an der Hand verwundet wurde, der Prinz aber mit seinen Jägern aus dem Tore in den gedeckten Weg drang und den Feind von dort vertrieb.

 

Als Napoleon sich von der Unmöglichkeit überzeugt hatte, die Stadt mit Sturm zu nehmen, ließ er das Artilleriefeuer durch Haubitzen verstärken, die Sprenggeschosse in die Stadt schleuderten, welche die Häuser zerschmetterten und viele in Brand steckten. Um 2 Uhr versuchten die Franzosen einen zweiten Sturm, aber abermals vergeblich. Diesmal war der heftigste Angriff gegen unseren rechten Flügel gerichtet; allein der vorsichtige Barklay hatte rechtzeitig das 30. und 48. Jägerregiment der 17. Division zur Verstärkung hingesandt, und sie warfen den Gegner zurück. Um 9 Uhr verstummte die Kanonade, und unsere Truppen lagerten sich hinter der Stadtmauer, in

 

 

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dem sie ihre Schützenketten in die Vororte und auf den gedeckten Weg vorschoben. Sie hatten diesen Tag mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit gekämpft, und sogar die Verwundeten gingen ungern zu den Verbandplätzen; selbst Konownizyn ließ sich vor dem Ende des Kampfes keinen Verband anlegen. Die Verluste, besonders des Gegners, waren sehr groß; bei uns betrug die Zahl der Getöteten und Verwundeten etwa 5000, aber beim Gegner etwa 12000.

 

Barklay hielt es nicht für möglich, die Verteidigung des brennenden Smolensk fortzusetzen und befahl Dochturow, die Stadt zu verlassen und die Brücken zu zerstören. Die Truppen der zweiten Armee gingen über den Dnjepr und marschierten nach Dorogobusch. Einige Truppen der ersten Armee zogen zur früheren Position bei der Porjetschjeschen Straße in der Nähe der Stadt; zuletzt zogen die Truppen Konownizyns und des Prinzen Eugen aus der Stadt. Gegen 4 Uhr schlugen sie schwimmende Brücken über den Fluß und verbrannten die feste alte Brücke. Aber gleich darauf entspann sich ganz unerwartet ein neuer Kampf, der jedoch nur kurze Zeit dauerte. Marschall Ney, der in die von uns verlassene Stadt rückte, glaubte, daß auch die Petersburger Vorstadt auf dem rechten Ufer des Dnjepr gesäubert sei und schickte einige Infanterietruppen auf einer Fähre hinüber, um sie zu besetzen. Die dort stehenden Jäger der 17. Division hatten keinen Angriff erwartet und wurden herausgedrängt. Zum Glück bemerkte es Barklay. Er befahl der Jägerbrigade Konownizyns umzukehren und den Feind zu attackieren; die Jäger der 17. Division vereinigten sich mit ihnen, und in kurzer Zeit wurden die Franzosen über den Dnjepr zurückgeworfen. Jetzt wurde eine neue Arrieregarde aus 14 Bataillonen und 16 Eskadronen des Ssumschen und Mariupolschen Regiments gebildet unter dem Oberbefehl des Generals Korff. Er besetzte die Vorstadt und unterhielt gegen den Feind ein Gewehrfeuer, das bis in die Nacht dauerte.

 

Die letzten zwei Tage waren für die Truppen so ermüdend gewesen, daß der Oberkommandierende es für nötig hielt, ihnen

 

 

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eine Rast zu gönnen. Und in der Tat hatten sie am 4. August einen Eilmarsch von 40 Werst am Tage geleistet, in der Macht hatte Dochturow Rajewski in Smolensk abgelöst, am 5. hatte ein großer Teil der Armee an der Schlacht teilgenommen, die bis in den späten Abend hinein dauerte. Und deshalb wurde die Fortsetzung des Marsches nach Dorogobusch bis zum Abend des 6. August verschoben. Unterdessen erhielt Barklay vom Fürsten Bagration einen Brief, der ihm meldete, daß bedeutende Streitkräfte des Feindes über Jelnja auf Dorogobusch losrückten. Bagration beschwor ihn, nicht nur sich in Smolensk zu halten, sondern auch zu einem energischen Angriff überzugehen. Zu gleicher Zeit bat Bagration Barklay, ihm noch ein Korps der ersten Armee zur Unterstützung zu schicken. Es ist schwer verständlich, wie ein so erfahrener Feldherr wie Bagration, der um ein ganzes Korps der ersten Armee gebeten hatte und wußte, daß diese ganze Armee dann nur noch 65000 Mann gezählt hätte, Barklay überreden konnte, mit solchen Streitkräften über den Dnjepr zu gehen und Napoleon anzugreifen, der über eine Armee von 170000 Mann verfügte, die vor Begier brannte, sich mit den Russen in einer Generalschlacht zu messen. Wie schwer es dem Oberkommandierenden fiel gegenüber dem blinden Optimismus seiner Umgebung fest zu bleiben — wenn auch dieser Optimismus durch die glückliche Verteidigung von Smolensk einigermaßen erklärlich war —, das sehen wir aus seiner Antwort an den Grafen Kutaissow, der ihm die Bitte und den Wunsch der älteren Führer übermittelte, man möge die Verteidigung der Stadt fortsetzen. Aufmerksam ließ Barklay den Chef der Artillerie zu Ende sprechen, dann gab er die freundliche, aber feste Antwort: „Jeder mag seine Pflicht tun, und ich werde die meinige tun“).

 

Und gerade in diesem Augenblicke kam der Brief Bagrations, der sofort den Haupttadlern im Hauptquartier bekannt wurde und sie so sehr aufregte, daß sie jede Spur von Selbstbeherrschbung verloren, sich entschlossen, zum Oberkommandierenden zu gehen,

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1) Aus den Aufzeichnungen des Grafen P. H. Grabbe.

 

 

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um ihn zu veranlassen, alle Anordnungen aufzuheben, die den verlockenden Plänen Bagrations nicht entsprachen. Der Herzog A. von Württemberg, die Generale Bennigsen, Korsakow und Armfeld 1), die gar keine Pflichten in der Armee hatten, hielten sich doch für berufen, ihre Wünsche auszusprechen. Um der Demonstration ein größeres Gewicht zu verleihen, vielleicht aber auch, um von sich die Verantwortlichkeit abzuwälzen, sicherten sie sich die Mitwirkung des Großfürsten, der auf diese Weise das Haupt dieser eigenwilligen Deputation war. Zusammen mit ihnen kamen noch Tutschkow I und Jermolow; der erstere wußte wahrscheinlich gar nicht, worum es sich handelte, und schloß sich den obenerwähnten Personen als Führer jenes Teiles der Armee, bei der sich der Oberkommandierende befand, an; was Jermolow anbetrifft, so konnte seine Gegenwart als Chef des Stabes eine zufällige sein. Dieses unerwartete Auftreten von Personen, die eigentlich nichts mit der Sache zu tun hatten, mußte Barklay in Erstaunen setzen; aber sein Staunen wuchs, als der Großfürst im Namen aller zu erklären anfing, daß die Armee schwer an dem beständigen Rückzug trage, eine andere Kriegführung wünsche und sich mit dem Gegner messen wolle, und daß dies auch der Wille Seiner Majestät sei. Barklay de Tolly ließ den Großfürst zu Ende reden und erklärte dann in kurzen scharfen Worten allen Erschienenen, daß er, sobald er eines Rates bedürfen werde, jeden, der ihm nötig wäre, auffordern werde und daß er ungebetene Ratschläge als etwas durchaus Dienstwidriges betrachte, darauf wandte er sich an den Zäsarewitsch Konstantin Pawlowitsch und fügte hinzu, daß der Hinweis auf den Willen des Monarchen von so großer Bedeutung sei, daß es zur deutlicheren Aufklärung über den Willen Seiner Majestät unbedingt geboten sei, daß sich der Großfürst sofort zum Kaiser begebe, um ihm persönlich die Depeschen zu übermitteln, welche sofort ausgefertigt werden sollten 2). Das war das Resultat dieser eigentümlichen Szene:

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1) H. Beitzke, Geschichte des russischen Krieges im Jahre 1812,.

2) Mitteilung des Generaladjutanten Baron Neyendorff, der bei Tutschkow Offizier des Quartiermeisterstabes war.

 

 

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ein Resultat, wie es freilich den Erwartungen der beteiligten Personen wenig entsprach. Der Großfürst, so berichtet ein Augenzeuge, war „im höchsten Grade erbittert, und verglich seinen Auftrag mit dem eines Feldjägers" 1).

 

Barklay wünschte, daß dem Feinde der anfängliche Rückzug der Armee verborgen bliebe, auch wollte er ihr die Flankenbewegung auf die Moskausche Straße erleichtern und daher traf er die Anordnung, daß die Armee den 6. (18.) August in zwei Kolonnen ausrücken sollte. Die erste sollte aus dem 5. und 6. Infanterie-, aus dem 2. und 3. Kavalleriekorps und der Reserveartillerie unter dem Oberbefehl Dochturows bestehen, sie sollte um 7 Uhr in der Richtung auf Stabnja und Suschtschewo nach Prudischtsch marschieren, am folgenden Tage nach Solowjewo zur Überfahrtsstelle. Die zweite Kolonne, aus dem 2., 3., 4. Infanterie und dem 1. Kavalleriekorps, sollte um 9 Uhr über Krachotkino und Gorbunow auf die Moskausche Straße bis Bredichin und am anderen Tage ebenfalls bis Solowjewo marschieren. Baron Korff erhielt den Befehl, vor Tagesanbruch die Vorposten einzuziehen und sich hinter der zweiten Kolonne zurüdzuziehen, der Hetman Platow hingegen sollte einen Teil seiner Kosaken an die Arrieregarde Korffs abgeben, mit den übrigen aber zwischen Smolensk und Cholm hinter der Armee zurückgehen, die einzelnen Abteilungen allmählicb zusammenziehen und dann bis Solowjewo eine Hauptarrieregarde aus allen dort konzentrierten Truppenteilen bilden.

 

Obgleich Barklay, der alles im voraus überdachte und erwog, die Moskauer Straße durch die Truppen der zweiten Armee für genügend gesichert halten konnte, befahl er doch einer besonderen Avantgarde aus drei Infanterie- und drei Kosakenregimentern, den Jelisawetgradschen Husaren und einer Rotte Artillerie unter dem Oberbefehl des Generals Tutschkow III um 8 Uhr auszurücken und an der Spitze der zweiten Kolonne

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1) Shirkewitsch, „Rußkaja Starina“, 1874, S. 651.

 

 

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zu marschieren, um etwaige unerwartete Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Diese kluge Vorsicht hat, wie wir sehen werden, die Armee vor gefährlichen Komplikationen bewahrt.

 

Die Avantgarde der zweiten Kolonne, aufgehalten durch den schlechten Zustand der Wege und die Baufälligkeit der Brücken, gelangte erst um 8 Uhr morgens zur Moskauer Straße. Die dort stehende Abteilung der zweiten Armee unter Fürst Gortschakow marschierte sofort, sobald sie die ersten Truppen der Avantgarde unter dem Oberbefehl des Generals Wsewoloschski erblickte, zum Überfahrtspunkt Solowjewo und überließ die weitere Überwachung der von Smolensk herführenden Landstraße sowie der Überfahrtsstelle bei Prudischewo den Kosaken Karpows. Da beschloß Tutschkow III, mit seiner Abteilung den Weg zu decken, auf dem die zweite Kolonne ausrücken sollte, und schickte Wsewoloschski, der den Marsch nach Bredichin schon begonnen hatte, den Befehl, umzukehren.

 

Bald erwies es sich, daß die Kosaken schon bis zum Berge Walutino weggedrängt waren und daß feindliche Truppen, die bei Prudischewo über den Fluß gegangen, schon auf der Moskauer Landstraße heranrückten. Unter diesen Umständen hielten Tutschkow und Oberst Toll, der ihn begleitete, es für geboten, mit ihrer Abteilung eine Position hinter dem Fluß Kolodnja zu besetzen, vor welchem Karpow stand.

 

Unterdessen kam es ganz unerwartet zu einem Gefecht in der Nähe von Smolensk. Beim Ausrücken der zweiten Kolonne hatte sich das vierte Korps verspätet und die Verbindung mit den dritten verloren, infolgedessen einige von seinen Regimentern und auch einige von den Regimentern des zweiten Korps vom Wege abirrten und sich um 5 Uhr morgens bei Gedeonowo, eine Werst von Smolensk, befanden. Hier befand sich auch der Prinz E. von Württemberg. Gerade um diese Zeit waren die Truppen des Marschalls Ney über den Dnjepr gegangen und machten es sich gerade in der Petersburger Vorstadt bequem. Die Verwirrung, die durch den Zusammenstoß unserer Kolonnen

 

 

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entstand, hätte leicht schlimme Folgen haben können, wenn der Feind sie bemerkt hätte. Zum Glück erschien gerade in diesem Augenblick plötzlich Barklay de Tolly. Er war in der Nacht aufgebrochen und rechnete darauf, mit den letzten Truppen den übrigen zu folgen, da erfuhr er zu seiner großen Verwunderung von der entstandenen Unordnung. Er erkannte gleich die Gefahr, die der Armee drohte, und traf sofort, aber in völliger Ruhe alle nötigen Anordnungen, um die Ordnung wiederherzustellen. Dem General Jermoloff befahl er die Bewegung der zweiten Kolonne zu beschleunigen; die verirrten Truppenteile erhielten Führer. Die nächsten Regimenter wurden zurückgehalten, um einer eventuellen unerwarteten Attacke des Feindes entgegenzutreten; die zu diesem Zweck gebildete Abteilung übergab er dem Kommando des Prinzen von Württemberg mit dem Befehl, sich bei Gedeonowo zu halten, bis Korff zurückgekehrt wäre. „Jetzt ist mehr Eifer nötig als vorgestern”, sagte der Oberkommandierende dem Prinzen, „es handelt sich jetzt um die Rettung der Armee.“

 

Marschall Ney war im Ungewissen: Korff zog sich auf die Petersburger Landstraße zurück, auf der Moskauschen sah man die Kosaken Korffs, bei Gedeonowo befanden sich verschiedene Truppen. Und darum wartete er bestimmtere Nachrichten über die Lage der Dinge ab, die er vielleicht von der Kavallerie Murats erhalten konnte, die gleich nach der Infanterie über den Dnjepr gegangen war. Zugleich wurden die Korps Nansoutys und Montbruns zum Rekognoszieren auf die Moskauer Landstraße abkommandiert, und das Korps Grouchys auf die Petersburger Landstraße. Die Untätigkeit gab dem Prinzen Eugen die Möglichkeit, sich zur Verteidigung zu rüsten. Um 8 Uhr morgens begann das Gewehrfeuer und um 9 Uhr rückten die französischen Kolonnen vor und griffen das Tobolsksche Batallion an, das vor der Position in einer halbzerstörten Erdbefestigung stand, und umzingelten es. Da eilte das Regiment Bjeloosero zur Hilfe herbei, aber auch dieses Regiment wurde von überlegenen Kräften attackiert und zum Rückzug gezwungen. Trotzdem

 

 

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dauerte der Kampf mit wechselndem Erfolge fort, bis endlich um 10 Uhr die Reserven des Gegners in Bewegung gerieten, seine Kavallerie sich in der Nähe der Moskauschen Landstraße entfaltete und auf das Regiment Wilmanstrand losstürmte, das den linken Flügel der Position auf dem Wege nach Gorbunow einnahm. Als der Prinz das sah, fürchtete er sofort die Besetzung der Landstraße und warf sich daher mit der nächsten Husareneskadron den Franzosen in die Flanke, aber gerade in diesem Augenblick wurden die Franzosen von der Kavallerie des Baron Korff erreicht und attackiert, die der Oberkommandierende, der den Gang des Gefechtes von einer Anhöhe hinter Gedeonowo verfolgte, in dem kritischen Augenblick zum bedrohten Punkte schickte. Dieser Erfolg hielt den Feind auf, aber unterdessen kam auch die Infanterie Korffs heran. Da konnte auch das Zentrum, nachdem es die Franzosen zurückgedrängt hatte, ungehindert weitermarschieren, und die ganze Abteilung erhielt den Befehl, die Bewegung nach Gorbunowo fortzusetzen.

 

Indessen begannen auch die übrigen Truppen Napoleons heranzukommen und nahmen die ihnen angegebenen Ortschaften ein. Das Korps Junot setzte bei Prudischtschew über den Fluß; das Korps Davoust ließ eine Division bei Ney zurück und lagerte mit den vier übrigen in der Nähe der Petersburger Vorstadt; die Garde besetzte die Stadt und auch das Korps des Vizekönigs näherte sich ihr, das Korps Poniatowskis blieb auf dem linken Ufer des Dnjepr oberhalb Smolensk. Als das Gefecht bei Gedeonowo zu Ende war, zog Ney auf der Moskauer Landstraße weiter, ihm folgten zwei Divisionen des Korps Davoust, die Kavallerie Murats und das Korps Junot. Es fehlte aber an einem gemeinsamen Oberbefehlshaber.

 

Gegen Mittag erschien der Feind vor der Position Tutschkow III. Hier nahmen das 20. und 21. Jägerregiment des Fürsten Schachowskoi die Gebüsche auf beiden Seiten der großen Landstraße ein, zwischen beiden Regimentern war die Artillerierotte

 

 

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postiert; das Regiment Reval und die Jelissawetgradschen Husaren standen in der Reserve, die Kosaken aber auf dem linken Flügel. Die Vorbereitungen des Gegners zum Kampf dauerten eine ganze Stunde, da kamen auch, von Jermolow geführt, das Leibgrenadierregiment und das Grenadierregiment des Grafen Araktschejew mit einer Batterierotte herbei. Diese Hilfe machte es Tutschkow möglich, sich bis 3 Uhr zu halten, als das bedeutende Übergewicht der Franzosen ihn nötigte, sich hinter den Fluß Stragan zurückzuziehen und dort eine neue Position zu besetzen, die man unbedingt bis aufs äußerste verteidigen mußte, da sie den Ausmarsch der zweiten Kolonne auf die Moskauer Landstraße deckte. Aber zu der Zeit gelang es dem Oberkommandierenden noch die an der Spitze marschierenden Regimenter des vierten Korps vorzuschicken: Jekaterinenburg, Jelezk und Rylsk, sowie ein kombiniertes Regiment aus Bataillonen des dritten Korps. Auf diese Weise wuchs die Abteilung Tutschkows bis zu einer Größe von 17 Batallionen, zusammen 8000 Mann an und lagerte sich auf einer neuen Position in folgender Anordnung: im Zentrum bei der großen Landstraße stand die ganze Artillerie und hinter ihr das Leibgrenadier-, das Jekaterinburgsche und das Jelezksche Regiment; auf dem rechten Flügel das Revalsche Regiment links vom Wege, im Gehölz das 20. und 21. Jägerregiment, Die in der Reserve noch ein kombiniertes Bataillon und ein Bataillon vom Regiment des Grafen Araktschejew hatten, noch weiter nach Iinks, im Walde, das Rylsksche Regiment mit dem noch übrigen Bataillon des Araktschejewschen Regiments in der Reserve. Die Kosaken Karpows standen am Ende des linken Flügels, ein wenig nach vorn. Unterdessen schickte Jermolow, als er von der Bewegung der Kavallerie Murats und des Korps Junot erfahren hatte, im Namen des Oberkommandierenden dem Grafen Orlow-Denissow den Befehl, mit dem ersten Kavalleriekorps im Trab nach Sabolotje zu reiten und vor dem Sumpf auf den Anhöhen Stellung zu nehmen. Unter sein Kommando wurden 26 Eskadrons Husaren und vier Geschütze der berittenen Artillerie

 

 

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gestellt, die Barklay de Tolly aus der Abteilung des Barons Korff gesandt hatte.

 

Nach einer Kanonade von ungefähr einer Stunde ließ Ney die Division Gudin in zwei Kolonnen gegen unser Zentrum vorrücken und befahl der Division Razout, unseren linken Flügel anzugreifen. Viermal stürzten sich die Franzosen auf unsere Geschütze, aber wurden jedesmal von der Infanterie zurückgeworfen, wobei sich besonders die Leibgrenadiere auszeichneten. Beim letzten Male wurde der Divisionskommandeur General Gudin tötlich verwundet. Mit derselben Energie griffen auch die Truppen Razouts an. Sie schlugen das Regiment Rylsk aus dem Walde und drängten sogar die Jäger des 20. und 21. Regiments zurück, aber darauf wurden sie selbst von den Bataillonen der Reserve angegriffen und zurückgeworfen. Jetzt verstärkte der Gegner das Feuer der Artillerie, wahrscheinlich, um eine neue Attacke vorzubereiten; aber in diesem Augenblick kamen noch andere Truppen der zweiten Kolonne heran, aber mit ihnen zusammen kam auch der Oberkommandierende. Er begann jetzt persönlich mit gewohnter Kaltblütigkeit seine Anordnungen zu treffen. Da er einen neuen Angriff auf unser Zentrum voraussah, befahl er zur Unterstützung dem General Konownizyn, mit den Regimentern Murom, Tschernigow und Koporje vorzurücken; zu gleicher Zeit schickte er das Jekaterinoslawsche Regiment auf den rechten Flügel, sowie die Regimenter Pernau und Polotzk mit einer Rotte berittener Artillerie zur Verstärkung der Kavallerie des linken Flügels. Dann erhielt das Kexholmsche Regiment den Befehl, den Hain rechts vom ersten Kavalleriekorps zu besetzen, und die Regimenter Pawlow, Taurien und St. Petersburg mit drei Artillerierotten sollten bei Lubin stehen bleiben und die allgemeine Reserve bilden. Schon vorher hatte Marschall Augereau auf das Drängen Murats seine Kavallerie abkommandiert. Dieser gelang es, unsere Kosaken auf die hinter ihnen stehenden Ssumyschen Husaren zu werfen und so eine Unordnung hervorzurufen. Aber gleich darauf attackierten die Mariupoler und Jelisawetgrader

 

 

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Husaren den Feind in der Flanke und, indem sie diese Attacke wiederholten, hinderten sie die französische Kavallerie, sich zu entfalten. Allein die Operationen Augereaus beschränkten sich nicht nur darauf. Gegen 5 Uhr bemerkte Graf Orlow eine Bewegung der feindlichen Artillerie mit der Absicht, unsere Kosaken zu umgehen, befahl daher all seinen Linien, auf dem linken Flügel zurückzutreten, postierte dann Husaren und Kosaken in Kolonnen hinter den kampfbereiten Linien, deckte seine 16 Geschütze auf einer kleinen Anhöhe und ließ die zu ihm gesandten Infanterieregimenter nahe an die Geschütze heranrückten. Gegen 6 Uhr begann die Division Ochs auf den rechten Flügel Orlows loszurücken; die Batterien ließen sie bis auf die Nähe eines Kartätschenschusses heran und eröffneten dann ein ungemein heftiges Feuer, das von einem starken Gewehrfeuer unserer Infanterie unterstützt wurde. Der Feind wurde unter großen Verlusten zurückgeworfen und von unseren Husaren und Kosaken verfolgt. Zu gleicher Zeit mit diesen Operationen des Gegners gegen unseren linken Flügel begannen mit neuer Energie die Angriffe auf unser Zentrum und unseren rechten Flügel. Die Attacke wurde mit solch einer Entschlossenheit durchgeführt, daß unsere Regimenter nicht widerstehen konnten und zurückwichen; aber darauf wirkte das Feuer unserer Batterien, verstärkt durch 12 Geschütze und auf die anstürmenden Truppen konzentriert, so erfolgreich, daß der Feind nicht imstande war, der heftigen Attacke Konownizyns stand zu halten, der sie wieder zurückwarf. Jetzt konzentrierten die Franzosen ihre Anstrengungen auf unseren rechten Flügel, aber auch hier wurden sie nach kurzem Erfolge von unserem Leibgrenadierregiment angegriffen und zurückgeworfen. Um 8 Uhr hörte der Kampf, wie es schien, überall auf. Allein um 9 Uhr, als es schon dämmerte, warf sich die Division Gudin unter dem Kommando des an seine Stelle getretenen Gerard von neuem auf die Position des Zentrums. Tutschkow führte dem Feinde das Regiment Jekaterinoslaw entgegen, aber dabei wurde sein Pferd unter ihm getötet, und Tutschkow, durch Bajonettstiche am Kopf und in der Seite

 

 

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verwundet, geriet in die Hände der Franzosen. Zwei Regimenter des zweiten Korps unter dem Oberbefehl des Generals Olssufjew hielten den Feind zurück, aber waren nicht imstande, Tutschkow zu befreien. So endete der Tag des 7. August. Die indessen eingetroffenen letzten Truppen des zweiten Korps und der Abteilung des Baron Korff nahmen in der Nacht hinter dem Zentrum Positionen ein, und alle Truppen der zweiten Kolonne erhielten den Befehl, am folgenden Tage um 4 Uhr morgens auszumarschieren und den Weg nach Ssolowjewa einzuschlagen. Die Schlacht bei dem Berge Walutino und bei Lubin war sehr blutig gewesen. Die Verluste dieser Tage einschließlich der bei Gedeonowo Getöteten und Verwundeten betrugen bei Gedeonowo beim Feinde fast 9000 Mann und bei uns fast 5000 Mann. Diese Schlacht bildete den letzten Akt des blutigen Dramas bei Smolensk, das den 2. August bei Krasnoje begonnen hatte und Napoleon 21000 Mann kostete, wobei sein Hauptzweck nicht erreicht war: nämlich unsere Armee zu einer Generalschlacht zu zwingen und einen endgültigen Sieg über sie zu erringen. Aber die Schlacht beim Berge Walutino war auch für den ganzen Krieg von Bedeutung und bildet gewissermaßen eine Grenzscheide zwischen der Lage der Dinge vor Smolensk und den später folgenden Operationen. In Beziehung auf den Gang des Krieges wurde die Lage unserer Armee nach ihrem Rückzug aus Smolensk viel günstiger als früher. Der Hauptzweck Barklays: die allmähliche Schwächung des Gegners bis zu dem Grade, daß sich die Streitkräfte auf beiden Seiten gleich standen, war hauptsächlich schon erreicht, zu Beginn des Krieges besaß Napoleon doppelt so viel Streitkräfte wie wir, aber nach der Schlacht beim Berge Walutino nur 1½, so viel. Jeder weitere Schritt ins Innere Rußlands näherte uns unseren Verstärkungen, und entfernte die Franzosen von ihrer Heimat und ihren Hilfsquellen. Schwierigkeiten in der Verproviantierung der Truppen brauchten wir, da die ganze Bevölkerung bereit war, uns zu dienen, nicht zu fürchten; der Feind aber litt Mangel schon zu Beginn des Krieges, und dieser Mangel

 

 

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konnte sich späterhin bis zu einem entsetzlichen Grade steigern. Dieser Umstand wurde schon damals nicht nur von Barklay und einigen Personen, die sich der Meinung der Gesellschaft und der Armee widersetzten, erkannt, sondern auch von einigen unserer Gegner. Und darum brauchen wir uns nicht zu wundern, daß Napoleon am 8. (20.) August nach der Rückkehr von der Besichtigung des Schlachtfeldes bei Walutino, nachdem er die in zwei Monaten erreichten Erfolge erwogen hatte, am Erfolge des begonnenen großen Unternehmens zweifeln und auf den Gedanken kommen konnte, den Krieg zu unterbrechen und ihn zu erneuern, falls der Friedensschluß nicht im Frühling erfolgen würde. Das gleiche dachten auch einige der ihm am nächsten stehenden Personen, wie der Vizekönig, Berthier und Caulincourt. Allein der Wunsch, die Entscheidung der Angelegenheiten zu beschleunigen, bewog ihn, die Verfolgung fortzusetzen.

 

Barklay de Tolly, erfahren und vorsichtig, durchschaute die Absichten Napoleons und vermied daher mit unerschütterlicher Festigkeit und großer Kunst Schlachten, die bei dem erdrückenden Übergewicht an Kräften dem Gegner einen entscheidenden und endgültigen Sieg versprachen; d. h. er vermied Schlachten, wie sie Napoleon immer zu suchen und zu erreichen pflegte. Aber nach Smolensk änderte sich die Lage: Die Streitkräfte waren jetzt beiderseits so ausgeglichen, daß ein Kampf auf einer vorteilhaften, künstlich befestigten Position erfolgreich sein konnte. Daher schickte Barklay, als er aus Smolensk ausrückte, Generalstabsoffiziere aus, um die Gegenden an der Moskauschen Landstraße zu besichtigen und für die Verteidigung günstige Positionen ausfindig zu machen. Auf der Straße von Smolensk bis Gschatsk wurden zwei brauchbare Positionen gefunden: bei Uswjätje vor Dorogobusch und bei Zarewo-Saimischtsche zwischen Wjasma und Gschatsk. Unsere Armeen vereinigten sich auf der Position bei Uswjät am 11. (23.) August; aber Fürst Bagration fand, daß die zweite Armee, die den linken Flügel bildete, umgangen werden konnte und daß die Gegend bei Dorogobusch vorteilhafter sei. Da befahl der Oberkommandierende den Marsch fortzusetzen,

 

 

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und als es sich erwies, daß die Position bei Dorogobusch vollständig untauglich 1) sei, weiter nach Zarewo-Saimischtsche zu gehen.

 

Unterdessen folgten die Korps Murat, Ney und Junot unseren Armeen auf den Fersen nach (am 10. [22.] August); in derselben Richtung, aber auf Nebenwegen, zogen die Truppen des Vizekönigs, Grouchys, Poniatowskis und Latour-Maubourgs. Als Napoleon erfuhr, daß die russischen Streitkräfte bei Dorogobusch Halt gemacht hatten, hoffte er auf das Zustandekommen einer Generalschlacht, schickte am 12. (24.) die Garde voraus und verließ Smolensk mit Anbruch der Nacht, nachdem er in Smolensk alle Anordnungen getroffen hatte. Diese Anordnungen bezogen sich auf eine bessere Sicherung des Rückens und der Flanken der großen Armee in dem Maße, wie sie immer tiefer ins Innere Rußlands eindrang. Dem Marschall Victor (33000 Mann) erteilte er den Befehl, aus Preußen nach Litauen zu ziehen, gegen Wilna und Smolensk. Zugleich wurden ihm alle zur Rückendeckung dienenden Truppen unterstellt. Marschall Augereau (56000 Mann) sollte aus Deutschland nach Polen ziehen und die Landschaft zwischen der Weichsel und dem Njemen besetzen. Schwarzenberg, Macdonald und Saint-Cyr erhielten den Auftrag, mit Energie zu operieren, Kiew einzunehmen und Petersburg zu bedrohen.

 

Die Armee, mit der Napoleon von neuem vorrückte und Barklay bei Dorogobusch anzugreifen hoffte, zählte mit Ausschluß der Gardedivision, die bis zur Ankunft der Marschbataillone in Smolensk blieb, 155000 Mann. Aber die Hoffnung auf eine Generalschlacht wurde wieder getäuscht. Napoleon fand Dorogobusch schon verlassen und rückte in der früheren Ordnung weiter vor, mit Murat in der Avantgarde. Unsere Arrieregarde, die sich nach Wjasma zurückzog, wurde von Murat und Davoust stark bedrängt, aber hielt sich noch trotzdem

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1) Clausewitz nennt sie in seiner Beschreibung des Jahres 1812 „abscheulich”.

 

 

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bis zur Nacht. Am folgenden Tage wurde die Arrieregarde durch die 3. Infanteriedivision und das 2. Kavalleriekorps verstärkt und kam unter das Kommando Konownizyns. Dann wurde eine neue Ordnung beim Rückzuge eingehalten; auf jedem für die Artillerie geeigneten Punkte ließ man einige Geschütze aufstellen und gegen den Feind ein Feuer eröffnen. Dadurch zwang man ihn, keine Artillerie vorzuschieben und Front zu machen. Darauf wurde der Rückzug fortgesetzt, und an dem nächsten geeigneten Punkte wiederholte man dasselbe Manöver. An diesem Tage, den 17. (29.) August, nahmen unsere Armeen auf der Position bei Zarewo-Saimischtsche Stellung, der Feind jedoch zog in Wjasma ein, das die Bewohner verlassen und zum Teil verbrannt hatten.

 

Nah Besichtigung der Position, deren Verstärkung durch Feldbefestigungen sofort in Angriff genommen wurde, fühlte Barklay, daß er endlich das Recht erworben hatte, dem Gegner eine Generalschlacht anzubieten und so den allgemeinen Wunsch mit ruhigem Gewissen zu erfüllen. Seine Truppen bestanden mit den von Miloradowitisch nach Gschatsk geführten Verstärkungen aus 110000 Mann, an Zahl standen sie noch dem Feinde nach, aber das frühere, gewaltige Mißverhältnis war geschwunden. Die Tapferkeit der Truppen war erprobt, sie hatten zuverlässige Führer und befanden sich auf einer vortrefflichen Position 1). Einen halben Tagesmarsch hinter Zarewo- Saimischtsche befand sich eine andere sehr gute Position, die, wenn es der Umstand erfordern sollte, der zum Rückzug gezwungenen Armee einen guten Zufluchtsort bieten konnte. Ein Zusammentreffen von so günstigen Umständen mußte sehr beruhigend auf den Entschluß Barklays einwirken, sich mit Napoleon zu messen. Aber es war ihm nicht beschieden, diesen Entschluß auszuführen. Die ganze schwere Zeit der Kriegführung

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1) Der bekannte Militärschriftsteller Blessow hat die Gegend besichtigt und bezeichnet die Position als eine außerordentlich vorteilhafte und als die beste auf der ganzen Strecke von Smolensk bis Moskau. Das ist auch die Meinung Bernhardis und Beizkes.

 

 

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gegen Napoleons Riesenarmee von fast einer halben Million Streitkräfte blieb nicht nur unverstanden und ungeschätzt, sondern war sogar mit bitteren Prüfungen verbunden: die so geschickten und erfolgreichen Operationen bei Smolensk hatten zu ihrem nächsten Resultat nur die Ernennung eines neuen Oberkommandierenden; aber die Vorbereitungen zu einer Generalschlacht hatten keine Folgen, weil Fürst Kutusow zwei Tage vor der beabsichtigten Schlacht ankam.

 

 

 

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VII.

 

In den eigenhändigen Aufzeichnungen Barklays lesen wir, daß er selbst dem Kaiser Alexander die Notwendigkeit nahelegte, einen Generalissimus für alle Armeen zu ernennen. Von den vier Oberkommandierenden war er den Dienstjahren nach der Jüngste, aber in seiner Stellung als Minister erteilte er seine Befehle im Namen des Kaisers; dies konnte leicht Unzufriedenheit wecken und die Operationen ungünstig beeinflussen. Barklay war der Ansicht, daß die Würde eines Generalissimus nur Kutusow auferlegt werden könne, obgleich ihm seine vorzeitige Hinfälligkeit, seine schwache Sehkraft und seine dadurch erklärliche Abhängigkeit von unserer Umgebung ihm bekannt waren. Die Gerüchte über die Ernennung eines neuen Oberkommandierenden kamen der Ankunft desselben um zwei Tage zuvor, so daß Barklay schon den 16. August seiner Frau schrieb: „Was die Anstellung des Fürsten Kutusow anbelangt, so war es höchst nötig, da der Kaiser selbst nicht kommandiert, daß ein Höchstkommandierender alle Armeen befehligt; ob aber die Wahl glücklich gewesen ist, weiß der liebe Gott, was mich anbelangt, so bin ich zu sehr Patriot, um mich gekränkt zu fühlen“ 1).

 

Am selben Tage schrieb Barklay de Tolly dem Kaiser: „Als Oberkommandierender, der dem Fürsten Kutusow untertan ist, kenne ich meine Pflichten und werde sie gewissenhaft erfüllen. Aber ich bin noch im Ungewissen, was meine Beziehungen in der Eigenschaft als Kriegsminister anbetrifft. Vielleicht, Majestät, liegt der Grund dafür in dem Wohlwollen Ew. Majestät mir gegenüber, der ich schon früher das volle Vertrauen Ew.

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1) Brief Barklays an seine Frau vom 16. August 1812.

 

 

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Majestät genoß. Ich wage anzunehmen, daß nur dieser Grund Ew. Majestät veranlaßt hat, die Übergabe der von mir bisher erfüllten Pflichten irgendeinem anderen zuzuschieben. Ich beschwöre Ew. Majestät, auf mich keine Rücksicht zu nehmen, damit der Nutzen des Dienstes auch nicht einen Augenblick dadurch Schaden erleide. Ich werde von den Operationen der mir anvertrauten Armee, jetzt wo die Entscheidung so nah ist, nicht reden. Wenn leichtsinnige Eitelkeit das Motiv meiner Handlungen wäre, so würde Ew. Kaiserliche Majestät von mir Relationen über die von mir gelieferten Schlachten erhalten, aber der Feind wäre dessenungeachtet jetzt vor den Mauern Moskaus, und Moskau hätte keine zur Verteidigung der Stadt genügenden Streitkräfte vor sich” 1).

 

Am folgenden Tage, den 17. (29.) August, kam Kutusow in Gschatsk an, und dann in Zarewo-Saimischtsche, wo er nach dem Mittagessen mit Barklay zur Besichtigung der Position hinausfuhr. Er fand sie sehr vorteilhaft, sprach den Entschluß aus, hier eine Schlacht anzunehmen und befahl, den begonnenen Bau der Befestigungen zu beschleunigen. Barklay war mit diesem Beschluß sehr zufrieden, weil ein entschlossener Kampf nach seiner Meinung unbedingt möglichst weit von Moskau aufgenommen werden mußte, der uns aufgezwungene Rückzug würde uns einige Vorteile gewähren, aber dem Gegner entschiedenen Schaden zufügen und könnte dann zu einer zweiten günstigeren Schlacht führen. Aber am anderen Tage, ganz unerwartet, erhielt die Armee den Befehl, sich weiter auf die Position bei Gschatsk zurückzuziehen. Diese zweite Position wurde von dem neuen Oberkommandierenden ebenfalls für eine gute erklärt, und er befahl, sie sofort durch Redouten zu verstärken. Da machte Bennigsen, der zum Chef des Hauptstabes der vereinigten Westarmeen ernannt worden war und mit dem Fürsten Kutusow angekommen war, darauf aufmerksam, daß er auf der Fahrt aus Moskau noch vorteilhaftere Positionen bemerkt habe; aber der Oberkommandierende bestand auf seiner Absicht, den Kampf

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1) Brief Barklay de Tollys an Kaiser Alexander vom 16. August 1812.

 

 

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bei Gschatsk aufzunehmen. Dessenungeachtet kam am Abend der Befehl, den Rückzug auf der Moskauschen Landstraße fortzusetzen. Da begann man zu erraten, daß beide Positionen ein und denselben Mangel hatten: sie waren von Barklay gewählt und von ihm gebilligt, Kutusow ließ sich von seiner Umgebung leicht überzeugen, daß der Ruhm des Sieges, wenn der Feind bei Zarewo-Saimischtsche oder Gschatsk geschlagen werden würde, nicht ihm, sondern dem früheren Oberkommandierenden zugeschrieben werden würde. Allein als Kutusow in Gschatsk angekommen war, schickte er selbst die Generalstabsoffiziere zurück, die man abkommandiert hatte um für den Fall eines Kampfes eine neue Position aufzusuchen, „wir brauchen gar keine Positionen hinter der Armee, wir sind schon ohnehin zu weit zurückgewichen” 1).

 

Wie konnte man jetzt im offiziellen Bericht die Ursachen eines so plötzlichen und freiwilligen Rückzuges erklären? Nun, die Gründe fanden sich und wurden gleich in dem ersten Bericht vom 19. August folgendermaßen bezeichnet: „Die Erschöpfung des Heeres, das Marodeuren, die bequeme Ergänzung der Truppen durch die gestern von General Miloradowitsch herbeigeführten Verstärkungen, der unbefriedigende Zustand der Positionen“ 2).

 

Unter den angeführten Umständen verdient der erste besondere Aufmerksamkeit — nämlich die Bemerkung über den inneren Zustand der Armee; sie gab den Gegnern Barklays die Möglichkeit, in Petersburg falsche Gerüchte über den Geist und die Disziplin in der Armee zu verbreiten. Dies offenbarte sich 1½ Monate später, als ein Feldjäger ins Hauptquartier nach Tarutino 6 große Ballen neuer Eidesformulare brachte, die in so starken Ausdrücken abgefaßt waren, daß alle, bevor man sie sammeln und zurückschicken konnte, errieten, daß diese Formulare die Folge der gegen die Armee Barklay de Tollys gerichteten

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1) M. Bogdanowitsch, Der Vaterländische Krieg vom Jahre 1812, S. 125.

2) Daselbst S. 126/127.

 

 

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Verleumdungen waren. — Angesichts solcher unwürdiger Ränke und Intriguen müssen wir mit besonderer Befriedigung Urteile von Personen, wie etwa dem Prinz von Württemberg, Iesen, der alle Gefahren des Krieges mit seinen Soldaten teilte, und dem Obersten Toll, der allen Truppen vom ersten Tage des Feldzuges an so nahe stand. Der erstere schreibt in seinen Erinnerungen: „Einige Verschiedenheit der Meinungen im Hauptquartier konnte zwar auch auf einzelne Urteile in der Armee hinwirken — der Geist der Truppen blieb aber davon ebenso unberührt als ihre Disziplin; die Arriergarde schlug sich stets mutig und mit Vorteil; die Regimenter buhlten um die Ehre der Teilnahme an diesen Kämpfen, und die dazu nicht Berufenen blieben auf Märschen und Biwaks, wenn auch nicht ohne Teilnahme an dem Elende des von Hab und Gut vertriebenen Landleute, doch immer munter und getrost” 1)2).

 

Und in Bernhardis Denkwürdigkeiten des Grafen Toll lesen wir: „Die beiden Armeen hatten bis zum Eintreffen in Zarewo-Saimischtsche seit ihrer Vereinigung bei Smolensk 16- oder 17000 Mann verloren, das heißt kaum einen Mann anders als im Gefecht, ein ehrenvoller Beweis von Ordnung, streng bewahrter Kriegszucht und guter Haltung“ 3).

 

Nach einem zweitägigen Aufenthalt in Zarewo-Saimischtsche, am 19. (31.) August, rückten die Westarmeen aus, und ohne in Gschatsk anzuhalten, marschierten sie auf der Moskauer Landstraße weiter. Einen allgemeinen Befehl hatte man bei diesem Anlaß nicht erteilt. Der Stab des neuen Oberkommandierenden war schon zusammengestellt worden; außer dem Chef des Stabes waren ernannt: Generalmajor Wistitzki zum Generalquartiermeister, der Oberst Kaissarow zum dejourierenden General, der Oberst Toll zum Adjutanten des Fürsten Kutusow 4).

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1) M. Majewski, Mein Zeitalter. Rußkaja Starina, August 1873.

2) Herzog E. von Württemberg, Erinnerungen aus dem Feldzuge 1812, S. 64/65.

3) Bernhardi, Denkwürdigkeiten des Grafen Toll. Teil I, S. 409.

4) Armeebefehle Kutusows vom 18., 19. August, Nr. 1—3.

 

 

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Aber der General Bennigsen war schon vorher mit einigen Offizieren des Generalstabes fortgeritten, um einige Positionen, die er bei der Herreise bemerkt, wieder aufzusuchen. Allein alles lief glücklich ab. Die Arrieregarde Barklays, unter dem Oberbefehl Konowinzuns hielt wie bisher den Gegner auf, bestand sogar ein glückliches Gefecht mit ihm bei Gschatsk, wobei es gelang, 500 Gefangene zu machen und wo sich besonders Generalmajor Kreuz auszeichnete. Bald erlahmte auch der Eifer der feindlichen Avantgarde. Als Napoleon den 20. August in Gschatsk angekommen war, so erfuhr er dort die Ankunft des neuen russischen Oberkommandierenden und sah darin das sichere Anzeichen einer bevorstehenden Schlacht. Da sah er die Notwendigkeit ein, seinen Truppen eine dreitägige Rast zu gewähren und setzte den Marsch erst am 23. August (4. September) fort. Unterdessen zogen unsere Armeen bis Borodino, weiter, wo sie den 22. August ankamen und Halt machten, weil es bis Moskau eine bessere Position nicht gab; dort schlossen sich ihnen noch 10000 Mann aus der Moskauer und Smolensker Landwehr an. So vollzog sich der Rückzug der russischen Armeen aus Smolensk längs einer Strecke von ungefähr 300 Werst; dieser Rückzug ist ein glänzender Beweis für die Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin; dem (Feinde war es nicht gelungen, weder auch nur einen zurückgebliebenen Soldaten noch eine Fuhre zu erbeuten. Die Truppen waren frisch und immer kampfbereit. Die Arrieregarde Konowinzyns nahm im Erwartung des Feindes bei Gridnjewo Stellung, 15 Werst von den Armeen. Dort wurde er den 23. August (4. September) von Murat angegriffen, aber trotz des hitzigen Kampfes hielt er sich auf der Position so lange, bis er die Meldung erhielt, daß der Vizekönig sich anschicke, seinen rechten Flügel zu umgehen. Da zog er sich in der Nacht zum Kloster Kolotzk zurück. Am anderen Morgen setzte Murat die Attacke fort, aber Konowinzyn verteidigte sich mit großem Erfolge. Dabei gelang es dem Isjumschen Husarenregiment, den italienischen Jägern zu Pferde eine Niederlage beizubringen; als es sich

 

 

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aber erwies, daß der Vizekönig von neuem seinen rechten Flügel umgehe, führte er seine Truppen bis hinter die Kolotscha zurück, wo sie sich mit ihren Korps, die auf ihren Positionen standen, vereinigten.

 

Die von Bennigsen gewählte Position erstreckte sich auf dem rechten Flügel, etwa 5 Werst von einem Walde, der an der Mündung der Kolotscha in die Moskwa liegt, auf dem Iinken Flügel bis zu einem Walde bei dem Dorfe Utiza. Das Flüßchen Kolotscha fließt in einer flachen Gegend, parallel dem Smolensker Wege bis Borodino, wo es den Weg durchschneidet, und von dort an in einem tiefen Tale mit steilen, bisweilen ganz unzugänglichen Ufern weiterfließt. Dieser Umstand gab der Position des rechten Flügels eine große Stärke. Ein Teil des Zentrums, bei Borodino, war ebenfalls durch die Kolotscha und durch das in die Kolotscha mündende Flüßchen Stonetz gedeckt. Zwischen beiden Gewässern erhob sich ein alter Grabhügel bei dem Dorfe Gorki. Weiter bis Utiza war die Gegend für die Verteidigung nicht günstig, die ganze Gegend besteht aus sanft geneigten kahlen Hügeln, zum großen Teil mit Gebüsch von 3 bis 4 Fuß Höhe bedeckt. Und darum war es durchaus nötig, diese Gegend künstlich zu befestigen. Man machte sich sofort an diese Aufgabe, aber sie wurde oberflächlich durchgeführt, einesteils, weil die zur Arbeit beorderten Landwehrleute nicht das nötige Schanzzeug hatten und die nötigen Turen und Faschinen nicht anzufertigen verstanden, andernteils, weil der Grund steinig war und die trockene Erde immer wieder zusammenfiel. Die auf der Position bei Borodino angelegten Befestigungen waren folgende: Auf dem Grabhügel (Kurgan) zu Gorki zwei Batterien, eine von drei Geschützen auf dem Gipfel, die andere auf dem Abhang nach Borodino zu von 9 Geschützen. Auf der Anhöhe zwischen Borodino und dem Dörfchen Ssemjonowskoje stand die Kurganbatterie oder die Batterie Rajewskis, auf der die Ambrasuren erst für 10 Geschütze fertig waren, die Lünette aber noch nicht fertig war. Weiter hinter dem ausgetrockneten Flüßchen Ssemjonowskaja und links vom Dorf

 

 

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standen drei schwache Batterien, die sogenannten Bagrationschen Fleschen. Endlich 2 Werst vor dem Zentrum der Position, bei dem Dorfe Schewardino war eine fünfeckige Redoute als erste vorgeschobene Befestigung aufgeführt, aber noch nicht ganz beendet. Auf dieser Position nahm die Armee Barklay de Tollys den rechten Flügel und das Zentrum, und die zweite Armee Bagrations den linken Flügel ein. Die Stellung der Truppen war folgende: auf dem äußerten rechten Flügel stand das Infanteriekorps Baggohuffwudts, links von ihm an das Dorf Gorki sich anlehnend das vierte Infanteriekorps des Grafen Ostermann, und hinter ihm das zweite Kavalleriekorps des Barons Korff. In der Reserve hinter den Truppen des rechten Flügels stand das erste Kavalleriekorps Uwarows und zwei Kosakenregimenter Platows. Im Zentrum gegenüber Borodino und der großen Lünette (Batterie Rajewskis) das sechste Infanteriekorps Dochturows, und hinter ihm das dritte Kavalleriekorps des Grafen Pahlen 1).

 

Von der großen Lünette bis zum Dorf Ssemjonowskoje das siebente Infanteriekorps Rajewskis und hinter ihm das vierte Kavalleriekorps des Grafen Sievers. Auf dem linken Flügel bei dem Dorfe Ssemjonowskoje das achte Infanteriekorps Borodins: Die zweite Grenadierdivision hinter dem Dorfe und die kombinierte Grenadierdivision bei den Bagrationschen Fleschen. Die dem achten Korps zugezählte 27. Division Njewerowskis, sowie die zweite Kürassierdivision Dukas war den unter Führung des Fürsten Gortschakow weiter vorgeschoben, um die Redoute von Schewardino zu verteidigen, die aus 12 Batteriegeschützen bestand; dabei stand die 27. Division hinter der Redoute, mit der Kavallerie auf beiden Flügeln, die Jägerregimenter aber standen im Dorfe Doronino und in den naheliegenden Gebüschen. Die Hauptreserve, das dritte Infanteriekorps Tutschkow, das fünfte Infanterie-(Garde-)korps Lawrow und die erste Kürassierdivision Borodins zwischen Knjaskowo-Tatarinowo. Das Dorf Borodino war von dem Leibgardejägerregiment besetzt. An den Endpunkten des rechten und

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1) Zeitweilig unter dem Kommando des Barons Korff.

 

 

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linken Flügels befanden sich Kosakenpatrouillen zur Rekognoszierung und Deckung der Gegend. Die ganze russische Armee zählte in ihren Reihen bis 104000 Mann regulärer Truppen und gegen 7000 Kosaken; außerdem gab es noch 10000 Landwehrleute, zum Teil mit Piken bewaffnet, Die Artillerie bestand im ganzen aus 640 Geschützen.

 

Die Avantgarde Murats, die am 24. August (5. Sept.) Konowinzyn auf den Fersen folgte, wurde bald durch ein Artilleriefeuer aus der Redoute von Schewardino und durch Gewehrfeuer vom rechten Ufer der Kolotscha zum Stehen gebracht. Da überschritt Murat die Kolotscha bei Walujewo und Fomino und griff sofort das Dorf Doronino an, das er gegen 4 Uhr nachmittag einnahm. Unterdessen hatte Napoleon die Situation überschaut, hielt es für nötig, die Redoute von Schewardino zu nehmen und betraute mit dieser Aufgabe den Fürsten Poniatowski, der auf der alten Smolensker Straße heranmarschierte und Jelnja erreicht hatte. In kurzer Zeit gelang es Poniatowski, die russischen Jäger aus den Gebüschen hinauszudrängen, und dann befahl er dem 61. Linienregiment zu stürmen, was auch mit großem Erfolge geschah, aber da stürzten sich Teile der 27. Division auf die verlorene Befestigung; es entspann sich ein hitziger Kampf, und während dieses Kampfes ging die Redoute dreimal aus der einen in die andere Hand über, blieb aber zuletzt im Besitze des Gegners. Als Fürst Bagration davon erfuhr, führte er zur Unterstützung Gortschakows die zweite Grenadierdivision des Prinzen K. von Mecklenburg herbei, und diese griff um 8 Uhr abends von neuem die Redoute an. Trotz der verzweifelten Gegenwehr wurde sie genommen, wobei das 61. Linienregiment große Verluste hatte; zu gleicher Zeit erbeutete unsere Kavallerie sieben Geschütze. Allein da Schewardino von der Hauptposition so weit entfernt lag, und da es unmöglich war, die Redoute ohne große Verluste zu halten, befahl Kutusow, die Abteilung Gortscharows wieder zurückzuführen, was auch um 11 Uhr nachts geschah. Njewierowski nahm nun hinter den Fleschen Bagrations Stellung

 

 

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beim Flüßchen Ssemjonowskoje, und die zweite Kürassierdivision stellte sich hinter die zweite Grenadierdivision auf. Zur Verstärkung des linken Flügels, dem gegenüber, wie es schien, sich bedeutende Streitkräfte konzentrierten, wurde aus der Hauptreserve am nächsten Tage das dritte Korps Tutschkows nach Utiza geführt. Den folgenden Tag verbrachten beide Armeen in Vorbereitungen zum Kampf, und die russische Armee rüstete sich zur Schlacht durch ein Gebet. Napoleon gab seinen Truppen folgende Aufstellung: Das polnische Korps Poniatowski rückt auf Utiza vor, greift den linken Flügel der Russen an und versucht ihn zu umgehen. Drei Divisionen des ersten Korps Davousts, das Korps Neys und das Korps Junots, unterstützt von der Kavallerie Murats, sollten gegen unseren linken Flügel operieren. Zwei Divisionen des ersten Korps, das 46. Korps des Vizekönigs, die italienische Garde und das Kavalleriekorps Grouchys waren zu Operationen gegen unser Zentrum und gegen die Kurganbatterie bestimmt. Die Kavalleriedivision Ornanos stellte sich auf den linken Flügel auf, und die Garde, die alte wie die junge, bei Doronino. Bei all diesen Truppen gab es nicht weniger als 140000 Mann und 570 Geschütze. Um 6 Uhr morgens, am 26. August (7. Sept.) wies Napoleon auf die aus dichtem Nebel aufsteigende helle Sonne und rief aus: „Das ist die Sonne von Austerlitz“, dann befahl er die Schlacht zu beginnen.

 

Als erster rückte Fürst Poniatowski auf der alten Smolensker Straße vor und griff Tutschkow an, der die Position vor Utiza besetzt hatte. Er hatte Jägerregimenter zur Verfügung, die in aufgelöster Aufstellung bis zum linken Flügel des achten Korps standen. Nach hartnäckigem Widerstand zog sich Tutschkow hinter Utiza zurück und stellte seine Artillerie auf einer Anhöhe auf. Das starke Feuer der Geschütze gebot den stürmenden Feinden Halt. Unterdessen hatte auch Davoust, unterstützt vom Feuer von mehr als 100 Geschützen, die Divisionen Compans und Defaix’ vorrücken lassen, um die Ssemenowsche Position zu nehmen; aber ihre vorderste Reihe wurde beim

 

 

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Austritt aus dem Walde von solch einem Kartätschenfeuer empfangen, daß sie sich nicht entfalten konnten, bis die französischen Batterien, die uns bisher wenig Schaden zugefügt hatten, vorgeschoben wurden und Marschall Ney sich zu ihnen gesellte. Da stürzten sich die feindlichen Kolonnen trotz des heftigen Feuers von seiten unserer Artillerie und unserer Infanterie auf unsere Befestigungen und drangen in einer der Bagrationschen Fleschen von der Rückseite hinein. Aber der Triumph dauerte nicht lange: die Grenadiere Woronzows und die Bataillone Njewerowskis schlugen die Franzosen mit dem Bajonett hinaus, und die Achtyrkaschen Husaren und Noworossijskischen Dragoner vollendeten ihre Niederlage durch eine hartnäckige Verfolgung. In Erwartung eines neuen Angriffes befahl Bagration Tutschkow, das achte Korps durch die Division Konowinzyn zu verstärken und schickte Boten zu Barklay de Tolly, um ihn um Hilfe zu bitten. Barklay schickte sofort das ganze 26. Korps auf den linken Flügel. Dorthin wurde auch aus der Hauptreserve eine Garde- und eine freie Grenadierbrigade abkommandiert, außerdem drei Regimenter Kürassiere und drei Rotten Gardeartillerie.

 

Als um 6 Uhr morgens die ersten Kanonenschüsse erdröhnten, ritt Barklay de Tolly auf die Anhöhe bei dem Dorfe Gorki. Er war in voller Uniform mit Orden und Sternen und im Federhut. Der Nebel begann allmählich zu weichen, und bald konnte man deutlich sehen, wie sich der Feind Borodino näherte, das an beiden Ufern der Kolotscha von dem Leibgarde-Jägerregiment besetzt war. Da schickte Barklay dem Regiment den Befehl, sich auf dem rechten Ufer des Flüßchens zu konzentrieren und die Brücke zu verbrennen. Allein eine Kolonne der Division Delzons benutzte den Nebel, drang unbemerkt längs dem Ufer der Kolotscha in Borodino ein und erhielt dadurch die Möglichkeit, die Brücke gerade in dem Augenblicke zu beschießen, als die Jäger sie passierten, und konnten ihnen schwere Verluste zufügen. Aber schon rückten zur Verstärkung der Gardejäger die von Barklay abkommandierten Jägerregimenter

 

 

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(Nr. 1, 19, 40) heran. Sie warfen den Feind mit großen Verlusten zurück und trugen die Brücke ab. Darauf begannen sich die Truppen des Vizekönigs für die bevorstehenden Angriffe zu konzentrieren: Die Division Delzons und die bayerische Kavallerie hinter Borodino, und rechts von ihnen die Divisionen Gerards und Broussiers, die italienische Garde und das Kavalleriekorps Grouchys. Allmählich rückten diese Truppen bis zur Kolotscha vor, wo Brücken über den Fluß geschlagen waren, und setzten unter der Deckung der Schützen von der Division Morands auf das rechte Ufer über. Die Schützen hatten schon längere Zeit ein heftiges Feuergefecht mit unseren Jägern vom siebenten Korps, vor dem Rajewskihügel unterhalten. Am Ende des linken Flügels der Franzosen blieb nur die Kavalleriedivision Ornanos zurück. Gegen 9 Uhr bemerkte Barklay eine gewisse Unordnung und Verwirrung vor der großen Lünette, schickte den Adjutanten Löwenstern, um zu erfahren, was da eigentlich vor sich gebe, und folgte ihm auch bald selbst nach. Die Verwirrung erwies sich als ein Kampf, der sich zwischen den Schützen Delzons und den Jägern Rajewskis entsponnen hatte. Von den übrigen Truppen des siebenten Korps blieben in der Nähe der von ihnen besetzten Lünette vier Bataillone der 26. Division unter dem Oberbefehl Paskewitschs und vier Bataillone der 12. Division unter der Führung Wassiltschikows; die zur Unterstützung abkommandierten zwei Regimenter des sechsten Korps und ein Regiment des vierten Korps waren hinter der Lünette aufgestellt. Der im Buschwerk entbrannte Kampf hatte unterdessen größere Dimensionen angenommen; auch die Divisionen Morands und Broussiers beteiligten sich schon am Gefecht. Um 12 Uhr verstärkte der Feind das Artilleriefeuer, und die Infanterie rückte kühn vor; bald darauf warf sich die Brigade Bonami an der Spitze einer der heranrückenden Kolonnen auf die Befestigung und nahm sie in Besitz. In diesem Augenblick ritten Jermolow und Kutaissow herbei. Jermolow erschien es möglich, bei der allgemeinen Aufregung durch einen plötzlichen

 

 

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unerwarteten Angriff die Lünette den Händen des Feindes wieder zu entreißen; er nahm sich die ersten besten Truppen — es war das Ufasche Bataillon — und stürzte sich mit unbezwinglicher Gewalt auf den Feind; dasselbe tat auch der Adjutant Barklays, Major Löwenstern, mit dem Tomskschen Bataillon. Da rückten auch Paskewitsch, Wassilschikow und die übrigen Regimenter so einmütig vor, daß die Befestigung sofort wieder gewonnen und der verwundete General Bonami gefangen genommen, der Feind aber überall mit großen Verlusten zurückgeworfen wurde. Gleich darauf begannen die von Barklay zu dem Zweck bereitgestellten Dragoner des Generals Kreuz den Feind so schnell zu verfolgen, daß sie sogar in den zur Hilfe herbeigesandten Reserven eine Verwirrung hervorriefen. Dies war der Ausgang dieses verzweifelten Kampfes, der seit 9 Uhr morgens ununterbrochen getobt hatte. Barklay, der überall zu sehen war, wo es Gefahr gab, setzte alle durch seine großartige Ruhe in Erstaunen. Fast alle in seiner nächsten Umgebung wurden verwundet oder getötet, ihn aber, der den Tod nicht fürchtete, bewahrte die Vorsehung. Als er sich überzeugt hatte, daß die bisherigen Verteidiger der Batterie zu erschöpft waren, ersetzte er sie durch die Truppen der 24. Division Lichatschews. Der mißlungene Anschlag des Feinde auf die Batterie Rajewskis kostete ihm 3000 Mann. Aber auch uns kam der Kampf teuer zu stehen; in ihm verlor der junge, begabte, tüchtige Kutaissow sein Leben. Verwundet wurden, wenn auch nur leicht, Jermolow und Löwenstern. Der letztere sah bald darauf am Verbandplatz den schwer verwundeten Fürsten Bagration, der sofort nach Barklay fragte und dann mit erlöschender Stimme hinzufügte: „Sagen Sie ihm, daß die Rettung der Armee in seinen Händen liegt, noch steht alles gut, Gott möge ihn bewahren” 1).

 

Die Erwartung eines neuen Angriffs, die den Fürsten Bagration bewogen hatte, Barklay um Unterstützung zu bitten,

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1) W. v. Löwenstern, Denkwürdigkeiten eines Livländers.

 

 

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ging in Erfüllung; schon um 9 Uhr erneuerten die Marschälle Davoust und Ney, nachdem sie den Sturm durch ein Artilleriefeuer vorbereitet hatten, den Angriff. Nach einem hartnäckigen Kampf gelang es ihnen, die Fleschen zu nehmen und in Ssemionowskoje einzudringen. Aber auch dieses Mal säuberten die Grenadiere der zweiten Division mit dem Bajonett die Befestigung, und der herbeieilende Konownizyn schlug die Franzosen aus dem Dorfe heraus. Noch einmal wurden die Fleschen von dem Feinde genommen, und noch einmal wurden sie von Konownizyn zurückgewonnen. Unter Mitwirkung der drei von Barklay abkommandierten Husarenregimenter Dorochows drängte er den Feind endlich zurück. Da gelangten die Marschälle zur Überzeugung, daß sie nicht nur der Unterstützung der Kavallerie, sondern der Mithilfe des ganzen Korps des Marschalls Tunot bedurften. Als sie die Erlaubnis erbeten und erhalten hatten, erhielt Junot den Auftrag, die Jäger aus den Gebüschen hinauszuwerfen, das sie zwischen dem linken Flügel und Utiza besetzt hielten — und dann mit Poniatowski Fühlung zu gewinnen; im Falle des Erfolges konnten die Fleschen umgangen und durch einen Angriff im Rücken genommen werden. Dann wäre Tutschkow abgeschnitten worden. Aber zum Glück rückte schon das von Barklay abkommandierte Korps Baggohuffwudts heran; von diesem Korps führte Olssufjew zwei Regimenter Tutschkow zu Hilfe, alle übrigen blieben bei Bagration.

 

Gegen Mittag konzentrierte Napoleon das Feuer von 400 Geschützen gegen die Ssemionowsche Position, von unserer Seite wurden gegen 300 Geschütze aufgestellt. Dann begann auf einem Flächenraum von einer Quadratwerst ein Artilleriefeuer von 700 Geschützen, beispiellos in der Geschichte früherer Kriege. Ungeachtet dessen rückten die Franzosen mit unerschütterlichem Mut vor, von unserer Seite schritten ihnen die Kolonnen in einer langen Linie entgegen, und bald begann ein verzweifelter Nahkampf. An dem allgemeinen Handgemenge nahm auch die von beiden Seiten herbeieilende Kavallerie teil, so daß sich ein riesiger Knäuel von kämpfenden Russen und Franzosen, von

 

 

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Infanterie und Kavallerie bildete. Mitten im Kampfgewühl wurden einige von unseren Führern getötet oder verwundet, und in der Zahl der letzteren befand sich auch Bagration; vieler ihrer Führer beraubt, begannen die Truppen zurückzuweichen, und der Feind nahm die Fleschen. Der ruhige Konownizyn, der bis zur Ankunft Dochturows an Bagrations Stelle getreten war, führte die Truppen hinter den Bach von Ssemionowo, der eben ohne Wasser war, und hier blieben die Truppen bis zum Ende der Schlacht. Die Kavallerie Latour- Maubourgs und Nansoutys versuchte ihren linken Flügel zu umgehen, aber sie stießen auf das scharfe Feuer des Ismailowschen und Litauischen Garderegiments, welche drei Attacken der Kürassierdivision Saint-Germains zurückwarfen, worauf General Borosdin mit drei Kürassierregimentern sie noch weiter hinter die Ssemionowsche Schlucht zurückwarf. Allein die Truppen unseres linken Flügels waren so geschwächt, daß noch ein einziger Angriff mit frischen Truppen der Schlacht eine für uns sehr gefährliche Wendung geben konnte, Napoleon hatte das auch erkannt und war bereit, dem Drängen Murats nachzugeben und die junge Garde vorrücken zu lassen. Aber in diesem Augenblick erhielt er eine Nachricht, die ihn zwang, seinen Entschluß zu ändern, es war die unerwartete Meldung vom Angriff Umarows auf den linken Flügel der Franzosen. Dieser Angriff war auf folgende Weile zustande gekommen. Am Anfang der Schlacht war der Hetman Platow mit den Kosaken über die Kolotscha gegangen und hatte bemerkt, daß der linke Flügel des Vizekönigs ungeschützt einem Angriff offen stand, worüber er sofort dem Oberkommandierenden Bericht erstattete. Da Kutusow, wenn auch nur durch eine Diversion, die Aufmerksamkeit des Gegners von unserem linken Flügel ablenken wollte, so befahl er Umarow, eine solche Diversion mit dem ersten Kavalleriekorps und den Kosaken Platows auszuführen. Umarow überschritt die Kolotscha, griff die leichte Kavallerie Ornanos an, warf sie zurück und stürzte sich auf das vierte Regiment der Division Delzons, der sich beeilte, ein Karree zu bilden, wo

 

 

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sich der Vizekönig bergen konnte. Hierbei gelang es Uwarow, einige erfolgreiche Attacken auszuführen, aber der größte und wichtigste Erfolg bestand darin, daß sein plötzlicher Angriff Napoleons Anordnungen aufhielt und uns in den Stand feste, rechtzeitig die Truppen des Zentrums und des linken Flügels zu verstärken. Wir haben schon gesehen, daß vom zweiten Korps, das zur Unterstützung Bagrations diente, zwei Regimenter Tutschkow, zur Verfügung gestellt worden waren, den Poniatowski kurz vorher von dem Grabbügel verdrängt hatte. Nun beschloß Tutschkow ihn wieder zu nehmen und begann die Attacke zusammen mit Olssufjew und Stroganow. Poniatowski wurde hinausgedrängt und auf Kanonenschußweite zurückgeworfen. Bei der Gelegenheit erhielt Tutschkow eine tötliche Verwundung.

 

Noch wogte der heiße Kampf auf der Position Bagrations, als Napoleon einen ähnlichen Schlag gegen die Batterie Rajewskis vorbereitete. Aber die Verwirrung, die durch Uwarow hervorgerufen worden war und den Kaiser der Franzosen an der Ausführung seines Beschlusses gehindert hatte, hielt auch jetzt die Verwirklichung des vorbereiteten Angriffs auf. Allein die vorbereitenden Maßregeln des Feindes waren der Aufmerksamkeit Barklays nicht entgangen. Er hatte schon vorher die zurückeroberte Lünette mit der 24. Division Lichatschews besetzt; jetzt ersetzte er auch in der ersten Linie die übrigen Regimenter Lichatschews, die schwer gelitten hatten, durch Truppen vom vierten Korps des Generals Ostermann, die links von der siebenten Infanteriedivision des Generals Kapzewitsch postiert waren. Auch ein Teil des dritten und darauf des zweiten Kavalleriekorps, und die Regimenter Preobraschensk, Ssemionowsk, Chevaliergarde und Garde à cheval wurden vorgeschoben. Endlich wurden auch die Jägerregimenter der vierten Division des Herzogs von Württemberg, als das zweite Korps nach Ssemionowskoje marschierte, zu dem erwarteten entscheidenden Kampfe herangezogen. Von der feindlichen Seite wurden zur Attacke folgende Divisionen konzentriert: die Divisionen Delzon, Gerard, Broussier, Morand, Claparede, die italienische Garde,

 

 

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die junge Garde, die Bayrische Kavallerie, die Kavalleriekorps Grouchy, Latour-Maubourg und das frühere Korps Montbrun unter dem Oberbefehl Caulincours.

 

Als Napoleon sich überzeugt hatte, daß der Angriff Umarowas keine ernste Gefahr bedeutete, befahl er dem Vizekönig, mit den Operationen zu beginnen. Nach dem im voraus gefaßten Plan, sollte die Attacke auf die Kurganbatterie (Rajewski) von der Infanterie in der Front und auf den beiden Flügeln, von der Kavallerie aber im Rücken ausgeführt werden. Vorbereitet wurde die Attacke durch ein Kreuzfeuer der Artillerie des Vizekönigs und der 85 Geschütze, die zwischen Schewardino und Ssemionowskoje aufgestellt waren. Diese entsetzliche Kanonade war besonders empfindlich für die Truppen des vierten Infanteriekorps und für die Jägerregimenter des Fürsten Eugen. Da kam Barklay de Tolly zu ihnen geritten — kurz vorher von den Garderegimentern mit Hurrarufen begrüßt, und „das ruhige Aussehen dieses Helden“, schreibt der Herzog, „der mit aufmerksamem Auge dem Gange der Schlacht folgt, ohne sich auch nur im geringsten um die von allen Seiten herbeifliegenden Geschosse zu kümmern, beruhigte alle und flößte ihnen Zuversicht ein.” Als er auf die Batterie hinwies, erwarteten die Bataillone nur ein Zeichen, um vorzurücken, aber im selben Augenblick sahen sie plötzlich vor sich einen Haufen feindlicher Kavallerie, der im Begriff war, sich auf sie zu stürzen, und der Herzog hatte kaum Zeit zu kommandieren: „Formiert Karree”. Es geschah sofort, und Barklay und seine nächste Umgebung erhielten so die nötige Deckung. Das war die Kavallerieattacke, welche dem Angriff der Infanterie vorausging. Unsere Truppen ließen die französische Reiterei bis in die Nähe eines Flintenschusses heran und eröffneten solch ein Feuer, daß sie sich gegen dasselbe nicht halten konnte. Nur Caulincour mit seinen Kürassieren drang in die Lünette ein, aber fand den Tod, seine Kürassiere aber gerieten in Verwirrung und wichen eilig zurück. Darauf erfolgte eine Attacke der Infanterie und des Kavalleriekorps Latour-Maubourgs, an deren Spitze die sächsische Garde und die

 

 

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Kürassiere Zastrows den Angriff eröffneten. Die Sachsen stürzten sich auf die Batterie, aber die Kürassiere, von der westfälischen Brigade unterstützt, warfen sich auf die Regimenter des vierten Korps, die hinter der Batterie standen. Allein die letzteren empfingen sie mit wohlgezielten Salven und zwangen sie, sich in großer Unordnung zurückzuziehen. Aber die sächsischen Gardisten drangen trotz des verzweifelten Widerstandes der Regimenter der 24. Division in die Batterie und nahmen sie, wobei ihr tapferer Verteidiger General Lichatschew gefangen genommen wurde. Darauf wurde die Befestigung von den ersten Bataillonen des Vizekönigs, der mit den Divisionen Brussier, Marand und Gerard herangekommen war, besetzt. Der Vizekönig wollte den errungenen Erfolg ausnutzen und befahl der ganzen Kavallerie und der ganzen Infanterie, vorzurücken. Da kam ein Augenblick, von welchen Barklay de Tolly in seiner Beschreibung der Schlacht bei Borodino sagte: „Jetzt scheint der Augenblick der Entscheidung für den Kampf gekommen zu sein. Meine Kavallerie konnte die ungeheure Masse der auf sie Iosstürzenden Streitkräfte nicht zurückhalten, und ich wagte es nicht, sie gegen den Feind zu führen, weil ich annahm, daß sie zurückgeworfen, in Unordnung zurückweichen und die Infanterie in Verwirrung bringen würde.”

 

Und in der Tat, von den zweiten und dritten Kavalleriekorps war noch nichts da und er konnte nur auf die Chevaliergarde und auf die Garde à cheval rechnen, denen er den Befehl gab, sich der Infanterie zu nähern. Der Angriff der feindlichen Kavallerie und Infanterie war nun gegen die siebente Infanteriedivision Kapzewitsch gerichtet, die auf dem rechten Flügel stand; diese Division empfing den Gegner mit einem starken Artillerie- und Kleingewehrfeuer und sogar die Kavallerieattacken des Gegners hatten keinen großen Erfolg. In den Intervallen der Bataillonskarrees erschienen plötzlich einige Geschütze der berittenen Gardebatterie, die ein mörderisches Kartätschenfeuer eröffneten; ihre Deckung hatte das Chevaliergarderegiment übernommen.

 

 

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Bald darauf ritt Barklay de Tolly an dies Regiment heran und befahl diesem sowie der Garde à cheval, den Feind zu attackieren. Der Kommandeur der Chevaliergarde hatte kaum das nötige Kommando erteilt, als er tödlich getroffen vom Pferde stürzte; die von den Regimentern einigemal ausgeführten Attacken hielten den Angriff der feindlichen Reiterei bis zur Ankunft der ersten Regimenter des Generals Korff auf, die sofort in den Kampf geführt wurden. Da nahm der Kampf immer größere Dimensionen an und wurde immer heftiger. Die Kavallerie des Gegners wuchs immer mehr an, aber auch von unserer Seite traten Teile des dritten Kavalleriekorps und die übrigen Regimenter des zweiten Korps allmählich in den Kampf. Zahllose Attacken wiederholten sich von beiden Seiten mit wechselndem Erfolge, und der gewaltige Flächenraum bot dem Auge die Bilder von Tausenden von Kriegern in einem wirren Knäuel oder den Anblick in ganzen Herden dahinrasender Pferde gefallener Krieger. Eine Attacke war jedoch während des heißen Kampfes besonders bemerkenswert: die Attacke der Chevaliergarde und der Garde à cheval, bemerkenswert sowohl, weil sie von Barklay persönlich geführt wurde, als auch wegen der unwiderstehlichen Wucht ihres Anpralls; dem Ansturm dieser Reiter, sagt ein Augenzeuge, war es einfach unmöglich, Widerstand zu leisten 1).

 

Um 4 Uhr begannen die Anstrengungen der ermüdeten Truppen schwächer zu werden, und ihre Operationen hörten allmählich auf. Barklay hielt einen neuen Kampf zur Wiedergewinnung der Kurganbatterie für nutzlos und führte die Truppen ein wenig zurück, auf die Positionen zwischen den Dörfern Gorki und Ssemionowskoje. Die Batterie wurde übrigens in der Nacht vom Feinde verlassen.

 

Das war der Ausgang der Schlacht bei Borodino. Barklay hielt es für möglich, sie am folgenden Tage wieder aufzunehmen und sprach diese Meinung auch dem Oberkommandierenden gegenüber aus, der sich mit ihm völlig einverstanden erklärte.

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1) Der Adjutant Barklays: Major Löwenstern.

 

 

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Als aber Kutusow die letzten Nachrichten vom Zustande der Truppen in der zweiten Armee erhalten hatte, änderte er seinen anfänglichen Entschluß und befahl den Rückzug bis hinter Moshaisk anzutreten. Die Verluste dieses Tages waren enorme und betrugen bei uns gegen 44000 Mann; die Verluste des Feindes waren nur wenig geringer. Der Widerstand, auf den Napoleon bei Borodino stieß, überzeugte ihn von der Notwendigkeit, die Garde von der Teilnahme am Kampfe fernzuhalten. „3000 Werst von Frankreich entfernt darf man nicht seine letzten Reserven riskieren.“

 

Über die heldenmütige Tapferkeit der Truppen tat er folgenden Ausspruch: die Franzosen erwiesen sich als wert und würdig, den Sieg zu erringen, aber die Russen erkämpften sich das Recht, unbesiegt geblieben zu sein 1).

 

Bei Borodino hat Barklay seine Worte im Briefe an den Kaiser Alexander wahrgemacht, die er schrieb, als er die Nachricht von der Ernennung Kutusows erhalten hatte: „Ich möchte wohl gern durch das Opfer meines eigenen Lebens meine Bereitwilligkeit beweisen, dem Vaterlande zu dienen“. Mit einer eisigen Kaltblütigkeit drängte er sich zu den gefährlichsten Punkten. Das weiße Roß des Feldherrn war schon von weiten in den dichten Dampfwolken der Geschütze leicht zu sehen. Die Offiziere und sogar die Soldaten sagten, indem sie auf ihn hinwiesen: „Er sucht den Tod“. Aber er blieb unverletzt 2).

 

Erst am folgenden Tage, als der weitere Rückzug der Armee nach Moskau erfolgte, erkrankte er an einem heftigen Fieber. Hierzu muß man bemerken, daß Barklay schon früher bei Zarewo-Saimischtsche die Absicht hatte, nötigenfalls nach der Schlacht den Rückzug anzutreten und die Armee nach Kaluga zu führen, was das weitere Vorrücken Napoleons bis nach Moskau hätte verhindern können, damals erfolgten auch die Anordnungen in Kaluga und Tula, für Proviant zu sorgen.

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1) Pelet, Bataille de la Moscowa.

2) C. F. Glinka, Bilder aus der Schlacht bei Borodino.

 

 

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Der Rückzug der Armee nach Moshaisk und weiter nach Moskau vollzog sich in ungestörter Ruhe. Die Arrieregarde unter dem Oberbefehl Platows, und später Miloradowitsch, hielt Murat zurück, und bei dem Dorfe Krymskoje kam es sogar zu einem recht heftigen Gefecht mit ihm. Den 1. (13.) September gelangte die Armee bis in die Nähe von Moskau und nahm auf einer Position, die Bennigsen zum Schutz der ersten Residenzstadt ausersehen hatte, Stellung. Der rechte Flügel stieß an eine Biegung der Moskwa beim Dorfe Fili, und der linke befand sich auf den Sperlingsbergen. Barklay de Tolly, völlig erschöpft durch das Fieber, kam doch zu dem Berge Poklonnaja, wo sich die Hauptführer um Kutusow versammelt hatten, und begab sich mit Dochturow sofort auf eine Rekognoszierung. Die Untauglichkeit der Position sprang ihm sofort in die Augen, und er beschrieb sie in folgender Weise: „Viele Divisionen waren durch unpassierbare Schluchten voneinander getrennt, in einer von ihnen gab es sogar ein Flüßchen, das den Verkehr sehr störte. Der rechte Flügel stieß an einen Wald, was dem Feinde die Möglichkeit gab, unsern rechten Flügel zu umgehen. Hinter der ersten Linie des linken Flügels befand sich eine steile Schlucht, wodurch die Reserve der Möglichkeit beraubt wurde, sie zu unterstützen. Die Kavallerie war zur Untätigkeit verurteilt. Hinter den Truppen lag der Fluß und jenseits des Flusses die Stadt. Im Falle einer Niederlage wäre die ganze Armee vernichtet worden“ 1).

 

Als sich Barklay von der völligen Untauglichkeit der Position überzeugt hatte, eilte er zum Oberkommandierenden und machte ihm die große Gefahr klar, in solch einer Position den Kampf aufzunehmen. Es erforderte großartigen Patriotismus und heldenmütige Selbstaufopferung, um es damals offen auszusprechen, daß es unbedingt notwendig sei, Moskau ohne Kampf preiszugeben. Barklay nahm diese Pflicht auf sich; ohne Umschweife sprach er offen seine Meinung aus, daß die geplante Schlacht unvermeidlich zum Verluste der ganzen Armee und

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1) Schilderung der Operationen der ersten Armee.

 

 

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zugleich damit auch zum Verluste Moskaus führen werde und daß es daher besser sei, Moskau zu verlieren, aber die Armee für Rußland zu retten. Fürst Kutusow, auf den die Beweisführung Barklays einen tiefen Eindruck gemacht hatte, befahl sofort, daß sich alle Hauptführer zu einer Sitzung des Kriegsrates im Dorfe Fili versammeln sollten. Auf dieser Sitzung schlug Bennigsen vor, die Armee um 7 Uhr abends auf den linken Flügel der Position hinüberzuführen, am Morgen vorzurücken und den rechten Flügel des Feindes anzugreifen. Darauf erwiderte Barklay, daß die Truppen, die so viele Generäle, Regimentskommandeure und Stabsoffiziere verloren hätten, wohl imstande wären, dem an Streitkräften überlegenen Gegner auf einer guten Position Widerstand zu leisten, nicht aber fähig wären, nachts auf eine andere Position hinüberzugehen und darauf die geplanten Manöver auszuführen. Fürst Kutusow, der alle Vorschläge angehört, aber für sich schon längst beschlossen hatte, Moskau zu verlassen, schloß die Beratung mit den Worten: „Ich gebe den Befehl zum Rückzug”. Er motivierte diesen Beschluß mit denselben Gründen, die Barklay angeführt hatte. Die Armee durch Moskau zu führen — durch die endlosen Straßen mit ihren zahllosen Quergassen und verführerischen Schenken, — das war keine leichte Aufgabe. Barklay ergriff alle Maßregeln, damit der Zug in voller Ordnung vor sich ging. Die Quergassen waren durch Kosakenpatrouillen gesperrt, und an vielen Punkten standen Adjutanten zur Kontrolle; Barklay selbst, obgleich er noch krank war, saß 18 Stunde zu Pferde und ließ alle Truppen an sich vorbei defilieren. Seine heldenmütige Tapferkeit bei Borodino und seine weise Besonnenheit in Moskau erwarben Barklay die Ergebenheit und das Vertrauen des russischen Soldaten.

 

Als die Armee die Borowskische Brücke auf der Rjasaner Straße, 30 Werst von Moskau, erreicht hatte, schwenkte sie den 4. (16.) Oktober nach Podolsk und nach Krassnaja Pachra ab, um den Weg nach Kaluga einzuschlagen. Der krankhafte Zustand Barklays besserte sich nicht, und dazu gesellte sich bei ihm eine

 

 

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schwere drückende Seelenstimmung. Die Unannehmlichkeiten, die mit der Ankunft Kutusow begonnen hatten, wurden mit jedem Tage zahlreicher und empfindlicher. „Es riß in der Armee eine greuliche Unordnung ein“ sagt Jermolow in seinen Aufzeichnungen. „Anfangs wurden die Befehle des Fürsten nur mir und dem Grafen Saint-Priest durch den Obersten Kaissarow übermittelt; es kam aber auch vor, daß sie unmittelbar den Korpskommandeuren und den Abteilungschefs erteilt wurden, welche darüber Bericht erstatteten, wenn die Truppen ausrückten oder zurückkehrten. Befehle wurden aber auch von Toll, Kudaschew, Skobeleff erteilt, und zwar Befehle, die sich nicht selten widersprachen“ 1).

 

Wie schwer es für Barklay war, diese Unordnung und Willkür in der Führung der Armee zu ertragen, beweist ein Brief an seine Frau. Er schrieb aus Krassnaja Pachra: „Ich habe Sr. Majestät einen Brief geschickt und wünsche, wenn nicht eine Antwort, doch eine Resolution. Gott gebe, daß sie bald erfolgen möchte, denn länger kann ich es hier nicht mehr aushalten.

 

Ich erfahre nicht, wenn Kurriere nach Petersburg abgefertigt werden. Mit Ungeduld warte ich auf meine Erlösung. Unsere Angelegenheiten haben jetzt eine solche Wendung genommen, daß wir hoffen können, den Krieg glücklich und ehrenvoll zu beendigen, nur muß anders zu Werke gegangen werden und mehr Tätigkeit sein; mir kann man den Vorwurf nicht machen, daß ich gleichgültig dabei bin, denn ich habe immer offenherzig meine Meinung gesagt; es scheint aber, daß man mich vermeidet und vieles mir verheimlicht. Es möge nun erfolgen, was da wolle, so bleibt mir die Überzeugung, daß ich alles getan habe, was zur Erhaltung des Staates getan werden konnte, und wenn Se. Majestät noch eine Armee hat, die dem Feinde den Untergang droht, so hat man es mir zu danken. Nach mehreren blutigen Gefechten, durch die ich den Feind auf jeden Schritt aufhielt und empfindliche Verluste zufügte, habe

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1) Aufzeichnungen Jermoloffs, Ausgabe des Jahres 1863.

 

 

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ich in dem Augenblick, da der Fürst Kutusow in Person das Kommando übernahm, die Armee in einem solchen Zustand ihm übergeben, daß sie sich mit jeder feindlichen Macht messen konnte” 1).

 

Und Barklay hatte sich nicht geirrt; Kutusow, Bennigsen und alle Glieder des Hauptquartiers wünschten seine Anwesenheit nicht mehr und gaben es ihm zu fühlen. Unterdessen verschlimmerte sich sein Gesundheitszustand immer mehr, und dieser Umstand bewog ihn, sich mit der Erklärung an den Oberkommandierenden zu wenden, daß er unbedingt zur Kur nach Kaluga reisen müsse, die Erlaubnis erfolgte sofort, und am 22. September verließ Barklay de Tolly die Armee. Als er Abschied nahm, sagte er seinem Adjutanten Löwenstern die folgenden, für diesen unvergeßlichen Worte: „Die Gegenwart ist gegen mich, und ich muß ihr weichen; aber ich sehe eine kühlere Zeit kommen, eine Zeit der Übersicht des Geschehenen, und diese wird mir Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich habe den Wagen auf den Berg gebracht; hinab rollt er selbst bei geringer Senkung. Das lustige Hinabrollen gönne ich jedoch dem Fürsten und würde gern als bloßer Chef meines Jägerregiments ein bescheidenes Teil daran nehmen, wenn solches irgend tunlich wäre. Aber ich sehe, daß mein Bleiben Zwietracht veranlassen, einen Zwiespalt im Heer erwecken würde. Also ich gehe! Mein Werk, mein Denkmal steht da. Eine wohlerhaltene, wohlversehene, kampffertige Armee; der Feind ihr gegenüber mit zerrütteten Heereskräften, verzweifelnd, ein Spiel unseres Willens“ 2).

 

In Kaluga mußte Barklay den Kelch der Erniedrigung austrinken. Der Pöbel warf ihm Steine in die Kalesche, und man hörte die Rufe: Verräter! Die weitere Reise nach Tula und Wladimir war schon deshalb unsagbar schwer, weil Barklay ein strenges Inkognito wahren mußte. In den Briefen an seine Frau teilt er ihr mit, daß er den Adjutanten Kawer abgesandt

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1) Briefe Barklays an seine Frau vom 10. und 11. September.

2) W. v. Löwenstern, Denkwürdigkeiten eines Livländers.

 

 

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habe, um die Antwort schneller zu erhalten: „Du wünschst zu wissen, ob es wahr ist, daß ich in die Verlassung und Räumung Moskaus gewilligt habe. Ja! und ich glaube dadurch die Armee und mit ihr den Staat gerettet zu haben, denn durch die Leitung des Generals Bennigsen war die Armee bei Moskau in eine solche Position gestellt, daß sie nicht nur geschlagen, sondern gänzlich aufgerieben werden mußte, wir verloren also Armee und Moskau zugleich, es war also wohl ganz natürlich, daß es besser war, Moskau hinzugeben und die Armee zu retten; denn solange diese existiert, so existiert auch der Staat.

 

Ich rechne auf nichts mehr, bereite Dich auf eine einsame und karge Lebensweise, verkaufe alles was Dir überflüssig scheinen wird, nur nicht meine Bibliothek und Kartensammlung und einige Handschriften in meinem Bureau — der Mensch bedarf nicht viel und kann, selbst bei einem dürftigen Auskommen, glücklich sein, wenn ihm nur das Herz ruhig schlägt und er Mut genug hat, sich über das Gewöhnliche hinauszusetzen. Würde Se. Majestät mir ganz den Abschied zugestehen, so würde ich es als eine Belohnung meiner vieljährigen Dienste ansehen. —

 

Es freut mich, daß Du das Haus verlassen hast, in dem wir wohnten — es ziemt uns jetzt nur ein kleines, einsames Häuschen, in dem wir uns selbst alles sein müssen, und wenn es möglich ist, die ganze Welt, Monarchengunst und alles Eitle vergessen können. — Ich erwarte mit Ungeduld eine Antwort aus Petersburg, und erhalte ich sie nicht, so ist mein Entschluß gefaßt — ich bitte alsdann förmlich um meinen Abschied und reise nach Livland. Gott möge dem Kaiser Diener geben, die ihm mit eben dem Eifer und eben der innigen Ergebenheit dienen, als ich ihm gedient habe, und lasse ihn diesen Krieg glücklich überstehen“ 1).

 

Endlich kehrte Kawer zurück, aber brachte die erwartete Antwort nicht mit sich. Da reiste Barklay auf sein kleines Gut Bekhof, im Fellinschen Kreise in Livland, und kam dort in der ersten Hälfte des November an. Bald jedoch, Ende November,

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1) Briefe aus Tula und Wladimir.

 

 

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wurde er durch eine Antwort des Monarchen erfreut. Der Kaiser schloß sein eigenhändiges, gnädiges Schreiben mit den Worten: „Ich werde nie die wichtigen Dienste, die Sie dem Vaterlande und mir erwiesen haben, vergessen, und ich möchte daran glauben, daß Sie noch größere erweisen werden. Seien Sie versichert, daß meine persönlichen Gefühle Ihnen gegenüber sich nie ändern werden“ 1). Da eilte Barklay, sobald es ihm seine Gesundheit erlaubte, nach Petersburg, aber traf den Monarchen nicht mehr an, da er Anfang Dezember nach Wilna gereist war. Dennoch hielt er es für seine Pflicht, am nächsten Empfangstage im Winterpalast zu erscheinen. Beim Eintritt in den Empfangssaal sah er eine Menge Personen, die ihn nicht zu erkennen schienen. Er begab sich schweigend zum letzten Fenster. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und die Kaiserin Elisabeth trat in den Saal; sie blieb einen Augenblick stehen und überflog mit den Augen die Versammlung. Darauf eilte sie direkt auf Barklay zu, streckte ihm beide Hände entgegen und drückte ihm mit offenbarer innerer Erregung ihre Sympathie aus. Als die Kaiserin den Saal wieder verlassen hatte, umringten dieselben Personen Barklay, was ihn aufs tiefste empörte.

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1) Brief des Kaisers Alexander an Barklay vom 24. November.

 

 

 

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VIII.

 

Bald nach der Rückkehr auf sein Gut, im Januar 1813, wurde Barklay zum Kaiser, der sich damals im Herzogtum Warschau befand, nach Plotzk berufen, und wurde am 3. (15.) Februar an Stelle Tschitschagows zum Oberkommandierenden der Armee ernannt, die damals Thorn belagerte. Nach der Einnahme der Festung, am 4. April, rückte er mit seiner Armee nach Sachsen, und zwar in die Nähe von Bautzen, und schlug vorher die siebente französische Division Perris bei Königswartha. Nach der Schlacht bei Bautzen, in welcher sich Barklay sogar die bewundernde Anerkennung des Feindes erwarb, wurde er zum Oberkommandierenden der verbündeten russisch-preußischen Armee ernannt. Der Sieg, den er am 18. August bei Kulm davontrug, machte den Erfolgen Napoleons ein Ende. Kaiser Alexander beglückwünschte den Sieger auf dem Schlachtfelde als Ritter des Georgsordens erster Klasse. In der Völkerschlacht am 6. (18.) Oktober bei Leipzig war Barklay de Tolly einer der Haupturheber des Sieges und wurde vom Monarchen in den Grafenstand erhoben. In der Schlacht bei Paris beschleunigte er durch eine energische Attacke die Einnahme der Stadt und wurde am 18. Mai zum Generalfeldmarschall befördert. Nach dem Friedensschluß wurde er zum Oberbefehlshaber der ersten Armee ernannt, und im Frühling 1815 führte er sie aus den Grenzen Rußlands nach Frankreich. Unterdessen beendete die Schlacht bei Waterloo und die Thronentsagung Napoleons den Krieg. Den Schlußakt der langjährigen kriegerischen Epoche bildete eine große Heeresschau der russischen Truppen, die der russische Monarch am 28. August

 

 

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in Gegenwart seiner Bundesgenossen bei Verty in Frankreich veranstaltete 1). Als die Heeresschau vorüber war, wurde Feldmarschall Graf Barklay de Tolly in den Fürstenstand erhoben.

 

Die Würden und Auszeichnungen, mit denen Barklay von seinem dankbaren Monarchen in den letzten Jahren überschüttet wurde, übten gar keinen Einfluß auf sein innerstes Empfinden und Gemütsleben aus; der edle Charakter, die erhabenen Gefühle, die christliche Demut blieben immer dieselben. Ein Beweis dafür liegt uns in seinem Briefwechsel mit seiner Tante und Erzieherin Frau von Vermeulen vor, die, selbst kinderlos, den 3jährigen Neffen zu sich genommen und ihn wie einen Sohn liebgewonnen hatte und zusammen mit ihrem würdigen Gemahl sich seiner Erziehung widmete, bis der 17jährige Jüngling in ein Regiment eintrat. Die Korrespondenz Barklays mit seiner Erzieherin charakterisiert ihn, wie er als Mensch war, und daher zitieren wir hier einen Brief, den er ihr am 5. Mai 1814 aus Paris schickte.

 

Paris, den 5. Mai 1814.

 

Gnädigste Tante!

 

Das immerwährende Waffengetümmel hat mich lange Zeit des Vergnügens beraubt, Ihnen, meine gnädigste Wohltäterin, meine kindliche Ergebenheit schriftlich zu bezeugen. Jetzt, wo wir uns durch Gottes Gnade am Ziel unserer Wünsche sehen und dem ganzen Weltall Ruhe und Frieden verliehen ist, erlauben Sie, meine gnädige Tante, daß ich Ihnen die Gefühle meines Herzens darstelle. Die Ereignisse dieses Krieges und der Erfolg desselben haben alle Erwartungen übertroffen, und sichtbarlich hat die Hand Gottes, die dem menschlichen Elend einmal ein Ende machen wollte, alles so herrlich geleitet. Ich bin dabei so vielfachen Gefahren ausgesetzt gewesen und habe das Glück gehabt, zu diesen großen Ereignissen beizutragen, ich verdanke dies gewiß auch dem mütterlichen Anteil, den Sie, meine Wohltäterin, stets an mir nehmen, und Ihrem Gebete

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1) Im Departement Marne.

 

 

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für mich. Ich wünschte Ihnen meine Dankbarkeit dafür in vollstem Maße schildern zu können. Stets bis zum Grabe wird mir die Erinnerung der Fürsorge, mit der Sie und mein verehrter Pflegevater sich meiner annahmen, unvergeßlich sein. Gott hat mich jetzt auf die höchste Stufe gestellt, die ein Staatsdiener nur einnehmen kann; er allein kann mir auch die Kräfte und Fähigkeiten verleihen, den Erwartungen meines Monarchen und meines Vaterlandes zu entsprechen. Meine gute Frau, die jetzt bei mir ist, empfiehlt sich mit mir der Fortdauer Ihrer Gewogenheit; ich küsse Ihnen ehrfurchtsvoll die Hand und bin ewig meiner gnädigen Wohltäterin ergebener Pflegesohn. Barklay de Tolly.

 

Allein Kaiser Alexander begnügte sich nicht mit den zahlreichen Auszeichnungen, deren er Barklay würdigte; er wollte ihm noch eine besondere Ehre erweisen und ihm eine völlige Genugtuung im eigenen Vaterlande verschaffen, wo er so viele Erniedrigungen erfahren hatte. Wahrscheinlich zu diesem Zweck berief er Ende des Jahres 1815 Barklay in die Residenz:

 

Ich bin den 10. abends 11 Uhr hier angekommen. Auf den 11. war vieles zu einem zeremoniellen Empfang für mich bereitet, da ich aber allem dem durch mein früheres Eintreffen zuvorkam und der Kaiser dieses vermutet hatte, so fand ich beim Schlagbaum einen Flügeladjutanten, der den Auftrag hatte, sich nach meiner Gesundheit zu erkundigen und mir im Namen Sr. Majestät zu meiner Ankunft zu gratulieren, zugleich mich auch nach meinem Quartier zu begleiten. Bei meiner Ankunft daselbst fand ich eine Ehrenwache vom Semionowschen Regiment, mehrere Ordonanzen und ein völlig eingerichtetes Haus, vom Hofe ein maitre d’hotel nebst Küche, Bedienung und Equipage. Ich verbat mir die Ehrenwache und dankte dem Flügeladjutanten für seine Bemühung, mich beim Schlagbaum einen halben Tag erwartet zu haben; er sagte mir, daß er den Befehl hatte, während meines Aufenthaltes in Petersburg bei mir zu bleiben und jetzt gleich zum Kaiser mußte, um meine Ankunft zu melden. Nach einer Stunde kam er wieder zurück mit einem sehr schmeichelhaften Kompliment

 

 

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vom Kaiser und sagte mir, daß Se. Majestät wünsche, die Ehrenwache möge bleiben. Den 11. früh 9 Uhr war ich beim Kaiser. Ich bin gewiß, daß noch nie ein Monarch seinen Feldherrn mit mehr Innigkeit empfangen hat. Er brachte mich selbst zu der Kaiserin-Mutter und hier entstand eine Szene, die mir unvergeßlich ist. Nachdem der Kaiser fast unerschöpflich von meinem Lobe war und mich mehrere Male seinen treuesten Gehilfen nannte, ohne den er nicht imstande gewesen wäre, das auszuführen, was ihm mit der Hilfe der Vorsehung gelungen ist und so gnädig dessen erwähnte, daß ich mit so vieler Standhaftigkeit und völliger Hingebung mich über alle Unannehmlichkeiten hinausgesetzt hätte, embrassierte er mich in Gegenwart seiner Mutter, die dabei so gerührt war, daß sie mich beim Arme nahm, mich zweimal küßte und darauf mit Tränen ihren Sohn in die Arme schloß und mit gerührter Stimme ausrief: „Mein Alexander“. — Dieser Auftritt geschah in Gegenwart der Gräfin Lieven und der Großfürstin Anna. Bei meiner Rückkehr fand ich die ganze Straße so mit Equipagen gesperrt, daß ich kaum durchkommen konnte, denn der Kaiser hatte befohlen, daß alle Generäle, Stabs- und Oberoffiziere mich in corpore begrüßen sollten; auch der Graf Araktschejew war unter ihnen. Denselben Tag war ein Diner beim Kaiser. Den 12. war große Cour bei Hofe und ein brillanter Ball. Den 13. war eine große fête bei dem Litauischen Garderegiment; während dem Diner erinnerte sich Se. Majestät, daß es mein Geburtstag war und brachte meine Gesundheit aus“ 1).

 

Die Feierlichkeiten, welche noch eine Zeitlang dauerten, schlossen dann aber am 25. Dezember mit einem Dankgottesdienst ab in Anlaß der glücklichen Beendigung des Krieges.

 

Im Frühling des Jahres 1818 zwang eine arge Zerrüttung der Gesundheit Barklay zu einer Reise nach Deutschland, um eine Mineralwasserkur zu versuchen, aber unterwegs, in der Nähe von Insterburg, war er gezwungen, die Reise zu unterbrechen,

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1) Aus dem Briefe des Fürsten Barklay de Tolly an seine Frau vom 14. Dezember 1815.

 

 

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und man mußte ihn vorsichtig in die nächste Villa herüberbringen, die der Adjutant und der Arzt aufgesucht hatten. Am Morgen des 14. (26.) Mai ist er dort gestorben im 57. Jahre seines ruhmvollen Lebens. Seine irdischen Überreste wurden auf seinem Gute Bekhof bestattet, wo die Fürstin über dem Grabe ein schönes Denkmal errichten ließ. Später wurden noch andere Denkmäler Barklay errichtet: bei Insterburg an dem Orte, wo er gestorben, in Petersburg vor der Rasanschen Kathedrale, in Dorpat auf dem Stadtplatz und in Riga, wo es vor kurzer Zeit eingeweiht wurde. Zu diesen Denkmälern kann man auch noch das Kunstwerk unseres großen Dichters Puschkin zählen, der schon im Jahre 1835 Barklay de Tolly in seinem herrlichen Gedicht „Der Feldherr” so lebenswahr dargestellt hat.

 

 

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In demselben Verlage ist erschienen:

 

Baltische Offiziere im Feldzuge von 1812

von Baron Georges Wrangell

 

gr.8 1912. Preis 75 Kop. (1 Mark 50 Pf.)

 

 

Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei (F. Mitzlaff) Rudolstadt

 

 

 

 

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Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei F. Mitzlaff Rudolstadt

 

 

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Hinweis: Das Werk kann unter folgendem Link der Universitas Tartuensis online eingesehen werden:

 

https://dspace.ut.ee/items/f7dad94d-0f05-4317-a031-1a6ee5129d15/full

URI: http://hdl.handle.net/10062/39460

Collections: Raamatud saksa keeles. Books in German. Deutsche Bücher

 

 

 

 

 

Quelle:

 

Barklay de Tolly und der vaterländische Krieg 1812

Von Weymarn, Wilhelm, Reval : Franz Kluge's Verlag 1914

Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei F. Mitzlaff Rudolstadt

 

 

 

 

 

 

Adolf Köster 1917: Bismarcks Erbe

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806 Bismarcks Erbe.

 

ADOLF KOESTER:

 

Bismarcks Erbe.

 

1. Deutschland, Rußland und Oesterreich-Ungarn.

 

Als Bismarck am 20. März 1890 aus allen Aemtern entlassen ward, hinterlieB er in der auswärtigen Politik ein kunstvolles System von Bündnissen, Verträgen und Freundschaften, das die Existenz und ruhige Entwicklung des Deutschen Reiches ziemlich sicherstellte. Die Hauptpfeiler dieses Systems waren der Dreibund und der (damals noch nicht veröffentlichte) sogenannte Rückversicherungsvertrag mit Rußland; in diesem und drei folgenden Artikeln soll dies Erbe Bismarcks in großen Zügen dargestellt werden. Zunächst behandeln wir die Beziehungen der drei großen europäischen Kaiserreiche.

 

* * *

 

Nach der deutsch-österreichischen Auseinandersetzung von 1866 war das Verhältnis Oesterreichs zum Norddeutschen Bunde trotz der geschickten die Annexionsgelüste des alten Kaisers bekämpfenden Politik Bismarcks zunächst sehr spröde gewesen. Oesterreichs Revanchebedürfnis spielte bei allen Kriegserwägungen Bismarcks eine große Rolle. Mehr als einmal erhob sich ihm drohend das Gespenst der Wiederholung jener alten Kaunitzschen Koalition Oesterreich-Rußland-Frankreich gegen Preußen. Und ganz natürlich hörte ja während des deutschen Einheitskrieges der österreichische Ministerpräsident Graf Beust zu jener Gruppe von neutralen Staatsmännern, die jede Gelegenheit — besonders in der kritischen Zeit der Belagerung von Paris — suchten, der deutschen Politik ein Bein zu stellen. Der siegreiche Ausgang des deutschen Einheitskrieges begrub jedoch zunächst jede österreichische Hoffnung auf die Revanche für Königgrätz.

 

Aus Italien heraus-, von Deutschland abgedrängt, konnte Oesterreich lediglich gegen den Balkan hin eine expansive Politik treiben. Bosnien und Herzegowina, damals noch türkische Provinzen, zogen die österreichische Politik schon früh an. Sie waren das Hinterland für die schmale dalmatinische Küste. Und sie bargen eine starke serbische Bevölkerung,

 

 

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807 Bismarcks Erbe.

 

von der Oesterreich befürchtete, daß sie bei einer künftigen Liquidation der Türkei mit dem damals noch immer unter türkischer Souveränität stehenden Fürstentum Serbien zu einem bedrohlichen Großserbien zusammenwachsen könnte. Diese „Gefahr“ trat schon 1875 nahe, als das türkische Willkürregiment in den beiden Provinzen einen blutigen Aufstand entfesselte. Damals erreichte Oesterreich durch seinen Außenminister Andrassy, daß der Sultan auf Drängen der Großmächte energische Wirtschafts- und Steuerreformen versprach. Die beiden Provinzen blieben trotz der Aufregung in der serbischen Skupschtina türkisch. Oesterreichs Interesse an ihnen aber war größer als bisher.

 

In dieser Expansivtendenz nach dem Balkan stieß Oesterreich-Ungarn mit Rußland aneinander, dessen uralte Balkan- und Konstantinopelträume (man denke nur an das — allerdings apokryphe — Testament Peters des Großen) gerade damals durch den nicht ohne Einfluß des deutschen Einheits-Sieges entstandenen Panslawismus neu gekräftigt waren.

 

Rußlands Expansionstendenzen gingen im Grunde nach allen Seiten, im Norden gegen die Weichselmündung, Schweden und Norwegen, im Westen gegen Galizien, im Südwesten auf den Balkan und die Meerengen, im Süden gegen den Kaukasus und Armenien, gegen Persien und über Afghanistan nach Indien, im Osten gegen die Mongolei, gegen China und Japan. Immer gleichzeitig auf all diesen Gebieten tätig hat es zu gewissen Zeiten doch gewisse dieser Probleme mit besonderem Eifer verfolgt. Den Anstoß zu seiner Expansionspolitik gab weder ein Ueberschuß an Bevölkerung noch das Bedürfnis einer einheimischen Industrie nach auswärtigen Märkten. Hauptsächlich waren es nach dem unglücklichen Krimkriege Gründe des Prestige und des militärischen Ehrgeizes, daneben solche eines mystisch-religiös angehauchten Rassenbewußtseins, die in dem absolutistisch regierten Lande zu Eroberungen nach außen drängten. (Zar Alexander II. hat einmal Bismarck gegenüber die Notwendigkeit eines russisch-türkischen oder russisch- österreichischen Krieges mit dem Bedürfnis, seine Armee zu beschäftigen, motiviert!)

 

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808 Bismarcks Erbe.

 

In der Periode vom Krimkriege bis zum russisch-türkischen Kriege hatte Rußland seine Stellung in Zentralasien bedeutend gefestigt. Es hatte unter dem General v. Kaufmann nacheinander Taschkent und Samarkand, die fruchtbaren Khanate von Buchara, Chiva und Kokand (Turkestan) erobert, und schickte sich an, auch das Land der Turkmenen unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Mit all dem bedrohte es Afghanistan und Indien. Gerade als in den 70er Jahren die Balkanwirren Rußland auf den Kampfplatz nach Westen riefen, war durch diese Entwicklung in Mittelasien der Gegensatz zwischen England und Rußland sehr stark. Bei den verschiedenen Gruppierungen der drei Zentralmächte Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Rußland muß dieser russische Gegensatz gegen England, der ein gewisses russisches Anlehnungsbedürfnis an Deutschland in sich schloß, immer mit berücksichtigt werden.

 

Rußlands Balkaninteressen gingen zunächst auf den Osten der Halbinsel. Hier wütete, in der türkischen Provinz Bulgarien, zur selben Zeit wie in Bosnien und Herzegowina, ein blutiger Aufstand, an welchem Rußland nicht unbeteiligt war. Auch dieser Aufstand wurde von den Türken grausam unterdrückt. Die Provinz erhielt Reformen versprochen, blieb aber zunächst türkisch. Rußland kämpfte (zunächst diplomatisch, dann gegen die Türkei militärisch) für ein „freies“, d. h. nur von ihm abhängiges Bulgarien. Als fernes Ziel schwebten ihm die Dardanellen und der slawische Balkanbund mit einem Großserbien vor. Oesterreich wollte dies Großserbien verhindern, indem es die Hand auf Bosnien und die Herzegowina legte. Sein fernes Ziel war eine Bahnverbindung mit Saloniki, die Serbien endgültig vom Meer abschnitt. Oesterreichische und russische Interessen standen sich hart gegenüber. Diese Balkanrivalität der beiden Kaiserreiche ist eine der Wurzeln des Dreibundes geworden, insofern sie Deutschland zwang, zwischen Rußland und der Donaumonarchie zu „optieren“, sich für eins oder das andere zu entscheiden.

 

Diese Entscheidung vollzog Deutschland sehr ungern und erst dann, als die russische Politik sie brüsk von ihm forderte. Deutschland hatte damals nach Bismarcks Ansicht weder in

 

 

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809 Bismarcks Erbe.

 

Konstantinopel noch in Saloniki eigene kriegswürdige Interessen. Nur in ihrer Rückwirkung auf die europäische Staatengruppierung und die Stellung Deutschlands in ihr konnte die Balkanrivalität der beiden Kaiserreiche für Deutschland ein Interesse haben. Am liebsten hätte Deutschland auch weiterhin geschickt zwischen beiden lawiert. Rußland zwang es, optieren zu müssen.

 

Das geschah im Jahre 1876, als sich die Türkei in einem siegreichen Kriege mit Serbien und Montenegro befand — welche beiden Staaten jenen Aufstand in Bosnien und Herzegowina zum Anlaß genommen hatten, sich selbständig zu machen. Oesterreichs Interesse ging auf einen türkischen Sieg, der Serbien niederdrückte; Rußlands Interesse auf einen serbischen Sieg, der Oesterreich von Bosnien abgedrängt und Rußland in Bulgarien freie Hand gegeben hätte. Als die Türkei die Erhebung siegreich niederschlug und Serbien zu einem Frieden zwang, stellte sich Rußland an Montenegros Seite. Der russisch-türkische Krieg stand vor der Tür.

 

In dieser Situation stellte der damalige Zar Alexander II. durch den deutschen Militärbevollmächtigten in Rußland, den General v. Werder, an Bismarck die telegraphische Anfrage, ob Deutschland neutral bleiben würde, wenn Rußland mit Oesterreich in Krieg geräte. Bismarck gab nach mehreren vergeblichen Versuchen, der direkten Beantwortung dieser peinlichen Frage aus dem Wege zu gehen, seine berühmte Antwort: Deutschlands erstes Bedürfnis sei, die Freundschaft zwischen den großen Monarchien zu erhalten, die der Revolution gegenüber mehr zu verlieren als durch Kampf zu gewinnen hätten. Sollte aber zu unserm Schmerz dies Ziel nicht erreicht werden können, so könnten wir zwar ertragen, daß unsere Freunde gegeneinander Schlachten gewönnen und Schlachten verlören, nicht aber, daß einer so schwer verwundet werde, daß seine Stellung als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet werde.

 

Damit war — zur großen Befriedigung des franzosenfreundlichen gegen Bismarck persönlich verstimmten russischen

 

 

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Kanzlers Gortschakoff — in die immer sehr engen deutsch-russischen Beziehungen ein Keil hineingetrieben. Die antideutsche Clique am russischen Hofe konnte triumphierend auf das „Platonische“ der deutschen Freundschaft hinweisen. Rußland ließ seine antiösterreichischen Pläne fürs erste fallen, ja schloß am 15. Januar 1877 mit Oesterreich (Deutschland gegenüber geheim) eine Konvention, in der u. a. der künftige Besitz von Bosnien und der Herzegowina Oesterreich von Rußland garantiert wurde. Die russischen Gewehre gingen gegen die Türkei statt gegen die Donaumonarchie los. Deutschland aber lief Gefahr, durch den Entschluß, es mit beiden Mächten zu halten, beide zu verlieren.

 

In dieser Situation trafen die drei Mächte nach Beendigung des russisch-türkischen Krieges, der Rußland nach schweren Kämpfen bis dicht vor die Tore Konstantinopels gebracht hatte, auf dem Berliner Kongreß zusammen. (Juni 1878.) Wir wissen aus Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, daß noch damals die Möglichkeit eines deutsch-russischen (statt eines deutsch- österreichischen) Bündnisses sehr ernsthaft erwogen wurde (wenn auch mehr von russischer als von deutscher Seite). Das Ergebnis des Kongresses jedoch sprengte bei Rußland ein für alle Male solche Pläne.

 

Die Rolle Deutschlands auf dem Berliner Kongreß war die schwierige und undankbare eines „ehrlichen Maklers“ zwischen den russischen Ansprüchen und österreichischen Interessen. Unter dem Drucke Englands (Disraeli) mußte sich Rußland zu einer gründlichen Revision des Friedens von San Stefano und damit zum Verzicht auf seine weitgehenden Balkanpläne bequemen. Zwar wurden Serbien, Montenegro und Rumänien selbständig. Aber das als russische Balkanprovinz gedachte Großbulgarien wurde stark beschnitten, in zwei Teile gerissen und blieb an die Türkei gefesselt, die auch nach dem Frieden noch immer die Hauptmacht des Balkans blieb. England erhielt Cypern und setzte wiederum die Sperrung der Dardanellen für alle Kriegsschiffe durch. Oesterreich-Ungarn durfte seine Hand auf Bosnien, Herzegowina und den Sandschak Novibasar legen. Damit war es seinen antiserbischen Balkanzielen näher gerückt.

 

 

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Rußland hingegen blieb nach wie vor von Konstantinopel abgedrängt.

 

Die Schuld an diesem russischen Mißerfolg wurde wie auf Kommando von der gesamten russischen Oeffentlichkeit Deutschland beigemessen. Die Panslawisten organisierten unter der Zensur der Regierung eine regelrechte Hetze gegen Deutschland. Rußland verlangte brüsk, daß Deutschland in der orientalischen Kommission ein für alle Male an der Seite Rußlands abstimmte, und im August 1879 richtete der Zar ein Schreiben an das Oberhaupt des Deutschen Reiches, das an zwei Stellen Kriegsdrohungen enthielt. Zu gleicher Zeit begann Fürst Gortschakoff nach Frankreich hin seine Liebeserklärungen deutlicher zu machen. Truppenanhäufungen an der Grenze gegen Deutschland trieben die kritische Situation auf die Spitze. Da brachte eine „begütigende“ Reise Wilhelms I. zu seinem Neffen, dem Zaren, die hochgehenden Wogen wieder zur Ruhe. Diese Reise widerstrebte Bismarcks Gefühl und Urteil über das, was not tat. Um so mehr wirkte all das zusammen, der deutschen Politik die Wahl zwischen Rußland und Oesterreich zu erleichtern.

 

Gleichwohl entschied sich Bismarck nicht ohne Bedenken. Eine gewisse Unberechenbarkeit Ungarns, der starke klerikale EinfluB am Wiener Hofe, die österreichische Polenpolitik, die derjenigen Deutschlands direkt entgegengesetzt war, endlich die Besorgnis, durch dieses Bündnis doch über kurz oder lang in die Balkanwirren gezerrt und zu einer aggressiven antirussischen Politik getrieben zu werden — all das machte der damaligen Außenpolitik des Deutschen Reiches schwere Sorgen und ward nur einigermaßen aufgewogen durch die Aussicht, daß ein deutsch-österreichisches Bündnis in Deutschland bei allen Parteien beliebt war. Dazu kam, daß ein Bruch mit Rußland den äußersten Widerstand des Deutschen Kaisers hervorgerufen hätte.

 

Wie drohend die russische Gefahr damals gewesen sein muß, ersieht man aus der Tatsache, daß Bismarck — offenbar ohne intimeres Wissen des Deutschen Kaisers — zur selben Zeit, wo dieser in Alexandrowo mit seinem Neffen zur Beilegung des

 

 

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ausgebrochenen Konfliktes zusammenkam, in Gastein mit dem damaligen österreichisch-ungarischen Außenminister Andrassy die grundlegenden Besprechungen für das künftige deutsch-österreichische Einvernehmen führte.

 

Als Bismarck sich zu diesem Schritt entschloß, stand er — das geht aus seinen „Erinnerungen“ wie auch aus seinem bekannten Briefe an den König Ludwig von Bayern hervor — unter dem Eindruck, daß ein russisch-französisches Einvernehmen ernstlich drohte, daß andererseits eine Deutschland isolierende Verständigung Oesterreichs mit Rußland nicht zu den Unmöglichkeiten gehörte. Darum war auch Bismarck in den ersten Gasteiner Verhandlungen der drängende Teil. Er erreichte von Andrassy die gegenseitige Verständigung über ein rein defensives Bündnis gegen einen russischen Angriff auf einen von beiden Teilen. Dagegen fand sein Vorschlag, das Bündnis auch auf andere als russische Angriffe auszudehnen, keinen Anklang.

 

Wie hart es den damals herrschenden Gewalten in Deutschland wurde, gerade mit Rußland, dem Hort aller europäischen Reaktion, zu brechen, das zeigt die Antwort des damaligen Bayernkönigs auf die von Gastein aus erfolgte Ankündigung der antirussischen Schwenkung. Andererseits hatte Bismarck schon damals die spätere Politik seines Rückversicherungsvertrages im Auge, wenn er als den Zweck seiner Abmachung mit Oesterreich bezeichnet: „den Frieden mit Rußland nach wie vor sorgsam zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte angegriffen würde, einander beizustehen“.

 

Der deutsch-östereichische Bündnisvertrag zu gegenseitiger Unterstützung gegen einen russischen Angriff ist dann formell am 7. Oktober 1879 abgeschlossen worden. Der Widerstand des Deutschen Kaisers mußte erst durch eine angedrohte Demission gebrochen werden. Auf seinen Befehl ward aber der Zar sofort von dem Bündnis verständigt, während Europa erst gelegentlich einer anderen Krisis (1888) den Wortlaut des Vertrages erfuhr.

 

Das Bündnis bestimmte außer der gegenseitigen Unterstützung bei einem russischen Angriff, daß die beiden Kontrahenten

 

 

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beim Angriff durch eine andere Macht (z. B. Deutschlands durch Frankreich oder England oder bei einem Angriff Oesterreichs durch Italien) gegenseitige wohlwollende Neutralität üben sollten. Stünde jedoch Rußland in irgendeiner dieser Kombinationen dem Gegner Deutschlands oder Oesterreichs bei, so sollte wiederum der Fall militärischer Unterstützung gegeben sein. Außer diesen militärischen Abmachungen enthielt das Bündnis den Abschluß eines Meistbegünstigungsvertrages zwischen den beiden Staaten.

 

Dieses Bündnis war so, wie es auf dem Papier stand und wie Deutschland es nach seinen damaligen Interessen auslegen mußte, ein reines Defensivbündnis, eine Versicherungs-, keine Erwerbsgesellschaft. Einen deutschen oder österreichischen Angriffskrieg — selbst gegen Rußland (etwa im japanischen Kriege) — zog es überhaupt nicht in seine Rechnung. Noch viel weniger einen deutschen Angriffskrieg gegen Frankreich, der damals allgemein für möglich gehalten wurde (1875 vom preußischen Generalstab auch tatsächlich erwogen worden ist — gegen Bismarck). So wenig Oesterreich das Bündnis zu einer Expansion Deutschlands, so wenig wollte Deutschland das Bündnis zu einer Expansion Oesterreich-Ungarns mißbrauchen lassen. Für die nachbismarckische deutsche Politik hat das Bündnis zu Zeiten einen ganz anderen Charakter gehabt. Für Bismarck hatte das Bündnis damals eine so wenig aggressiv gegen Rußland gerichtete Tendenz, daß er im Gegenteil eine seiner Wirkungen in dem Druck sah, durch den es Rußland zwang, mit Deutschland wieder Freundschaftsfäden anzuknüpfen. Die russische Freundschaft war ihm auch nach dem Abschluß des Bündnisses genau so wichtig wie vorher. Auch nach dem Bündnis hielt er — unter veränderten politischen Konstellationen — ein Abspringen Oesterreichs von Deutschlands Seite durchaus nicht für unmöglich. An Rußlands Seite zog ihn nach wie vor die Ueberzeugung, daß es zwischen Deutschland und Rußland keine wahrhaften Interessengegensätze gebe. Der Gedanke, daß Rußland die östliche Balkanhalbinsel mitsamt den Dardanellen protegierte (wie Oesterreich die westliche) schien ihm vom deutschen Standpunkt aus

 

 

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durchaus erträglich. So setzte er im Grunde auch nach dem Abschluß des Bündnisses die alte Taktik des Gegeneinanderausspielens der beiden Balkanrivalen fort. Indem er den Draht nach Petersburg nicht abreißen ließ, hinderte er eine eventuelle östereichisch-russische Verständigung, zügelte etwaige antirussische Balkanexpansionen Oesterreichs auf das Maß herab, das Deutschland zur Ausnutzung seines Ausgleichsamtes zwischen Oesterreich und Rußland nötig hatte, und verringerte für Rußland die Notwendigkeit, sich in Frankreich einen festen Bundesgenossen suchen zu müssen. Indem er umgekehrt Oesterreich seinen Besitzstand gegen Rußland garantierte, sorgte er dafür, daß Rußland selber gewisse Anlehnungsbedürfnisse an Deutschland bekam und daß es seine Expansionskräfte nicht einseitig nach dem Balkan, sondern ebenso stark und wenn möglich stärker nach dem Osten richtete. Hier im Osten aber lag für Rußland die weltgeschichtliche Verwickelung, die den Zaren der Bismarckschen Politik bis zu einem gewissen Grade immer wieder in die Arme trieb: der Gegensatz zwischen Rußland und England.

 

Neben diesen rein sachlich in der Sicherung der außenpolitischen Existenz Deutschlands gelegenen Motiven spielten aber in der auf diese Weise prorussisch ausgerichteten Wirkungsform des deutsch-österreichischen Bündnisses bei Bismarck noch andere Gründe mehr innerpolitischer Natur mit: neben den mit Rußland gemeinsamen antipolnischen Bedürfnissen war es vor allem die „hergebrachte dynastische Solidarität“ im Gegensatz zu allen „Umsturzbestrebungen“, die ihn trotz aller Schwierigkeiten, welche ihm Petersburg machte, doch immer wieder zu einer Anlehnung an Rußland bestimmte.

 

Das so in kurzen Zügen umrissene Verhältnis zwischen Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Rußland hat Bismarck wenigstens im großen gegen alle frankreichfreundlichen Wühlereien in Petersburg bis zum Ende seiner politischen Wirksamkeit aufrechterhalten. Ja, es gelang ihm, für dieses Verhältnis im Jahre 1884 einen wichtigen auch formellen Ausdruck zu finden. In Skierniewice, einem polnischen Städtchen, das

 

 

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30 Jahre später zum Schauplatz blutigster Kämpfe werden sollte, trafen sich die drei Kaiser Deutschlands, Oesterreich-Ungarns und Rußlands und schlossen auf drei Jahre einen gegenseitigen Neutralitätsvertrag für den Fall ab, daß eines von ihnen durch einen vierten angegriffen werden sollte. Dies ist der Keim des sogenannten Rückversicherungsvertrages mit Rußland. Bismarck erlangte ihn, indem er die englisch-russische Spannung, die wegen des russischen Anmarsches gegen Afghanistan damals auf ihrem Höhepunkt angelangt war, schlau ausnützte.

 

Die Balkankrise im Jahre 1885—1886 stellte dies vielverschlungene Verhältnis zwischen den drei Reichen auf seine erste Probe. In Ostrumelien war ein bulgarisch-nationaler Aufstand gegen die Türkei ausgebrochen. Der am 29. April durch die bulgarische Sobranje gewählte Fürst Alexander von Bulgarien (der Battenberger) gab dem Drängen der bulgarischen Nationalisten nach und sprach die Vereinigung Ostrumeliens (mit Philippopel) und Bulgariens aus. Daraufhin erklärte Serbien an Bulgarien den Krieg. In einem kurzen, blutigen Feldzug ward es bei Pirot und Slivnitza geschlagen und zum Frieden von Bukarest gezwungen (3. März 1886), wo Oesterreich jedoch durchsetzte, daß es ohne (Gebietsverluste wegkam. Ostrumelien wurde durch Personalunion mit Bulgarien vereint. In Bulgarien selber aber brachen schwere Krisen aus. Zar Alexander III. (sein Vorgänger war 1881 ermordet worden) und seine Ratgeber — schon bei Ausbruch des serbisch-bulgarischen Krieges empört über den immer stärker werdenden Selbständigkeitsgeist in dem von ihnen als russische Dependance angesehenen und behandelten Bulgarenstaate — zettelten eine russophile Verschwörung in Sofia an, die Alexander zur Abdankung zwang (21. März 1886). Diese Abdankung hielt er auch aufrecht, als eine nationalistische Erhebung ihn auf kurze Zeit nach Sofia zurückgebracht hatte. Trotzdem behielt die bulgarische Politik ihren antirussischen Kurs unter dem tatkräftigen Ministerpräsidenten Stambulow zunächst bei. Am 7. Juli 1887 wurde Rußland zum Trotz der Koburger Ferdinand zum Fürsten gewählt. Erst allmählich erfolgte (unter dem neuen russischen

 

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Zaren Nikolaus II.) eine Annäherung zwischen den beiden Ländern.

 

Die Stellungnahme Rußlands in dieser ganzen durch es selbst geschürten Krise war von vornherein gegeben: es versuchte mit allen Mitteln, das von ihm „befreite“ Land an seinem Gängelbande zu erhalten. Oesterreich beobachtete jeden Schritt mißtrauisch, mit dem Rußland seine Position auf der östlichen Balkanhälfte stärken konnte. Darum warf es sich zum Schützer Serbiens auf, dessen Fürstentum es als unter seiner Protektion stehend ansah. Es betrieb eine antibulgarische Politik, solange es mit der Möglichkeit, daß Bulgarien sich wirklich von Rußland losmachte, nicht rechnete. Schwierig aber war die Stellungnahme des Deutschen Reiches. Hier war der größte Teil der öffentlichen Meinung auf seiten Bulgariens und seiner Unabhängigkeitsbestrebungen. Die antirussische Parteinahme für den volkstümlichen Battenberger ging soweit, daß selbst eine sozialdemokratische Parteiversammlung nach einem Referat August Bebels die Reichsregierung aufforderte, „den Bestrebungen Rußlands nach Machterweiterung auf dem Balkan mit allen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzutreten“. Diese Volksstimmung fand eine gewisse Unterstützung in Oesterreich, dessen Außenminister Kalnoky im November 1886 von der Möglichkeit sprach, ohne Deutschland „Hand in Hand mit England den Uebermut des Panslawismus in seine Schranken zurückzuweisen“. Die offizielle deutsche Politik aber ging andere Wege.

 

Es gab damals für Bismarck keine deutschen Interessen auf dem Balkan, viel weniger in Konstantinopel und Vorderasien. Bismarck betrachtete die Vorkommnisse auf dem Balkan nur in ihrer Rückwirkung auf unser Verhältnis zu allen uns umgebenden Mächten. Für einen Staat aus den idealen Gründen der Bedrohung seiner Unabhängigkeit einzutreten lehnte er ab. Eine Parteinahme für Rußland hätte das ganze kunstvolle System seiner Bündnisse und Einvernehmen gestört, durch das er glaubte, Deutschland von allen Mächten so unabhängig wie möglich gemacht zu haben. In einem Kriege mit Rußland hätte Deutschland seiner Meinung nach nicht für deutsche, sondern

 

 

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817 Bismarcks Erbe.

 

für englische und österreichisch-ungarische Interessen gefochten. Wie gering die eigentlichen deutschen Interessen im nahen Orient seiner Meinung nach waren, ersieht man daraus, daß er eine russische Festsetzung in Konstantinopel fast für wünschenswert hielt. Dadurch würde seiner Meinung nach der Gegensatz zwischen England und Rußland stärker, die Annäherung zwischen Rußland und der Mittelmeer- und Orientmacht Frankreich schwieriger. Die Interessen Oesterreichs auf dem Balkan brauchten seiner Meinung nach durch einen russischen Verschluß der Dardanellen nicht tödlich getroffen zu werden. Von diesem Gesichtspunkt aus hätte Bismarck eine österreichische Frage nach Beteiligung Deutschlands an Oesterreichs und Englands Seite gegen Rußland verneint. Von diesem Gesichtspunkt aus rührte er keinen Finger für den Battenberger, von dem persönlich er keine gute Meinung hatte. In dem ganzen bulgarischen Konflikt vermied er eine strikte Teilnahme — wo er aber mußte, gab er mehr Rußland als Oesterreich nach. Er unterstützte die Kandidatur des Koburgers nicht — wie er überhaupt gegen deutsche Thronkandidaturen im Orient war. Aber er lehnte ebenso die von Rußland geforderte Initiative in der Entfernung Ferdinands ab. Gegen die Presse Deutschlands und Oesterreichs-Ungarns, gegen gewisse Strömungen auch innerhalb der Regierung der Donaumonarchie, legte er das deutsch-österreichische Bündnis auch in der Praxis genau so eng umschrieben aus, wie er es vor Jahren geschlossen hatte.

 

Das deutsch-österreichische Bündnis überdauerte diese Krisis. Die Spannung zwischen Rußland und Oesterreich nahm zu. Das Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland schien zunächst zu leiden, indem die Gegner Deutschlands an der Newa nach altem Rezept dem Zaren wieder das „Platonische“ der deutschen Freundschaft klar zu machen suchten. Aus diesen Kreisen stammte auch die Fälschung jener Alexander III. in die Hände gespielten Briefe, die beweisen sollten, daß Bismarck in Bulgarien heimlich gegen die Erstarkung des russischen Einflusses wühlte. Einer persönlichen Unterredung Bismarcks mit dem Zaren gelang es, dieses und andere Mißverständnisse aufzuhellen.

 

 

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818 Bismarcks Erbe.

 

Ja, es gelang Bismarck sogar, den Zaren unter Ausschließung Oesterreichs zu einem regelrechten deutsch-russischen Vertrage zu bestimmen, der das abgelaufene Dreikaiserbündnis ersetzte. Dies ist der eigentliche sogenannte Rückversicherungsvertrag. Er ward vor Oesterreich geheim gehalten. Er besagte, daß Deutschland und Rußland einander neutral verhalten sollten, falls einer der beiden Staaten von irgendwoher angegriffen werden würde. Dieser Vertrag sicherte also auf der einen Seite Rußland die Neutralität Deutschlands für den Fall zu, daß England oder Oesterreich Rußland angriffen, nach der anderen Seite Deutschland die Neutralität Rußlands, falls Frankreich Deutschland angreifen sollte. Mit dem Buchstaben des deutsch-österreichischen Vertrages kollidierte der Vertrag nicht. Immerhin zeigte er die russenfreundlichen Nebengedanken, die Bismarck jetzt wie bei seinem Abschluß gehabt hatte, so drastisch, daß im Jahre 1897, als Bismarck in seinem Kampfe gegen die offizielle deutsche Politik den Rückversicherungsvertrag veröffentlichte, in Oesterreich große Erregung Platz griff. In Deutschland sah man damals (1897) in ihn teilweise (Hohenlohe) die Absicht Bismarcks, das deutsch-österreichische Bündnis aufzugeben und dafür ein dauerndes deutsch-russisches einzutauschen. Diese Absicht ist unwahrscheinlich, da Bismarck einerseits die Stärke der franzosenfeindlichen Partei in Rußland genau kannte und wußte, wie weit die russisch-französischen Anbiederungen schon damals gediehen waren. Auf der anderen Seite bot gerade das gute Doppelverhältnis zu den beiden Reichen seiner Politik viele günstige Chancen: er hielt beide bis zu einem gewissen Grade in Schach, machte sich beiden angenehm, hetzte nicht, aber ließ auch nicht zuviel Freundschaft zwischen ihnen aufkommen. Eine volle Beleuchtung freilich erhält der Rückversicherungsvertrag auch erst durch den englisch-russischen Gegensatz. Rußland brauchte eine Rückendeckung gegen England. Dies Bedürfnis nützte Bismarck für Deutschland aus — freilich ohne sich mit Rußland soweit einzulassen, daß Deutschlands Verhältnis zu England darüber in die Brüche ging. Auch Frankreich hatte er bei

 

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819 Bismarcks Erbe.

 

Abschluß des Vertrages im Auge. Die immer enger werdenden Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich sah er. Der Rückversicherungsvertrag war ein Mittel, das drohende Bündnis zwischen der Republik und dem Zarenreich aufzuschieben.

 

Das antideutsche Element in der russischen Politik ist alt. Die Erstarkung Deutschlands im Jahre 1870, die von Rußland nicht verhindert werden konnte, obschon Versuche zur Einmischung gemacht sind, vermehrte dieses Element. Die Souveräne beider Länder — durch persönliche Verwandtschaft und die von beiden gleich stark gefühlte Antipathie gegen die westliche Demokratie und den inneren Umsturz eng miteinander verbunden — hatten alles Interesse an einem guten Einvernehmen beider Staaten. Dabei war der jeweilige Zar freilich oftmals spröder als sein deutscher Nachbar gewesen. Auch die russische offizielle Politik hat unter Bismarck mit Ausnahme der letzten Jahre die Linie gegenseitiger Verständigung eingehalten. Die Stimmung der gebildeten russischen Bourgeoisie wie eines Teiles des russischen Hofadels (auch desjenigen deutscher Abstammung) dagegen war seit jeher durchweg franzosenfreundlich. Unter dem Einfluß der panslawistischen Bewegung neigte ein Teil von ihr stark zum Deutschenhaß, der in gewissen kleinbürgerlichen Kreisen auch aus wirtschaftlichen Gründen genährt wurde. Die von Gortschakoff seit 1870 und besonders stark seit dem für Rußland unbefriedigenden Ergebnis des Berliner Kongresses 1878 betriebene russisch-französische Entente hatte ihr schwerstes Hindernis in der Abneigung des absolutistiichen Kaiserhofes gegen das republikanische Regiment Frankreichs. Rußland hielt in den 80er Jahren Frankreich für miltärisch nicht sehr stark, politisch für nicht zuverlässig wegen der ewig sich jagenden neuen Ministerien. Diese Hindernisse hat bekanntlich eine kluge und konsequente äußere Politik Frankreichs allmählich aus dem Wege zu räumen gewußt. Dabei spielten gewisse antideutsche und antibismarckische Kreise am außenpolitisch damals nicht unwichtigen verärgerten dänischen Hofe ein Rolle.

 

In die letzten Jahre Bismarcks aber fällt eine auffallende Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen. Ein

 

 

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820 Kramarsch.

 

erster Schritt zu einem künftigen französisch-russischen Einvernehmen war schon der Ankauf von 500000 französischen Lebelgewehren durch Rußland — unter der Garantie, daß diese Gewehre niemals gegen Frankreich losgehen würden. Das war im selben Jahre, als Bismarck den Rückversicherungsvertrag abschloß (1887). Ihm folgte die gegen Deutschland gerichtete russische Politik der Prohibitivzölle und die Russifizierung der Ostseeprovinzen. Bismarck antwortete mit dem Verbot der Lombardierung russischer Werte. Rußland arrangierte an der deutschen und österreichischen Grenze immer offener seine Probemobilmachungen. Ende 1888 wurde die erste russische Anleihe in Frankreich aufgenommen. Zur selben Zeit fieberte Frankreich in der Periode nationalistischer Erregung, die mit dem Namen Boulanger verknüpft ist. Trotzdem hat Bismarck an dem Grundgedanken seiner Politik — bis zum äußersten mit Rußland zu gehen — aus den oben dargelegten Gründen festgehalten. Er erörterte am 6. Februar 1888 bei der Beratung der großen Wehrvorlage zum ersten Male den Zweifrontenkrieg, fand auch gegen jene antideutschen Strömungen in Rußland kräftige Worte der Abwehr, ja der Drohung. Er veröffentlichte (auf gewisse russische Kreise berechnet, denn der Zar wußte von seinem Vater her Bescheid) den deutsch-österreichischen Bündnisvertrag. Aber er widerstrebte mit allen Mitteln dem offenen Bruche.

 

 

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847 Bismarcks Erbe.

 

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ADOLF KOESTER:

 

Bismarcks Erbe.

II. Deutschland und Italien.

 

Die Einnahme Roms und die vollkommene Einigung Italiens zu einem Nationalstaat hatte sich unter dem Siegesdonner der deutschen Kanonen vollzogen. Der damalige französische Gesandte in Rom war zu Hause geblieben, als Viktor Emanuel in der ewigen Stadt einzog. Frankreich — besonders Thiers — behandelte die neuentstandene Mittelmeergroßmacht zunächst mißtrauisch und kühl. So kam es ganz von selber schon unter dem konservativen Ministerium Minghetti (1873—1876) zu einer losen Annäherung Italiens an Deutschland. Die Irredenta, die nationalistische Bewegung an den norditalienischen Grenzen zur Einverleibung der italienischsprechenden Teile Oesterreichs in das neue Königreich, spielte in den ersten Jahren des jungen Staates noch keine merkliche Rolle. Das wurde anders, als 1876 die Liberalen ans Ruder kamen. Ihr „freiheitliches“ Programm tendierte mehr nach Frankreich als nach Deutschland. Mit der lateinischen Republik, die seit 1877 von den Radikalen geleitet wurde, verband sie ihr Freidenker- und Freimaurertum. Und während sie den „unerlösten“ Italienern Frankreichs (in Nizza und Savoyen) gegenüber ein Auge zudrückten, ließen sie

 

 

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848 Bismarcks Erbe.

 

der gegen die Donaumonarchie gerichteten panitalienischen Agitation freien Lauf.

 

Bis zum Berliner Kongreß hatte die italienische Politik sich weder an Frankreich noch an Deutschland-Oesterreich fest angeschlossen. Crispi hatte zwar mit Bismarck schon 1877 vorbereitende Besprechungen gehabt, in denen dieser Italien zur Besetzung Albaniens (als Ausgleich für Oesterreich-Ungarns Neuerwerbung von Bosnien und Herzegowina) riet. Crispi lehnte ab: „Wir würden nicht wissen, was wir damit anfangen sollten.“ Als er von einer neuen Alpengrenze sprach, winkte Bismarck ab — für den Italiens gutes Verhältnis zu Oesterreich gewissermaßen die conditio sine qua non eines künftigen deutsch-italienischen Bündnisses war.

 

Auch England hatte ähnliche Besprechungen mit Italien gehabt. Ihm war an einem guten Verhältnis zu der neuen Mittelmeermacht um so mehr gelegen, je schneller Frankreich sich von seiner Niederlage erholte und auf Eroberungen in Nordafrika ausging. Italien war, wenn es kein Bündnis mit Frankreich schloß, auf England angewiesen. Bei seiner langen Küste und seinem Kohlenbedarf hat Italien alle seine Bündnisse immer von seiner Stellung zu England abhängig gemacht. Noch vor 1878 bot England Italien einen Meinungsaustausch über Albanien, Aegypten (das damals noch nicht englisch war), Tripolis und Tunis an. Der italienische Außenminister Corti lehnte auch das ab. So ging Italien bei den Vorverhandlungen zur Konferenz, in denen England Cypern, wie auch auf dem Kongreß selber, auf dem Frankreich Tunis versprochen erhielt, selber leer aus. Bismarck soll noch einmal kurz vor dem Kongreß Italien jede Hilfe zum Erwerb von Tunis zugesagt haben. Die italienische Politik aber schwankte hin und her. Als dann im Jahre 1881 Frankreich sich anschickte, mit 3200 Mann Tunis (in dem schon damals mehr Italiener als Franzosen wohnten) zu besetzen, stand Italien mit geballten Fäusten, aber ohnmächtig zur Seite. Es jagte seine verantwortlichen Staatsmänner aus ihren Aemtern und trat am 20. Mai 1883 dem deutsch-österreichischen Bündnis bei.

 

 

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849 Bismarcks Erbe.

 

Der Wortlaut dieses italienischen Bündnisvertrages, bei dem die Monarchen der drei Länder sich verpflichtet haben sollen, gegebenenfalls ihren ganzen persönlichen Einfluß auf seine Innehaltung zu verwenden, ist niemals veröffentlicht worden. Aber auch ohne das war von Anfang klar, daß diese Bindung des dritten Kontrahenten an den Dreibund ganz anders, viel loser sein mußte als die der zwei ersten untereinander.

 

Italien war Land- und Seemacht. Deutschland und Oesterreich-Ungarn konnten ihm immer nur seinen Landbesitz, niemals seine Geltung zur See und die Sicherung seiner langen Küste garantieren. Italien bedurfte also zu dem Dreibund noch einer Ergänzung, nämlich eines Bündnisses mit einer Seemacht. Das konnte nur England oder Frankreich sein. Italien hat lange zwischen beiden hin- und hergeschwankt. Noch nach Abschluß des Bündnisses hat es mit Rücksicht auf Frankreich ein gemeinsames Operieren mit England in Aegypten (gegen den Rat Crispis) abgelehnt. Endlich schwenkte es endgültig an Englands Seite ein, wenn auch ein regelrechter Vertrag zwischen den beiden Staaten nicht geschlossen wurde.

 

Im Schatten dieser Abmachungen begann Italien den zehn Jahre langen Zollkrieg mit Frankreich. Auch in Afrika standen beide Staaten hart gegeneinander — nicht ohne Englands Zutun. Diese Kampfstellung zwischen den beiden lateinischen Staaten dauerte so lange, bis ihre Voraussetzungen hinfällig wurden oder ins Schwanken gerieten. Diese waren der Gegensatz zwischen Frankreich und England einerseits, das auf Gleichberechtigung gegründete Einvernehmen zwischen England und Deutschland andererseits. Mit dem Schwinden des französisch-englischen Gegensatzes mußte auch der französisch-italienische schwinden. Mit dem Aufkommen der deutsch- englischen Spannung mußte sich das Band zwischen Deutschland und Italien lockern. Das ist dann in der Folge auch mit automatischer Selbstverständlichkeit eingetreten. Die Phasen des deutsch-italienischen Verhältnisses fallen immer mit den respektiven Phasen des deutsch-englischen zusammen.

 

Der Dreibund ward unter Bismarck im Jahre 1887 zum ersten Male erneuert. Dabei war von dem italienischen Vertreter

 

 

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850 Kein Versteckenspiel – handeln!

 

Robilant der vorherige Abschluß einer wenn auch nur mündlichen Abmachung mit England im Sinne jener Garantie der italienischen Mittelmeerstellung ausdrücklich gefordert worden. Bismarck war mit dieser Abmachung einverstanden. „In bezug auf Italien hat er stets die Ansicht vertreten, daß das Königreich des maritimen Schutzes durch die englische Flotte niemals ganz entbehren könne und deshalb stets mehr oder weniger auf England Rücksicht nehmen müsse.“

 

Wenn schon die Stellung Italiens im Dreibund von Anfang an problematisch war (niemand rechnete für den Fall eines Krieges mit mehr, als daß Italiens wohlwollende Neutralität einen Teil von Frankreichs Land- und Seestreitkräften band), so ward durch seinen Zutritt zu dem deutsch-österreichischen Bündnis (mit der russischen Versicherung im Hintergrunde) die Stellung Deutschlands doch erheblich gesichert. Man hat durchaus den Eindruck, daß Bismarck durch die stillschweigende Arrangierung der französischen Annexion von Tunis Italien zum Teil in das Bündnis hineingetrieben hat. Indem er Italien so an uns fesselte, lenkte er seiner Lieblingsidee gemäß Frankreich durch koloniale Beschäftigung von allzu lebhaften antideutschen Machenschaften in Zentraleuropa ab. Gleichzeitig band er England durch dessen bedrohte Mittelmeerinteressen an unsere und Italiens Seite.

 

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927 Bismarcks Erbe.

 

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ADOLF KOESTER:

 

Bismarcks Erbe.

 

III. Deutschland und England.

 

ENGLAND hat an keiner einzelnen Großmacht des Kontinents jemals ein dauerndes besonderes Interesse sympathischer oder antipathischer Richtung gehabt. Sein Inselinteresse hat seit Wilhelm III. in der Verhinderung der Vorherrschaft eines einzigen Kontinentalstaates gegenüber den andern, in der Verhinderung der Entstehung einer kontinentalen Solidarität, endlich in der Etablierung und Förderung eines gewissen gespannten Gleichgewichts zwischen den kontinentalen Mächtegruppen gelegen. Daneben hat es bisher jede kontinentale Flotte, die seinem Seehandelsmonopol gefährlich zu werden drohte, vernichtet.

 

Von diesem Grundgedanken britischer Interessenpolitik aus war das Deutschland der Bismarckschen Epoche den Engländern nicht gefährlich, wenn auch zu Zeiten unbequem. Die allmähliche Entstehung eines deutschen Nationalstaates hat das Inselreich zwar mit scheelen Augen angesehen, aber nicht ernsthaft zu verhindern versucht. Es rechnete mit diesem Staat als künftigen Sturmbock gegen Rußland, als Flankendruck gegen Frankreich. Frankreichs Hegemonie war Ende der 60er Jahre um so bedrohlicher, als Napoleon III. starke Interessen für französische Seemacht hatte.

 

 

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928 Bismarcks Erbe.

 

In den 70er Jahren spielt das Verhältnis Deutschlands zu England nach außen keine große Rolle. Die Besetzung der Fidji-Inseln (1874) führte wegen angeblicher Verletzung deutscher Handelsrechte zu erfolglosen Verhandlungen. 1875 beteiligte sich England gern an dem russischen Druck gegenüber angeblichen Angriffsabsichten Deutschlands auf Frankreich (Königin Viktorias Mahnbrief an Wilhelm I., Lord Derbys Bündnisangebot an Graf Andrassy, der hetzerische „Times“-Artikel ihres Pariser Korrespondenten Oppert). Die große Orientkrisis Ende der 70er Jahre sah Deutschland bald an der Seite Rußlands (gegen England), bald an der Oesterreichs.

 

Der Orient (Konstantinopel) war gerade damals der Schauplatz heftiger diplomatischer Kämpfe zwischen England und Rußland. Um den Einfluß des Zarenreiches auf die christlichen Balkanvölker nicht zu groß werden zu lassen, lehnte England den Beitritt zu dem antitürkischen Berliner Memorandum 1876 ab. Disraeli (Lord Beaconsfield) folgte einer alten englischen Ueberlieferung, wenn er so die Türkei unterstützte, um Rußland von Konstantinopel fernzuhalten. Er konnte das um so mehr tun, als der damals drohende Krieg ihm auch für den Fall eines russischen Sieges freie Hand in Aegypten gab, auf das seit der Erwerbung der Majorität der Suezkanalaktien durch die englische Regierung (1875) sein Hauptinteresse gerichtet war. Der jungtürkischen Revolution, die im Jahre 1876 den russenergebenen Sultan Abdul Asis stürzte, stand die englische Regierung nicht fern. Während Gladstones antitürkisches Pamphlet in England reißenden Absatz fand, sorgten seine Anhänger im Parlament dafür, daß es der Türkei nicht ernsthaft an den Kragen ging.

 

Den Ausbruch des russisch-türkischen Krieges vermochte England nicht zu verhindern. Dagegen sandte es seine Flotte in die Dardanellen, als Rußland in bedrohliche Nähe von Konstantinopel vorrückte. Als die harten Bedingungen des Friedens von San Stefano bekannt wurden, zog England eine Viertelmillion Truppen zusammen und schreckte Europa durch eine Kriegsrede Disraelis auf. Rußland gab nach und bequemte sich zunächst zu einer Vorbesprechung mit England (Londoner

 

 

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Memorandum). In diesem sicherte sich England seine gesamte vorderasiatische Position und heimste dazu noch Cypern ein. Auf dem Berliner Kongreß endlich erhielt diese Beschneidung der russischen Eroberungen ihre europäische Sanktion.

 

Bismarcks Stellung zur englischen Politik, deren Unnachgiebigkeit manchmal den ganzen Kongreß gefährdete, war lediglich durch sein Verhältnis zu Rußland und Oesterreich gegeben. Englische Einflüsse bemühten sich, die deutsche Politik damals von dem Drei-Kaiser-Bündnis abzudrängen. Bismarck hielt an ihm fest. Er widerriet der friedlichen Lösung des englisch-russischen Konflikts nicht. Er stand nur insofern und insoweit an Englands Seite, als Englands antirussische Interessen sich mit denen Oesterreichs deckten. Aber auch diese österreichischen Interessen verfocht er nur, soweit als unser gutes Verhältnis zu Rußland damit nicht gefährdet wurde. Die großen Gegenspieler auf dem Berliner Kongreß waren England und Rußland. Einer gerissenen russischen Preßkampagne gelang es jedoch, zur Freude Englands, den verständlichen Unwillen Rußlands über seine diplomatische Niederlage von England auf Deutschland und seinen Makler abzuwälzen.

 

Den Dreibund betrachtete England naturgemäß vor allem unter antirussischem Gesichtswinkel. So unbequem ihm der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag sein mußte, so wenig hatte es Anlaß, dem Dreibund mißtrauisch gegenüberzustehen. Besonders das deutsch-österreichische Bündnis mit seiner rein antirussisch ausgerichteten Defensivpolitik ist an der Themse immer wohlwollend beurteilt worden, so lange die Möglichkeit einer russisch-englischen Verständigung noch in weiter Ferne lag. Aber auch als Italien diesem Bunde beitrat, blieb diese Stellung dieselbe. Wir haben in unserem vorigen Artikel auf die italienisch-englische Entente als Vorbedingung von Italiens Eintritt in den Dreibund hingewiesen. Diese Entente, der Italien den Erwerb von Massaua am Roten Meer verdankt, hat sich in den 80er Jahren besonders auf den verschiedenen Suez-Kanal-Konferenzen gezeigt. Für die deutsche Politik lag kein Anlaß vor, diese englisch-italienische Intimität zu stören — so lange zwischen Deutschland und England

 

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keine ernsthaften Interessengegensätze auftauchten — so lange also England aus eigenem Interesse die Rolle der „ergänzenden Dreibunds-Seemacht“ zu spielen gewillt war. Die russische Rückendeckung sorgte dafür, daß Deutschland als Hetzbund gegen russische Bosporusgelüste von England nicht mißbraucht werden konnte.

 

Deutschland hatte mit England zunächst keine direkten Reibungspunkte. Das Verhältnis zwischen den beiden Staaten war offiziell freundlich. Im Jahre 1880 soll Bismarck den Versuch gemacht haben, mit England zu einem engeren Einverständnis zu kommen. Der Versuch ist nicht an ihm gescheitert. Die beginnende Kolonialpolitik Deutschlands in den 80er Jahren erst läßt gewisse Schwierigkeiten zwischen den beiden Staaten entstehen. Alle diese Schwierigkeiten hat Bismarck zugunsten Deutschlands überwunden, weil er sich durch sein deutsch-österreichisch-russisches Bündnissystem eine starke kontinentale Machtstellung gesichert hatte, die Italien nicht ausschloß und den kolonialpolitischen Gegensatz Frankreichs sowohl wie Rußlands zu England in Kraft ließ oder pflegte.

 

In den 70er Jahren hatte Bismarck ein Angebot der Transvaalburen, sich unter deutschen Schutz zu stellen, notwendig abweisen müssen. In den Jahren 1883/84 konnte er auf Grund seiner Stellung in Europa trotz des Protestes und der Quertreibereien von seiten der englischen Kapkolonie die Besitzergreifung Südwestafrikas wagen. Die Opposition, die diese Besitzergreifung auch in England selber (Lord Granville) fand, hatte ihren Grund in der Befürchtung, Deutschland wolle vom Westen her mit den Burenstaaten in Verbindung treten. Diese „Gefahr“ lag um so näher, als bald darauf Deutschland an der südostafrikanischen Küste (Lucia Bay) ebenfalls Besitzergreifungen plante, die sich mit gleichzeitigen burischen Versuchen, dort ans Meer zu kommen, begegneten. Deutschland erreichte die Anerkennung seiner Südwestkolonie, lehnte aber eine Verpflichtung, sich nicht bis zu den Burenstaaten auszudehnen, ab. England hat diese Möglichkeit bald darauf durch die Annektion von Betschuanaland abgeschnitten.

 

 

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Die Besitzergreifung von Togo und Kamerun ging ebenso unter scharfer Konkurrenz gegen England vor sich. Der Konflikt wegen Kamerun wurde nur dadurch verhindert, daß das englische Kanonenboot 5 Tage zu spät vor Viktoria ankam. Hier wie in Deutsch-Südwestafrika kam es auch nach der Besitzergreifung zu Reibereien mit englischen Kaufleuten und Konsuln, die von ihrer Regierung mehr oder weniger gestützt wurden. Diese Reibereien führten zu langwierigen Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen (und nachher im Reichstag). Bismarck setzte überall seinen Willen gegen die „unselbständige‘“ Politik Englands durch.

 

Der französisch-englische Gegensatz im Mittelmeer, besonders in Aegypten, spielte bei Bismarcks Politik gegenüber England jahrelang eine große Rolle. Frankreich hatte in Aegypten starke Interessen. Aber seit Disraeli für England die Majorität in der Suezkanal-Aktiengesellschaft gesichert hatte, schwand sein Einfluß in dem nominell noch zur Türkei gehörigen Staat des Khedive. Am oberen Nil errichtete Gordon einen gewaltigen englischen Schutzstaat, dessen südlichen Teil der Deutsche Eduard Schnitzer als Statthalter verwaltete. In Aegypten selber brach 1882 ein Aufstand aus, der zum englisch-französischen Bombardement von Alexandria und darauf zur Landung von englisch-indischen Truppen führte. Da Frankreich sich zur energischen Mitwirkung in Aegypten nicht entschließen konnte, besetzte England provisorisch allein das Land, aus dem es nie wieder fortgegangen ist. Frankreich hatte damit seinen Anteil am Kondominium eingebüßt.

 

Bismarcks ägyptische Politik ist noch rein kontinental orientiert. Ohne eigene weltpolitische Interessen (denn die deutschen Kolonien wurden unter Bismarck vor allem als rein kaufmännische Schutzgebiete betrachtet) hat die deutsche Politik in den 80er Jahren mit großem Geschick in der ägyptischen Frage ihr Gewicht bald in die englische, bald in die französische Wagschale geworfen — immer auf nichts weiter bedacht, als ihr europäisches Bündnissystem mit allen Mitteln zu sichern. Schon 1876 hatte Bismarck die Engländer zur Annexion des Nillandes ermuntert. In den folgende Jahren der Ministerschaft

 

 

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des kolonialspröden Gladstone setzte er diese Methode fort. England geriet durch die Kämpfe am oberen Nil in immer größere Schwierigkeiten. Und die französische Mißstimmung gegen das Inselreich fraß immer tiefer. Das hinderte Bismarck nicht, in den folgenden Jahren umzuschwenken und auf der internationalen Konferenz der ägyptischen Gläubigermächte mit Rußland zusammen Frankreich zu unterstützen. Im Jahre 1866 wünschte England eine neue Anleihe für Aegypten aufzunehmen. Frankreich verweigerte ohne Kompensation seine Zustimmung. Bismarck stellte sich auf seiten Frankreichs. Er riet England nachzugeben, sich mit Frankreich zu verständigen und bei den Drei-Kaiser-Mächten um Zustimmung nachzusuchen. England bequemte sich daraufhin zur wiederholten Neutralitätserklärung des Suezkanals. Es mußte nachgeben — geschreckt durch die Möglichkeit einer deutsch-französischen Verständigung.

 

Zwei Jahre vorher hatte England versucht, durch eine Verständigung mit Portugal die neugegründete Kongo-Gesellschaft vom Atlantischen Ozean auszuschließen. Zur Durchquerung dieses Planes berief Bismarck im Einverständnis mit Frankreich die Kongo-Konferenz nach Berlin, die dem nunmehr als unabhängig anerkannten Kongostaat den freien Ausgang zum Meer und allen europäischen Staaten die Freiheit des Handels in dem neuen Riesenreich garantierte. Mit derselben Mächtekonstellation Deutschland-Frankreich hatte Bismarck schon im Jahre 1880 auf der 1. Internationalen Marokko-Konferenz in Madrid gegenüber englischen Protektoratsabsichten auf Marokko die Souveränität des Scherifenreiches festgelegt.

 

So bediente sich die deutsche Politik bald Frankreichs, bald Rußlands gegenüber England. Im Schatten seines Bündnissystems nutzte Bismarck alle englischen Schwierigkeiten dazu aus, seine Bündnisse zu stärken, Vorteile in Afrika und der Südsee zu erlangen, sich nicht mit England zu überwerfen, ihm manchmal vielmehr weit entgegenzukommen, aber zugleich doch die mit dem Fehlen einer deutschen Flotte gegebene Gefahr einer deutschen Vasallenschaft gegenüber England ängstlich zu vermeiden. Erst im Lichte der großen Schwierigkeiten

 

 

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Englands in Oberägypten sowohl wie in Südafrika (Buren-Aufstände nach der Annexion von 1877) wird der Erwerb unserer Kolonien ganz klar. „England ist freilich zu Lande für uns unerreichbar. Indessen bietet die allgemeine Politik Handhaben genug, um auch England zu veranlassen, uns in fremden Erdteilen unbehelligt zu lassen.“ Bismarck hat gegen England immer nur indirekt gespielt.

 

Diese souveräne Methode, mit der Bismarck — gestützt auf sein kontinentales Bündnissystem — die deutsche Politik gegenüber England handhabte, verursachte in London stärkstes Unbehagen. Englands Außenminister Lord Granville erklärte öffentlich, daß Deutschland hinter Frankreichs Rücken sich mit England über Aegypten verständigt habe. Darauf lehnte Bismarck jede vertrauliche Auslassung auf amtliche englische Anfragen für die Zukunft brüsk ab, bis sich schließlich Lord Granville im Oberhaus wegen seines „Mißverständnisses“ entschuldigte. Dabei fiel das Wort, Deutschlands Politik habe England genötigt, to abdicate all liberty of action in colonial matters, d. h. „auf jede Handlungsfreiheit in kolonialen Dingen zu verzichten“.

 

Wie falsch das war, zeigt das Riesentempo, in dem England gerade unter Bismarcks Kanzlerschaft seinen Imperialismus ausgebaut hat. Es hat im Jahre 1874 die Fidji-Inseln erworben und Britisch-Nordamerika mit Kanada zusammengegliedert, 1875 die Aschantis unterjocht und die Suezkanalaktien erworben, 1877 Transvaal in Abhängigkeit gebracht, 1878 sich Cypern versprechen lassen, 1880/81 in Afghanistan seine entscheidende Position eingenommen, 1882 sich in Aegypten festgebissen, wo es im Sudan seit den 70er Jahren ein ungeheueres Reich erobert hatte, 1883 Neu-Guinea, 1886 Birma und 1889 Rhodesia in Besitz genommen. Dagegen konnten die verbindungslosen Fetzen, die der deutsche Imperialismus in Afrika an sich riß, gar nichts besagen. Um so mehr fraß sich schon unter Bismarck in großen Kreisen Deutschlands die Ueberzeugung fest, daß England auch nicht die geringsten Konzessionen an eine etwaige weitere Expansion Deutschlands zu machen gewillt war.

 

 

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Ueberblickt man Bismarcks Politik gegenüber England im Ganzen, so zeigt sie dasselbe virtuose Lawieren gegenüber dem Inselstaat wie gegenüber Rußland und Oesterreich. Bismarck weist eine prinzipielle anti-englische Parteinahme zugunsten Frankreichs zurück. „Wir können in Frankreich das Maß an Wohlwollen nie gewinnen, welches uns für die (dann notwendig folgende) Verstimmung in England Ersatz bieten könnte.“ Ebenso hält er sich zwischen Rußland und England in der Schwebe: „Wir würden unsere Fühlung mit England sehr leicht in eine intime verwandeln können, wenn wir, was nicht unsere Absicht ist, unsere russische Freundschaft der englischen opfern wollten. England hat von Rußland immer mehr zu fürchten als zu hoffen, aber in Verbindung mit Oesterreich und Italien könnten wir ihm eine starke Deckung gewähren, wenn Rußland uns die Freundschaft kündigte.“ Er durchschaute die wiederholten englischen Versuche (z. B. bei dem Besuch des späteren Königs Eduard VII. im Mai 1884), Deutschland von Rußland loszureißen. Wie er selber alles vermieden hat, eine Situation herbeizuführen, in das Deutschland zum Sturmbock Englands wider Rußland wird, so hat er auch Oesterreich immer wieder gewarnt, sich im Orient durch England gegen Rußland vorschieben zu lassen. Das englische Angebot (1885), als die englisch-russische Spannung über Afghanistan in Krieg umzuschlagen drohte, das Schiedsrichteramt zu übernehmen, hat er glatt abgelehnt. So lawierte er hin und her, sich England bald nützlich, bald gefährlich machend. Wie er durch die Schürung des Gegensatzes Italien-Frankreich ersteres in den Dreibund, des Gegensatzes England-Frankreich resp. England-Rußland ersteres an die Seite des Dreibundes trieb, haben wir oben gesehen. „Es war in gewissem Sinne die Höhe seiner politischen Leistung, ein Meisterwerk freier realistischer Beherrschung der lebendigen Kräfte, die Staat und Geschichte erfüllen.“

 

Die deutsch-russische Spannung Ende der 80er Jahre führte England und Deutschland noch einmal näher zusammen. Aber die letzten Jahre der Bismarckschen Kanzlerschaft zeigen Anfänge einer deutsch-englischen Spannung, die mit den Mitteln

 

 

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des bisherigen Bündnissystems schwer zu lösen waren, denn die weltpolitische Entwicklung des Reiches, die zu jener Spannung führte, unterwühlte zugleich das Rückversicherungssystem, das bisher ein fester Pfeiler der deutschen Politik gewesen war. Die deutsche Kolonialpolitik war über ihre rein handelsmäßig-kaufmännischen Anfänge hinausgewachsen. In Deutsch-Ostafrika, der ersten wirklichen Staatskolonie, rang Ende der 80er Jahre zum ersten Male der junge deutsche Imperialismus mit dem englischen um Sansibar, Uganda, Witu und die Somaliküste. Das Ende dieses Ringens geschah durch einen Vertrag, den Bismarck selber nicht mehr geschlossen hat. Aber schon hatte die deutsche Politik gleichzeitig nach einer anderen Richtung die Fühlung genommen und Fäden gesponnen, die damals noch unscheinbar dünn und lose, aber in späterer Entwicklung von höchster weltpolitischer Bedeutung waren. Nachdem schon früher eine deutsche Militärmission nach der Türkei abgegangen war, erhielt am 4. Oktober 1888 die Deutsche Bank die Konzession zum Bau einer Eisenbahn von Konstantinopel (Haidar Pascha) nach Angora. Damit drang der junge deutsche Imperialismus in ein Gebiet, das jedem Panslawisten heilig war. Frankreich sah sich in seiner uralten Vorherrschaft in Kleinasien bedroht. Und dem weitschauenden England, das seine ägyptische Brücke von Indien nach Südwestafrika eben fertig wähnte, konnte nicht verborgen bleiben, welche Konsequenzen eine energisch fortgesetzte deutsche Orientpolitik für seine eigene weltpolitische Position bedeuten würde.

 

Es ist müßig zu fragen, ob unter Leitung Bismarcks die deutsche Orientpolitik die später eingeschlagenen Bahnen verfolgt — und wie sie die tatsächlichen Schwierigkeiten mit England und die drohenden mit Rußland bewältigt hätte —, ob die nach der Kündigung des Rückversicherungsvertrages automatisch erfolgte Annäherung zwischen Frankreich und Rußland hätte vermieden oder durch eine prinzipielle Verständigung mit England hätte paralisiert werden können. Tatsache ist nur, daß am Ende von Bismarcks politischer Laufbahn die deutsche Außenpolitik plötzlich vor schwierigen weltpolitischen Fragen stand — aber nicht minder, daß Bismarck es bis zuletzt verstanden

 

 

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hat, das immer stärker werdende englische Gegenspiel meisterhaft zu durchkreuzen. Das wird nicht am wenigsten bewiesen durch den Anteil, den die englischen Einflüsse am Hofe des jungen deutschen Kaisers an seinem Sturze gehabt haben.

 

Das Verhältnis der Bismarckschen Politik zu England weist neben dem sachlichen noch ein persönliches Moment auf, ohne dessen Berücksichtigung die Bismarcksche Periode nicht richtig beurteilt werden kann. Was den Leiter der auswärtigen Politik Deutschlands zu Rußland hinzog, die Wucht der monarchisch-konservativen Tradition, das machte ihn England gegenüber spröde. Obwohl persönlich ein Bewunderer des national geschlossenen Volkswillens Englands, hat er das Mißtrauen und eine gewisse Abneigung gegen Englands Parlamentarismus niemals abgelegt. (Bündnisse mit einem Staat, dessen Regierung von wechselnden Majoritäten abhing, schien ihm untunlich.) Diese persönliche Stimmung ist nicht ohne Einfluß auf seine auswärtige Politik geblieben, wenn er selber ihr auch weniger Raum gab als Wilhelm I. Mit einer gewissen Bitterkeit erinnerte er sich verschiedener Anlässe, bei denen einst England der Großmachtpolitik gerade seines preußischen Staates Steine in den Weg gelegt hatte. Dazu kam, daß vom Anfang bis zum Ende seiner politischen Laufbahn ihm das, was er die „englische Krankheit“ nannte, das Leben sauer gemacht hat. In Gestalt jenes Gothaer Liberalismus, der glaubte, Preußen brauche sich nur von Rußland abzuwenden, um von England zu einer europäischen Großmacht erhoben zu werden. Oder in Form jener englisch-europäischen Einflüsse, die 1870 die Beschießung von Paris aus Gründen der Humanität verhindert wissen wollten. Oder endlich (am schwersten) durch die Personen der alten Kaiserin und der jungen englischen Königstochter, die beide in den großen und kleinen Fragen der Politik Bismarcks eifrigste Gegenspielerinnen waren. Dies alles bewirkte, daß der Leiter der auswärtigen Politik Deutschlands zu England und englischem Wesen immer mehr in ein innerlich antipathisches Verhältnis kam. Diese Antipathie hat durch ihn auf weite Kreise des deutschen Volkes lange nachgewirkt.

 

 

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ADOLF KOESTER:

 

Bismarcks Erbe.

 

IV. Deutschland und Frankreich.

 

Das Frankreich nach dem Frankfurter Frieden war zunächst ein Zwitterding von Monarchie und Republik — mit einer Nationalversammlung von antirepublikanischer Mehrheit unter dem Präsidenten Marschall Mac Mahon. Die deutsche Politik hat, wo sie konnte, die Republik gefördert. Bismarck sah in einer kommenden klerikalen Monarchie drohende Kriegsgefahren

 

 

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und die Möglichkeit einer Verständigung zwischen Oesterreich und Frankreich auf Kosten Deutschlands. In seinem Konflikt mit Harry Arnim, zeitweiligem deutschen Botschafter in Paris, spielten dessen legitimistische Intriguen bei Wilhelm I. zugunsten einer französischen Monarchie eine große Rolle.

 

Bevor dieser halbmonarchistische Zwischenzustand im Jahre 1877 durch definitiven Uebergang zur Republik mit republikanischer Mehrheit aufhörte, gab es zwischen Frankreich und Deutschland eine kriegerische Spannung, deren Wurzeln nicht ganz geklärt sind. Auf deutscher Seite scheint der preußische Generalstab (in Verbindung mit dem angenommenen französischen Armee-Kadergesetz), auf französischer Seite eine monarchistische Clique, an deren Spitze der Außenminister Decazes stand, ernstlich den Krieg ins Auge gefaßt zu haben. Dazu kamen mißverständliche und ungeschickte diplomatische Redereien auf beiden Seiten. Bismarck war gegen diesen Präventivkrieg. Aber die Kriegsgefahr schreckte England und Rußland auf, die beide gegen den vermeintlichen Friedensstörer in Berlin schweres Geschütz auffahren ließen. Bismarck betrachtete die von ihm nicht ungern gesehenen Kriegsartikel in der deutschen Presse lediglich als warnenden „kalten Wasser- strahl“ an die Adresse Frankreichs und war sehr erbost, als Gortschakoif sich hernach an den Höfen als Friedensstifter Europas aufspielte. Die Krise zeigte eine erste Annäherung zwischen Rußland und Frankreich. „Die Interessen unserer Länder sind gemeinsam“ — äußerte der Zar gegenüber dem französischen Gesandten in Petersburg. Das war ein Jahr vor den Gasteiner deutsch-österreichischen Bündnisverhandlungen.

 

In den nächsten Jahren besserte sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. Der Bismarcksche Kulturkampf brachte eine Zeitlang sogar gewisse innere Beziehungen zu der antiklerikalen jungen Republik, die schwer mit der mon- archisch-klerikalen Opposition zu ringen hatte. Oambetta weilte zweimal in Deutschland, wobei jedoch Versuche einer mündlichen Verständigung mit Bismarck von beiden Seiten als verfrüht fallen gelassen wurden. Zeitweise Ausbrüche

 

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980 Bismarcks Erbe.

 

nationaler Leidenschaft in Paris konnten nicht verhindern, daß Frankreichs eifrige Kolonialpolitik die beiden Länder einander näherte.

 

Diese französische Kolonialpolitik, deren Seele Jules Ferry war, ist von Bismarck jahrelang mit Absicht gefördert worden. Er sah in ihr das beste Mittel, die Augen des Landes von der schmerzhaften Vogesenwunde abzulenken. So hat er Frankreich zu Tunis verholfen (Brief vom 2. Mai 1881 an Ferry), hat auf der Kongo-Konferenz an seiner Seite gestanden und die französischen Eroberungen in Hinterindien und Madagaskar diplomatisch unterstützt. Diese aggressive Politik brachte die Republik, der seit Mac Mahons Abdankung Grévy „im Frack“ präsidierte, in einen gewissen Gegensatz zu England und machte sie auf der anderen Seite von Deutschland nicht unabhängig.

 

Jules Ferry stürzte, noch bevor der Friede von Tientsin die französischen Eroberungen in Hinterindien zum Abschluß gebracht hatte. Die Rechnung, Frankreichs Revanchegedanken dauernd durch Kolonialpoiitik niederhalten zu können, stellte sich als falsch heraus. Die nächsten Jahre brachten das Land vielmehr in schwere innere Krisen, die mehr als einmal den Krieg mit Deutschland nahe rückten. Es waren die Jahre, in denen die bulgarischen Wirren die Spannung zwischen Oesterreich und Rußland erhöhten. Frankreich konnte im Kriegsfalle mit der Hilfe Rußlands rechnen.

 

Kriegsminister des nach Ferrys Sturz auf Grund einer starken Vermehrung der Monarchisten gebildeten Kabinetts war General Boulanger. Dieser ließ sich, von der Volksstimmung getragen, zu demonstrativen militärischen Grenzmaßregeln (Truppenzusammenziehungen, Barackenbauten usw.) gegen Deutschland hinreißen, die hier in Verbindung mit der neuerlichen Verstärkung des französischen Heeres die Befürchtung eines französischen Rachekrieges wachriefen. Da gleichzeitig die französische Partei am russischen Hofe wieder Oberwasser zu haben schien (der erste Rückversicherungsvertrag war ohne Erneuerung abgelaufen), so antwortete Deutschland mit jener großen Heeresvorlage, die eine Verstärkung der Präsenzziffer

 

 

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um 41000 Mann für 7 Jahre (Septennat) festlegte. (Beschlossen am 11. März 1887 nach vorheriger Auflösung durch den sogen. Kartell-Reichstag.) Mittlerweile hatte sich auch das französische Ministerium beruhigt. Jedoch einen Monat später (April 1887) ging der Spektakel wieder los. Ein französischer Grenzkommissar namens Schnäbele war diesseits der Grenze verhaftet worden. Frankreich tobte. Aber das Ministerium lehnte mit 7 gegen 5 Stimmen die Mobilmachung ab, und gleichzeitig ward Schnäbele zurückgesandt, nachdem „festgestellt“ war, daß er nur auf deutsche Einladung hin die Grenze überschritten hatte. Boulanger war fürs erste erledigt. Auf den russischen Zaren aber soll dieses französische Durcheinander einen solch peinlichen Eindruck gemacht haben, daß die panslawistisch-französische Partei an seinem Hofe für eine Zeitlang in Ungnade fiel. So wird das Zustandekommen des zweiten Rückversicherungsvertrages zwischen dem Zaren und Bismarck auch von dieser Seite klar.

 

Neues Wasser auf die Mühle der Boulangisten lieferte der Panamaskandal. Ferdinand Lesseps, der „Gründer“ des Suez- und des Panamakanals, hatte von der Kammer die Erlaubnis zu einer durch das Gesetz verbotenen Lotterie durch Bestechung einiger Deputierter erlangt. Diese Bestechlichkeit des republikan’schen Parlaments in Verbindung mit einem aufgedeckten Ordens- und Aemterschwindel, bei dem der Schwiegersohn des Präsidenten Grévy beteiligt war, rief im ganzen Lande tiefe Erregung hervor, die die Boulangisten geschickt für sich ausnutzten. Grévy fiel. Aber später griff die französische Regierung selber kräftig ein: die revanchetolle Patriotenliga von Paul Deroul&de ward aufgelöst, ihr Führer eingesteckt und Boulanger selber angeklagt. Das war ihm zuviel. Er floh über ee Grenze und starb in Brüssel zwei Jahre später durch eigene Hand.

 

Aber das Bild dieses fortwährend von inneren Krisen durchschüttelten Landes darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Frankreich nach 1871 sich schneller, als man vermutet, konsolidiert hatte, und daß es mitten in allen innerpolitischen Wirren nicht aufhörte, seine Außenpolitik konsequent: auszubauen.

 

 

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Der immer stärker werdende Gegensatz zwischen Deutschland und Rußland zeigte der französischen Politik ganz von selber die einzuschlagenden Wege. Wie Bismarck diesen Gegensatz nicht aus der Welt schaffen, sondern ihm höchstens die Spitze abbrechen konnte, so vermochte er auch die immer größer werdende Intimität zwischen Deutschlands westlichen und östlichen Nachbarn nur dann und wann zu stören, nicht aber zu verhindern. Er hat in Bezug auf das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich sich niemals Illusionen hingegeben. Denn die deutsch-französische Spannung war, abgesehen von der nie ausrottbaren, weil auf innerpolitischen Bedürfnissen der Republik beruhenden Revanchepropaganda, einer der stärksten Posten in Englands politischer Kontinentalrechnung.

 

V. Schluß.

 

Ueberblickt man Bismarcks außenpolitisches System im Ganzen, so ist es zunächst rein kontinental orientiert. Als erstes Ziel schwebt ihm Sicherung des 1871 geschaffenen neuen Staatsganzen vor. Kolonialpolitik wird zunächst nur unter dem Gesichtswinkel des Schutzes deutscher Handelsgesellschaften getrieben. Weltpolitik im Sinne einer zugleich wirtschaftlichen und kulturellen deutschen Expansion (beides zusammen erst ergibt den Begriff eines deutschen Imperialismus) kennt Bismarck noch nicht.

 

Als Mittel zu dieser Sicherung bedient sich der deutsche Staatsmann eines vielverzweigten Netzes von Bündnissen und Abmachungen, direkten und indirekten Drohungen und Förde- rungen. Nach einigem Schwanken rückt in den Mittelpunkt dieses Sicherungsapparates das enge Verhältnis zu Oesterreich-Ungarn — in dem rein defensiv gegen Rußland gerichteten Sinne, so daß weder Deutschland für Balkaninteressen der Donaumonarchie noch diese für deutsche Abrechnungen mit Frankreich engagiert wird. Dieses Bündnis wird flankiert durch die rückversichernde Abmachung mit Rußland, die das österreichische Bündnis korrigiert, die französische auf Rußland schielende Revanchepolitik bändigt und Englands traditionelles Interesse an einer Entzweiung Deutschlands und Rußlands durchkreuzt.

 

 

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Auf der anderen Flanke wird durch den Eintritt Italiens dieses selber von Frankreich dauernd abgedrängt — der natürliche Gegensatz zwischen Oesterreich und Italien auf ein Minimum reduziert —, gleichzeitig auch mit England über dessen antifranzösische Mittelmeerinteressen eine Bindung geschaffen. Zu diesen beiden Flankensicherungen tritt im Spiel gegen Rußland Rumänien hinzu, mit dem Bismarck feste Abmachungen über seine Beziehungen zum Dreibund trifft.

 

Dieses außenpolitische System, ein vielverzweigter, kunstvoller Kräftemechanismus, war vielleicht zu kompliziert — vielleicht zu sehr auf die ungeheure persönliche Begabung seines Schöpfers zugeschnitten. Und wir haben gesehen, wie gegen Ende der Bismarckschen Periode neue Verwicklungen auftauchen, alte sich in ihren letzten Wurzeln zeigen — beide scheinbar nicht mehr mit den alten Mitteln zu lösen. Es war nicht nur das rapide Erstarken Frankreichs, die Zuspitzung des deutsch-russischen Gegensatzes, die eine neue Epoche ankündigten. Es war vor allem das riesenhafte Wachstum Deutschlands selber, das aus dem politischen System seiner bisherigen kontinentalen Orientierung hinausdrängte auf den Schauplatz der imperialistischen Kämpfe zwischen England und Rußland, Amerika und Japan. Aber das ändert nichts daran, daß das außenpolitische System Bismarcks sein Ziel einer möglichst allseitigen Sicherung Deutschlands für seine Zeit tatsächlich in allen Situationen erreicht hat. In seiner Reichstagsrede vom 13. Februar 1896 stellte der Abgeordnete August Bebel für eine deutsche Außenpolitik folgende Richtlinien auf: „Deutschland muß darauf hinarbeiten, daß es das, was ihm als Seemacht nach unsern ganzen Verhältnissen, nach unserer Lage in Europa und nach dem Zustande, in dem wir uns zu den Nachbarstaaten befinden, abgeht, durch entsprechende Bündnisse bekommt. Führen wir eine Politik, die uns in der entscheidenden Stunde auch leistungsfähige Freunde an unsere Seite bringt.“ Wer gelernt hat, daß die Außenpolitik eines modernen Staates etwas anderes als ein Anhängsel innerpolitischer Parteipolitik ist, wird zugeben müssen, daß die Bismarcksche Außenpolitik diese Forderungen für ihre Zeit fast restlos erfüllt hat.

 

 

 

Quellen:

Die Glocke 2. Jahrgang 1917-18 Verlag für Sozialwissenschaft Berlin.

Adolf Koester: Bismarks Erbe.

Artikelfolge in:

Heft 48 vom 24. Februar 1917 S. 806-820

Heft 49 vom 03. März 1917 S. 847-850

Heft 51 vom 17. März 1917 S. 927-936

Heft 52 vom 24. März 1917 S. 978-983

 

Hinweis:

Diese Artikelserie aus der Wochenzeitschrift „Die Glocke“ ist online auf archive.org unter folgenden Links zugänglich:

https://archive.org/details/dieglocke2.191617hefte2853/page/n821/mode/1up

https://archive.org/details/dieglocke2.191617hefte2853/page/n862/mode/1up

https://archive.org/details/dieglocke2.191617hefte2853/page/n942/mode/1up

https://archive.org/details/dieglocke2.191617hefte2853/page/n993/mode/1up

Identifier dieglocke2.191617hefte2853

Identifier-ark ark:/13960/t1wf1vf9h

 

Laut Wikipedia (Stand 11. März 2024 09:20 Uhr) war Adolf Köster (*1883 1930) vom März bis Juni 1920 deutscher Reichsaußen- und vom Oktober 1921 bis November 1922 Reichsinnenminister. 1923 wurde er deutscher Gesandter in Riga, 1928 in Belgrad. Vom Apostolischen Nuntius in Deutschland, Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., ist das auf Köster bezogene Zitat überliefert: „Wenn es mehr solcher Deutscher gäbe, stünde es besser in der Welt“.

 

 

 

 

 

 

 

 

Gervais: Friedrich II. von Sommerschenburg

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21 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
§. 7.
Die Pfalzgrafen Friedrich II. von Sommerschenburg und Friedrich V. von Goseck.
„Die Wahl eines Königs war nie schwieriger und bedenklicher, als nach dem Tode Heinrichs V. Die Spannung zwischen Nord- und Süd-Deutschland, zwischen den
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22 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Gegnern und Anhängern des ausgestorbenen fränkischen Hauses war zu groß, als daß ein Erwählter der einen Partei der andern gefallen konnte. Billig war es, einmal wieder aus den Sachsen, die seit hundert Jahren keinen König ihres Stammes aus Deutschlands Thron gesehen hatten, und fast eben so lange vom Druck des fremden Herrschergeschlechts bedroht gewesen waren, das Reichsoberhaupt, zu wählen. Erforderlich war zugleich ein Mann, der die Spaltung im Reiche aufhob , der Friede und Ordnung herstellte, das gesunkene Ansehen des Königs zu altem Glanze erhob, vor Allem dem immer noch vorhandenen Kirchenschisma zwischen Papst- und Kaiserthum nach dem eingegangenen Wormser Concordat auf friedliche Weise ein Ende machte. Allen diesen Bedingungen schien der Herzog Lothar von Sachsen am besten zu entsprechen. Zwar war er schon ein Funfziger, doch noch in voller Mannskraft. Daß ihm kein Sohn zur Seite stand, der sein Nachfolger zu werden versprach, konnte in einem Wahlreich nicht bedenklich, ja fast erwünscht sein. Denn so blieb für die Zukunft den Fürsten wieder eine freie Wahl, die stets benommen war, wenn ein Kaiser schon bei Lebzeiten seinen Sohn zum römischen König ernennen ließ. Der Kirche hatte Lothar sich stets gerecht und geneigt erwiesen, ohne sich ihr sklavisch hinzugeben. Nicht gegen die kaiserliche Majestät, nur gegen willkührliche Eingriffe der beiden letzten Heinriche und deren Anhänger war sein Schwert gezückt und zur Gegenwehr bereit. Mit der Wahl Lothars hätten ohne hartnäckige Parteisuche alle deutsche Fürsten sehr zufrieden sein können, und den Sachsen wäre dadurch eine schuldige Gerechtigkeit erwiesen. So aber sehen wenige neue Geschichtschreiber die Wahl Lothars an. Man hat behauptet, Friedrich von Schwaben, dem von Heinrich V. designirten Nachfolger und nächsten Verwandten der fränkischen Kaiser, dem reichen, jüngern, kräftigern
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23 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Fürsten Süd-Deutschlands hätten Krone und Scepter, die ihm zur Aufbewahrung anvertraut waren, mehr gebürt. Viele sehen in Lothars Erhebung ein Unglück für Deutschland, und nur die Folge von Intriguen, die der Erzbischof Adalbert von Mainz und die päpstlichen Legaten auf der Fürstenversammlung zu Mainz geleitet. Diese Ansichten, die den gleichzeitigen und alten Nachrichten keineswegs entsprechen, zu widerlegen, würde hier zu weit abführen. 1) — Welche Privatinteressen, welche Intriguen auch immer zur Wahl mitgewirkt haben, in dem äußern Verfahren der Fürsten zu Mainz ist — außer etwa des Herzogs Friedrich Betragen — nichts Tadelnswürdiges, nichts Gesetzwidriges vorgefallen, nichts, was nicht den Bedürfnissen und Rücksichten der Gegenwart entsprach, nichts, was die Wahl für ungültig und nachtheilig für die damalige Zeit erscheinen läßt. 2)
Wenn auch nicht alle Thaten, Unternehmungen und
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1) Es soll das von mir in einem besonderen Werke über Lothar geschehen. Es ist zu verwundern, daß noch keine gründliche Biographie dieses Kaisers existirt, der eben so sehr durch seine Stellung zwischen den fränkischen und hohenstaufischen Kaisern, als durch seine Persönlichkeit von der höchsten Wichtigkeit für das deutsche Mittelalter dasteht. Einseitig und parteiisch ist er bald den Saliern, bald den Hohenstaufen geopfert und seine kräftige Selbstständigkeit so ganz verkannt worden. Der große Kampf der Welfen und Hohenstaufen findet in ihm seinen Aufschluß, seine Bedeutung. Die Einheit des Reichs, das Ansehen seines Oberhauptes erscheint unter ihm in einem Glanze, der wenige der fränkischen und kaum einen der hohenstaufischen Kaiser umleuchtet. —
2) Oder will man in dem Aufruf jener andrängenden Laien, die Lothar stürmisch zum Könige begehrten, nur eine List Adalberts erkennen? Lagerten auf dem linken Ufer des Rheins nicht fast nur Nord-Deutsche, und hegten diese nicht das lebhafteste Verlangen nach einem Könige ihres Stammes? Nur ungern hätten sie einen süddeutschen Fürsten, einen Anhänger und Verwandten Heinrichs V. als König gesehen. Eigenes Verlangen trieb sie zu dem stürmischen Aufruf, den Parteihaß später verdächtigend für eine Intrigue derer hielt, welche Lothars Wahl besonders betrieben.
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24 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen
Kriege Lothars mit Ruhm gekrönt waren, seine Gesammtregierung ist eine der glücklichsten und glorreichsten zu nennen. Auswärtige Nationen, die seit Heinrich III. der·deutschen Oberhoheit sich entzogen, erkannten unter Lothar diese wieder an; die nordischen Reiche, die Slavenländer, Italien bis zur äußersten Südspitze der Halbinsel beugten sich vor ihm. Wie er im J. 1133 mit einer kleinen Schaar kühn die Kaiserkrone in Rom errungen, so glich sein zweites Auftreten in Italien, von der ganzen Reichsmacht unterstützt, einem unaufhaltsam fortschreitenden Eroberungszug, und schloß sein thatenreiches Leben mit dem glänzendsten Triumph, den weltliche Größe zu erringen vermag. Nur die Widerspenstigkeit der Hohenstaufen, die tadelnswürdige Selbsterhebung Conrads zum Gegenkönige in Italien, hinderten lange den gemäßigten, friedliebenden Kaiser, die erwünschte Ruhe in Deutschland herzustellen, bis 1135 beide Brüder Friedrich und Conrad sich vor ihm demüthigten, wonach er weise und mäßig nicht nur die alten Lehen und Würden ihnen ließ, sondern durch Zufügung neuer sie an sein Interesse und an das Reich zu fesseln verstand. Fehlte Lotharn auch ein Sohn, den er zum Erben seiner Macht und Würde erzog, so stand ihm doch ein Schwiegersohn in männlicher Kraft zur Seite, der die Stütze des Kaisers in allen auswärtigen und innern Unternehmungen gewesen war, der in den Herzogthümern Baiern und Sachsen, in den eigenen Erbgütern, und in denen, die seine Gemahlin Gertrud als Hinterlassenschaften der nordheimischen, braunschweigischen und suppelingenburgischen Häuser ihm zubrachte, eine Macht besaß, die ihn darum schon zum kräftigsten Nachfolger bestimmte. Doch
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25 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Herzog Heinrich besaß auch alle Eigenschaften, um ein würdiger Herrscher Deutschlands zu werden. In Baiern hatte er bewiesen, wie er langvernachlässigte Ordnung und Ruhe wieder herzustellen , und Anmaßungen der kleinern Fürsten mit Nachdruck zu beschränken verstand. Dabei fehlte ihm die rechte Mäßigung und kluge Nachgiebigkeit nicht. Nur Haß der bezwungenen Vasallen konnte ihn mit dem Namen des Stolzen belegen, den sogleich seine Feinde und Neider als Zeugniß aufgriffen, um ihm die Krone vorzuenthalten. Durch ein arglistiges Verfahren, mit Verletzung alten Brauchs und Hintergehung der meisten Wähler im Reich gelangte Conrad der Hohenstaufe, unterstützt freilich von der Kirche, weil diese Heinrichs überlegene Macht und energische Handlungsweise fürchtete, nach Lothars Tode zum Throne, und vermaß sich für diesen Preis Deutschland und dessen Selbstständigkeit und Einheit zu betrügen. Wie auch der Glanz einiger hohenstaufischen Kaiser Mitwelt und Nachwelt blendete, verkennen läßt sich mit ungetrübtem Blicke nicht, daß der Verfall Deutschlands mit der Erhebung dieses Hauses unvermeidlich beginnen mußte. Die Macht der Welfen war zu groß, um neben der kaiserlichen ohne Gefahr fortbestehen zu können, die Zurücksetzung Heinrichs eine zu große Kränkung für ihn und seine Nachkommen, als daß sie gehorsam sich den Räubern der nach ihrer Ansicht ihnen gebührenden Würde unterwerfen konnten, ein Kampf beider Parteien auch nach so glänzendem Siege wie Friedrich Barbarossas über Heinrich den Löwen für Deutschland verderblich. Conrad III., Friedrich I., Heinrich VI. und Philipp haben ihre Kraft in diesem Kampfe geschwächt, und unter den letzten Hohenstaufen zeigte sich sein Erfolg: Schwäche, Zerrissenheit, fast gänzliche Auflösung des deutschen Reichs! —
Für das Pfalzgrafenthum in Sachsen war die Uebertragung des Königthums von den fränkischen Kaisern auf
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26 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
den eingebornen Lothar, und dann wieder auf das fremde Haus der Hohenstaufen vom größten Einfluß.
Friedrich dem II. von Sommerschenburg war Lothar nicht nur als geborner Sachse, der die Fürsten des Landes zu seiner eigenen Machterhöhung enger an sich ketten mußte, nicht allein als früherer Bundesgenosse in dem Kampfe gegen Heinrich V. willkommen. Aus gleichem Stamme mit den Supplingenburgern, wie wir gesehen, entsprossen, besaßen die Sommerschenburger mit jenen gemeinsam Erbgüter. Nie war deßhalb ein Streit entstanden, da Lothar in dem Herzogthum, Friedrich I. von Sommerschenburg bereits in der Pfalzgrafschaft so reiche und in sich geschiedene Lehen hatten, daß die kleine Hausmacht dagegen als unbedeutend verschwand. Seit Lothar durch die Hand der Richenza der begütertste Fürst fast im ganzen Reiche geworden, lag an dem väterlichen Erbtheil ihm wenig, und gern trat er für die wichtige Freundschaft Friedrichs I. und II. an das verwandte Haus manches der Stammgüter freiwillig ab. 1) Selbst als Friedrich I. in seinem letzten Lebensjahre dem Kaiser Heinrich sich enge anschloß, wurde dadurch das gute Vernehmen mit Lothar nicht gestört. Ob Friedrich II. nach des Vaters Tode wieder den sächsischen Fürsten sich genähert hatte oder ob er auf Heinrichs V. Seite beharrte, ist nicht zu beweisen, aber auch ohne große Bedeutung, weil seit der Aussöhnung zwischen dem Kaiser und den sächsischen Fürsten nur Privatmißhelligkeiten oder vorübergehende Feindseligkeiten den Reichsfrieden unterbrachen, wobei der Pfalzgraf ganz neutral blieb. Seitdem Lothar König geworden war, war Friedrich II.
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1) So Helmstädt u. die Advokatie über das Ludgeri-Kloster. S. über ersteres Conring de antiq. statu Helmstadii. Helmstädt 1665. pag.145. und Meib. script. rer. Germ. III. pag. 149. Vom Ludgeri-Kloster ist unten die Rede. Vgl. Böttiger Heinrich der Löwe Anhang S. 477.
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sein ergebenster Anhänger in Sachsen. An allen öffentlichen Angelegenheiten des Landes nahm er den thätigsten Antheil, begleitete vielleicht den Kaiser auch auf dem gefahrvollen, aber dennoch zum glücklichen Ausgang führenden Feldzuge nach Böhmen, 1) saß mit ihm im Reichs- und Landes-Gericht, wofür viele Urkunden zeugen, die in solchen Fällen, wo es sich um pfalzgräfliche Verrichtungen handelt, oder wo die amtliche Mitwirkung des Pfalzgrafen nothwendig war, zugleich beweisen, daß ihm der gebührende Vorrang vor den andern Landesfürsten, selbst den Markgrafen eingeräumt wurde. Ihm vertraute Lothar auch die Advokatie über das Kloster St. Ludger bei Helmstädt, 2) das er zu seiner Begräbnißstätte bestimmt hatte.
Es zeugt ebensosehr für den religiösen Sinn des Pfalzgrafen als für das Vertrauen, welches geistliche und weltliche Fürsten in ihn setzten, daß ihm viele Advokatien über geistliche Stiftungen übertragen wurden. So war er schon 1121 vom Bischof Reinhard von Halberstadt zum Schirmvogt des Klosters St. Laurentius bei Schöningen eingesetzt worden; 3) so führte er auch die Advokatie über das Stift
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1) Ueber diesen Feldzug geben die ausführlichsten Nachrichten Chron. Bohem. apud Mencken III. 1800 ff. hinter dem supplem. Anonymi. Chron. Saxo ad 1125. Addit. ad Lamb. Schaffn. ad 1126. Chron. Bigaug. pag. 124. Dodechini Append. ad 1126. Rob. de Monte 1127. Annal. Bosov. ad 1126. Otto Fris. de gest. Frid. I. lib. I. cap. 20. Chron. Samp. und Alb. Stad. ad 1126. Es werden nur die sächsischen Fürsten überhaupt als Theilnehmer bezeichnet, und unter den Gefallenen allein die wichtigsten namhaft gemacht. Friedrich von Sommerschenburg kann man zwar durch kein bestimmtes Zeugnis; alsTheilnehmer nachweisen, doch spricht seine Macht und seine Stellung zu Lothar dafür. —
2) Meib. III. pag. 248. Das Kloster lag nach Otto Fris. de gest. Frid. I. lib. I. pag. 21. in proprio (Lotharis) fundo. —
3) Chron. Marienthal a. a. O.
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zu Quedlinburg. Er selbst aber zeigte der Kirche sich dienstfertig durch eine eigne Stiftung. Auf einem, ihm von seinem Schwager Hartwich, nachmaligem Erzbischofe von Bremen, abgetretenen Gebiete erbaute er 1138 das Kloster Marienthal zu Ehren der heiligen Dreieinigkeit, der Mutter Gottes, der Apostel Petrus und Jacobus und des Protomärtyrers Stephanus, begabte es reich mit Gütern, und vollendete den stattlichen Bau erst nach acht Jahren (1146). 1) Für die Erhaltung und den Schutz seines Klosters suchte er selbst bei den Päpsten um Gnadenbriefe nach. 2) Dergleichen, wie man glaubte, gottgefällige Werke waren im Geist der Zeit begründet, und machten die Fürsten im Lande beliebt. Mit solcher Denk- und Handlungsweise vertrug sich aber auch kriegerischer Sinn, ja sogar Bedrückung und Gewaltthätigkeit wider andere als die anempfohlnen Klöster und Kirchen, und auch über unsern Pfalzgrafen werden wir dergleichen bittere Klagen führen hören. Inzwischen erscheint derselbe unter Lothars Regierung nur bei friedlichen Verhandlungen am Hofe des Kaisers , in den Versammlungen der Geistlichen, und bei Stiftung und Verwaltung von Klöstern und Hospitälern. Als im Jahre 1129 die Wittwe Friedrichs IV. von Putelendorf und ihr unmündiger Sohn Friedrich vom Kaiser Lothar genöthigt wurde, den bereits von Friedrich IV. verkauften Hof zu Abenrode dem Käufer Gerhard von Lochtenen abzutreten, so fehlte der Pfalzgraf bei diesem durch kaiserliche Entscheidung zu Goslar abgethanen Rechtshandel nicht, und unterzeichnete die darüber ausgestellte Urkunde als der erste unter den weltlichen Fürsten 3)
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1) Ibid. pag. 246. Ueber die Vollendung und Weihe pag. 255. —
2) Ib. Und in einem Schreiben von demselben Jahre: a Friderico donationes monasterio factas confirmat. Auch Papst Alexander nahm nach dem Aussterben der sommerschenburger Grafen das Kloster in seinen besondern Schutz. —
3) S. Mantissa diplomatum ap. Menck. III. pag. 1014 u. 15
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29 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Im Jahre darauf treffen wir ihn abermals zu Goslar bei Lothar, und als Zeuge in einer Verfügung des Letztern genannt, worin ein Tauschhandel zwischen dem Kaiser und dem Erzbischofe Norbert von Magdeburg geschlossen ist. Hier steht dem Pfalzgrafen der Burgvogt von Magdeburg als der näher Betheiligte voran, während die Markgrafen hier wie in der vorbezeichneten Urkunde ihm nachgesetzt sind. 1) Wo die Verhandlungen dem Wirkungskreise des Pfalzgrafen ferner liegen, wo die Landesfürsten eine Hauptstimme abzugeben hatten, da tritt in der Regel der Pfalzgraf nur unter die Grafen, zu denen er als Landesfürst gehörte, und räumt Land- und Markgrafen den Vorrang ein. Friedrich, welcher der wichtigen kaiserlichen Verhandlung zwar beiwohnte, aber als Pfalzgraf kein Gutachten und keine Prärogative hatte, unterzeichnete sich sammt dem Pfalzgrafen Wilhelm vom Rhein aus diesem Grunde erst hinter den Markgrafen, als den größern Landesherrn, in jenem berühmten Privilegium vom Jahre 1134, 2) wodurch Lothar den Kaufleuten von Quedlinburg gleich denen von Goslar und Magdeburg freien Handel durchs ganze Reich und Zollfreiheit überall außer in Cöln, Thile (?) und Bardewik gestattete. 3) Bei Privatverträgen
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1) Ib. pag. 1015 u. 1016. Die Zeugen: Norbertus Archiep., Udo Cizensis Episc., Anselmus Havelbergensis Episc., Obertus Cremonensis Episc., … Cardinalis, Anselmus Cardinalis, Albero Abbas de Nuenburg, Arnolphus Abbas de Monte etc. Ex laicis Henricus Praefectus praefatae urbis, Frid. Pal. Canc., Conradus Marchio de Within, item M. Conradus de Plotzeca, Ludovicus Comes Thuringiae etc. —
2) Ibid. pag. 1017 u. 1018. —
3) Es wurde in §.2. erwähnt, wie zur Zeit der sächsischen Kaiser der Pfalzgraf in Fällen, die außer seinem Amtskreise lagen, sich gar nicht die Amtswürde beilegte. Im 11. und 12. Jahrhundert ward schon das Beisetzen der Titel üblich. Wir sahen, daß Otto v. Nordheim und Heinrich v. Limburg nach ihrer Entsetzung noch Herzoge genannt werden.
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30 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
sieht man die Zeugen öfters ohne genaue Rücksicht unterzeichnet; darum darf man sich nicht wundern, daß unser Pfalzgraf Friedrich z. B. in einem Confirmationsbrief des Erzbischofs Conrad von Magdeburg nicht bloß hinter den Markgrafen, sondern nach den Grafen als der letzte aller Zeugen sich unterschrieb. 1) In öffentlichen, in Reichs-Verhandlungen aber ward schon im Mittelalter die Etiquette nicht vernachlässigt. Sie beweist in den obenangegebenen Fällen die angesehene Stellung des Pfalzgrafen am Hofe. Selten mochte derselbe bei Reichsversammlungen, zumal in Sachsen, fehlen. Besonders geschieht seiner Erwähnung außer den genannten Hoftagen zu Goslar und Quedlinburg, noch im Jahre 1129 auf mehrern glänzenden Fürstenversammlungen zu Braunschweig 2) Als Lothar den zweiten Römerzug vorbereitete, hielt er zahlreiche Hoftage wie in Sachsen, so im ganzen Reich. Auf einem der letztern 1136 zu Merseburg 3) begleitete Friedrich den Kaiser; eben so 1137 nach Bardewik, 4) wo er zugleich als Zeuge bei Stiftung des Klosters Sigberg 5) erscheint. Als in diesem Jahre Lothar nach Italien aufbrach, kehrte Friedrich nach Hause zurück, und wohnte in demselben Jahre noch einer Provinzialsynode in Halberstadt bei, die Bischof Rudolf daselbst zusammenberufen hatte. Die friedliche Wirksamkeit Friedrichs endete mit Lothars Tode (1138) und in den allgemeinen Parteienkampf für Hohenstaufen und Welfen sah auch er sich hineingezogen. —
Als Friedrich IV. von Putelendorf 1125 gestorben war, mochte seine junge Wittwe Agnes sowohl für sich selbst als für ihre unmündigen Kinder eine zweite Ehe für wünschenswerth
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1) Menck. III. Mantissa dipl. a. a. O. —
2) Meib. Chron. Marienth. Pag. 248. Spangenb. Sächs. Chronik cap. 217. —
3) Chron. Marienth. apud Meib. III. pag. 248. —
4) Meib. III. historia Bardewici pag. 61. —
5) Meib. a. a. O.
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31 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
halten, und ich vermuthe, daß sie schon im Jahre 1126 in Graf Walo von Vekenstedt den Mann gefunden hatte, der sehr geneigt war, ihr seine Hand zu reichen. Dieser Graf Walo überkam von seinem Vater gleiches Namens, der nach mancher verübten Gewaltthat endlich selbst gewaltsamer Weise ums Leben gekommen war, ansehnliche Besitzungen im nordwestlichen Theile des Harzgaus, die er bei den dort schwankenden Grenzen, zumal unter Heinrichs V. unruhigen Regierung, wie eine eigne Grafschaft beherrschte. 1) Da in dem gleichen Gau auch das Gosecker Haus begütert war, 2) so schien eine Verbindung mit Walo für Agnes eine vortheilhafte Partie. Zwar nennt der sächsische Annalist, 3) der von dieser projektirten Ehe spricht, Agnes nicht Tochter, sondern Schwester des Herzogs Heinrich von Limburg, doch da nur jene unter dem Namen Agnes, nicht diese sonst bekannt ist, so darf hier wohl eine Verwechselung der angegebenen Verwandtschaft angenommen werden. Wie dem aber auch sei, durch eine gewaltsame That blieb die Verbindung unvollzogen. Walo, um sich mit Agnes zu verbinden, hatte seine frühere Gemahlin Gisela, eine Tochter des Grafen Dietrich und Schwester Milos von Ammensleben, der auf dem böhmischen Feldzuge seinen Tod gefunden hatte, 4) verstoßen. Ein naher Verwandter, Werner von Veltheim, 5) ein Vasall Heinrichs von Stade,
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1) S. Wersebe's Gauen S.80. —
2) Wie aus der oben angeführten Urkunde Lothars vom Jahre 1129 erhellt, wornach Agnes und ihr Sohn Friedrich den Kauf Friedrichs IV. an Gerhard von Lochtenen bewilligen. Das verkaufte Gut zu Abenrode bezeichnet die Urkunde: hereditatem suam (nämlich Friedrichs IV.) und in pago Hartingo sitam in Ducatu Ducis Henrici. —
3) Ann. Saxo ad 1126. pag. 661. Cum — — Agnetem sororem Heinrici Ducis de Lintburch superducere vellet. —
4) S. Ann. Saxo ad 1126. pag. 659. Der Vater Dietrich war 1120 gestorben. ib. pag. 644. —
5) Werner von Veltheim wurde später in einem Kriege gegen die Slaven bei der Belagerung von Brandenburg (1157) getödtet. Chron. Mont. Ser. ad 1157.
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32 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
und nachmals der Gemahl von dessen Wittwe, einer Schwester Albrechts des Bären, nahm sich der verlassenen Gisela an, und ermordete Walo, als derselbe sich zu einer Zusammenkunft mit Agnes nach dem Harze nahe am Bodefluß in geringer Begleitung begeben hatte. Agnes entfloh dem Rächer nur mit Lebensgefahr. 1) Bei dieser Gelegenheit erfahren wir, daß auch die Sommerschenburger in der Nachbarschaft von Walos Grafschaft und vielleicht in dem vielherrigen Harzgau begütert waren. Denn bald nach Walos Ermordung zerstörte Pfalzgraf Friedrich II. die Veste desselben Derneburg, weil er sie seinen Besitzungen nachtheilig hielt. 2) Dieß geschah sicher nicht ohne des Kaisers Mitwissen und diente zur Aufrechthaltung des Landfriedens, den Walos eigenmächtige Herrschaft lange gestört, und für dessen Herstellung der Pfalzgraf vornehmlich Sorge zu tragen hatte. Ob Agnes nun eine andere Vermählung suchte, erfährt man nicht. Vorläufig hatte sie mit den unmündigen Kindern sich in den Schutz des wackern Grafen Ludwig von der Wipper 3) begeben, dessen Vorfahren schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts in den westlichen Gegenden des Schwabengaus die Gewalt von Gaugrafen übten.
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1) Ann. Saxo berichtet den Vorfall pag. 661. ad 1126. —
2) Ann. Saxo a. a. O. —
3) Das erhellt aus einem Diplom von 1129. Er wird oft ehrenvoll erwähnt und starb 1151. Seine Schwester Friderinde war die Mutter Walos von Veckenstedt.
(Die Fortsetzung folgt.)
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VIII.
Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen
bis zur Uebertragung der Pfalzgrafenwürde an das landgräflich thüringische Fürstenhaus,
von Dr. E. Gervais
(Fortsetzung und Schluß)
Das Fortbestehen der Pfalzgrafenwürde in Sachsen nicht wie bisher unter zwei, wenn auch nahe verwandten Häusern war eben so sehr der Wunsch des Kaisers, als der Sommerschenburgischen Grafen. Friedrich IV. von Putelendorf hatte bis zu seinem Tode den Namen Pfalzgraf geführt, und selbst nach seinem Ableben gab ihm Lothar in der Kaufsurkunde für Gerhard von Luchtenen diesen Beinamen. So lange die hinterbliebnen Söhne Heinrich und Friedrich minorenn waren, stand Friedrich II. von Sommerschenburg allen sächsischen Pfalzgütern vor. Doch auch später sollten sie ihm allein verbleiben. Denn
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96 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
kurze Zeit nach dem Vater, i. J. 1125 1) starb der älteste Putelendorfische Prinz Heinrich. Der jüngere, Friedrich, war früher dem geistlichen Stande bestimmt und in das Stift Magdeburg gegeben worden. Die Mutter suchte nun nach Heinrich's Tode im zweiten Sohn sich die Stütze des Hauses zu erhalten. Listig und ganz im Geheimen wurde er dem Kloster entzogen, und um die Fortpflanzung des Gosecker Stammes zu sichern, ward der noch nicht mannbare Friedrich mit der Tochter des Grafen Sizzo von Kefernberg 2) verlobt. Allein die Mutter und ihre Freunde bekamen es bald mit einem hartnäckigen Gegner zu thun. Der Magdeburgische Erzbischof Norbert, wegen seines streng ascetischen Lebens von Vielen hochverehrt — und nachmals kanonisirt, — wie seiner Härte und Habgier halber von Vielen gehaßt, von den Meisten aber wegen seiner unbeugsamen Consequenz des Willens und Erstrebens gefürchtet, setzte Alles daran, den Klosterflüchtling wieder nach Magdeburg zurückzubringen. Friedrich versicherte den Erzbischof heimlich seines Gehorsams und seiner wahren Neigung, ward aber durch seine Umgebungen genöthigt, öffentlich den Anforderungen Norberts sich zu widersetzen, und die Unlösbarkeit seines Verlöbnißes vorzuschützen. Lothar aber hielt den ihm treu ergebenen Friedrich von Sommerschenburg für den geeignetsten alleinigen Führer der Pfalzgrafenwürde, und schenkte der Vorstellung des Pfalzgrafen, den jungen Goseker Prinzen seiner ersten Bestimmung wieder zu geben, ein geneigtes Ohr. Er hatte sich dem Hause der Agnes gnädig bewiesen, und durfte um so mehr Nachgiebigkeit in Beziehung auf Friedrich erwarten. Ihr Bruder Walram erhielt das Herzogthum Nieder-Lothringen, das von Heinrich V. seinem Vater entrissen worden, zurück 3). Auch noch Andres mochte auf Agnes wirken; genug 1134 kehrte ihr Sohn wieder in den geistlichen Stand zurück, und ward zuletzt Bischof von Prag.
Da Friedrich bei seiner zweiten geistlichen Weihe das männliche Alter noch nicht erreicht hatte 4) und kein gleichzeitiger
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1) Vgl. den Goseker Mönch b. Hoffmann IV. 116. unterm Jahre 1126. —
2) Vgl. den Annal. Saxo a. 1062 p. 498 und p. 599. Felleri ined. monum. p. 587 und Hahn. coll. vet. monum. I, 78.: Sizzo starb 1160 nach Chron. Sampetr. Mehrmals erscheint er als Zeuge. S. Menk. III. p. 1009 und 1135 in Mant. diplom. und P. Langii Chron. Numb. ad 1151. —
3) Lib. de fund. mon. Goz. pag. 118 ad 1134. —
4) Da Friedrich IV. von Putelendorf 1116 Agnes heiratete, konnte Friedrich der zweite Sohn vor 1118 nicht geboren sein, demnach war er 1134 höchstens 16 Jahre alt.
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97 Gervais Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Schriftsteller 1) weder seiner Vermählung mit Sizzos Tochter noch einer Scheidung erwähnt, kann man annehmen, daß Friedrich unvermählt geblieben ist. Schwieriger ist die Frage zu beantworten: wem die Gosecker Erbgüter nach Friedrichs Rücktritt zur Kirche zugefallen seien? Dem Erzstift Magdeburg konnten weder der Kaiser noch die sächsischen Fürsten einen solchen Zuwachs bewilligen, wohl aber·sorgte Norbert dafür, daß Friedrich aus der Güterabtretung gewonnene Summen dem Erzstifte mitbrachte. Die nächste Anwartschaft an das verlassene weltliche Besitzthum hatten die Sommerschenburger und die Grafen von Thüringen als Verwandte, der Kaiser als Erbe eines erledigten Reichsgutes 2). Den beiden Ersten die Gosecker Hinterlassenschaft zuzuwenden, lag in des Kaisers eignem Interesse. So mochte Friedrich von Sommerschenburg die Sächsischen Güter und was Friedrich IV. noch vom Reichsgut als Pfalzgraf an sich gebracht hatte, Ludwig von Thüringen aber die Thüringischen Besitzungen der Gosecker durch Kauf oder kaiserliche Belohnung erlangt haben. Seit 1130 war dieser Fürst, dessen Gemahlin, eine nahe Verwandte der Kaiserin Richenza, bedeutende Güter in Hessen ihm zugebracht hatte, an Stelle des entsetzten Hermann von Winzenburg zum Landgrafen erhoben 3),
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1) Erst neuere Schriftsteller, wie Leuber b. Mencken III, 1877 und die ihm folgen, geben ihm eine Tochter Sophia. Von dieser wird später die Rede sein. —
2) Vergeblich suchte ich in den Sächsischen Archiven und in Prag über die Gosecker Erbschaft etwas Zuverlässiges aufzufinden. Die Urkunden des Bischofs Friedrich von Prag, die ich durch die Güte des Böhmischen Geschichtschreibers Herrn von Palacky erhielt, enthalten nur Verhandlungen und Verträge aus der Zeit seiner bischöflichen Funktion. Auch über die Geldsendungen Friedrichs nach Sachsen, wovon die Böhmischen Schriftsteller sprechen, erhielt ich keine Bestätigung. — Daß einige Gosecker Güter von Norbert mit Friedrichs und Agnes Genehmigung dem Erzstift zugewendet seien, ist wohl zu glauben. In dem südöstlichen, unbenannten Gau der Gosecker Grafen, treffen wir später die Thüringer Landgrafen als Landesherrn; darum wird die Abtretung derselben an Ludwig wahrscheinlich. Der Sommerschenburger nächste Verwandtschaft mit dem Gosecker Hause konnte und wollte Lothar sicher nicht ignoriren. —
3) Der widerstreitenden Ansicht Wenks stehen die ausdrücklichen Angaben in Ann. Saxo. Chron. Mont. Ser. Chron. Sampetr. ad 1130. Alb. Stad ad 1144 pag. 164. Lib. de fund. Mon. Goz. pag. 116. entgegen, ebenso die Thüringischen Chroniken, die freilich die Sache sehr ausschmücken.
VI. Bd. 1. Heft 7
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98 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Ludwigs Länderbesitz zu vermehren, waren die Thüringischen Allodien des Gosecker Hauses sehr geeignet. Ohne bedeutende Geldsummen an den Kaiser, den Erzbischof von Magdeburg, die Pfalzgräfin Agnes und ihren Sohn zu entrichten, erhielten wohl Ludwig und der Pfalzgraf Friedrich II. von Sommerschenburg, die neuen Erwerbungen nicht. Dankbarkeit für den Landesgewinn war es vielleicht, was Ludwigs Tochter Jutta, die Gemahlin des Königs Wladislav von Böhmen, bewog, Friedrich von Putelendorf nach dem Tode des berühmten Bischofs Daniel, als dessen Nachfolger nach Prag zu berufen und seine Wahl zu unterstützen (1169) 1). Die Böhmischen Chronisten nennen ihn nur schlechtweg Friedrich den Sachsen und sind ihm abhold, weil er viel Geld zusammenscharrte und seinen Anverwandten schickte. Er erreichte ein hohes Alter und starb 1179 2). Da dieser Friedrich V. von dem Kaiser mit der Pfalzgrafenwürde nie belehnt wurde, thun jüngere Schriftsteller sehr unrecht, wenn sie ihn noch den Sächsischen Pfalzgrafen beizählen 3) Hier mußte seiner Erwähnung geschehen, weil das Aussterben des Goseker Hauses mit ihm von Bedeutung für die spätern pfalzgräflichen Verhältnisse ist, und weil durch Darlegung des Erzählten sich am Deutlichsten der Irrthum derer herausstellt, die ihn zum Pfalzgrafen von Sachsen machen und eine Tochter Sophia zuschreiben. Verfolgen wir nun die Geschichte der letzten Sommerschenburgischen Pfalzgrafen, deren Haus mit dem Gosecker erlosch.
Als Conrad der Hohenstaufe, unterstützt von einigen ränkevollen Geistlichen und wenigen weltlichen Fürsten, die Heinrich’s von Baiern und Sachsen Macht beneideten oder fürchteten, dem auf Pfingsten 1138 festgesetzten Wahltage zu Mainz
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1)Annal. Bosav. und Chron. Pegav. ad 1169. Daniel war schon 1167 an der Pest in Ancona gestorben, und zuerst Gerhard zu seinem Nachfolger bestimmt, der aber vor der Ordination 1168 in Mainz starb, worauf durch Juttas Verwendung Friedrich gewählt wurde. S. Dobner pag. 192. Chron. Pulkawae ad 1170 und Chron. Anonymi ib. 48. —
2) Misc. hist. Bohuslai Balbini Dec. I. lib. VI. part·II. pag. 42 und 43. Friedr. starb am letzten Tage des Jahres 1179, weshalb die, welche das neue Jahr mit Weihnachten beginnen, den Tod unter 1180 angeben. Dobner pag. 395 ad 1179 giebt II Kal. Febr. an. —
3) So Leuber a. a. O. und Grundmann, Gesch. der Pfalzgrafen von Sachsen (Dresdner Manuscript), der doch sonst Heidenreichs Irrthümer gründlich widerlegt, hier aber dessen freilich nicht durchweg richtiger Beweisführung sich ohne allen Grund entgegenstellt.
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99 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen
vorgriff und am 22. Februar zu Coblenz zum Könige sich ausrufen und durch den päpstlichen Gesandten zu Achen krönen ließ, erhoben die Sächsischen Fürsten laute Klage, und als die Anhänger Conrads die Wahl für gesetzlich und allein gültig erklärten, als der neu erwählte Erzbischof von Mainz, Adalbert II., ein Schwager Herzog Friedrichs von Schwaben und Neffe Adalberts I., mit allem Eifer die Partei Conrads mehrte; da sammelten auch die Anhänger Heinrichs in Sachsen, von dem männlichen Geist der Kaiserin Richenza geleitet, ihre Scharen.
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Unerwartet erstand ihnen in Sachsen selbst ein gefährlicher Gegner. Albrecht der Bär, von Lothar (1132) mit der Nord-Mark belehnt, glaubte, nun sei der günstige Zeitpunkt erschienen, seine Ansprüche an das Herzogthum Sachsen, (die er von seiner Mutter Eilika, der ältern Tochter des letzten Billungen Magnus herleitete, während Heinrich von Baiern nur ein Sohn der jüngern Wulfhild war 1), geltend zu machen. Gern unterstützten die Hohenstaufen sein Beginnen, und Conrad bestätigte trotz dem Widerspruch der Sächsischen Fürsten 2) Albrechts Erhebung. Wirklich brachte dieser Anfangs mit glücklichem Erfolg, die Widersacher zum Weichen, ja bedrängte hart den Markgrafen Conrad von Meißen, den Pfalzgrafen Friedrich, Rudolf von Stade und andere Anhänger Herzog Heinrichs 3). Dieser hatte noch in Baiern seine Macht nicht gesammelt, als König Conrad, von vielen Fürsten begleitet, zu Bamberg erschien 4). Seinen Drohungen und Versprechungen fügten einstweilen sich Richenza, die sächsischen und bairischen Fürsten, ja Herzog Heinrich selbst. Als er aber erkannte, daß der König wo möglich beide Herzogthümer ihm zu nehmen trachte, da brach der verhaltene Groll in offne Kriegsflamme aus.
Auf Baiern, dessen widerspenstige Große früher von Heinrich zu ungewohntem Gehorsam gezwungen worden waren, konnte
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1) Helmold. I. cap. 35. Ann. Saxo ad 1106 und Anonymus de Guelphis nennen Wulfhild die ältere. Heinrich gründete aber seine Ansprüche nicht sowohl auf die Verwandtschaft mit den Billungen, als auf seine Vermählung mit Gertrud und war längst mit Sachsen förmlich belehnt. Wider Beide hatte Albrecht nie Ansprüche zu erheben gewagt; nun aber gestalteten die Verhältnisse sich günstiger, wenn nicht Heinrich und die Sächsischen Fürsten mit Nachdruck entgegentraten. —
2) Ann. Saxo pag. 681 ad 1138. —
3) Ann. Saxo a. a. O. —
4) Dodechini Append. ap. Pist. I. pag. 472. Später erschien Heinrich in Augsburg zur Ausgleichung mit Conrad, doch mit solcher Heeresmacht, daß der König erschreckt über Friedensbruch und Anmaßung klagte, und darin einen Vorwand suchte, Heinrich seiner Herzogthümer zu entsetzen.
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Heinrich nicht zählen. Von wenigen Treuen begleitet, entwich er nach Sachsen. Bald sammelten die, welche zu Bamberg gezwungen ihr Knie vor Conrad gebeugt hatten, sich um ihren rechtmäßigen Landesherzog 1); auch aus Baiern folgten ihm ergeben Anhänger und Vasallen in·Pilgertracht nach, und der scheinbar vernichtete Gegner, dem Baiern durch Leopold von Oestreich, Sachsen durch Albrecht den Bären entrissen werden sollte, stand wohlgerüstet da zum Kampf wider die, welche ihn zu verderben gehofft hatten. Schon zu Goslar, wo Conrad III. um Weihnachten Hof hielt, merkte dieser die veränderte Lage der Dinge. Nur wenige Fürsten waren erschienen und die Reichsangelegenheiten mußten sechs Wochen bis auf einen neuen Reichstag zu Quedlinburg ausgesetzt bleiben. Dieser erschien aber selbst gefahrdrohend für das Reichsoberhaupt, und zwar von einer Seite her, wo Conrad durch die Freundschaft mit dem Papste sich für sicher hielt. Der Erzbischof Conrad von Magdeburg 2), durch Lothar zu seiner Würde gelangt und von demselben mit vielen Wohlthaten überhäuft, hatte zwar bis dahin gegen den Hohenstaufischen König nicht offen Feindschaft gezeigt, war aber stets der Kaiserin Richenza geneigt gewesen, und trat nun, von ihr angereizt, dem Bündnisse mit Herzog Heinrich bei. Conrad III. mochte davon Nachricht erhalten haben. Zwar hatte der Erzbischof, wie die übrigen Sächsischen Fürsten, die in Goslar ausgeblieben waren, versprochen, in Quedlinburg zu erscheinen. Er kam auch, aber mit so kriegerischem Gefolge, daß Conrad dadurch erschreckt die Stadt verließ, und, nun nicht mehr zweifelhaft über die Gesinnung und Absichten der Sächsischen Fürsten, zum Sommer einen Feldzug gegen dieselben beschloß 3). Die Zwischenzeit benutzten die Verbündeten Heinrichs, den Markgrafen Albrecht aus seinen Eroberungen, wie aus seinen Erblanden zu treiben. Gleich nach Pfingsten
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1) Ann. Saxo ad 1139 pag. 681. —
2) Conrad war sehr vornehmen Geschlechts. Alb. Stad. ad 1141: Conradus ex nobilioribus Saxoniae exstitit oriundus, patre Gebehardo de Querfurth, nepote Lotharii Imperatoris , matre vero Oda noncupata, quae fuerat filia Thietmari Comitis consobrini Henrici Regis. —
3) Ann. Saxo a. a. O. und Chron. Saxo ad 1139.
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eroberten und zerstörten sie Plötzke, das Bernhard, der Sohn des Markgrafen, inne hatte 1). Nachdem auch Lüneburg Letzterm entrissen 2), war Heinrich wieder Herr seines ungeschmälerten Herzogthums, das er an der Spitze eines zahlreichen Heeres gegen den König Conrad zu vertheidigen entschlossen war. Schon lagerten beide Herren einander gegenüber, die Anhänger Heinrichs bei Kreuzberg an der Werra 3), die königliche Partei bei Hersfeld an der Fulda; da wußten die Besonnenern in Conrads Heer, vornehmlich der Erzbischof Adalbero von Trier, einen Waffenstillstand zwischen beiden Theilen zu ermitteln 4), worauf jeder in die Heimath zurückkehrte, nachdem man einen Tag zu friedlicher Ausgleichung auf Maria Reinigung zu Worms festgesetzt hatte 5).
Unterdessen hatte ein zweites sächsisches Heer, unter Anführung Rudolfs von Stade und unsres Pfalzgrafen Friedrich, den Markgrafen Albrecht im Bremischen Gebiete überwältigt 6). Der Erzbischof Adalbert von Bremen, war nach Rom gereist. Gleichwohl verschonten Rudolf und Friedrich sein Gebiet nicht, plünderten und zerstörten es, und zwangen Albrecht wieder hinter seinen eignen Mauern Schutz zu suchen, bis die hartnäckigen Gegner auch dort ihn aufsuchten und vertrieben. Aber vor Ablauf des Waffenstillstandes im J. 1139, starb plötzlich Herzog Heinrich zu Quedlinburg, was bei Vielen den Verdacht einer Vergiftung erregte 7).
Nichts desto weniger setzten Heinrichs Anhänger zum
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1) Chron. Mont. Ser. ad 1139. Ann. Saxo p. 682. —
2) Alb. Stad. ad 1139. Vergl. Chron. Sclavor. Helm. I. cap. 56. —
3) Ann. Saxo pag. 682. apud Erneburck statt Creuceburk, wie Helmold I. cap. 56. Chron. Regia S. Pantaleon pag. 431 u. A. haben. Die Annal. Bosav. setzen die Begebenheit fälschlich nach Heinrichs Tode. Ebenso Chron. Samp. ad 1139. Nach Alb. Stad. war auch der Böhmenherzog im königl. Heere. —
4) Ann. Saxo pag. 682. legt den Bischöfen überhaupt das Verdienst bei, die Gesta Arch. Trev. in Martene coll IV. p. 200. dem Erzbischof Adalbert. —
5) Ann. Saxo a. a. O. Alb. Stad. ad 1139. Vergl. Helm. I. 52. —
6) In diese Zeit setzt Alb. Stad. ad 1139. ausdrücklich den Zug gegen Bremen. —
7) Heinrichs Tod melden ohne weitere Verdächtigung Helm. I. cap. 52. Alb. Stad., Chron. Mont. Ser. Chron. monast. Weingartensis ad 1139. Chron. Ursp. pag. 293. Otto Fris. Chron. VII. cap. 25. Ann. Saxo und nach ihm die Chron. Regia S. Pantal. sprechen von dem Gerücht, daß er vergiftet sei.
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Schutze seines 10jährigen Sohnes eifrig den Kampf fort. Albrecht, der nach dem Tode Heinrichs keinen bedeutenden Widerstand mehr erwartete, schrieb einen Landtag nach Bremen aus 1), um sich zum Herzoge von Sachsen ausrufen zu lassen. Kaum entging er den ihn umringenden Feinden, sah seine Vesten Gröningen, Gobelenz, Withecke und sogar sein Stammschloß Anhalt zerstören 2) und mußte endlich zu K. Conrad seine Zuflucht nehmen (1140). Vergeblich suchte dieser durch Vorladungen und Unterhandlungen die Sächsischen Fürsten in ihrer Treue gegen den unmündigen Heinrich — nachmals der Löwe benannt — wankend zu machen; weder zu Worms noch zu Frankfurt (1140) 3) erschienen sie. Auch nützte es Conrad wenig, daß seine Anhänger bei Weinsberg (am 21. December) einen Sieg über Herzog Wolf, den Vertheidiger seines Neffen in Baiern davon trug, da die Macht der Gegen-Partei dadurch nicht einmal in Baiern gebrochen war, und des Königs Thätigkeit an andern Orten gefordert wurde. Auf eine friedliche Ausgleichung mit den Sachsen mußte Letztrer um so ernstlicher bedacht sein, als sein Hauptverbündeter Albrecht von den Gegnern fast all seiner Länder und Burgen beraubt, und selbst die Neumark von Rudolf von Stade eingenommen war 4). Erleichtert wurde die Ausgleichung durch manche wichtige Todesfälle auf beiden Theilen. Einerseits starb Eilika, Albrechts Mutter, die in die Sächsischen Fehden sich gemischt, und nur mit Feuer und Schwerdt aus ihrer Veste Bernburg vertrieben werden konnte 5). Von Welfischer Seite starben bald nach einander , die Kaiserin Richenza, die Seele der verbündeten Fürsten, der Erzbischof Conrad von Mainz 6), welcher die auf dem Reichstage zu Regensburg (am 25. Mai 1141) in friedlicher Absicht erschienenen Sächsischen Fürsten
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1) Ann. Saxo a. a. O. —
2) So nach Ann. Bos. Ad 1140. Annal. Saxo, Alb. Cranz. ad e. a. Liber de fund. coenobii Bigaug. pag. 125. Chron. Mont. Ser. ad 1140. —
3) Alb. Stad. ad 1140. —
4) Alb. Stad. a. a. O. —
5) Ann. Saxo ad 1138 pag. 681. —
6) Eilika starb 1141 nach Alb. Stad. (Chron. Mont. Ser. und Chron. Saxo haben 1142). Richenza starb 1141 nach Alb. Stad. Annal. Bosav. Chron. Saxo, Chron. Mont. Ser. Schon 1140 nach lib. de fund. coen. Big. Der Tod Conrads von Magdeburg erfolgte 1141 nach Alb. Stad. und Chron. Bothonis, 1142 nach Chron. Mont. Ser. und Chron. Saxo. — Adalbert von Mainz starb 1141 nach Chron. Mont. Ser., Dodechin pag. 473. Chron. Sampetr. ad 1141.·
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abermals gegen den König aufreizte 1). Eine Verbindung zwischen der noch jungen Gertrud und Heinrich Jasomirgott von Oestreich, dem das Herzogthum Baiern zugesprochen war, hielt Conrad für geeignet die Gegner zu·beschwichtigen, und sich selbst zugleich ehrenvoll aus der schwierigen Lager ziehen. Zu Frankfurt (10. Mai 1142) erhielt der junge Heinrich das Herzogthum Sachsen wieder, womit dieser und die Sächsischen Verbündeten einstweilen zufrieden gestellt waren 2), obschon der Oheim des Herzogs Welf hartnäckig auf der Zurückgabe Baierns bestehen wollte. Der König selbst feierte auf seine Kosten 14 Tage hindurch die Hochzeit Gertruds und seines Stiefbruders Heinrich Jasomirgott 3). Schon vorher hatten sich die sächsischen Fürsten mit Albrecht versöhnt, ihm seine Schlösser, seine Grafschaft und die Nordmark wiedergegeben 4), welche Conrad, um ihn für das Herzogthum Sachsen zu entschädigen, noch durch die Brandenburger Mark erweiterte, und seine ganze Herrschaft, die früher vom Herzog abhängig gewesen, als unmittelbares Reichslehn ihm übertrug. Um die sächsischen Fürsten ganz zu versöhnen, kam der König im Jahre 1143 nach Sachsen 5), ordnete und schlichtete alle noch obwaltenden Händel, und ward nun erst auch in Sachsen als König anerkannt. —
An diesen Kämpfen der Hohenstaufen und Welfen hatte der Pfalzgraf Friedrich von Sommerschenburg den thätigsten Antheil genommen, und bis z. J. 1142 entschieden auf der Seite der Letztern gestanden. Nachdem Conrad zur Zufriedenheit aller Fürsten den Streit vermittelt hatte, änderte sich das Verhalten des Pfalzgrafen; er trat nun, seiner amtlichen Stellung gemäß, und wohl gleich Conrad seinen Vortheil gewahrend, mit Letzterem in ein enges Verhältniß, während das zu dem jungen Heinrich sich bald loser, ja sogar feindlich gestaltete.
Dazu gaben Händel wegen Stade den ersten Anlaß (1144). Diese Grafschaft war seit den Zeiten Udos I. ein Lehn des Erzbisthums Bremen gewesen 6), und von den Grafen von Stade zu Lehn genommen, obschon diese ein Erbrecht daran zu
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1) Dodechin ad 1141. —
2) Chron. Samp. Annal. Bosav und Dodechin ad 1142. —
3) Chron. S. Pantal. pag. 931. —
4) Alb. Stad. ad 1141. —
5) Alb. Stad. ad 1143. und die Annal. Bosav. berichten es aber schon z. J. 1142. —
6) Wie dieß geschehen, ist freilich dunkel. Vgl. Alb. Stad. ad 1144. und nach ihm Lindenbruch hist. Archiep. Brem. pag. 54.
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haben glaubten. Ob die Nachfolger aus Udos Hause irgend welche Verbindlichkeiten und Dienstleistungen an das Erzstift gehabt, wird nicht berichtet. Wohl aber mußte Friedrich der Engländer, welcher von Udo II. die Grafschaft bis zur Volljährigkeit von dessen Sohne Heinrich zu verwalten berechtigt war, als er nach dem Tode des rechtmäßigen Erben Stade ferner in seinem Besitz behielt, dieses Recht durch Geld vom Erzbischof Adalbert erkaufen und sich zum abhängigen Lehnsmann des Erzstifts machen 1). Hatte dieser Friedrich schon als Verwalter von Stade während der Minderjährigkeit Heinrichs den Oheim des Letztern, Rudolf, erzürnt, so daß aus Beider Zwist im Jahre 1111 ein Kriegsgewitter über ganz Sachsen sich zusammenzog, und der erste Anlaß zu den Kriegen Heinrichs I. wider die Sächsischen Fürsten gegeben wurde, so mußte die förmliche Belehnung Friedrichs mit dem Erbe des Udonischen Hauses die Söhne des Markgrafen Rudolf noch mehr erbittern. Es ist darum wahrscheinlich , daß Graf Rudolf der Jüngere ebenso sehr diesen alten Haß gegen Adalbert als die neue Feindschaft wider Markgraf Albrecht den Bären ausübte, als er in Gemeinschaft mit seinem Schwager Friedrich von Sommerschenburg 1139 die Stadt Bremen zerstörte und ihr Gebiet verheerte. Bald aber gestalteten sich die Verhältnisse zwischen dem Erzstifte und dem Udonischen Hause friedlicher. Als Rudolf II. 1144 von den Ditmarsen erschlagen ward 2), und gleich dem vor ihm gestorbenen Bruder Udo keine männlichen Erben hinterließ 3), war nur noch ein Sprößling des Stadischen Hauses, der jüngste Sohn Rudolfs I., Hartwich, am Leben. Dieser, früh dem geistlichen Stande bestimmt, war beim Ableben seiner Brüder erster Propst des Stiftes Bremen. Um das Erbe seiner Familie zu gewinnen, versprach er, dem Erzstift die Hinterlassenschaft Rudolfs zuzuwenden, wenn dasselbe ihn auf Lebenszeit mit der Bremer Grafschaft, worunter unfehlbar die Grafschaft Stade einbegriffen war, belohne. Gern war Erzbischof Adalbert dazu bereit; denn das Bremer Stift hielt sich nun für den rechtmäßigen Erben der Vorfahren des Propstes Hartwich in Stade wie in mehrern
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1) Lindenbruch hist. Arch. Brem. pag. 50. —
2) Alb. Stad. ad 1144. pag. 163. Chron. Saxo ad 1144. und Lindenbruch hist. Arch. Brem. Pag. 52. Annal. Bosav. ad 1144. und Wolteri Chron. Brem. apud Meibom II. pag. 50. —
3) Alb. Stad. a. a. O.
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kleinern Besitzungen, die seit Udo I. mit der Grafschaft verbunden und von Udo und dessen Nachkommen als Erbgüter angesehen waren 1).
Aber der junge Herzog Heinrich von Sachsen behauptete, der Erzbischof Adalbert habe seiner Mutter Gertrud versprochen, die Grafschaft Stade nach Rudolfs II. Tode ihm zu übertragen 2). War diese Behauptung gegründet, so folgt daraus erstlich, daß Rudolf der Jüngere die Grafschaft Stade als Lehn von Bremen besessen habe. Ob dieses unmittelbar nach Friedrichs des Engländers Tode (1135) statt gefunden, oder erst im Jahre 1142, wo etwa Rudolf für die wieder an Albrecht den Bären zurückgegebene Nord-Mark durch das alte Erblehn seiner Familie mit Bewilligung des Königs entschädigt sein mag, ist schwer zu entscheiden, doch aus dem feindlichen Verfahren Rudolfs gegen Bremen (1139) fast die später erfolgte Belehnung zu vermuthen. Dann entsteht aber die Frage, wer von 1135 bis 1142 die Grafschaft besessen? Darf man der Nachricht eines spätern Chronisten, des Johannes Otho 3), Glauben beimessen, so belehnte Kaiser Lothar, nach Friedrichs Tode Stade als erledigtes Reichslehn betrachtend, damit seinen Schwiegersohn, den Herzog Heinrich, vielleicht mit bereitwilliger Beistimmung des Erzbischofs, der absichtlich das ihm feindliche Haus der Udonen überging, und gegen dasselbe durch zwei mächtige Vertheidiger,
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1) Der Art waren die Erbschaften der Gräfin Ida und des Grafen Friedrich aus England. Lindenbruch pag. 48. Dreimal verheirathet hatte sie eine ansehnliche Nachkommenschaft. Als einer ihrer Söhne, Ecbert, von Udo I. erschlagen wurde, erhob sie anfangs heftige Klagen über den Mörder, sühnte sich später mit ihm aus und setzte ihn sogar an Kindes Statt zum Erben ein. Udo bestellte schon zu seinen Lebzeiten Friedrich den Engländer zum Verwalter von Stade und der Idaschen Erbschaft (S. Alb. Stad. pag. 153b.). Weil Friedrich sammt seiner Mutter und Großmutter durch Schiffbruch an die Bremer Küste geworfen wurden, erklärte ihn Erzbischof Friedrich, auf Herzog Lothars Rath, nach altem Landesrecht für seinen Leibeigenen. Somit gehörte auch Alles, was Friedrich besaß, dem Erzstift. Der Kaiser Lothar dachte aber anders als der Herzog Lothar. Nicht nur, daß er 600 Mark Silber, die Friedrich dem Kloster Harzfeld vermacht hatte, an sich brachte, sondern auch die Besitzungen Friedrichs zog er wahrscheinlich 1136 ein, und belieh mit letztern seinen Schwiegersohn. S. Friedrichs Schicksal und Anfeindungen durch das Udonische Haus bey Alb. Stad. a. a. O. —
2) Alb. Stad. pag. 163b. —
3) Catalogus Episc. et Archiep. Bremens. apud Menk. III. pag. 788. Alb. Stad. ad 1136.
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106 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
wie der Kaiser und Herzog, geschützt zu sein hoffte. Wider solche Macht anzukämpfen waren allerdings die Söhne Rudolfs I. zu schwach. Als 1139 der Krieg zwischen Heinrich und dem Könige Conrad ausbrach, suchten Erstrer und die Kaiserin Richenza so viele Anhänger als möglich in Sachsen an sich zu ziehn. Graf Rudolf und sein Schwager, der Pfalzgraf Friedrich, gehörten zu den bedeutendsten Fürsten des Landes. Da war es, um sie zu gewinnen, kluge Großmuth, Rudolf die Grafschaft Stade zurückzustellen, doch mit der Bedingung, daß nach Rudolfs Tode sie an Heinrich oder seine Nachkommen zurückfallen müsse. Von Erzbischof Adalbert, der überdies abwesend war, holte man schwerlich eine Bestätigung des Vertrages ein, und Rudolfs feindliches Verfahren gegen Bremen beweist, wie wenig jener alte Haß des Grafen wider den Erzbischof versöhnt war. Natürlich aber erscheint es, daß 1142, als der allgemeine Wunsch nach Frieden von König Conrad wie von den Sächsischen Fürsten ausgesprochen wurde, Adalbert von Bremen demselben ein Opfer brachte, das gleichfalls nur in Versöhnlichkeit bestand, daß er 1143 1) die Belehnung mit Stade an Rudolf ertheilte, indeß zugleich der Wittwe Heinrichs das Versprechen, das früher Rudolf gegeben, erneute, nach des Grafen Tod keinem Andren als ihrem damals noch unmündigen Sohne Heinrich die Grafschaft zu übertragen. Dieser Zusage vergaß nun der Erzbischof, als Hartwich mit der versprochenen Vergrößerung der Erzdiöcese ihn gewann 2).
Allerdings lag eine Unregelmäßigkeit darin, daß ein Geistlicher Lehne erhielt, die bisher nur von weltlichen Fürsten verwaltet worden waren; doch ohne Beispiel war dies damals nicht mehr, und eine Folge der Zwietracht und Fahrlässigkeit der weltlichen Fürsten, während die Geistlichen eifrig jeder Sekularisirung entgegentraten. — Der König, der bei der Stadischen Angelegenheit nicht theilnahmlos blieb, wußte nur einen Ausweg, der minder anstößig war. Er gestattete die Belehnung Hartwichs, übertrug jedoch dessen Schwager Friedrich von Sommerschenburg als Genossen in der Verwaltung, das Banner, das Abzeichen der weltlichen Herrschaft im Kriege 3).
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1) S. Harsefeldische Chronik in Vogt monum. ined. I. pag. 128. —
2) Alb. Stad. pag. 163a. Lindenbruch hist. Arch. Brem. pag. 52. Wolteri Chron. Brem. apud Meib. II. pag. 50. —
3) Alb. Stad ad 1144. Wolter Chron. Brem. a. a. O.
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Als nun aber auch Heinrich der Löwe bei Hofe seine Ansprüche geltend machte und heftig über des Erzbischofs Wortbrüchigkeit sich beschwerte, bestimmte Conrad einen Schiedsgerichtstag zu Ramelsloh (1145), auf welchem der Erzbischof und der Herzog selbst den Vorsitz hatten, der Propst Hartwich und der Pfalzgraf Friedrich die Streitfrage vorlegten, und der Bischof Ditmar von Verden, der Markgraf Albrecht, der Graf Hermann von Winzenburg und dessen Bruder, der Graf Heinrich von Dassel, und viele Edle und Ritter als Beisitzer und Zuhörer gegenwärtig waren. Wer aber sollte da entscheiden? Und was konnte aus dem Hin- und Herreden, aus der Darlegung der beiderseitigen Rechtsansprüche erfolgen? Unfehlbar nur das, was wirklich geschah. Anstatt sich zu einigen, entzweite man sich heftig, schritt von Worten zu Thaten, und da die Mannen Heinrichs an Stärke überlegen waren, führten sie den Erzbischof und Propst gefangen nach Lüneburg fort 1), was weder der Pfalzgraf Friedrich, noch der Markgraf Albrecht, noch einer der übrigen anwesenden Fürsten ohne eigne Gefahr zu wehren vermochten. Nun wenigstens hätte man von dem Reichsoberhaupte ein nachdrückliches Verfahren erwartet. Allein Conrad war froh, die Welfen mit sich versöhnt zu haben. Nur die eigne Standhaftigkeit half der Noth der Gefangenen ab. Der Erzbischof verweigerte hartnäckig, an Heinrich das Geringste abzutreten. Heinrich, oder mehr noch dessen Vormünder entließen freiwillig den Erzbischof Adalbert der Haft. Nun wandte sich aber der ganze Zorn der Dienstmannen des Herzogs auf den Propst Hartwich. Herman von Luchov, dessen Verwahrsam der Gefangene übergeben war, konnte denselben vor den Zornigen nicht mehr schützen, und ließ ihn zu Markgraf Albrecht abführen, der ihm sofort die Freiheit gab, und sicher nach Bremen schaffte 2). Heinrich erhielt endlich durch
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1) Alb. Stad. a. a. O. —
2) Mehrere Chronisten der folgenden Jahrhunderte lassen irrthümlich Heinrich jetzt schon in den Besitz von Stade gelangen, z. B. Anonymi Saxonis hist. imperat. apud Menk. III. pag. 107. Bei dem Berichte des Chron. Mont. Ser. ad 1156, also schon unter Hartwichs Episkopat, Heinricus Dux habita cum Bremensi Episcopo discordia urbes et beneficia, quae voluit, ab eo extorsit, darf nicht übersehen werden, daß es auf Geheiß Kaiser Friedrichs zur Strafe für Hartwichs Wegbleiben vom Römerzuge geschah, und daß ein vorübergehender Gewinn kein bleibender Erwerb für Heinrich war. Auch Stade wurde diesem zurückgegeben. Warum Böttiger S. 93. Anm. 104. die Stadischen Händel von 1144 und 45 schwierig und dunkel nennt, begreife ich nicht. Er hätte nicht erst bei Wersebe (Niederländ. Kolonien I. S. 272. nota 68.) Auskunft suchen dürfen, vielmehr verwirrt dieser die Sache, weil er die Zeiten nicht gehörig scheidet und Dinge hineinzieht, die nicht hingehören. Aus den von mir benützten Quellen stellt sich der Streit von 1145 und dessen Ausgang sehr einfach und völlig klar heraus. Die späteren, oft wiederkehrenden Händel mit dem Erzbisthum, welche bald Heinrich bald Hartwich in dem Besitz von Stade zeigen, gehören nicht in unsre Untersuchung. Vergl. darüber Böttiger Heinrich der Löwe Anmerk. 284. —
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seine Uebermacht und Hartnäckigkeit den Sieg, den er zwar unter Adalbert und Hartwich nie vollständig und auf die Dauer erringen konnte. Erst Balduin, der Nachfolger Hartwichs, verzichtete freiwillig zu Gunsten Heinrichs auf die Grafschaft Stade 1).
Dieser Händel mußte hier wegen des Antheils Erwähnung geschehen , den Pfalzgraf Friedrich II. von Sommerschenburg 1144 an der Verwaltung in der Grafschaft Stade und 1145 an der Verhandlung zu Ramelsloh auf König Conrads Verfügung nahm. Es geht daraus hervor, daß Friedrich in jenen Jahren dem Könige wie dem Propste Hartwich nahe gestanden, und seine pfalzgräfliche Würde eine Bedeutsamkeit bei jenen Vorfällen erhielt, da er zugleich, das Reichsoberhaupt dabei vertrat. Nach der Rückkehr Adalberts und Hartwichs aus der Haft, findet sich keine Spur mehr, daß Friedrich an der Verwaltung von Stade einen Antheil gehabt, und wie bis 1145 dem Könige, so steht in den folgenden Jahren der Pfalzgraf wieder dem Herzoge von Sachsen näher. Daraus darf man nicht sowohl auf einen Bruch mit Conrad III. schließen, als vielmehr auf eine Kraftlosigkeit des kaiserlichen Ansehens in Sachsen. Kräftig war allein des Herzogs Ansehn in Sachsen, und Heinrich der Löwe war schon damals bemüht, sich den Pfalzgrafen zum ergebenen Freunde zu machen, ja ihn in eine gewisse Abhängigkeit zu bringen, ein Bestreben, das er später auf alle Sächsischen Fürsten ausdehnte, wozu bis zum Jahre 1175 Kaiser Friedrich Barbarossa ihm selbst die Hand bot, das aber bei den beeinträchtigten Fürsten Erbitterung und offne
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1) Joh. Othonis catal. a. a. O. Balduin (vgl. Wolter b. Meibom II, 53), Propst in Halberstadt, wurde von Heinrich zum Hauskaplan erwählt; als ihn aber das Bremer Kapitel und Friedrich Barbarossa zum Erzbischof verlangten, war auch Heinrich dies erwünscht. Vgl. auch Otho pag.789.
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Feindschaft hervorrief und endlich der Hebel zu Heinrichs Sturze wurde 1).
Bei dem fast ununterbrochen feindlichen Verhältniß zwischen Heinrich und Hartwich, mußte eine Annäherung Friedrichs an Erstern ein Entfremden von Letzterm zur Folge haben. Ein Anlaß hiezu scheint in einer Auflösung früherer verwandtschaftlicher Bande gelegen zu haben. Friedrich II. von Sommerschenburg war mit Lutgardis, Rudolf des Aeltern von Stade Tochter und Schwester Hartwichs, vermählt, die ihm bereits einen männlichen Erben Adalbert und eine Tochter Adelheid geboren 2). Da ihre Mutter Richardis, eine Tochter des Burggrafen Hermann von Magdeburg 3), eine reiche Erbin genannt wird 4), so brachte sie sicher dem Gemahl eine reiche Mitgift, und wurde darum hauptsächlich schon von Friedrichs Vater für ihn gewählt. Ihre Ehe mit Friedrich scheint nicht die glücklichste gewesen zu sein. Unter dem Vorwande zu naher Verwandschaft, welche indeß kaum nach den strengsten Gesetzen der Kirche unzulässig erscheint, da Friedrichs Vorfahr im dritten, der Lutgardis im vierten Gliede aufwärts Brüder waren, wurden sie um die Zeit der Händel wegen der Grafschaft Stade geschieden, worauf Lutgardis noch zweimal sich vermählte, zuerst mit Erich, dem Lamme, Könige von Dänemark, sodann mit dem Grafen Hermann von Winzenburg, mit welchem zugleich sie im Jahre 1152 ermordet wurde 5). Ob Friedrich II. noch einmal sich verheirathete, wird von keinem Schriftsteller berichtet, ist aber mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
Die Scheidung von der Lutgardis war wohl Veranlassung, daß Friedrich von Hartwich sich mehr entfernte und später
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1) Vgl. meine Abhandlung: „Friedrich Barbarossa, Heinrich der Löwe und die deutschen Fürsten in ihren Verhältnissen zu einander“ in den neuen Jahrbüchern für Geschichte und Politik. 1839.
2) Annal. Saxo pag. 655. —
3) Ann. Saxo a. a. O. und Chron. Saxo ad 1162. —
4) Alb. Stad. pag. 164. b. Rudolfus duxit Richardim de Franconia cum multa hereditate. Daß sie keine Frankin war, folgt aus der vorigen Anmerkung, und Scheids Conjektur in: „Hanöverische nützliche Sammlung“ 1757, pag. 1131 nota n. für de Franconia de Frankenleve zu lesen, wird dadurch bestärkt, daß ihr Sohn Udo meist so zubenannt wird. Es ist Schloß Frekleben bei Sandersleben. Vergl. Wersebe, Niederländische Kolonien I. 265. Anmerk. 63. —
5) Alb. Stad. 165· Lutgardis separata a Palatino nupsit Herico, qui dicebatur Lam, regi Danorum. — Saxo Gramm. lib. 14. p. 252. ed. Steph. — Chron. mont. ser. ad 1152. — Chron. Saxo ad 1153 (statt 1152) u. a. m.
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110 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
an der Verwaltung der Bremischen Lehngüter keinen Antheil nahm. Eine natürliche Folge hievon war wiederum, daß der Kaiser, welcher die Bremischen Geistlichen gegen Heinrich begünstigte, gegen Friedrich erkaltete, und der Herzog den Pfalzgrafen an sich zu fesseln suchte. Durch kluge Mäßigung, Wachsamkeit und Sorgfalt für die Provinz 1) wußte indeß Conrad bei aller Machtlosigkeit während seiner ganzen Regierung die sächsischen Fürsten von offnem Widerspruch abzuhalten, so daß auch der Tod der Gertrud das äußerlich friedliche Vernehmen mit ihnen nicht löste, und der Haß zwischen den beiden Heinrichen von Oestreich und Sachsen, Stiefvater und Stiefsohn in Schranken gehalten wurde.
Was die Ruhe in Deutschland noch förderte, und die Fürsten für ein gemeinsam zu erstrebendes Ziel in Einigkeit oder doch in Verträglichkeit erhielt, war die Begeisterung, welche von Rom her und ganz besonders durch den Abt Bernhard von Clairvaux für die feste Begründung des christlichen Glaubens unter den Heiden angeregt wurde. Der Kaiser Conrad, König Ludwig von Frankreich, fast alle Prälaten, Herzoge, Fürsten und Grafen, sammt einer zahlreichen Menge niedrer Krieger nahmen das Kreuz, und zogen (1147) in drei großen Heeresmassen, die Einen wider die Sarazenen des Morgenlandes, die Andern wider die Mauren in Portugal, die Dritten gegen die Slaven in Holstein, Meklenburg und Pommern. An dem Kreuzzuge wider die Slaven nahmen außer andren Sächsischen geistlichen und weltlichen Fürsten auch Adalbert von Bremen, der Propst und Herr von Stade Hartwich, der Herzog Heinrich und Pfalzgraf Friedrich Antheil 2). Gleich nach Beendigung des Kreuzzuges, noch im Jahr 1147, beschenkte Friedrich II. das Lorenz-Kloster bei Schöningen mit mehrern Hufen Landes in Watenstedt 3). Mit vielen Aebten und geistlichen Fürsten wohnte er 1148 einer Synode zu Halberstadt bei, um über das Wohl der Kirchen und Klöster in der Halberstädischen
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1) So hielt er 1146 eine gemeinschaftliche Berathung mit den Sächsischen Fürsten. Alb. Stad. pag. 165. Wie er und Heinrich damals in Verträglichkeit mit Hartwich lebten, beweist eine Urkunde von 1145, in Gerken codex diplom. Brandenburg. II. pag. 341 ff. Vergl. Chron. Saxo ad 1145. —
2) Chron. Mont. Ser. ad 1147. Chron. Saxo ad 1148. (pro 1147.) Helm. I. cap. 62. Alb. Stad. pag. 165b. u. a. —
3) Meibom Chron. Marienth. pag. 249.
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111 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Diöces Berathung zu halten. Als der Bischof Ulrich von Halberstadt und Eberhard der Abt des Klosters St. Ludgers einen Tausch gewisser Ländereien beabsichtigten (1150), waren bei der Verhandlung hierüber zu Supplingenburg der Landesherzog und der Landepfalzgraf und bestallte Schirmvogt des Klosters Friedrich zugegen. Wie sehr ihm dieses Kloster am Herzen lag , beweist der Eifer, mit welchem er schon im Jahre 1145 bei Errichtung eines Krankenhauses der Abt Lambert von Werden unterstützte 1). Gleichwohl war es Friedrich vorbehalten, mit einem der angesehensten Geistlichen, in den heftigsten Streit verwirkelt zu werden.
Der Abt Wigbold von Corvey und Stablo stand wegen vielfach geleisteter Dienste bei Conrad III. und noch mehr bei dessen Nachfolger Friedrich Barbarossa in der höchsten Gunst 2), und wußte durch dieselbe seinen Klöstern und den zugehörigen Kirchen und Stiftungen sehr große Besitzungen zuzuwenden. Auch bei den Päpsten Anastasius und Hadrian genoß er ein unumschränktes Vertrauen 3). Auf ähnliche Weise wie an den Bischof von Osnabrück 4) machte Wigbold an Friedrich II. von Sommerschenburg verjährte Ansprüche. Wigbold klagte 1154 5), daß ihm der Pfalzgraf die Besitzung Hienstedt entzogen, die Dienstmannen des Klosters daraus verjagt, und die Unterthanen desselben feindlich behandelt habe. Dieselbe Beschwerde führte der Abt vor den päbstlichen Legaten in Deutschland. Sie und der Kaiser waren bemüht, die Gewaltthätigkeiten des Pfalzgrafen zu ahnden. Bei Verlust der kaiserlichen Gnade gebot ihm Friedrich, das vorenthaltne Klostergut dem Abt herauszugeben und dessen Unterthanen nicht ferner zu belästigen. Da aber den Kaiser bald darauf wichtige Angelegenheiten ganz in Anspruch nahmen, so glückte es Friedrich von Sommerschenburg sich dem weltlichen Arm des Reichsoberhauptes zu entziehen. Wigbold aber ließ nicht nach, bei den päpstlichen Legaten seine Klagen zu erneuen. Diese wandten sich an Bischof Ulrich von Halberstadt. Friedrich, weil er sich im
1) Meibom a. a. O. —
2) S. Martene et Durand collectio amplissima veter. script. et monum. II. 602. 604. 605. 613. Annal. Corbejens. apud Leibn. II, 308. —
3) S. in der Collectio von Martene et Durand p. 589. 590. 592 und 597 u. ö. —
4) S. über diesen Streit die Coll. Mart. Pag. 578 ff. —
5) Coll. II. Pag. 7.
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112 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Rechte glaubte, und über des Bischofs Einmischung in Zorn gerieth, verachtete nicht nur dessen Mahnungen und Drohungen, sondern erlaubte sich auch, wider ihn seine weltliche Macht zu gebrauchen. Da schleuderte Ulrich den Bannstrahl gegen den vermeßnen Kirchenschänder, wie er ihn nannte 1). Friedrich gab nun gewiß das Kirchengut an Corvey zurück , doch nahm ers später wohl wieder, als die Verhältnisse in Sachsen und im Reiche sich für ihn günstiger gestalteten. Der Kaiser zog am·Ende des Jahres 1154 nach Italien, von wo er erst nach einem Jahre nach Deutschland zurückkehrte, und vor 1156 Sachsen nicht betrat.
Seinen Gegner Wigbold hielten vom Jahre 1156 bis zu seinem Tode die Aufträge des Kaisers in Griechenland entfernt, und Bischof Ulrich zog 1158 nach dem gelobten Lande 2), ward, nach seiner Rückkehr wegen seiner Hartnäckigkeit gegen Papst Alexander III. entsetzt und sah vor 1177 seine Diöces nicht wieder. Den Kaiser fesselte vom August 1158 bis Ende Oktober 1162 abermals der blutige und gefährliche Kampf gegen die Lombarden in Italien. Da verschmähte Friedrich von Sommerschenburg die günstige Gelegenheit nicht, zu dem früher Besessenen wieder zu gelangen und Ulrichs Bannstrahl erfolglos und vergessen zu machen.
Wie Friedrich II.·als Pfalzgraf und Vogt vieler geistlichen Stiftungen heilsam fortwirkte, wird bei der Menge größerer und glänzenderer Ereignisse unter Friedrich Barbarossas Regierung von den Chronisten ungemeldet gelassen, darf aber aus seinem frühern Leben geschlossen werden. Angemerkt findet sich nur noch das Jahr seines in hohem Alter erfolgten Todes, 1162 XIV. Kal. Junii 3). Zu seiner Ruhestätte hatte er bei Lebzeiten schon die Stiftung Marienthal bestimmt, wo im innern Theile des Chors noch Jahrhunderte später ein Leichenstein mit seinem Bildniß und einer ehrenden Aufschrift seine irdischen Ueberreste deckte 4). Ein späterer Geschichtschreiber, der aber aus alten Quellen schöpfte, nennt ihn einen Fürsten durch allgemeines Lob der Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit im Kriege, und Milde im Umgange ausgezeichnet. Seine Gestalt war hoch, und zeigte von innerem Adel und äußerer Würde. Sein
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1) Coll. Martene et Durand II. pag. 573. —
2) Chron. Mont. Ser. ad 1158. —
3) Chron. Mont. Ser. ad 1162 und Chron. Marienthal. bei Meib. III. —
4) Chron. Marienthal. a. a. O.
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113 Gervais, Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
Sohn Adalbert vermachte, um das Gedächtniß des Vaters zu ehren und zu dessen Seelenheile dem Kloster zwei Hufen Landes.“
Quelle:
Gervais: Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen.
in „Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen.
Im Namen des mit der Königl. Universität Halle-Wittenberg verbundenen Thüringisch-Sächsischen Vereins für die Erforschung des vaterländischen Alterthums und Erhaltung seiner Denkmale
herausgegeben von K. Ed. Förstemann“
5. Band (1841) Heft IV S. 21 bis 32 sowie 6. Band (1843) Heft I S. 95 bis 113
zitiert aus Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB)
http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpvolume_00132516
http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpvolume_00132601
Für Interessenten: Die gesamte Geschichte der Pfalzgrafen von Sachsen bis zur Vereinigung des Pfalzgrafentums mit der Landgrafschaft Thüringen findet sich in folgenden Ausgaben o.g. Zeitschrift:
4. Band Heft 3, S. 1 bis 51
4. Band Heft 4, S. 1 bis 49
5. Band Heft 1, S. 1 bis 48
5. Band Heft 2, S. 1 bis 40
5. Band Heft 3, S. 1 bis 40
5. Band Heft 4, S. 1 bis 32
6. Band Heft 1, S. 95 bis 124

Der Pfalzgraf Friedrich II. von Sommerschenburg stiftete das Kloster Marienthal.  Nach Meibom befand sich im unteren Teil des Chores eine Grabplatte. Sie trug eine bartlose Darstellung des Verstorbenen in Rüstung und eine Inschrift.

Inschrift nach Meibom:
Felix sit, Christe, coeli cum civibus iste
Vallis fundator Mariae, virtutis amator,
prudens, magnificus, fidusque comes Fridericus.

Übersetzung:
Christus, glückselig möge dieser Gründer des Klosters Marienthal mit den Bewohnern des Himmels sein, ein Freund der Tugend, der kluge, hochherzige und treue Graf Friedrich.

Quelle: P. J. Meier: Die Bau und Kunstdenkmäler des Kreises Helmstedt. Wolfenbüttel Zwissler 1896 S. 141
sowie Deutsche Inschriften online inschriften.net DIO 4: Kloster Marienthal


Bischof Reinhard von Halberstadt benannte Friedrich II. von Sommerschenburg lt. Chron. Marienthal 1121 zum Schirmvogt des Klosters St. Laurentius (Schöningen). Außerdem führte er die Advokatie über das Stift in Quedlinburg und St. Ludgeri zu Helmstedt.

Das Benediktinerkloster St. Ludgeri zu Helmstedt besitzt ein interessantes Kleinod - einen in Fragmenten erhaltenen Gipsfußboden von ca. 1150 (nach P. J. Meier) mit einer Darstellung der sieben Weisen des Altertums und Spruchbändern.

 

 

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Die Fragmente des Gipsfußbodens wurden 1886 bei Ausgrabungen im Inneren der Kirche zu St. Ludgeri vorgefunden und die Inhalte der Spruchbänder mit dem ersten von 7 Gedichten des Pariser Kodex S. Germ. lat. 1044 in Verbindung gebracht. Dadurch war eine Rekonstruktion möglich. Die Septum Sapientum sententiae sind u. a. veröffentlicht in: Publilii Syri Sententiae, Eduardus Woelfflin, Leipzig Teubner 1869.
Die deutschen Übersetzungen der in den rekonstruierten Spruchbändern abgebildeten Dialoge lauten (von links nach rechts):
Pittakos: "Wer ist reich?"
Solon: "Der nichts begehrt."
Solon: "Wer ist arm?"
Pittakos: "Der Habsüchtige."
Bias: "Welches ist die schönste Mitgift für Frauen?"
Periander: "Ein sittsames Leben."
Periander: "Welche Frau ist keusch?"
Bias: "Die, über die Lügen zu verbreiten sich die Klatschsucht fürchtet."

Die derzeit in St. Ludgeri ausgestellten Fußbodenfragmente stellen nur einen Teil des damaligen Fundmaterials dar. P. J. Meier konnte in seinem Buch:
Die Bau und Kunstdenkmäler des Kreises Helmstedt. Wolfenbüttel Zwissler 1896  S. 26 noch weitere Teile rekonstruieren.

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Weitere Informationen dazu unter: Deutsche Inschriften online inschriften.net DI 61 Nr. 2


Reste eines weiteren Schmuckfußbodens aus der Zeit um 1200 finden sich in der Klosterkirche St. Marien und St. Cyprian in Nienburg.

 




Nienburg an der Saale 1984

In Königslutter beginnt man mit den Vorbereitungen für das 850-jährige Jubiläum der berühmten Benediktiner-Abteikirche St. Peter und Paul, der Stiftskirche Kaiser Lothars.

 

Wenn man an würdiger Gestaltung dieses Jubiläus interessiert ist und weiß, daß die Gründungsurkunde für das Benediktinerkloster Königslutter am 1. August 1135 in Nienburg an der Saale ausgefertigt wurde, dann versucht man, auch mal in diesen Ort hineinzuschauen und nicht nur in Chroniken und Urkunden.

 

Dieser Versuch gelang uns kürzlich und brachte uns erstaunliche schöne Erlebnisse, denen sicher noch weitere folgen werden. Der erste Eindruck war allerdings nicht schön. Ort und Landschaft wirkten wie im Nebel, aber nicht frische Feuchte fiel da auf sie nieder, sondern gräulicher Staub aus der volkseigenen Zementfabrik.

 

An der Klosterkirche wollten wir den Pfarrer fragen, was von der alten Reichsabtei noch erhalten oder bekannt sei. Der Herr Pastor war bei der Stadtkirche. Die hätten da was zu tun, wir könnten aber ruhig hinfahren.

 

Die Stadtkirche liegt inmitten eines Friedhofes, wie das in Kleinstädten üblich ist und auch in Königslutter einmal war. Ein altes schmiedeeisernes Tor grenzte zur Straße hin ab, und dahinter machten einige Arbeiter mit Schippe und Schubkarre, Rechen und rauchendem Feuerchen Frühjahrsputz auf den Friedhof. Gleich den ersten fragten wir nach dem Pfarrer der Klosterkirche.

Wir hatten Glück, er war‘s selbst. Harkte dort zwischen den Gräbern an der Stadtkirche Laub! Am Sonnabendvormittag.

 

Seine Kirche sei offen, werde allerdings gerade renoviert. Und Heimatgeschichtliches erführen wir viel besser beim Hobby-Heimatforscher der Zementfabrik.

 

Dieser, der Typ eines stillen Gelehrten, und seine Frau enpfingen uns freundlich, und beim Abschied stand fest, daß wir wiederkommen und noch viele Informationen über die Kaiser-Lothar-Zeit austauschen werden.

 

Die Klosterkirche, eine dreischiffige, gewölbte gotische Halle von 1242/1280, etwa in den Ausmaßen unserer Stiftskirche, wirkte ohne Gestühl und frisch renoviert gewaltig. Im südlichen Querschiff wurde ein Schraubgerüst aufgebaut. Zwei Schüler versuchten, uns zu führen, und als sie unsere Fragen nicht mehr beantworten konnten, winkten wohl ihre hilflosen Gesten und hilfesuchenden Blicke einen Gerüstbauer herunter. Der Gerüstbauer war der katholische Pfarrer.

 

Als Kenner unseres Kaiserdomes begrüßte er uns herzlich und gab uns bereitwillig vielfältige und erstaunliche Auskunft.

 

Die Kirche wird ohne öffentliche Mittel ganz und gar in Eigeninitiative der drei örtlichen Kirchengemeinden renoviert. Mehr als 100 Drahtbürsten wurden schon dabei verbraucht. Anfangs stand nur ein Wagen mit Hubplattform zur Verfügung, dann „trieb einer ein Schraubgerüst auf“, und man konnte somit auch die Gewölbegrate aus Buntsandstein säubern und die Felder dazwischen tünchen. Nur ein Joch ist noch zu erneuern.

Wir standen staunend da. Das Strahlen des Pfarrers in dem bestaubten Overall sprang auf uns über, aber innerlich keimte eine bittere Erkenntnis: es gibt auch zweierlei Christentum in Deutschland.

Der Vertreter des gemeinschaftlichen und tätigen unterbrach mein Sinnen nach einer treffenden Bezeichnung für das andere: Wenn Sie aus Königslutter extra hierher kommen, dann kennen Sie sicher den Gipsestrich von Helmstedt. Wir haben einen schöneren. Wollen Sie ihn sehen?

 

Wir wollten selbstverständlich. Also brachte uns der Pastor zum Lehrer.

 

Ein Kunsterzieher des Ortes hat die vielen Bruchstücke des 1926(!) gefundenen romanischen Chorfußbodens mit reicher rot und schwarz eingelegter Zeichnung in seiner Wohnung ausgelegt und puzzelt sie offensichtlich erfolgreich zusammen. In Keller wird vorsortiert und in seinem Atelier im Oberschoß zusammengefügt, dokumentiert und zeichnerisch ergänzt.

 

Tatsächlich, viel schöner als der Helmstedter! Die Form der Krone des Königs Salomo kam uns bekannt vor. Richtig, Kaiser Lothar trägt auf der Darstellung am nordöstlichen Vierungspfeiler der Stiftskirche eine solche. Die Strichführung der Zeichnung ähnelt sehr jener in der Magdalenenkapelle von St. Marienberg in Helmstedt.

 

Aufnahmen von Estrich der Felicitaskrypta hatte unser Kollege in Nienburg. Nun bekommt er auch welche von den Fresken der Magdalenenkapelle. Solcher Initiative müssen wir uns einfach anschließen!

 

 

Otto Kruggel