Ranke/Kugler: Die Wipertikirche zu Quedlinburg

Die St. Wipertikirche bei Quedlinburg.

(Vergl. Taf. VI., und über das Geschichtliche S. 37 ff.)

Der erste Ursprung dieser Kirche geht, wie wir oben, sahen, in das neunte Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurück; die Art ihrer Entstehung aber ist noch in Dunkel gehüllt. Wir finden sie zunächst in Heinrichs des Ersten Besitz, aus dem sie bei dessen Tode in den Besitz der Königin Mathilde überging, zu deren Wittwengut sie gehörte. Denn im Jahr 961, ehe sie noch durch Mathilden's Tod dem König wieder zufiel, schenkte sie Otto der Erste, nach dem Willen
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seiner Mutter an das Stift, unter der ausdrücklichen Bedingung, in der Kirche nicht weniger, als zwölf Geistliche auf eigene Kosten zu erhalten *). Bald darauf aber machte sie diese Geistlichen selbständiger; wir finden schon im Jahr 964 eine Urkunde Otto des Ersten, worin sie das Recht erhalten, sich einen Abt zu wählen, und das von Mathilde ihnen zugesicherte Eigenthum bestätigt wird. Ausdrücklich verleiht ihnen der Kaiser die Rechte der königlichen Abteyen **), denen sie von jetzt an, aber durchaus unter der Oberhoheit des Servatiusstiftes, beigezählt werden.

Von dieser Zeit an hat das Kloster bis zur Reformation ununterbrochen fortgedauert, und sich im Anfange seines Bestehens einer großen Blüthe erfreut. Die Mönche, welche hier lebten, waren ursprünglich Benedictiner; vom J. 1148 an aber Prämonstratenser ***). Das Kloster und die Kirche haben viele sehr bedeutende Veränderungen und Zerstörungen im Laufe der Zeit erlitten, von denen nur die wichtigsten hier angegeben werden können. Im 13. Jahrh. unternahm der Propst des Klosters eine Erweiterung und Vergrößerung seiner Gebäude, ohne daß ein Unfall vorangegangen war. Aber im Jahr 1336 während des Krieges des Grafen Albert von Reinstein mit der Stadt Quedlinburg hatte sich der Graf in Besitz des Klosters gesetzt, es befestigt und von den Thürmen aus die Bürger bedrängt. Nach der Gefangennehmung desselben am 22sten Juli rächten sich die Bürger dafür an dem Kloster selbst, welches dem Grafen Vorschub geleistet hatte, und verwüsteten es mit Feuer und Schwert. Dies ist das größte Unglück, welches die Kirche traf; sie wurde verwüstet und verbrannt, ihrer beiden Thürme beraubt, und

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*)  s. Erath p. 12 "statuimus etiam, ut Abbatissa, quae monasterium in monte situm regere videbitur, in ecclesia, inferius in corte constituta haud miuus quam duodecim clericos - toto victu et vestitu praevideat aevo."
**)  s. Erath p. 13 "ut liberam inter se Abbatem seu Primicerium eligendi habeant postatem, sicut in veteris Abbatiis, regiae dominationi subiectis; praedia vero, quae praenominata venerabilis Regina Mathildis - concessit, concedimus."
***)  s. Erath p. 99
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zwar von den Bürgern selbst, aber sehr dürftig und dem vorigen Glanz durchaus unangemessen wiederhergestellt  *). Nach Winnigstädt  **) war "die Anzeigung des Brandes noch in jener Zeit an den alten Mauern zu sehen." Doch hatte schon das Kloster von Neuem durch die Verwüstungen der Bauern stark gelitten, die im J. 1525 auch die hiesige Gegend durchzogen und verheerten  ***).

Die Räume des Hauptbaues dieser Kirche genau zu untersuchen wurden wir durch den gegenwärtigen Zweck derselben verhindert. Sie dient als Kornscheune und die darin aufgehäuften Vorräthe, zum Theil auch die neueren angefügten Gebäude gestatteten keine umfassende Besichtigung. Für den Zweck dieser Blätter dürfte es indeß schon genügen, wenn wir anführen, daß die rundbogigen Arkaden des Schiffes keine Säulen enthalten, sondern, wie in der Liebsrauenkirche zu Halberstadt, durch viereckige Pfeiler gebildet werden. Das Kämpfergesims dieser Pfeiler besteht aus Platte, scharf eingezogener Kehle und kleinem Wulst mit einigen Zwischengliedern (Taf. VI, 8.); das Fußgesims (9.) ist attisch, von gutem Verhältniß der Glieder zu einander, doch wenig ausladend. - Im Aeußeren, namentlich der Seitenschiffe, bemerkt man mannigfache Veränderungen des Baues, zum Theil aus der früheren Zeit des gothischen Styles.

Von höchstem Interesse ist die kleine Gruftkirche dieser Kirche, der gegenwärtig sogenannte Altarkeller (S. d. Grundriß Taf. VI, 1.). Ihre ganze Einrichtung, sowie die Formation ihrer Details, läßt hier auf den ersten Blick das höchste Alter erkennen. Sie besteht aus einem kleinen Mittelschiff und fast eben so breiten Seitenschiffen, welche durch eine Stellung von je zwei Säulen und einem schweren viereckigen Pfeiler zwischen ihnen voneinander gesondert werden. An das Mittelschiff schließt sich, wie gewöhnlich, die Altarnische an, welche hier jedoch nicht durch Mauern, sondern ebenfalls durch eine Stellung von Pfeilern und Säulen (an den Ecken zwei schwere viereckige
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*)  Der Chor, der Kreuzgang und die Thürme wurden wiederhergestellt. S. Fritsch, Gesch. v. Quedl. I, 286
**)  bei Abel, S. 502. Fritsch, I, S. 169.
***) Fritsch, S. 294.
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Pfeiler, dann auf jeder Seite zwei Säulchen und zwischen diesen, in der Mitte der Nische, ein kleinerer viereckiger Pfeiler) umfaßt wird  *). Hinter der letzteren zieht sich ein halbrunder Umgang als die Fortsetzung der Seitenschiffe umher. Diese sämmtlichen Pfeiler und Säulen, im Schiff und in der Nische, werden nicht, wie in der entwickelten Kunst des früheren Mittelalters, durch Halbkreisbögen, sondern, der Antike verwandt, noch durch ein horizontales Gesims verbunden, dessen Hauptform in der Altarnische ein Viertelstab, im Schiff ein, der Antike vornehmlich entsprechender Karnies ist. Von diesem Gesims ausgehend werden sämmtliche Räume sodann durch Tonnengewölbe bedeckt, nur die kleine Altarnische, wie gewöhnlich, durch eine Halbkuppel. An den Wänden finden sich rings umher größere und kleinere viereckige Nischen. Die Gesammtlänge der Gruftkirche beträgt 23 Fuß; die Breite 19 Fuß; die Höhe, im Mittelpunkt der Gewölbe, 9 Fuß. Die Säulen haben, bis an das Gesims, eine Höhe von 6 Fuß. - Die größeren Pfeiler sind ganz roh, ohne Deck- und Fußgesimse. Der kleinere Pfeiler in der Altarnische hat ein ionisches Voluten-Kapitäl (4.), doch ohne Eierstab, aber auch ohne fremdartige Verzierung; die Base desselben (7.) ist von leidlicher attischer
Form. Die Säulchen zu den Seiten desselben sind mit einem höchst einfachen Kapitäl versehen, welches die später ausgebildete Form des abgestumpften Würfels vorzudeuten scheint (3.); es bildet nur einen rohen Uebergang aus der runden Form der Säule in die viereckige Form des Abakus. (Dieselbe Form findet sich häufig, wenn auch reicher ornamentirt, an den ältesten Kirchen des Mittelalters, wie z. B. vorherrschend an den Säulenkapitälen von S. Vitale zu Ravenna, von S. Marco zu Venedig u. s. w.) Die Basen derselben (6.) sind ebenfalls attisch, aber mit starken vortretenden Pfühlen und kleiner eingezogener Kehle. - Die Säulenkapitäle
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*) Diese Einrichtung, - halbrunde Nischen, von Säulen getragen,- die sich zuweilen bei Kirchen der späteren Zeit des byzantinischen Styles vorfindet, ist gleichwohl kein Gegenbeweis gegen das angenommene hohe Alter der Gruftkirche, da sich ganz Aehnliches bereits an der Sophienkirche zu Constantinopel, an S. Vitale zu Ravenna (vollendet im J.  547) u. a. O. vorfindet.
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des Schiffes endlich haben eine merkwürdige Form (2.), deren Profil man mit dem eines umschlagenden Blattes vergleichen dürfte, und gewiß ist sie aus dem antiken Blattkapitäle entstanden, vielleicht durch Bemalung demselben ähnlicher gewesen; darüber ruht ein sehr schwerer Abakus. Die Basen dieser Säulen (5.) sind wiederum attisch, aber von einer Bildung, welche dem Geiste dieser Form noch wohl angemessen ist.

All diese Elemente, die geradlinigen Gesimse, die theils der Antike nah verwandten, theils aus eigner Unbehülflichkeit entstandenen Formen, die Abwesenheit aller Motive, welche die mittelalterliche Kunst speciell charakterisiren, sodann die kindliche Rohheit der Gesammt-Ausführung, deuten auf eine sehr frühe Erbauungszeit zurück und machen es sehr wahrscheinlich, daß wir in dieser kleinen Gruftkirche in der That einen Ueberrest aus der frühesten Zeit christlicher Kunstübung in den sächsischen Landen besitzen.

Quelle: C. F. Ranke, F. Kugler: Beschreibung und Geschichte der Schloßkirche zu Quedlinburg und der in ihr vorhandenen Alterthümer. nebst Nachrichten über die St. Wipertikirche bei Quedlinburg, die Kirche zu Kloster Gröningen, ... S. 95 bis 99. Berlin 1838. Verlag George Gropius

Hinweis: Das Gesamtwerk befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek und ist dort unter folgendem Link einsehbar:
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August Fink: Die figürliche Grabplastik in Sachsen

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Die figürliche Grabplastik in Sachsen von den Anfängen bis zur zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts.

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde

genehmigt von der philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.

Von AUGUST FINK

aus Wolfenbüttel in Braunschweig.

 

Tag der Promotion: 24. Februar 1915.

 

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Einleitung.

In der Geschichte der Skulptur des Mittelalters nimmt die Grabplastik nach Zahl und Bedeutung ihrer Werke eine der ersten Stellen ein. Die isolierte Grabfigur ist eines der wenigen Motive bildnerischen Schaffens, die von den Anfängen monumentaler Plastik an durch die ganze Entwicklung derselben festgehalten werden.

Dem Streben des späten Mittelalters nach naturgemässer Darstellung der Menschengestalt bot sich in der Grabfıgur ein besonders günstiges Objekt, da bei ihr ein engerer Anschluss an ein konkretes Vorbild möglich war als bei der rein kirchlichen Skulptur mit ihren biblischen und legendarischen Themen. Die Porträtkunst, die auf den kleinen Flächen der Miniaturmalerei nicht zur vollen Ausbildung kommen konnte und in der grossen Malerei erst am Ausgänge des Mittelalters eine selbständige Entwicklung erfährt, sie hat sich in der Plastik, bei der die Schwierigkeiten der Flächenprojektion fortfallen, schon in den gotischen Jahrhunderten zu einer reichen Blüte entfaltet. Die Ausbildung des Grabporträts erfolgt nicht in einer geraden Entwicklungslinie, sondern, wie es bei dem posthumen Charakter der frühen Grabmäler verständlich ist, auf dem Umwege über das Idealbildnis.

Während für die Gotik in den verschiedenen Gegenden Deutschlands eine Fülle von Grabdenkmälern erhalten ist, findet sich für die Entwicklungsstadien, die vor dem eigentlichen Porträtgrabstein liegen, das 12. und das frühe 13. Jahrhundert, nur in Sachsen ein ausreichendes Material, an dem sich die Entwicklungslinien konstruieren lassen. Hier, in den Gegenden zwischen Weser und Elbe nördlich vom Harz und in den künstlerisch damit zusammenhängenden obersächsischen Gebieten lässt sich nicht nur eine geschlossene Reihe der Werke der Grabplastik aufstellen, sondern auch im Anschluss an die von Goldschmidt 1) zusammengefassten Stilgruppen eine Gliederung des Materiales durchführen: auf die ganz konventionellen Grabfiguren des 12. Jahrhunderts (Goldschmidt: 1. Stil) folgen um 1200 die ersten Versuche individueller Durchbildung der Gestalten (2. Stil), denen sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Werke anschliessen (3. Stil), die in der Charakteristik der Köpfe nicht wesentlich weitergehen, sondern

 

1) A. Goldschmidt, Die Stilentwicklung der romanischen Skulptur in Sachsen. Jahrb. d. preuss. Kunstsamml. XXI. 1900. S. 225.

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eine idealisierende Tendenz verraten, während sich in der allgemeinen Auffassung der Grabfigur zum erstenmale ein folgerichtiges Eingehen auf die Sonderbedingungen ihrer horizontalen Lage zeigt.

Vor der Behandlung der Einzeldenkmäler wird es ratsam sein, einen Blick auf die allgemeinen Voraussetzungen des mittelalterlichen Grabmales und auf die der Grabfıgur im besonderen zu werfen 1).

Der Grundcharakter des mittelalterlichen Grabmales wird dadurch bestimmt, dass sich das Grab, dem es sich anschliesst, in der Kirche befindet. Aus dieser Tatsache folgt ein grundsätzlicher Gegensatz zum antiken Grabmal. Die Gräber des klassischen Altertums lagen nicht auf durch Götterkult geheiligtem Boden, sondern vor den Städten an den Strassen entlang; ihrem fıgürlichen Schmuck waren gegenständlich keine Schranken gesetzt, er konnte vielmehr aus allen Gebieten des Alltagslebens seine Motive entnehmen. Dagegen nötigte der geweihte Raum des Gotteshauses zur grössten Beschränkung in der Auswahl der Motive des mittelalterlich-christlichen Grabmales. Die Zurückhaltung musste hier um so grösser sein, als die kirchlichen Autoritäten sich erst nach jahrhundertelangem Widerstreben hatten bewegen lassen, überhaupt die Anlage von Gräbern an heiliger Stätte zu dulden.

Schon früh haben die Gläubigen sich danach gesehnt, ihre Ruhestatt im Gotteshause selbst zu finden; sie erwarten von der unmittelbaren Nähe des Altares mit den Reliquien der Heiligen, von den Gebeten der Gemeinde an dieser Stelle eine Forderung ihres Seelenheiles, und Männer wie Augustin 2) und Gregor d. Gr 3) bestätigen die Berechtigung dieser Anschauung. Gleichwohl sträubt sich die Kirche dagegen aus der Erwägung heraus, dass die nahe Nachbarschaft menschlicher Gebeine und heiliger Gegenstände eine Entweihung der letzteren herbeiführen könne. Daher verbietet sie jede Bestattung im Heiligtume und gibt nur die Umgebung desselben, den Kirchhof, als Begräbnisplatz frei (Concilium Bracarense, 5ó3) 4).

 

1) Ludwig Dolberg, Das mittelalterliche Begräbnis. In „Der Katholik“, Jahrgang 67, 1887. S. 271 ff. - Otte, Handbuch der kirchlichen Kunstarchäologie5, I. Leipzig 1883. S. 334 ff. - Bergner, Handbuch der kirchlichen Kunstaltertümer in Deutschland, Leipzig 1905, S. 292 ff.

2) Augustinus, De cura pro mortuis agenda. Migne, Patrologia latina XL. Paris 1865. S. 591.

3) Gregorius Magnus, Dial. IV, 50. Migne a. a. O. LXXVII, (Paris 1849) S. 412: Quos gravia peccata non deprimunt, hoc prodest mortuis si in ecclesia sepeliantur, quod eorum proximi quotiens ad eadem sacra loca conveniunt, suorum quorum sepulcra conspiciunt, recordantur, et pro eis domino preces fundunt.

4) Mansi, Sacr. Conciliorum amplissima collectio, Bd. IX. Florenz 1763. S. 779: item placuit, ut corpora defunctorum nullo modo in basilica sanctorum sepeliantur; sed si necesse est, deforis circa murum ecclesiae usque adeo non abhorret.

 

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Aber das Verbot bleibt erfolglos; in Einzelfällen kann Fürsten, hohen Geistlichen und kirchlich besonders verdienten Männern die Beisetzung in der Kirche selbst nicht verweigert werden 1). In karolingischer Zeit erscheint es nach einem Kapitular des Bischofs Theodulf von Orléans (797) 2) schon als Brauch, die Geistlichen und durch Stellung oder Frömmigkeit ausgezeichnete Laien im Gotteshause zu bestatten. Ein neuer Versuch, dieser Sitte entgegenzutreten, ist wieder vergeblich (Concilium Namnetense, um 850) 3), und indem das Konzil von Tribur 895 4) in wörtlicher Wiederholung die Regeln des Theodulf für die Gewährung des Grabes in der Kirche bestätigt, stellt es den Zustand her, der noch in den ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends herrscht, in welchen die geschlossene Entwicklung des fıgürlichen Grabmals erfolgt.

Wenn die genannten Konzilsbeschlüsse den grundsätzlichen Widerstand gegen die Bestattung im Gotteshause fallen lassen und in gewissen Grenzen dem Verlangen der Gläubigen nachgeben, so stellen sie in Bezug auf Grabdenkmäler den undurchführbaren Grundsatz auf, dass solche überhaupt nicht errichtet werden sollen. Es spricht aus dieser Bestimmung der schärfste Gegensatz gegen die altchristliche Anschauung, die Augustin vertritt, wenn er die Berechtigung und den Nutzen von „Memorien oder Monumenten“ durchaus zugibt 5). Die karolingischen Konzilsbeschlüsse gehen dagegen in der Ablehnung der Grabmäler so weit, dass sie die völlige Beseitigung bereits in den Kirchen bestehender Monumente fordern und keinerlei äussere Kennzeichnung der Gräber dulden wollen 6). Dass diese Bestimmung mehrfach

 

1) Beispiele: Onuphrius Panvinius, De ritu sepeliendi mortuos apud veteres Christianos, Köln 1568. S. 11. - Slevogt, De sepulturis.., Jena 1722.

2) Mansi a. a. O. Bd. XIII. S. 997.

3) Mansi a. a. O. Bd. XVIII. S. 168. Canon VI... Prohibendum etiam, secundum maiorum instituta, ut in ecclesia nullatenus sepeliantur. . .

4) Mansi a. a. O. Bd. XVIII., S. 141. Cap. XVII. . . Neque enim in ecclesia sepeliatur, nisi forte talis sit persona sacerdotis, aut cuiuslibet iusti hominis, qui per vitae meritum talem vivendo suo corpori defuncto locum acquisivit.

5) Augustin a. a. O. S. 596: Memoriae vel monumenta dicuntur, . . quia eos, qui viventium oculis morte subtracti sunt, ne oblivione etiam cordibus subtrahantur, in memoriam revocant.

6) Concilium Triburiense, cap. XVIII (a. a. O.). Corpora antiquitus in ecclesiis sepulta nequaquam proiiciantur, sed pavimento desuper facto nullo tumulorum vestigio apparente ecclesiae reverentia conservetur.

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aufs neue eingeschärft werden muss 1), ist ein Beweis dafür, dass ihre Durchführung auf Widerstand stiess.

Sie war schon aus einem rein praktischen Grunde nicht aufrecht zu erhalten: um bei der Anlage eines neuen Grabes frühere Grabstätten nicht zu berühren, musste man wenigstens zu einer einfachen Markierung derselben schreiten. Aber auch einer reicheren Ausschmückung des Grabes konnte die Kirche oftmals um so weniger Widerstand entgegensetzen, als die Ehrung kirchlich verdienter und vorbildlicher Persönlichkeiten durch ein würdiges Denkmal ihr eigenes Interesse kräftiger vertrat, als es durch ein starres Betonen jener strengen Gesinnung geschehen konnte, die in der sichtbaren Auszeichnung auch der vorzüglichsten Männer eine Entweihung des Heiligtumes sah. Immerhin scheint die Kirche den Grundsatz befolgt zu haben nach Möglichkeit von jenen scharfen Bestimmungen immer nur für den jeweiligen Einzelfall abzusehen; infolgedessen ist bei den frühesten Grabmälern keine einheitliche Entwicklung eines festen Denkmaltypus zu finden, sondern vielfach auch im Grabmal der Charakter des Einzelfalles gewahrt. Ferner erklärt sich aus der Stellung der Kirche, dass reichere Grabmäler anfänglich überwiegend geistlichen Würdenträgern errichtet werden. Dagegen erkennt man, wie bei den weltlichen Herrschern, deren Stellung einen Kampf gegen die Machtansprüche der Kirche begründete, der kirchliche Widerspruch gegen prunkvolle Ausschmückung der Grabstätten am längsten wirksam blieb und etwa die schlichte Zurückhaltung der Saliergräber in Speyer bestimmte. Es ist daher nicht möglich, eine Geschichte des Grabmales, wie es für die späteren Jahrhunderte etwa in Frankreich möglich ist, für die Frühzeit an die Königsgräber anzuschliessen.

Der blossen generellen Kennzeichnung des Grabes dient die flache Grabplatte, die dem Fussboden der Kirche eingefügt wird; sie hat die Grösse eines Grabes und schliesst sich in der Frühzeit häufig mit trapezförmigem Umriss der nach dem Fussende zu verjüngten Form der Steinsärge an. Häufig trägt sie nur ornamentalen Schmuck allgemeinen Charakters, etwa ein eingeritztes Kreuz.

In besonderen Fällen wurde für die Grabplatte ein erlesenes Material verwendet, so für das Grab Kaiser Ottos I. eine gelbliche Marmorplatte, für die Kaisergräber in Speyer Platten aus rotem Marmor. Die kostbaren Steine suchte man durch Erhöhung über den Boden den Fusstritten zu entziehen; in Speyer 2) ruhten sie auf niedrigen Säulen, in Magdeburg wurde – wenn

 

1) Z. B. in einem Kapitular des Bischofs Otto II. von Vercelli (924-960/61). S. Giuseppe Allegranza, De sepulcris christianis in aedibus sacris. Mailand 1773. S. XXX.

2) Grauert, Die Kaisergräber im Dome zu Speyer, Bericht über ihre Öffnung . . . Sitzungsberichte der Münchener Akad., phil.-hist. Klasse 1900. S. 539 ff.

 

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die Anordnung im jetzigen Dome der ursprünglichen entspricht - ein geschlossener sich über den Boden erhebender Sarkophag aufgeführt.

Dass noch im ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhundert eine bildlose Platte aus edlem Material als würdiger und prächtiger Grabschmuck empfunden wurde, erweisen die Grabmalsbeschreibungen aus mittelhochdeutschen Dichtungen 1). Sie entstammen einer Zeit, welche Grabfiguren schon wohl kannte, und die Schranken, die für den Bildhauer damals noch bestanden, hätten die Dichter nicht zu beachten brauchen; trotzdem berichten sie nur von den edlen, aber jeden figürlichen Schmuckes entbehrenden Gesteinen, welche die Gräber ihrer Helden decken.

Die Anfänge der zusammenhängenden Entwicklung der Grabfigur gehören der Zeit um 1100 an; erst um diese Zeit finden sich die Beispiele für den Schmuck einer Grabplatte mit einer Relieffıgur des Verstorbenen. Die wenigen mit menschenähnlichen Gestalten verzierten merowingischen Sarkophagdeckel, die Lichtenberg 2) an den Beginn der Entwicklung setzt, sind bei dem völligen Fehlen von Zwischengliedern kaum als Vorstufen für die Grabfiguren des zweiten Jahrtausends anzusehen. Näher liegt ein Hinweis auf die fıgürlichen Elemente, die vor dem Auftauchen der eigentlichen Grabfıgur im Schmuck der Umgebung der Grabstätte vorkommen.

Die erwähnten dichterischen Grabmalsbeschreibungen zeigen, wie sich die Ausschmückung nicht auf das eigentliche Grab beschränkte. Sie sind in allen Einzelheiten phantastisch; aber literarische Nachrichten über wirkliche Grabmäler bieten uns einen Anhalt für den Umfang des nicht direkt mit dem Grabe verbundenen Schmuckes, von dem uns keine erhaltenen Beispiele mehr eine Anschauung geben. Am ausführlichsten ist die Beschreibung des bereits im 12. Jahrhundert zerstörten Grabmales des Bischofs Gebhard von Konstanz († 995) in Petershausen 3). Das Grab, in der südlichen Apsis der Kirche, lag über den Fussboden erhöht und war mit einem Teppich überdeckt. Zu Häupten stand der Benediktsaltar; ein Altarvorsatz zeigte Christus zwischen dem heiligen Gregor und dem verstorbenen Gebhard. Hinter dem Altar war die Apsis mit einer reichen Arkatur (Stuckornamentik)

 

1) Albert Ilg, Beiträge zur Gesch. der Kunst aus mhd. Dichtungen. Wiener Quellenschriften, Neue Folge, Bd. V. Wien 1892. S. 43 ff: Heinrich v. Veldeke, Eneide, 8320 ff, 9326 ff. - S. 100: Wolfram, Parzivâl II, 1451 ff.

2) R. v. Lichtenberg, Das Porträt an Grabdenkmalen. Strassburg 1902 (Studien zur Kunstgesch. des Auslandes 11).

3) Casus mon. Petrish. I, 52. (M. G. SS. XX. S. 639.) ebenda V, 1. (S. 669). Dazu: Neuwirth, Die Bautätigkeit . . . in St. Gallen, Reichenau und Petershausen. Sitzungsber. der Wiener Akad., phil.-hist. Kl. CVI, I. Sonderabdr. Wien 1884.

 

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geschmückt; über derselben erhob sich ein Kruzifix, an der rechten Seitenwand aber befand sich ein zweites Bildnis des Verstorbenen in der Haltung, wie er die Messe zu lesen pflegte, mit zwei assistierenden Diakonen. - Wenn bei diesen Bildwerken der Einwand möglich wäre, dass sie nicht rein sepulkralen Charakter hätten, sondern den Bischof, obwohl sie sicher vor seiner Kanonisation (1134) entstanden, bereits als Heiligen auffassten, so fällt dieses Bedenken fort bei den in derselben Kirche begrabenen Edlen des 11. Jahrhunderts 1), über deren Gräbern ihre Bilder auf die Wand gemalt waren; die beigefügten Inschriften lassen keinen Zweifel über die Zusammengehörigkeit von Bild und Grab.

In entsprechender Weise als Wandbild wird man sich die von Einhard 2) erwähnte imago über dem Grabe Karls d. Gr. zu denken haben; der dortangebrachte goldene Bogen mit Bild und Inschrift wird kaum in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Grabe gestanden haben, da dessen Stelle in ottonischer Zeit bereits vergessen war 3).

Die Existenz solcher aufrecht an der Wand angebrachten Bilder sepulkralen Charakters ist wichtig für die Frage nach der Grundauffassung der figürlichen Grabplatten. Wenn die späteren gotischen Grabmäler oft den Verstorbenen tot daliegend darstellen, so kann man fragen, ob schon bei den frühen Grabfiguren der Gedanke der langhingestreckten Leiche die Grundlage der Darstellung bildete, oder ob in den Anfängen die massgebende Anschauung die einer stehenden und lebenden Gestalt war, die Horizontallage der Grabplatte also anfänglich ignoriert wurde. Die frühesten sächsischen Grabfiguren schliessen sich nun durchaus der letzteren Auffassung an, und sie ist auch als die natürlichere anzusehen. Denn der von uns empfundene Widerspruch zwischen der wagerechten Platte und der senkrecht gedachten Gestalt ist den Zeitgenossen kaum sehr fühlbar geworden. Das Fehlen einer kontinuierlichen Raumanschauung in der mittelalterlichen Flächenkunst führt dazu, die konventionelle Standfıgur je nach Bedürfnis an Wand, Decke oder Fussboden 4) darzustellen, und es hindert uns nichts, die gleiche Freiheit auch für das Relief vorauszusetzen.

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Auf der anderen Seite fehlt für die Annahme, es habe etwa die aufgebahrte Leiche die Anregung zur Grabfıgur gegeben, bei der ausserordentlichen Hast der mittelalterlichen Begräbnisse 5) jeder Anhaltspunkt. Erfolgte die

 

1) a. a. O. Lib. II, 24 (S. 644).

2) M. G. SS. II. 461.

3) Annalista Saxo z. J. 1000. M. G. SS. VI. S. 645.

4) Beispiel: Helmstedt, S. Ludgeri (um 1150). P. J. Meier, Bau- u. Kunstdenkm. des Herzogt. Braunschw. I, Kreis Helmstedt. Wolfenbüttel 1896, S. 25f. Abb. 9.

5) Dolberg a. a. O. S. 288 f.

 

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Bestattung am Todesorte, so geschah sie unverzüglich, möglichst noch am Todestage; ward die Leiche aber an einen anderen Ort überführt, so reichte die Balsamierungskunst nur eben dazu aus, den Verwesungsgeruch einige Zeit zurückzuhalten, nicht aber zur Konservierung der äusseren Erscheinung und einer Zurschaustellung des Leichnams. Dass man überhaupt wenig Wert auf die Erhaltung der äusseren Erscheinung des Toten legte, erhellt daraus, dass die widerliche Bestattung „more teutonico“, der ein Auskochen der einzelnen Leichenteile vorherging, bis ins 13. Jahrhundert - und nicht nur in Notfällen - nicht selten war 1). Wie fern dem deutschen mittelalterlichen Bildhauer der Gedanke einer isolierten lebensgrossen Leichendarstellung lag, zeigt sich darin, dass auch zu der Zeit, als man die Folgerungen aus der Horizontallage der Figuren zog und diese als liegend auffasste, in den geöffneten Augen und den Bewegungen der Eindruck des Lebens gewahrt wurde. Diese Erscheinung ist schlechterdings unerklärlich, wenn man die Darstellung der leblosen Gestalt des Toten als das Ziel ansieht, das den Schöpfern der Grabfiguren von vornherein gesteckt ist und dem sie sich mit der zunehmenden Herrschaft über die Mittel der plastischen Körperbildung nähern.

 

1) W. Effmann, Ein Beitrag zur mittelalterlichen Begräbnisweise. Zeitschr. f. Christl. Kunst V. 1892. S. 253.

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Kapitel I.

Die konventionellen, stehend gedachten Grabfiguren des zwölften Jahrhunderts.

Das früheste Beispiel einer Grabfigur in Sachsen befindet sich auf der Bronzeplatte 1), welche die Ruhestätte des Gegenkönigs Rudolf von Schwaben († 1080) in der Vierung 2) des Merseburger Domes schmückt.

Ein schlicht durch eine Folge von vier Plättchen profılierter Inschriftrand umgibt das Mittelfeld, auf dem in flachem Relief die wenig unter Lebensgrösse gebildete Gestalt des Königs erscheint. Er ist in feierlichem Ornate dargestellt. Die Dalmatika liegt bis zum Gürtel lose am Körper an, erweitert sich dann nach unten und endigt, in zierliche Längsfalten gelegt, in der Mitte der Unterschenkel. Der mit Bordüren reichgeschmückte Mantel wird auf der rechten Schulter von einer Agraffe zusammengehalten. Der Kronreif ist von einem Längs- und einem Querbügel überwölbt; über der Mitte der Stirn trug er, wohl in Glasfluss eingelegt, ein grosses Kleinod. Die Rechte hält das Szepter: über einem mittleren Knauf öffnet sich eine lilienartige Blüte, aus der die Verlängerung des Stabes, von einer gleichen Blüte bekrönt, hervorgeht. In der Linken ruht der kreuzgeschmückte Reichsapfel. Die Füsse tragen hohe Lederstiefel mit aufgebogener Spitze 3) und angeschnallten Sporen.

Wie das Kostüm in den wesentlichen Bestandteilen noch durchaus dem Herrscherbild entspricht, das die Miniaturen der späten Ottonenzeit zeigen, so ist auch im Stil noch ein Abglanz der Blüte der Kleinkunst unter den sächsischen Kaisern zu sehen. Zwar ist in der Gesamtbewegung, dem nicht mehr differenzierten Stand schon die gleiche Erstarrung eingetreten wie in den Einzelformen und den Faltenlinien; aber noch zeigt sich in Details wie den einzeln bewegten Fingern die Erinnerung an reichere Bewegungen, in dem - nur beim Kopfe aufgegebenen - sehr flachen Relief ein Gefühl für malerischen Wechsel von Licht und Schatten, in der Faltenbildung trotz der Steifheit und der dem Bewegungsmotiv nicht entsprechenden Symmetrie

 

1) Abb.: Sauerlandt, Deutsche Plastik des Mittelalters, Düsseldorf u. Leipz. o. J., S. 4.

2) Bau- u. Kunstdenkm. der Prov. Sachsen VIII. 144. Das Grab befand sich in der Längsachse der Vierung an deren östlichem Ende, die Grabplatte wurde später einige Meter nach Westen verschoben.

3) Alwin Schultz, Höfisches Leben I, S. 222 (Leipzig 1879) setzt die Anfänge der Schnabelschuhe um 1090 an.

 

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eine Eleganz, die nur als Erbteil einer höheren Kultur erklärlich wird. Die gemeinsame Grundlage und den Abstand zeigt klar ein spätottonisches Werk wie der Altarvorsatz des Baseler Münsters im Clunymuseum.

Auch darin schliesst sich die Bronzeplatte der älteren Zeit an, dass trotz des grossen Massstabes noch völlig der Charakter der Kleinkunst herrscht, in den zierlich ziselierten Säumen und Sternchenmustern nicht minder als in den Glasflüssen, mit denen Augen und Krone geschmückt waren; sie muten wie eine Übernahme aus der Goldschmiedetechnik an. Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Platte ehemals vergoldet war, wie die erhaltenen Reste in den der Berührung am wenigsten ausgesetzten Relieftiefen erweisen.

Als Entstehungszeit des Grabmales können nur die Jahre unmittelbar nach Rudolfs Tode in Frage kommen. Die Inschrift beklagt in Rudolf den Helden, der mit seinem Blute den Sieg der gerechten Sache erstritten hat; sie muss sehr bald nach der Schlacht noch zur Zeit kräftigen Widerstandes der Sachsen gegen Heinrich IV. verfasst sein. Das Denkmal mit einer für seine Zeit unerhörten Pracht hat den Charakter einer politischen Demonstration. Dass dieser Charakter von den Zeitgenossen erkannt wurde, lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit aus der von Otto von Freising 1) berichteten Anekdote folgern: die Getreuen Heinrichs IV. äussern am Grabe Rudolfs ihren Unwillen, dass dieser velut regali honore begraben liege; Heinrich repliziert mit dem Stossseufzer: lägen doch alle meine Feinde so begraben! - Ein Beweis für den weitverbreiteten Ruf des Grabmales ist es, dass noch 1156, sicherlich auf Grund älterer annalistischer Aufzeichnungen der Chronist von Petershausen 2) bei Konstanz ausdrücklich von der imago ex ere fusa atque deaurata über dem Grabe des Gegenkönigs berichtet.

Für den Entstehungsort des Werkes fehlt jeder Anhaltspunkt. Bergner 3) vermutet ihn in Magdeburg; doch wissen wir nichts von dem Bestehen einer Giesshütte daselbst im 11. Jahrhundert, seit Goldschmidt 4) die traditionelle Datierung der ältesten Bischofsgrabfigur im Magdeburger Dom korrigiert

 

1) Gesta Friderici I, 7. M. G. SS. XX. 357. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine Beziehung der Stelle auf die Bronzeplatte zu bezweifeln. Denn diese kann bei der sonst üblichen Einfachheit der Königsgräber nicht als charakteristische „honor regalis“ gelten; es wäre möglich, die königliche Auszeichnung nur in dem bevorzugten Platz des Grabes zu erblicken. Die sonstigen Argumente für die frühe Datierung entkräften jedoch diesen Einwand.

2) Casus monasterii Petrishusensis II, 38. M. G. SS. XX. 647. Dr. Giesau machte mich auf die Wichtigkeit der auch von mir schon exzerpierten Stelle aufmerksam.

3) Berühmte Kunststätten 47, Naumburg u. Merseburg. Leipzig 1909, S. 137.

4) Jahrbuch d. preuss. Kunstsamml. XXI. 1900. S. 227.

 

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und sie dem 12. Jahrhundert zugewiesen hat. Zu Hildesheim, der einzigen sächsischen Giesswerkstatt, für die erhaltene Werke eine lebhafte Tätigkeit im 11. Jahrhundert bezeugen, zeigt die Merseburger Platte keinerlei Beziehungen.

Der Versuch von Creutz 1), das Merseburger Grabmal der westfälischen Kunst und dem Kreise des Roger von Helmershausen zuzuweisen, ist als aussichtslos anzusehen, solange er nur durch die merkwürdige Hilfskonstruktion begründet ist, welche die heutige Diozesaneinteilung auf das 11. Jahrhundert überträgt und Merseburg zum Bistum Paderborn rechnet. So richtig der Gedanke des Creutzschen Buches ist, eine der Hauptwurzeln der Grossplastik in der Metallkleinkunst zu suchen, so wird man ihm doch darin nicht beistimmen, dass der Mönch von Helmershausen der Mann ist, ohne den „die Entstehung des monumentalen Stiles in Norddeutschland nicht denkbar ist 2)“. Wenn einerseits nach den technischen Übereinstimmungen wahrscheinlich ist, dass der Künstler Roger des Paderborner Tragaltars identisch ist mit dem Verfasser der schedula, wenn auf der anderen Seite die in der schedula beschriebenen Techniken bei einer grossen Zahl von Goldschmiedearbeiten des 12. Jahrhunderts angewandt sind, so ist es sehr gewagt daraus zu schliessen, Roger sei die führende Persönlichkeit dieses Kreises und überall in Westfalen und Sachsen seien Zweigwerkstätten von Helmershausen gewesen.

War dieser Schluss einmal gezogen, so lag es nahe für die Merseburger Bronzeplatte den Anschluss an Westfalen zu versuchen, um so mehr, da eine westfälische Grabfıgur unleugbare Verwandtschaft mit ihr aufweist.

Es handelt sich um das Grabmal des Sachsenführers Wittekind in Enger bei Herford 3). Das Kostüm zeigt starke Ubereinstimmungen mit Rudolf von Schwaben in dem Mantel, den auf der rechten Schulter eine viereckige Agraffe schliesst, in der Bügelkrone und dem Szepter. Die Dalmatika Wittekinds ist ihrer Form nach etwas jünger, sie ist länger und zeigt das Beginnen der für das 12. Jahrhundert bezeichnenden Erweiterung der Ärmel.

Zur Verwandtschaft der Tracht tritt eine solche der Technik: die Figur in Enger war nach den Einsatzspuren reich mit Glasflüssen verziert, an den Säumen der Krone und - die auffallendste Parallele zu Merseburg – an

 

1) Max Creutz, Die Anfänge des monumentalen Stiles in Norddeutschland. Köln 1910. S. 56.

2) a. a. O. S. 19.

3) Ludorff, Bau- u. Kunstdenkm. von Westfalen, Kreis Herford. S. 15. Abb. Tafel 4. - Wilbrand, Das Grabdenkmal Wittekinds in Enger; XVI. Jahresbericht des hist. Vereins f. d. Grafsch. Ravensberg. Bielefeld 1902, S. 41 (mit Literaturangabe).

 

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den Augensternen. Dabei ist dieser offenbar der Metallkunst entnommene Schmuck in Enger auf ein neues Material übertragen: die Figur ist aus Stuck auf der Grundlage einer Sandsteinplatte modelliert 1). Das für Westfalen ganz ungewöhnliche, in Sachsen aber sehr gebräuchliche Stuckmaterial lässt vermuten, dass bei dem Zusammenhange mit Merseburg die sächsische Kunst der gebende Teil war 2).

Der Stuck ist nach der gängigen Meinung im Mittelalter ein Ersatz für den Stein und wurde in gegossenen, erstarrten Blöcken mit Meissel oder Messer skulpiert. Das Material der Grabplatte von Enger legt den Schluss nahe, dass diese Bearbeitung nicht immer angewandt wurde. Vielmehr wird hier auf der festen Grundplatte die Figur aus der noch weichen Masse modelliert worden sein. Dies wird die Technik auch vieler späterer Stuckskulpturen gewesen sein; sichere Beispiele bieten die Stuckverkleidung der Kapitelle in Drübeck 3) und die Engelsfiguren an den Hochschiffwänden von Hecklingen 4).

Die Modellierung in weichem Material schliesst nun aber einen grossen Teil der Stuckplastik, darunter auch das Grabmal von Enger, unmittelbar an die vorbereitenden Modelle für den Bronzeguss an, sodass die Entlehnungen aus dieser Technik erklärlich sind.

Stilistisch steht das Grabmal Wittekinds auf einer jüngeren Stufe als die Merseburger Bronze. Die Schmiegsamkeit der Linien ist völlig geschwunden, die Falten sind meist gerade und einförmig. Die runden Hängefalten über dem rechten Bein erscheinen für- den ersten Blick belebter, doch gewahrt man alsbald, dass der Künstler auch hier mit einer starren Formel arbeitet; denn der Edelsteinsaum des Gewandes ist ohne jede Rücksicht auf die Falten durchgezogen. In der plastischen Durchführung zeigt sich dagegen beim Wittekind eine stärkere Energie; die grossen allgemeinen Formen des Körpers werden unter dem Gewande kräftiger zur Geltung gebracht.

Abweichend von Merseburg ist die architektonische Rahmung der Figur, die aus einem wahrscheinlich säulengetragenen Baldachin und einer Sockelplatte unter den Füssen bestand, nach Art der in Erinnerung an die antike Statuenaufstellung gefassten byzantinischen Heiligen. Näheres über die Gestaltung dieser Einfassung ist nicht auszusagen, denn sie ist teils bis auf Spuren zerstört, teils überarbeitet; so werden die Karniesprofile des Baldachins

 

1) Trappen, Die Kirche zu Enger; XVI. Jahresber. des Hist. Vereins f. Ravensberg. S. 36.

2) Beissel, Stimmen aus Maria Laach 1903, S. 455.

3) Bau- u. Kunstdenkm. d. Prov. Sachsen 32, S. 48.

4) Abb. Goldschmidt, Jahrb. d. preuss. Kunstsamml. XXI. 1900, S. 239.

 

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der lnstandsetzung zuzuschreiben sein, die Karl IV. 1377 bei seinem Besuche in Enger 1) an dem verwahrlosten Denkmal vornehmen liess 2).

Die Architekturfassung betont ausdrücklich den Charakter der Standfigur; es ist wichtig nachzuweisen, dass es sich trotzdem um eine horizontale Grabplatte handelt. Das ergibt sich mit Sicherheit daraus dass die sandsteinerne Grundplatte profiliert ist; sie ist mit einer Viertelkehle nach unten eingezogen. Die Platte lag also von Anfang an und zwar war sie über das Niveau des Fussbodens erhoben.

Wenn die traditionelle Benennung der Figur auf Wittekind den 807 gestorbenen Sachsenführer 3), richtig ist, so haben wir ein Jahrhunderte nach seinem Tode errichtetes Denkmal vor uns. Der Umstand dass die Gestalt offenbar einen König darstellt, macht die Berechtigung des Namens zweifelhaft. Der Zweifel wächst, wenn man auf der im 17. Jahrhundert errichteten Tumba, in die der Grabstein eingelassen ist, eine schon Anfang des 16 Jahrhunderts erwähnte 4), also vermutlich der ursprünglichen Anordnung angehörige Inschrift liest, die keinen Namen nennt, aber den Verstorbenen als König bezeichnet und ihn als Heiligen preist. Dieser Charakter des Heiligen wird in der Figur noch durch die Bewegung der rechten Hand betont, die eine deutliche, obwohl nicht ganz richtige 5) Nachbildung des byzantinischen Segensgestus ist.

Aus diesen Tatsachen ergibt sich jedoch kein stichhaltiger Grund gegen die übliche Benennung. Wittekind erscheint tatsächlich unter der Zahl der Heiligen der Kirche 6). Daraus aber, dass ihn der Künstler als König dargestellt hat, wird man diesem keinen Vorwurf machen, wenn man erfährt, dass schon Thietmar von Merseburg 7) dem alten sächsischen Heerführer den Königstitel beilegt.

 

Die Schlosskirche zu Quedlinburg ist der einzige Ort in Sachsen, an dem eine vielgliedrige Reihe gleichartiger Grabmäler einen einigermassen lückenlosen Überblick über die Entwicklung der figürlichen Grabplastik im

 

1) Reyher, Monumenta Landgraviorum Thuriiigiae etc. Gotha 1692.

2) Die Figur selbst zeigt keine Spur einer gotischen Überarbeitung; die Restauration wird sich bei ihr auf Neuvermalung beschränkt haben.

3) Über die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhanges Wittekinds mit Enger vergl. Wilbrand a. a. O.

4) Bernhardus Wittius, Historia antiqua occidentalis Saxoniae, geschrieben 1517, herausgeg. Münster 1778.

5) Statt des vierten ist der Mittelfinger zum Daumen gebogen.

6) Acta Sanctorium I, 380 (7. Januar).

7) Chron. I, 6. M. G. SS. III. 737.

 

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12. und 13. Jahrhundert bietet. Es handelt sich um die Denksteine, die den Äbtissinnen des 936 von der Königin Mathilde gegründeten Nonnenklosters gesetzt sind. Von den sieben vor 1300 entstandenen Grabsteinen wurden sechs erst im 19. Jahrhundert unter einem barocken Fussboden im Mittelschiff der Kirche aufgedeckt 1); sie wurden 1905 von ihrem Platze entfernt, leider ohne dass eine Untersuchung der darunter befindlichen Gräber vorgenommen wurde, und an den Wänden der Krypta aufgestellt.

tl_files/Fotos/August_Fink_1915/Grabstein-Adelheid-I-bei-Goldschmidt-S-226-.jpg

Die Reihe wird eröffnet durch die Denkmäler der drei Äbtissinnen des 11. Jahrhunderts: der Schwester Kaiser Ottos III., Adelheid I. († 1044) und der beiden Schwestern Heinrichs IV., Beatrix († 1062) und Adelheid II. († 1095) 2). Aus der Einheitlichkeit der drei Grabsteine folgt, dass das letzte Datum für alle den terminus post quem gibt. Quast setzt die Entstehungszeit noch mehrere Jahrzehnte später an: es ist wahrscheinlich, dass die Skulpturen erst nach Abschluss der Bauperiode des ausgehenden 11. und des frühen 12. Jahrhunderts ausgeführt wurden. Die Analogie des Grabmales von Enger bestätigt die Möglichkeit dieser von den Todesjahren abweichenden Datierung.

Die Grabplatten bestehen aus grauem Stuck; die der Adelheid I. ist bei 214 cm Länge 107 cm breit (Verhältnis 2 : 1), die beiden anderen messen nur 212 X 84 cm.

Die Disposition der Platten ist gleich, die Figuren heben sich in starkem Relief vom muldenförmig vertieften Grunde ab; den Rahmen bildet ein innerer Inschriftstreifen und ein äusserer breiterer Ornamentfries, dieser bei der grössten Platte nach aussen abgeschrägt.

Die Äbtissinnen stehen in streng frontaler Stellung 3) starr aufgerichtet da, in den Händen halten sie als Abzeichen ihrer Würde ein geschlossenes Buch 4). Während die Figuren der kleineren Platten beide Hände zum Fassen des Attributes brauchen, ist die Rechte der Adelheid I. frei; sie ist seitlich vom Körper erhoben, die Handfläche nach Art der altchristlichen Orantengebärde nach vorn gewandt.

Die Äbtissinnen tragen lange ungegürtete Gewänder mit weiten Ärmeln,

 

1) Hase u. Quast, Die Gräber in der Schlosskirche zu Quedlinburg. Quedl. 1877.

2) Hase u. Quast, Abb. 1 - 3. Adelheid II. auch bei Dehio u. v. Bezold, Denkm. der deutschen Bildhauerkunst, 12. Jahrh., Tafel 5, 3.

3) Die nicht streng von vorn aufgenommenen Photographien der Messbildanstalt (Creutz a. a. O. Tafel VI) erwecken den unrichtigen Eindruck, dass die Köpfe zur Seite gewendet seien. Die Aufnahmen von Kliche, Quedlinburg, sind in diesem Punkte zuverlässiger.

4) Vgl. eine Äbtissin in entsprechender Stellung auf einem Siegel der Nachfolgerin der Adelheid II., Gerburg († 1139). Kettner, Antiquitates Quedlinb., Leipzig 1712, Tafel I bei Seite 696.

 

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unter denen die eng anliegenden Ärmel eines Untergewandes sichtbar werden. Kopf und Schultern bedeckt eine Kapuze, deren Ausschnitt Gesicht und Hals frei lässt; über die Brust hängen symmetrisch zwei Gewandzipfel herab, deren Zusammenhang mit der Kapuze nicht ersichtlich ist, die aber vermutlich die Enden eines darunter liegenden Schleiertuches sind 1). Der untere Gewandsaum und die weiten Ärmel zeigen den Schmuck von Bordüren mit Perlbändern und Schrägkreuzreihen, auch die Schuhe tragen einen schmalen ornamentierten Längsstreifen.

Die Relieftechnik macht für den ersten Anblick den Eindruck, als sei der Künstler ausgegangen von einer Vorzeichnung in der durch den Inschriftrand bestimmten Fläche, von der aus dann die plastische Vertiefung erfolgt sei. Dafür sprechen die Unebenheiten des Grundes, die auf Bearbeitung mit messerartigen Geräten hinweisen, ferner die Art des Zusammenhanges der Figuren mit dem Grunde, besonders der hinter dem rechten Arme der Adelheid I. stehengebliebene, bis zu 10 cm aus dem übrigen Hintergründe herausspringende Verbindungsblock. Beim Arbeiten in weichem Material würde dieser Arm sicher fest am Hintergründe anliegen. Trotzdem wird diese „Bronzetechnik“, von der schon beim Grabmal Wittekinds die Rede war, wenigstens in gewissen Partien angewandt worden sein. Das ist aus den über die Ebene des Inschriftrandes hervorragenden Teilen, den Köpfen, Armen und Füssen, zu schliessen 2), insbesondere aber aus der ebenen Bruchfläche bei der Beschädigung, der das Gesicht der Adelheid II. zum Opfer gefallen ist. Welcher Art die Verbindung der beiden Techniken gewesen ist, lässt sich schwer sagen. Vermutlich wurde zunächst der Hauptblock bis zur Hohe des Inschriftrahmens geformt und mit einer Vorzeichnung versehen; man beachte auf der erwähnten Bruchfläche die Spuren einer Mittelsenkrechten und einer Umrisslinie. Alsdann wurden die stärker plastischen Teile im Groben in weicher Masse angetragen, und die weitere Bearbeitung geschah durch Wegnehmen des Materials mit Meissel und Messer. Durch die Annahme einer Mitverwendung weichen Stucks auch während dieser Arbeit wird vielleicht das Fehlen von Fugen in der Ausgangsebene erklärt.

Die Modellierung beschränkt sich auf detaillose Wölbung der Hauptkomplexe der plastischen Erscheinung; bei den genannten vorspringenden Teilen ist fast volle Rundung erreicht, während die innerhalb des Grundblockes liegenden Beine brettartig wirken.

Trotz dieser Unbeholfenheit wird man das starke Streben nach Körper-

 

1) Vgl. die Reliefs der Liudgeridenkrypta zu Werden a. R. Effmann, Karol.-ottonische Bauten zu W., Strassburg 1899. S. 104 f.

2) Vgl. die Querschnitte der Grabsteine bei Hase u. Quast a. a. O.

 

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lichkeit nicht verkennen dürfen, das aus den Figuren spricht. Charakteristisch dafür ist besonders die Art, in der bei den schmaleren Platten auf Kosten der Richtigkeit jede konkave Fläche vermieden ist. Jeder der offenbar durch die Vorzeichnung angegebenen Teile wird konvex vorgewölbt, auch die Partien, die von der Innenseite der weiten Ärmel sichtbar sind, sowie die Faltenmasse zwischen den Beinen. Die Figur der Adelheid I. weicht in diesem Punkte ab; auch bei ihr sind die einzelnen Teile möglichst gerundet, aber in der konkaven Gestaltung der mittleren Gewandpartie am Unterkörper zeigt sich eine reifere plastische Anschauung.

Die Einzelheiten sind an den Figuren fast rein linear gegeben. Am Kopf, bei dem die übermässige Wölbung des Schädels unter dem Kopftuche und die hochsitzenden kleinen Ohren byzantinischen Frauenfiguren entsprechen, sind die Augen von zwei parallelen Ovallinien umzogen, darüber die Brauen in stark eingetiefter Linie angegeben. Bei den Händen ist an der Rechten der Adelheid I. die lineare Trennung der Fingerglieder zu sehen. Der Faltenwurf der Gewänder wird teils durch lange geradlinige Stoffschichtungen dargestellt, die wie plissiert erscheinen und denen sich die Omegalinien der Saumführung anschliessen, meist aber sind eingeritzte starre Kurven zur Wiedergabe der Gewandbewegung benutzt. Das Hauptmotiv sind zwei Parallellinien, die einen Abstand von 1 - 2 cm haben. Als Kreise an Brust, Bauch, Knie und Ellbogen markieren sie die Gliederung des Körpers unter dem Gewand. Doppelte Parabelkurven erscheinen als schematische Angabe der Hängefalten des Stoffes. Die Art, wie diese Doppellinien sich mitunter kreuzen und überschneiden, wie neben der hängenden auch die steigende Parabel verwandt wird, beweist den durchaus konventionellen Charakter dieser Linien. Das Futter der weiten Armel ist durch Parallelschraffur vom übrigen Stoff unterschieden.

Auf der grossen Grabplatte der Adelheid I. ist die Gewandbehandlung ausschliesslich mit den genannten Motiven ausgeführt. Bei den anderen Platten treten dagegen merkwürdige andere Elemente hinzu. Am deutlichsten zeigen sie sich an der Figur der jüngeren Adelheid. Die Gewandpartie zwischen den Beinen ist mit unregelmässigen Ritzlinien überzogen, deren gekritzelte Züge sich gänzlich von den festen Doppellinien unterscheiden. Man gewinnt den Eindruck eines hilflosen Versuches, einen reicher gegliederten Faltenkomplex mit Augenbildung und Faltenüberschneidungen nachzumachen. Creutz 1) hält nun diese Figur für die zuerst entstandene, der dann von der Hand desselben Künstlers Beatrix und Adelheid I. Gefolgt seien. Jene seltsamen Linien wären nach ihm ebenso aus der ungeübten

 

1) a. a. O. S. 60.

 

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Hand des Anfängers zu erklären wie die merkwürdige Folge schräger Falten, die bei Adelheid II. das rechte Bein überschneidet. Bei Beatrix hätte der Bildhauer dann „unter fortschreitender Übung“ die Bemühungen, reiche Gewandbildungen verständnislos nachzubilden, schon mehr zurückgedrängt - die grössere Sicherheit und Einfachheit der Falten zwischen den Beinen! - und endlich als reifste Leistung unter Beschränkung auf wenige feste Formeln die grösste Grabplatte geschaffen.

Dieser Hypothese stehen jedoch gewichtige Bedenken entgegen. Es fällt auf, dass neben jenen unfreien Linien bei Adelheid II. die festen Doppelkurven in derselben Sicherheit stehen, wie sie bei Adelheid I. Ausschliesslich verwendet sind. Noch seltsamer aber ist, dass die beiden Figuren einen verschiedenen Grad des Verständnisses für die Bedeutung dieser Linien verraten. Am Ansatz des Oberarmes ist bei Adelheid II. ein Abschnitt zweier konzentrischer Kreise zu sehen, die einem ähnlichen Gebilde an der Brust der älteren Adelheid entsprechen. Bei ihr zeigt nun aber der Verlauf dieser Linien, dass wir eine Andeutung der weiblichen Brüste vor uns haben. Das Bewusstsein dieser Bedeutung ist bei der anderen Figur vollständig verloren gegangen. Hier ist der Punkt, aus dem bündig zu schliessen ist, dass die grosse Grabplatte nicht eine entwickeltere Arbeit des Meisters der anderen ist; denn von der Verständnislosigkeit, die aus jenen beiden Linien bei der einen Figur spricht, lässt sich die wohlverstandene Anwendung bei der anderen nicht ableiten. Man wird daher, so überraschend es bei den grossen Übereinstimmungen der Figuren erscheint, verschiedene Hände an ihnen unterscheiden müssen. Der Meister der älteren Adelheid arbeitet mit nur wenigen formelhaften Formen, über deren Sinn er sich jedoch noch einigermassen im klaren ist. Sein Werkstattgenosse, der die Grabplatte der anderen Adelheid ausgeführt hat, kennt die gleichen Formeln, verwendet sie aber oberflächlicher und versucht in verständnisloser Nachahmung fremder Gewandmotive eine Bereicherung zu erzielen.

Die dritte Grabplatte nimmt eine Mittelstellung ein. Da bei der Brustlinie dasselbe Missverständnis vorliegt wie bei Adelheid II., wird man Bedenken tragen, die Beatrix derselben Hand zuzuschreiben wie Adelheid I., obgleich die ganz identischen Formen der Köpfe die Grösse der Übereinstimmungen erweisen. Andrerseits scheidet das Fehlen der Kritzellinien und der Schrägfalten über den Beinen die Beatrix auch von der Hand, die den Grabstein Adelheid II. geschaffen hat. Bei der mittleren Gewandpartie am Unterkörper zeigt die Figur der Beatrix in den Querfalten, die bandartig das System der senkrechten Parallelen überschneiden, ein Motiv der Art, wie sie der Künstler der Adelheid II. vergebens nachzubilden strebte. In

 

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der engen Schraffur des Ärmelfutters stehen die beiden schmalen Platten, bei denen verschiedene Systeme von Parallellinien gegeneinandergesetzt sind, im Gegensätze zu der grossen Figur der Adelheid I., bei der eine einheitliche Schraffur noch einigermassen sinngemäss einen feingefältelten Stoff wiedergibt. - Es erscheint denkbar, die Hypothese einer dritten Hand für den Grabstein der Beatrix zu vermeiden; man könnte die Ausführung derselben

 

tl_files/Fotos/August_Fink_1915/Abb-S-17-Schema-der-Lage-der-Grabplatten-.jpg

 

Schema der Lage der Grabplatten im Mittelschiff der Kirche, nach Hase und Quast. Die Zahlen sind die Todesjahre der Äbtissinnen. Die einfach unterstrichenen Zahlen geben die Lage der drei ältesten Steine bei der Auffindung im 19. Jahrh. an, die doppelt unterstrichenen die mutmassliche ursprüngliche Lage der beiden ältesten Platten.

 

auf die beiden festgestellten Hände verteilen, wie auch an der Adelheid II. der Bildhauer der Adelheid I. beteiligt gewesen sein könnte. Auf jeden Fall sind die ausführenden zwei oder drei Bildhauer Werkstattgenossen gewesen; die Übereinstimmungen überwiegen die Verschiedenheiten bei weitem, und die Annahme der gleichzeitigen Entstehung der drei Grabplatten wird durch die festgestellten Abweichungen nicht im mindesten erschüttert.

Die Auszeichnung des Grabmales der älteren Adelheid durch grössere Breite und kräftigere Profilierung ist zu auffällig, um als Zufall erklärt zu

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werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Grund in der ehemaligen Lage der Platten zu suchen ist; man wird daher festzustellen streben, für welchen Platz die Grabsteine anfänglich bestimmt waren.

Die Anordnung, in der die Platten im 19. Jahrhundert unter dem Fussboden der Kirche aufgefunden wurden, ist keinesfalls die ursprüngliche. Im zweiten östlichen Joch des Mittelschiffes lagen acht Grabsteine; das nicht völlig durchgeführte Anordnungssystem umfasste nach Quasts Annahme vier Querreihen mit je drei Platten. Die besprochenen Steine sind die ältesten der Folge. Die der beiden ältesten Äbtissinnen bildeten Anfang und Ende der westlichen Reihe, der der jüngsten das nördliche Glied der dritten Reihe von Westen gerechnet. Diese Reihe scheint nun den Anfang des Grabsteinkomplexes darzustellen; sie liegt in der Mitte des mittleren Langhausquadrates. Nach dieser Annahme müssten die beiden ältesten Grabsteine aus ihrer ursprünglichen Lage entfernt sein; den für sie anzunehmenden Platz füllt jetzt zum Teil eine Grabplatte vom Jahre 1441, die durch ihre Grösse alle älteren weit übertrifft und sich dem Reihensystem derselben in keiner Weise einfügt.

Nun ist sehr glaubhaft, dass gerade bei den Grabplatten der beiden ältesten Äbtissinnen der Zusammenhang mit dem Grabe am leichtesten unterbrochen wurde. Denn die Todesdaten der Adelheid I. und Beatrix fallen vor 1070, in welchem Jahre die ältere, nordwestlich von der jetzigen liegende Stiftskirche abbrannte. In ihr waren die beiden Äbtissinnen zuerst begraben, und die Überführung ihrer Gebeine in den Neubau geschah vermutlich in den für derartige Sekundärbestattungen üblichen kleinen Steinkästen 1). Bei einem im 15. Jahrhundert eintretenden Platzmangel im Mittelschiff konnten diese leichter als die sonst üblichen Steinsärge beiseitegerückt werden und Platz für eine neue Bestattung geben. So erklärt sich ungezwungen die auffällige Lage des Grabes von 1441. - Die Bestattung der Adelheid II. erfolgte 1095 sicher schon in der noch unvollendeten neuen Kirche, damals mögen auch die Gebeine ihrer Vorgängerinnen wieder beigesetzt sein. Es handelt sich um die ersten Gräber im Neubau 2). Nun ist aber aus zahlreichen

Analogien 3) zu schliessen, dass der vornehmste Platz in der Längsachse der

 

1) Beispiele: Petersberg b. Halle, Sekundärbestattung der Lukardis, Schwester Konrads d. Gr. 1156. Bau- u. Kunstdenkm. d. Prov. Sachsen, Neue Folge I. 563 f. - Magdeburg, Überführung von Gebeinen aus dem alten Dom in den Neubau: Wiggert, Gesch.-blätter f. Stadt u. Land Magdeb. II, 1867. S. 193.

2) Die Vorgängerin der Adelheid I., Mathilde, liegt in der alten Peterskirche, der jetzigen Krypta.

3) z. B. Königslutter (Kaiser Lothar, Heinrich d. Stolze, Richenza), Meier, Bau- u. Kunstdenkm. v. Braunschw. I, 219. Petersberg b. Halle (Konrad d. Grosse u. seine Familie), a. a. O. Speyer (Kaiser-

gräber), Grauert, Sitzungsber. d. Münchener Akad., phil.-hist. Klasse 1900, 539 f. - vgl. auch Magdeburg, Wiggert a. a. O. S. 192.

 

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Kirche der ältesten Äbtissin, Adelheid I., eingeräumt wurde, dann der Platz zu ihrer Rechten und endlich der an ihrer linken Seite belegt wurde. Der Platz der Grabplatte der Adelheid II. zur Zeit der Auffindung wäre danach noch der ursprüngliche gewesen. Die grosse Platte gehörte in die Mitte der gleichen Reihe und der Grabstein der Beatrix symmetrisch an die andere Seite der Adelheid I. Zu dieser Annahme stimmt der Umstand, dass die Summe der Breitenmasse bis auf wenige Zentimeter der Ausdehnung entspricht, die im 13. Jahrhundert von den drei Grabsteinen der östlichen Reihe eingenommen wurde 1).

Daraus ergibt sich, dass dem ursprünglichen Plane der Gedanke einer Gruppe mit gleichwertigen Seitengliedern und betonter Mitte zugrunde lag. Diese Feststellung liefert für die Entstehungszeit der Denkmäler mit einiger Wahrscheinlichkeit einen terminus ante quem. Es ist uns nach dem Gruppencharakter vermutlich die ganze gleichzeitig gefertigte Reihe erhalten und kein zugehöriges Werk unter den zahlreichen zerstörten 2). Danach werden die Grabmaler unter der auf Adelheid II. folgenden Äbtissin Gerburg errichtet sein; sie starb 1139.

Die Entscheidung der Frage: Standfigur oder Liegefigur? ist bei den Quedlinburger Grabsteinen nicht so einfach wie bei den Denkmälern von Merseburg und Enger. Die steifen Bewegungen, mit denen die beiden seitlichen Äbtissinnen das Buch halten, ergeben für den ersten Anblick den Eindruck eines starr daliegenden Leichnams. Für diese Auffassung könnte auch geltend gemacht werden, die Kreise auf Bauch, Brust und Knie deuteten schematisch das Anliegen des Gewandes am liegenden Körper an.

Das letzte Argument ist am leichtesten zu entkräften. Bestände es zu Recht, so müsste die Figur, an der die Kreislinien am bestimmtesten sind und den festesten Zusammenhang mit dem Körper zeigen, die Liegeauffassung am stärksten vertreten. Nun ist aber bei Adelheid I. mit dem besten Verständnis jener Kreise eine bewegte Stellung verbunden, die sich nur sehr schwer an einer Liegefigur erklären liesse. Sodann zeigen sich, nur von der Seite sichtbar, die Doppelkreise auch am Ellbogen. Hieraus und aus der Kniebildung der Stuckapostel aus Clus bei Gandersheim 3), die die nächste Parallele der Quedlinburger Äbtissinnen und sichere Standfiguren sind, ergibt sich, dass die Kreise keine naturalistische Angabe des Durchdrückens des Körpers durch das Gewand sind, sondern eine konventionelle Bezeichnung der einzelnen Gelenke und Körperteile 4).

 

1) Die Grabsteine des 12. Jahrhunderts: 84+107+84 = 275 cm, die des 13.: 92+92+98 = 282 cm.

2) Kettner, Kirchen- u. Reformationshistorie von Quedlinburg. Quedlinb. 1710. S. 291.

3) Meier u. Steinacker, Bau- u. Kunstdenkm. d. Herzogt. Braunschw. V, 62.

4) Vergl. besonders am Westportal in Chartres die beiden Figuren ganz links (Voege, Anfänge des monum. Stiles, Strassb. 1894. S. 38, Abb. 12), wo die Kreislinien auf der Brust auch beim Manne erscheinen. - Die Andeutung der Brust auch bei der Erfurter Stuckmadonna (sichtbar auf der seitlichen Ansicht: Doering u. Voss, Meisterwerke sächs.-thür. Kunst, Magdeburg o. J. Tafel 106).

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Was die Bewegung der Figuren angeht, so würde bei Adelheid I., wenn diese Gestalt mit der lebhaften Bewegung des rechten Armes und den weitgeöffneten Augen isoliert erhalten wäre, niemand den Charakter der Standfigur in Frage ziehen. Aber auch die Bewegungen der beiden anderen Äbtissinnen sind nicht derart, dass sie nicht Standfiguren angehören könnten, zumal die offenen Augen der Beatrix zu dieser Auffassung drängen. Zu Adelheid II. ist einer der Krieger von St. Maurits in Münster 1) zu vergleichen, der symmetrisch, wie die Äbtissin das Buch, den Schild vor den Leib hält. Bei Beatrix ist zu beachten, dass die Finger der linken Hand genau so nach oben gebogen sind, wie bei Adelheid I.; dass nicht der gleiche Eindruck der Bewegung erzielt ist, erklärt sich daraus, dass, um auch die zweite Hand mit dem Halten des Buches zu beschäftigen, dieses weiter nach links geschoben werden musste. Die Bewegungen auf den beiden schmalen Platten wirken deshalb so unbeholfen, weil der die Figuren eng umschliessende Rahmen eine Geste forderte, bei der die Arme den Körper überschnitten, und damit den Künstler vor eine ganz ungewohnte Aufgabe stellte. Dieser Rahmenzwang aber ergab sich einerseits aus der mit dem Streben nach stärkerer Plastik Hand in Hand gehenden grösstmöglichen Steigerung des Massstabes, andrerseits dem durch das Grab bestimmten Schmalformat. Bei Adelheid I. ist die Platte jederseits - offenbar um die Breite des Zwischenraums der Särge - verbreitert, und hier kann der Charakter der bewegten, lebenden Gestalt klar hervortreten.

Endlich spricht noch Folgendes für die Standauffassung: zwischen den Füssen der Beatrix ist eine Fläche plastisch erhöht, die oben vom Saume des Gewandes begrenzt wird, unten aber von einer Kurve, die an der einen Fussspitze ansetzt, sich dem Saume nähert und symmetrisch zur anderen Fussspitze abfällt. Bei Adelheid I. findet sich ein entsprechendes Gebilde, doch ist die Kurve durch eine Parallellinie stärker hervorgehoben. Die Platte der Adelheid II. zeigt diese seltsame Erscheinung nicht, dagegen ist zwischen jeden Fuss und den Grund eine Art Polster eingeschoben, auf dem die Füsse zu stehen scheinen.

Das gewölbte Flächenstück bei Beatrix und Adelheid I. erscheint als plastische Form zunächst unerklärlich. Denkt man jedoch daran, welche Bedeutung jene Kurve zwischen den Füssen rein linear haben könnte, so

 

1) Creutz a. a. O. Tafel II. '

 

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bietet sich eine überraschende Parallele bei einem Blick auf die grossen Heiligenfiguren an den Gewölben der Krypta, in der die Grabsteine aufgestellt sind 1). Das Terrain, auf dem die Heiligen stehen, ist als eine braune Erdkuppe dargestellt, deren obere Begrenzung der Linie zwischen den Füssen der beiden Grabfiguren entspricht. Ich möchte glauben, dass der Bildhauer von einem malerischen Vorbilde diese Terrainlinie, ohne sich ihrer Bedeutung bewusst zu werden, mit übernommen und bei der Übersetzung ins Plastische jene unverständliche Form geschaffen hat. Das Missverständnis lehrt, dass er den spezifischen räumlichen Charakter des Standfigurenvorbildes nicht erfasst und die konventionelle aufrechte Gestalt ebenso unbefangen auf der horizontal im Boden liegenden Platte angebracht hat, wie sie in der Malerei an gewölbten oder horizontalen Decken Verwendung fand. Bei dem Künstler der Adelheid II. aber hat offenbar, als er unter jedem Fusse eine Art Basis anbrachte, noch etwas stärker das Gefühl mitgesprochen, dass die wagerechte Lage des Grabsteines keinen Einfluss auf die Auffassung der Figur habe.

Den Quedlinburger Äbtissinnen schliesst sich ein stark verwittertes Grabsteinfragment in Drübeck 2) am Harz an. Es zeigt, von einem schmucklosen Rahmen umzogen und von ihm stark eingeengt, die obere Hälfte einer weiblichen Gestalt. Von der Tracht sind die weiten Überärmel und die engen Ärmel des Untergewandes deutlich; über die Mitte der Brust hängt ein langer Gewandstreifen herab, wohl ein Ende des Schleiers, der wie in Quedlinburg den Kopf umhüllt. An die dortigen Figuren erinnern auch die eckenlosen grossen Ovale der Augen, deren Längsachsen nach aussen geneigt sind. Dagegen weicht die Kopfbildung insofern ab, als die Überhöhung des Schädels unter dem Kopftuche durchaus fehlt. Die Proportionen waren wie in Quedlinburg sehr gestreckt; die ursprüngliche Länge des Steines betrug bei 63 cm Breite etwa 180 - 190 cm, wie sich aus den Massen eines schmucklosen Steinsarges im Boden der Krypta ergibt, über dem sich die Platte vermutlich ehemals erhob. Dass der Stein über dem Fussboden lag, erweist das unten karniesförmig eingezogene Profil.

Die Figur zeigt den Gebetsgestus mit nach vorn gekehrten Handflächen, die Unterarme sind vor die Brust gezwängt. Ein hinter dem Kopfe liegender mächtiger Scheibennimbus gibt einen Anhalt zur Namensbestimmung. Entweder ist, wie das Inventar annimmt, die nach Urkunden im Kloster als Heilige verehrte Adelbrin dargestellt (Schwester der Klostergründer Theti

 

1) Nach Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkm. V, 422 aus dem Anfange des 12. Jahrh.

2) Bau- u. Kunstdenkmäler der Prov. Sachsen XXXII. Grafschaft Wernigerode. S. 53, mit Abb.

 

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und Wikker, erste Vorsteherin des Konventes; Ende des 9. Jahrhunderts) oder die Einsiedlerin Sisu, die 1016 zu Drübeck im Geruch der Heiligkeit starb 1). Jedenfalls zwingen jedoch diese Daten nicht zu einer Zuweisung des Grabsteines an das 9. 2) oder frühe 11. Jahrhundert; vielmehr werden wir in seiner Stilverwandtschaft mit den Quedlinburger Denkmälern einen finsteren Anhaltspunkt zu seiner Datierung haben.

Als Analogie für den Orantengestus sind einige westfälische Skulpturen heranzuziehen. Die männliche Figur einer Grabplatte aus Borghorst 3) hebt beide Hände symmetrisch vor die Brust. Bei der ausgezeichneten Grabplatte der Reinheldis in Riesenbeck 4), die eine mit Quedlinburg verwandte, aber wesentlich überlegene Flachrelieffıgur zeigt, ist die Symmetrie aufgegeben wegen der Beziehung der Gestalt zu der oben dargestellten Himmelfahrt der Seele. Als Ableitung aus der Orantengeste der en-face-Figur erscheint der Ausdruck des Gebets an den Externsteinen 5): zu Füssen des Kreuzes erheben die Vertreter der erlösungsuchenden Menschheit, Mann und Frau, je eine Hand in der Weise, dass die nebeneinanderliegenden Handflächen ganz ähnlich der besprochenen Geste wirken. Ein weiteres sächsisches Beispiel für die Bewegung ist ein kleines Relief in Conradsburg 6) aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das wohl Votivcharakter hat und eine männliche und eine weibliche Figur in Orantenstellung zeigt.

 

Zwei bronzene Grabplatten aus dem romanischen Magdeburger Dom haben sich in den Neubau des 13. Jahrhunderts hinübergerettet. Goldschmidt 7) stellte fest, dass der älteren der Name zukomme, der traditionell der jüngeren gegeben wurde; sie stellt den am 15. Januar 1152 gestorbenen Erzbischof Friedrich von Wettin dar.

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Die lebensgrosse Gestalt trägt vollen Ornat. Die Alba, mit engen quergefältelten Ärmeln, ist unten in regelmässige Falten mit Omegasaum gelegt. Die fransenbesetzten Enden der Stola und des Cingulums werden zwischen der Alba und der wenig kürzeren Dalmatika sichtbar. Diese ist seitlich ge-

 

1) Thietmar, Chron. VIII, 6. M. G. SS. III, 863. Vgl. Jacobs, Das Kloster Drübeck, Wernigerode 1871

2) Dehio, Handbuch V, 103

3) Ludorff, Bau- u. Kunstdenkm. von Westfalen, Kreis Tecklenburg, S. 90. Creutz, a. a. O. S. 55. Der Stein ist jetzt im Diözesanmuseum Münster.

4) Creutz a. a. O. S. 58. Abb. auch Dehio u. v. Bezold, Bildhauerkunst, 12. Jahrh. Tafel 5, 2. - A. Winckelmann, Sünte Rendel oder St. Reinheldis. Münster 1912. - Alle fassbaren Bestandteile der Legende gehen auf die Grabschrift zurück; das erst im 18. Jahrh. in Verbindung mit Reinheldis genannte Datum 1262 darf die Datierung des Steines nicht beeinflussen.

5) Creutz a. a. O. Tafel V.

6) Bau- u. Kunstdenkm. d. Prov. Sachsen XVIII. S. 31. mit Abb.

7) Jahrbuch der preuss. Kunstsamml. XXI. 1900. S. 227 mit Abb.

 

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schlitzt und unten mit einer breiten Zierborte versehen, die Ärmel sind von mässiger Weite. Die Kasel besteht aus kostbarem mit phantastischen Tieren geschmückten Stoff, der Saum und der viereckige Halsausschnitt sind gleichfalls mit Bordüren benäht. Das Humerale ist im Nacken bis zum Ansatz der Mitra hochgeführt; letztere hat die hohe zweispitzige Form des späteren 12. Jahrhunderts mit breitem titulus und circulus. Das kreuzgeschmückte Pallium, die Schuhe, deren Lederwerk die übliche Aufteilung in Riemen - corium fenestratum - zeigt, das Pedum mit einfacher Krümmung und der Siegelring am vierten Finger der rechten Hand vervollständigen den Ornat. Der feierlichen Amtstracht des Erzbischofs entspricht seine Haltung; während die Linke den Hirtenstab fasst, ist die Rechte segnend vor die Brust gehoben.

Die Füsse stehen auf einer rechteckigen Platte, dem von byzantinischen Reliefs übernommenen Rudiment des antiken Statuensockels. Die Bedeutung desselben ist nicht mehr verstanden, die Vorderseite und Oberseite in eine Fläche gelegt, und nur die lineare Scheidung erinnert an die ursprüngliche Form.

Goldschmidt stützte sich bei seiner Bestimmung der Figur darauf, dass ein völlig übereinstimmender Bischof in kleinem Massstabe in mehreren Exemplaren auf den Korssunschen Türen in Nowgorod 1) vorkommt, die zwischen 1152 und 1156 in Magdeburg entstanden.

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Diese Feststellung ergibt die wichtige Tatsache, dass die Monumentalplastik mit der genauen Vergrösserung eines kleinplastischen Schemas arbeiten konnte. Denn dass die Kleinkunst der gebende Teil war, folgt aus der Fülle verwandter Motive an den Bronzetüren. Die Wiederholung ist durchaus getreu bis auf ein strengeres Festhalten an der Frontalität, das sich aus dem Charakter der Einzelfigur und dem monumentalen Massstab ergab.

Die jetzige aufrechte Stellung der Grabplatte täuscht darüber hinweg, dass bei ihr im Gegensatz zu den bisher besprochenen Denkmälern zum erstenmale der im Wesen der Grabplatte liegende Formkonflikt akut wird, die Unvereinbarkeit der liegenden Platte und der Standfigur. Die noch genauer zu betrachtende kleine am Fussende hockende Figur benutzt die Hintergrundsfläche der Hauptfigur als Standfläche. Damit ist ein erster Eingriff in die Bildmässigkeit der Grabplatte geschehen.

Die grosse Starrheit der Gestalt des Erzbischofs wird sich zum guten

 

1) Friedrich Adelung, Die Korssunschen Türen in der Kathedralkirche zur Heiligen Sophia in Nowgorod. Berlin 1823. - Dehio u. v. Bezold, Denkm. der deutschen Bildhauerkunst, 12. Jh., Tafel 2 u. 3.

 

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Teil durch das Ausgehen von dem kleineren Masstabe erklären. Die naturalistische Grösse hätte eine grössere Ausführlichkeit gefordert, als sie das kleine Vorbild gab, von dem die Augen ohne Augensterne, die Doppelvoluten der Ohrmuscheln schematisch vergrössert sind.

Beim Kopfe hat der Künstler auf jede Belebung und jeden Ausdruck verzichtet; die Leere der grossen Gewandflächen sucht er durch Ziselierung zu überwinden und schmückt sie mit mannigfachen, meist drachenartigen Tieren und vegetabilischen Motiven. In den eingetieften Faltenlinien ist als Fortschritt anzumerken, dass an Stelle der Doppellinie die weichere Form der von einer Punktreihe begleiteten Einzellinie getreten ist.

Wenn die Dürftigkeít der Einzelformen in der kleinplastischen Schulung ihren Grund hat, so ist der gleiche Grund heranzuziehen zur Erklärung der unleugbaren plastischen Eindringlichkeit der Gesamtfigur. Bei der Eintiefungstechnik des Steinreliefs ergab sich die Wirksamkeit der dritten Dimension erst ganz allmählich, die Bronzekunst mit ihren kleinen in der Hand gekneteten Modellfiguren hat hier leichteres Spiel. Die in den kleinen Gestalten der Türen von Nowgorod vorhandene Vollplastik ist nun von der grossen Magdeburger Figur gleichfalls übernommen, und es entsteht im Verein mit der Zurückhaltung im Detail, mit den einfachen zusammenfassenden Linien und Flächen des Ornates ein Werk von bedeutender Wucht des kubischen Aufbaus.

Das Figürchen zu Füssen des Erzbischofs ist ein rohes Abbild des antiken Dornausziehers. Es ist seltsam, gerade bei dieser elementardreidimensionalen Bronze des Mittelalters an die kleine Genrefigur des 5. Jahrhunderts erinnert zu werden, die ja innerhalb einer - freilich den vollplastischen ruhigen Körper längst beherrschenden - Periode der antiken Kunst das fast einzige Beispiel einer dreidimensional durchgeführten Bewegung darstellt!

Springer 1) sieht in der Entlehnung ein rein formales Interesse des Künstlers an der antiken Bronze (die während des ganzen Mittelalters in Rom sichtbar blieb!). Goldschmidt fügt hinzu, dieses Interesse, wenn es wirklich formal sei, werde sich nicht mehr aus den karolingisch-ottonischen Renaissancebestrebungen erklären lassen, sondern als neues selbständiges Zurückgreifen auf das klassische Altertum anzusehen sein.

Jedoch ist zu bezweifeln, ob wirklich formale Absichten den Künstler leiteten. Findet sich ein inhaltlicher Grund zur Übernahme, so ist er vorzuziehen.

Der Magdeburger Fall ist nicht vereinzelt. In italienischen Handschriften 2)

 

1) Das Nachleben der Antike im Mittelalter. Bilder aus der neueren Kunstgeschichte I. Bonn 1886, S. 13 ff..

2) Swarzenski, Salzburger Malerei, Leipzig 1908 ff. S. 18.

 

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erscheint der Dornauszieher als Monatsbild für den März. Am grossen Tympanon der Madeleine in Vézelay findet er sich in einer Gruppe von Figuren, welche nach ihren Bewegungen Kranke und Lahme darstellen 1). Keine dieser Analogien gibt jedoch eine befriedigende Deutung der Magdeburger Figur an die Hand.

Weiter führt uns die Beobachtung, dass die Spitze des Bischofsstabes den Kopf des Dornausziehers trifft. Damit ordnet sich die Darstellung jener Gruppe von Motiven unter, die den Sieg über ein böses Prinzip darstellen, etwa Christus, unter dessen Fuss sich Löwe und Drache winden, oder die Fortitudo, die Fuss und Speer auf den besiegten Feind setzt. Diese Beispiele eines dem 12. Jahrhundert geläufigen Schemas 2) sind den Korssunschen Türen entnommen, derartige Motive waren also der Magdeburger Kunst geläufig. Wenn ein entsprechender Zusammenhang zwischen Grabfigur und Dornauszieher nicht deutlich zum Ausdruck gebracht ist, so liegt die Schuld an der mit dem Schema des Bischofs übernommenen Sockelplatte sowie daran, dass die kleine Nebenfigur die Steigerung zum monumentalen Massstabe nicht mitgemacht hat; endlich erschwert die zwiespältige räumliche Orientierung die Klarlegung. - Als „böses Prinzip“, das in dem Dornauszieher verbildlicht sein könnte, kommt nur das Heidnische in der Herkunft der Statue in Frage. Dies wird von dem mittelalterlichen Künstler empfunden sein und die kleine Genrefigur zu einem Götzenbild und Symbol des Heidentums gestempelt haben.

Bei Friedrich von Wettin ist das Motiv wohlbegründet. Unter seiner Herrschaft war Magdeburg der Sammelpunkt für den Slawenkreuzzug, der 1146/47 gleichzeitig mit dem grossen Zuge ins Heilige Land organisiert wurde und die Bekehrung der heidnischen Nachbaren des Erzbistums zum Ziele hatte 3). Wir sehen danach in der Grabfigur den Kirchenfürsten, dessen Stab die Feinde Christi bezwingt. Verwandte Gedanken spielen in der späteren Grabplastik eine grosse Rolle.

 

In schroffem Gegensatze zu dem repräsentativen Charakter des Friedrich von Wettin steht eine Grabfigur in Altenplathow bei Magdeburg. Sie ist durch die Untersuchungen von Rosenfeld 4) als die des Hermann von

 

1) Lefèvre deutet die Darstellung nach der Apokalypse als Symbol der leidenden Kirche von Smyrna. Revue de l'art chrétien 1906.

2) Goldschmidt, Der Albanipsalter in Hildesheim und seine Beziehung zur symbolischen Kirchenskulptur des XII. Jahrhunderts. Berlin, 1895. S. 52 f.

3) W. v. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit. IV. Braunschweig 1877. S. 299. Anm. S. 483. - Die Annales Magdeb., M. G. SS. XVI. S. 188, berichten ausdrücklich von der Zerstörung eines „fanum cum idolis“ im Wendenlande.

4) Geschichtsblätter für Stadt u. Land Magdeb. 41, 1906, S. 365 f. Ebenda 45, 1910. S. 64 f. Unabhängig davon: Doering, Zeitschrift f. christl. Kunst 20, 1907, S. 18. Abb. bei Creutz a. a. O. Tafel IV.

 

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Plote bestimmt, der urkundlich zuletzt im August 1170 genannt wird und bald nachher verstorben sein muss. Der Fundort des beim Abbruch der Kirche ausgegrabenen Steines weist darauf hin, dass er dem mitten im Schiff der Kirche vor dem Altar bestatteten Stifter des Gotteshauses gesetzt wurde.

Der nach unten zu sich leicht verjüngende Grabstein zeigt von einem schmalen, vielfach beschädigten Inschriftstreifen umgeben in flachem Relief die Gestalt eines bärtigen Mannes in schmuckloser Gewandung. Die Füsse stehen auf einer einfachen Schrägplatte auf. Die Hände liegen mit den Flächen vor Brust und Bauch, eine Haltung, die jener der Beatrix von Quedlinburg verwandt ist, ohne aber wie dort durch das Halten eines Buches motiviert zu sein.

Nach Ausweis der unbearbeiteten Seitenflächen war die Platte ursprünglich nicht über den Fussboden erhöht, sondern in denselben eingelassen. Die höchsten Punkte des Reliefs sind daher abgetreten und vielfach unklar. Doch ist mit Sicherheit festzustellen, dass das Haar schlicht gescheitelt fast bis auf die Schultern herabfällt, und dass der Ritter einen kurzen Vollbart trägt. Von den Augen ist nur zu bestimmen, dass sie durch sehr grosse Ovale umzogen sind; gegenüber den Quedlinburger Grabsteinen bekundet sich der Fortschritt sowohl in der Horizontalstellung der Augenachsen wie in der Angabe der Augenwinkel.

Die Tracht besteht aus einem schlichten gegürteten Leibrock, der bis zur Mitte der Unterschenkel reicht; die Enden des schmalen Gürtels, der von einem überfallenden Bausch verdeckt wird, hängen bis zur Kniehöhe herab. Die Ärmel sind nur mässig weit, unter ihnen werden die anliegenden Ärmel

eines Untergewandes sichtbar, das auch am spitzen Halsausschnitt des Rockes zu sehen ist. Die Füsse stecken in Halbschuhen mit leicht umgebogener Spitze.

Die eingeritzten Faltenlinien, die an Knie, Schulter und Bauch in Kreisen geführt sind, erinnern noch an Quedlinburg, doch rückt die grössere Einheitlichkeit des Reliefs und das stärkere Zusammengehen der plastischen und linearen Elemente den Stein in die Nähe fortgeschrittener Werke, von denen vor allem die ausgezeichneten Seligpreisungen im Remter des Magdeburger Domes zu nennen sind. Einzelheiten der Tracht wie der über den Gürtel fallende Gewandbausch bestätigen die Verwandtschaft, obwohl die flüssige, elegante Gewandbewegung der Magdeburger Skulpturen in Altenplathow nur einen schwachen Widerhall findet.

Die bisher besprochenen Grabsteine gehören der von Goldschmidt als

 

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erster Stil der sächsischen Plastik zusammengefassten Gruppe an. Ein Rückblick lehrt, dass die übliche Form des Grabdenkmales in dieser Zeit eine bildmässig gefasste Platte ist, die trotz ihrer wagerechten Lage mit einer Standfıgur des Verstorbenen geschmückt ist.

Die Grundauffassung ist die der lebenden und stehenden Gestalt, doch treten in den jüngeren Werken der Gruppe die ersten Anzeichen eines Wandels auf.

Den Anstoss zum Übergang zur Liegefigur gibt die Lockerung des bildmässigen Rahmens und das gleichzeitige Anwachsen der Plastik, das ein naturalistisches Element in die Figuren bringt. Das erste Anzeichen für die Auffassung der Grundplatte als Horizontalfläche ist der Dornauszieher zu Füssen des Magdeburger Erzbischofs. Eine energischere Wendung zur Liegeauffassung bringt anscheinend der Stein von Altenplathow. Hier lassen sich die schlaff über dem Leibe liegenden Hände in der Tat am leichtesten aus der Stellung einer liegenden Figur erklären; man denkt an verwandte Motive auf italienischen Grabsteinen der gotischen Jahrhunderte. Die Annahme wäre möglich, es sei in Altenplathow die Umdeutung vollzogen, die der Grabstein der Beatrix von Quedlinburg nahelegte. Unumgänglich notwendig erscheint diese Annahme freilich nicht; es ist nicht unmöglich, dass die Figur trotz der unentschiedenen Bewegung stehend aufzufassen ist und sich damit der allgemeinen Darstellung der Grabfıgur unterordnet. Dass die Faltenkreise auf dem Leibe dagegen nicht als Argument für die Liegeauffassung verwendet werden dürfen, erweist der Vergleich der Magdeburger Remterfiguren mit dem Ritter Hermann.

Wenn in Beziehung auf die Stellung der Figur von Altenplathow die Möglichkeit zweier verschiedenen Auffassungen zugegeben werden muss, so erscheint die Anschauung unhaltbar, die beim Hermann v. Plote den Übergang zur Darstellung der Leiche sehen will. Der Ritter soll mit geschlossenen Augen tot daliegen; Doering will sogar am Munde den hippokratischen Zug deutlich wahrnehmen. Diesen letzteren Eindruck hat wohl nicht die Hand des Künstlers hervorgerufen, sondern die Tritte der Nachwelt, die die Skulptur beschädigten. An den Augen jedoch scheint mir trotz dieser Beschädigungen noch deutlich zu sein, dass sie weit geöffnet sind; wie völlig anders das 12. Jahrhundert das Antlitz einer Leiche darstellte, zeigt der weiter unten beschriebene Grabstein des Bruno von Hildesheim.

Jedenfalls erschüttern die sicheren Anzeichen des beginnenden Wandels in Magdeburg und die zweifelhaften in Altenplathow nicht die Tatsache, dass der Ausgangspunkt der Grabplastik die Standfıgur ist. Als ein Ele-

 

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ment, das den Übergang zur liegenden Grabstatue förderte, ist jedoch der Tatsache zu gedenken, dass während der auf immer grössere Belebung gerichteten Entwicklunglder Plastik für die isolierte Grabfigur am Grundsatze strenger Frontalität festgehalten wird.

In der Geste, dem einzigen Mittel der Darstellung eines Ausdrucks in der Frühzeit der Monumentalplastik, herrscht grosse Gebundenheit und Zurückhaltung. Nur ein Gefühlsausdruck wird dargestellt, das Gebet. Alle .inderen Bewegungen sind entweder dem Ausdrucksgehalt nach völlig neutral (Altenplathow) oder aber Attributgesten; denn die Segensgebärde des Kirchenfürsten und des Heiligen (Friedrich von Wettin, Wittekind) hat ebensogut attributiven Charakter wie das Halten von Szepter, Buch und Krummstab.

Die formalen Voraussetzungen zur Individualisierung der Figuren fehlen dem 12. Jahrhundert bis zum letzten Jahrzehnt noch völlig; der typische Charakter der Grabfıguren erhellt deutlich aus der völligen Gleichheit der Quedlinburger Äbtissinnen. Die Tatsache, dass überhaupt fıgürliche Grabmäler errichtet werden, ist jedoch als Ausdruck einer neuen Bewertung der Persönlichkeit und als wichtigster Schritt zur monumentalen Porträtfıgur anzusehen. Das Denkmal Wittekinds zeigt, wie sich mit dem neuen Persönlichkeitsgefuhl alsbald ein historischer Zug verbindet. Die Bedeutung des Verdienstes um die Kirche für die Bewertung der Person wurde schon oben erwähnt. Die fortschreitende Lösung aus der religiösen Bindung erweist sich am klarsten bei dem Grabmal von Altenplathow, das weder kirchliches Verdienst noch religiöses Gefühl zur Anschauung bringt, sondern einen Laien im schlichten Alltagsgewande darstellt. Es ist eine erste Fassung des für das 13. Jahrhundert so wichtigen Typs des Stiftergrabmals, bei dem die Beziehung zur Kirche nur noch ein epitheton ornans einer Profanfigur ist.

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Kapitel II.

Anfänge individueller Gestaltung der Grabfiguren um 1200.

Im Dom zu Magdeburg ist eine zweite Bronzefıgur vom Grabe eines Erzbischofs erhalten l).

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Sie galt früher infolge eines missverstandenen Inschriftfragments - „pacificus“ wurde als Anspielung auf den Namen angesehen - als die Friedrichs von Wettin. Nachdem Goldschmidt durch Beachtung des Todesdatums für diesen die schon besprochene Grabplatte gesichert hat, kommt für die zweite, offenbar jüngere nur einer der nächsten Nachfolger Friedrichs, Wichmann († 1192) und Ludolf († 1205), in Betracht. Um welchen von beiden es sich handelt, kommt weder durch die zusammenhanglosen Inschriftreste zur Entscheidung noch durch die nahe stilistische Verwandtschaft der Bronze mit den Chorschranken der Michaeliskirche zu Hildesheim; denn die Datierung derselben schwankt in der Zeit um 1200 noch um zwei Jahrzehnte 2).

Die Grabplatte schliesst sich im Gegensatze zu dem älteren Magdeburger Werke, bei dem die Inschrift (s. unten) hinter dem Kopfe angebracht ist, dem allgemeinen Typus mit umlaufendem Inschriftrand an; eine Reminiszenz an die Anordnung bei Friedrich ist jedoch darin zu sehen, dass die Mitra den oberen Inschriftstreifen überschneidet. Bemerkenswert ist die altertümliche Trapezform der Platte (vgl. Riesenbeck, Borghorst).

Die Sockelplatte unter den Füssen, von dem älteren Bischofsgrabmal her bekannt, erscheint hier bei der jetzigen aufrechten Aufstellung der Platte völlig sinngemäss, denn der Erzbischof ist gänzlich stehend gedacht. Gleichwohl war die ursprüngliche Lage die wagerechte, wie aus dem Inschriftrand und dem an die Sargform anschliessenden Umrisse der Platte hervorgeht. Die Tracht stimmt bis auf geringe Abweichungen überein: Dalmatika und Kasel sind verkürzt, der obere Ausschnitt der Dalmatika erweitert und dem Pallium parallel geführt; die Enden des Cingulums sind nicht mehr sichtbar. Neu ist die ganz stoffliche Behandlung der Kleidung. Sie besteht durch-

 

1) Abb. Jahrb. d. preuss. Kunsts. XXI. 1900. 227.

2) Giesau im 3. Bericht über die Denkm. deutscher Kunst, Berlin 1914, S. 34. Auch der terminus post quem, den Goldschmidt a. a. O. damit begründet, dass der Heiligenschein Bernwards dessen Kanonisation, 1192, voraussetze, ist nicht gesichert; Bernward trägt den Nimbus schon im Retmannmissale von 1159. Abb. Zeller, Bau- u. Kunstdenkm. der Prov. Hannover II, 4,1. S. 100. Abb. der Chorschranken ebenda Tafel 35.

 

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weg aus dünnen, fliessenden Stoffen, deren hängende Falten plastisch modelliert sind. Das Zusammenschieben des Stoffes der Kasel an den Unterarmen und des Humerales am Halse, die Stauungen und das Umschlagen über den Füssen machen schon den Eindruck der Naturbeobachtung, jedoch erinnern die konventionelle Schichtung der seitlichen Stoffmassen unten an der Alba und die Sonderung der Hängefalten der Kasel in einzelne plastische Komplexe noch an das alte Schema. Die nächsten Analogien bieten die schon erwähnten Hildesheimer Chorschranken; man vergleiche besonders die Madonna und den Heiligen Bernward. Interessant ist, dass auch hier wieder Beziehungen zwischen Bronze und Stuck bestehen.

Die Schmiegsamkeit der Gewänder verbirgt den Korper nicht mehr; die Zurückschiebung des Humerales vom Halse zeigt, dass der Künstler die Schwierigkeiten der Körpergestaltung nicht mehr zu scheuen braucht. Die Bewegung - die Rechte hält den Krummstab, die Linke ein Buch - hat nichts krampfhaft Gespanntes mehr; an Stelle des absichtlich wirkenden Vorzeigens der Insignien bei Friedrich von Wettin ist eine feine Zurückhaltung getreten, die fast schon den Charakter des Lässigen und Müden hat. Die leichte aber unverkennbare seitliche Wendung des Kopfes ist ein weiteres Zeichen für die diskrete Art der Belebung, die der Künstler erstrebt. Seine Individualisationsfähigkeit zeigt ein Vergleich des Kopfes mit dem älteren Erzbischof. Es gelingt jetzt die naturgemässe Durchbildung bis in die Einzelformen; die plastische Durchführung der Augenlider und der Flächen um den Mund ist besonders geglückt. Dabei bleibt jedoch das sehr jugendliche Gesicht noch völlig ausdruckslos. Auch sind die Formen zwar naturgemäss und sicher an der Hand eines Modells geschaffen, aber bei der auf jeden Fall posthumen Entstehung des Grabmales kaum als porträtmassig anzusehen.

 

Ein gänzlich von der allgemeinen Form der Grabplatte abweichendes Denkmal ist das des Presbyters Bruno im Dom zu Hildesheim 1). Bruno kommt 1181-94 als Priester und Domkellner vor; die ungewöhnliche Ehrung durch ein Prachtgrab hat er offenbar persönlichen Gründen, seiner eifrigen Sorge für Arme und Kranke zu danken.

Der Grabstein ist gegenwärtig in aufrechter Stellung an der Aussenseite des Domchores angebracht; über seinen ursprünglichen Platz ist ebensowenig etwas bekannt wie darüber, ob er anfänglich lag. Für diese Annahme spricht die Grösse, die den Abmessungen eines Grabes entspricht (218 X 92 cm); dass die Darstellungen mit einer senkrechten Fläche rechnen, ist bei der

 

1) Zeller a. a. O. S. 14 f. mit Abb.

 

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allgemeinen Orientierung der Grabfıguren des 12.Jahrhunderts kein Beweis gegen liegende Stellung.

Der Stein wird von einem am Kopfende im Halbkreis geführten Inschriftstreifen umzogen; ein Querstreifen in halber Höhe und ein zweiter darüber zerlegen die Fläche in drei Felder mit Reliefdarstellungen. Die Reliefs bringen den aus Riesenbeck bekannten Gedanken, die körperliche Darstellung des Verstorbenen und die der Himmelfahrt seiner Seele zu vereinigen, in erweiterter Form. Im Mittelfelde, einem breiten Rechteck, tragen zwei Engel 1) in einem Tuche die Seele, die als kleine nackte Halbfıgur dargestellt ist, mit den Handen in der von älteren Grabfıguren her bekannten Orantenstellung vor der Brust. Im oberen Felde, das ein Kleeblattbogen abschliesst, erscheint Christus in Halbfıgur, die Rechte segnend erhebend, in der Linken das geöffnete Buch mit den Worten des Weltenrichters: „venite benedicti!“ Ganz ungewöhnlich ist die untere Szene. Die Höhe des Feldes wird von der Leiche des Presbyters eingenommen; sie ist ganz in ein Tuch gehüllt, nur das Gesicht mit fest geschlossenen, eingesunkenen Augen bleibt frei; in kleineren Dimensionen erscheinen jederseits übereinander gestaffelt drei Figuren. Zu oberst, an der Dalmatika kenntlich, zwei Geistliche. Der rechts stehende schliesst den Mund des Toten durch einen Druck unter das Kinn, während sein Gefährte die letzte Hand an die Einhüllung der Leiche legt. Die den ganzen Körper umschliessende Hülle ist vom Bildhauer nicht folgerichtig durchgeführt, denn die mittleren Nebenfiguren greifen in naturalistisch unmöglicher Weise zwischen den Armen und dem Leibe des Toten durch: zur Linken ein mit einem Fell bekleideter Mann, der mit spitzen Fingern den Leichnam berührt, an der anderen Seite ein Lahmer mit Krücke, der mit der rechten Hand am Arme seines toten Wohltaters hängt, während die Linke in Orantenbewegung vorgestreckt ist. Zu Füssen kauern ein bärtiger Mann und eine weibliche Gestalt; die fehlenden Hände sind so zu ergänzen, dass sie unter den Füssen der Leiche liegen.

Diese Szene ist als Grablegung Brunos zu deuten. Da eine naturalistische Situation, in der die Leiche aufrecht steht, nicht wohl denkbar ist, glaubt man zunächst, hier eine merkwürdige Folge der zwiespältigen Raumanschauung bei den Grabplatten vor sich zu haben und die Leiche liegend, die Nebenfıguren aber stehend auffassen zu müssen. Jedoch darf man so streng

 

1) K. Escher, Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters und ihre Beziehungen zur Liturgie. Repert. f. Kunstw. XXXV. 1912. S. 97. Von den S. 103 f. angegebenen französischen Parallelen der Darstellung reicht keine über das 13. Jahrh. zurück. Ebenfalls erst dem 13. Jahrh. gehören die S. 98 angegebenen Analogien der gleich zu besprechenden Verbindung der Grabfıgur mit trauernden Klerikern an.

 

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naturalistische Schlüsse deshalb nicht ziehen, weil der stehende, in Tücher gehüllte Leichnam seit altchristlicher Zeit ein Bestandteil der Ikonographie der Lazarusszene ist; diese der Anschauung des Künstlers vertraute Darstellung wird auf das Relief eingewirkt haben.

Der Lebendigkeit der Szene entspricht die Durchführung der Figuren nicht völlig. Der Faltenwurf ist für die Zeit um 1195 rückständig, von der stofflichen Weichheit der Michaelischorschranken ist nichts zu spüren; von älteren Hildesheimer Werken sind nur einige Kapitelle im Langhaus von St. Godehard verwandt 1). Vielfach sind die Gewandflächen ganz ungegliedert; das Hauptmotiv des Faltenwurfs sind einfache parallele Linearfalten, zwischen denen die Fläche wulstartig modelliert ist. Der Mantel Christi und das Tuch in der Seelenszene zeigen die Stoffschichtungen mit weichem Zickzacksaum. Besonders zu beachten sind die mehrfach am Leichentuch angebrachten Faltenlinien mit freien hakenförmigen Enden, insbesondere zwei parallele Linien, die eine bandartige, schräg über die Brust laufende Falte begrenzen.

Die Gesichtsbildung Christi mit geringer plastischer Ausführlichkeit und scharfen Linien ist noch recht befangen. Dagegen ist die untere, weniger hieratische Szene freier und frischer. Die Nebenfiguren verraten deutlich das Bestreben des Künstlers, zu differenzieren und zu charakterisieren. Besonders ist die Darstellung schmerzlichen Zuckens am Munde der Geistlichen zu erwähnen. Das Gesicht des toten Bruno ist in scharfem Gegensatz zu dem lächelnden Puppengesicht der Seele wie zu den schmerzlich bewegten Seitenfiguren gebildet; die geschlossenen, schon etwas eingefallenen Augen, die Falten der Stirn, der schmale atemlose Mund erwecken den Gedanken, der Künstler habe mit Hilfe einer Totenmaske 2) gearbeitet. Die Inschrift bezeichnet die Darstellung Brunos ausdrücklich als Porträt.

 

In enger Beziehung zu dem Denkmal Brunos steht die Grabfigur des Bischofs Adelog († 1190) im Hildesheimer Dom 3).

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Das Grabmal, aus Sandstein bestehend, zeigt die lebensgrosse Gestalt des Bischofs, von dem Kleeblattbogen eines zu Häupten unvermittelt vorspringenden Baldachins 4) über-

 

1) Zeller a. a. O. S. 234.

2) Eine Originaltotenmaske, dem 11.- 12. Jahrh. zugeschrieben, in St. Fides zu Strassburg erhalten. Vergl. Doering, Deutschlands Kunstdenkm. als Geschichtsquelle. Leipzig 1910.

3) Abb. Zeller, a. a. O. S. 39. Die Verwandtschaft der beiden Grabmäler widerlegt die von Dehio, Handbuch V, 200, ausgesprochene Vermutung, die Adelogstatue gehöre dem 14. Jahrh. an.

4) Die architektonische Fassung wirkt durchaus unvollständig. Vielleicht wurden die den Baldachin tragenden Säulen während der Ausführung geopfert, um Platz für die Inschrift zu schaffen. Dass die Inschrift der Langseiten gleichzeitig ist, folgt aus dem Inhalt, der auf eine persönlich ganz gleichgültige Amtshandlung des Bischofs, eine Vermehrung der Einkünfte der Kirche, Bezug nimmt.

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wolbt; die Füsse stehen auf einer rechtwinklig zur Grundfläche vorspringenden Platte. Zeller schliesst aus dem architektonischen Motiv des Baldachins auf ursprüngliche senkrechte Aufstellung des Grabmales, der jetzigen Anordnung im Domkreuzgang entsprechend. Dass die Figur durchaus stehend gedacht ist, scheint ein weiterer Beleg für diese Ansicht zu sein. Das Gegenteil wird jedoch bewiesen durch den erst 1869 zerstörten Zusammenhang mit dem Grabe in der Krypta 1), durch die auf liegende Stellung berechnete Inschrift an den Langseiten, durch Analogien für die Verwendung architektonischer Motive bei liegenden Platten (Enger).

Der Faltenstil ist eine Weiterbildung der Formen des Brunograbes. Die wulstige Modellierung zwischen parallelen Linien, die grossen faltenfreien Flächen, die mehrfach verwendete bandartige Faltenbildung zeigen dies ebenso wie die Stoffschichtung mit eckenlosem Zickzacksaum. Eine plastische Ausgestaltung dieses Motives ist die wellenförmige Stauung der Alba zwischen den Füssen. Eine neue naturalistische Form ist die feine Fältelung des Humerales, die an die jüngere Magdeburger Bronze erinnert.

Die Rechte Adelogs fasst den Krummstab in der Weise, dass der Handrücken auf der Brust aufliegt, die Finger einzeln gekrümmt und dadurch gestaffelt sind; die Linke hält ein geöffnetes Buch und greift dabei so um dasselbe herum, dass sie die Buchfläche kaum überschneidet. Beide Bewegungen stehen dem Christus des Brunograbmals nahe.

Der Kopf Adelogs geht in der Einzeldurchbildung der plastischen Formen sowohl über die konventionellen Linien des Christuskopfes wie über die Ansätze zu individueller Gestaltung in den kleinen Nebenfıguren der Bestattungsszene weit hinaus. Die sorgfältige Beobachtung etwa der Muskeln um den Mund oder des Aufbaues der Stirn hat einen Kopf geschaffen, dessen naturalistische Wahrheit, verbunden mit völliger Ausdruckslosigkeit, etwa auf derselben Entwicklungsstufe steht wie der des jüngeren Erzbischofs in Magdeburg.

Für die beiden nahe verwandten Hildesheimer Grabmäler Ausführung durch die gleiche Hand anzunehmen, wird man, zumal epigraphische Verschiedenheiten hinzukommen, zögern, obgleich sich die Differenzen der Figuren wenigstens zum Teil durch den verschiedenen Massstab erklären lassen. Eine besondere Wichtigkeit erhält die Verwandtschaft der beiden Denkmäler dadurch, dass für den Stil des Adelogmeisters eine Fortbildung

 

1) Zeller a. a. O. S. 40.

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im Tympanon von St. Godehard 1) in Hildesheim erhalten ist - von Goldschmidt dem gleichen Künstler zugeschrieben - welches in abweichendem Material (Stuck) die Charakteristik der Köpfe fortführt und den zurückgebliebenen Faltenstil durch reichere Formen ersetzt. Goldschmidt hat den ungeheuren Fortschritt, den gegenüber älteren Werken die Köpfe des Adeloggrabmals und des Tympanons zeigen, auf die Einwirkung byzantinischer Vorbilder zurückgeführt. Durch die Heranziehung der Grabplatte Brunos können wir in einer geschlossenen Entwicklungsreihe die Fassung des gleichen Themas, der Christushalbfigur, vor und nach dem Einsetzen der neuen Einflüsse beobachten.

 

In Quedlinburg schliesst sich der ältesten Grabsteingruppe eine Reihe von Denkmälern an, die den Verlauf der Entwicklung des 13. Jahrhunderts widerspiegelt. Das erste, bald nach 1200 entstandene fügt zur Tradition des 12. Jahrhunderts neue für die Folgezeit bestimmende Züge hinzu. Es ist der Grabstein der 1203 verstorbenen Abtissin Agnes von Meissen 2), von deren hoher Bedeutung für die Kunsttätigkeit in Quedlinburg die Schätze des Zitters zeugen.

Beibehalten ist der Typus der Figur im Inschriftrahmen. Der Massstab schliesst sich mit geringer Vergrösserung der Breite den älteren Grabsteinen an; Adelheid II.: 212 X 84 cm, Agnes: 187 [+ ca 27] X 88 cm.

Die untere Leiste des Rahmens ist bei einer Versetzung des Steines abgenommen worden. Der Rahmen ist architektonisch profiliert, nach aussen durch Viertelstab zwischen je zwei Plättchen, nach innen noch kräftiger mit Verdoppelung des Viertelstabes.

Die Figur, deren Relief nur wenig über die Einfassung hervorragt, steht auf einer niedrigen Sockelplatte. In der Tracht besteht die auffallendste Abweichung von den älteren Abtissinnen darin, dass ein weiter Mantel hinzugefügt ist, der die Gestalt fast vollig einhüllt; er zeigt die breiten Pelzaufschläge, die einen Hauptschmuck der vornehmen Kleidung des 13. Jahrhunderts bilden. Uber das feingefältelte, das Gesicht umrahmende Kopftuch ist ein grosser Schleier gelegt, der über die Schultern fällt. Die Tracht entspricht der kleinen gravierten Darstellung der Agnes auf der Bodenfläche des sog. Reliquienkastens Ottos I. (Quedlinburg, Zitter).

Wie ihre Vorgängerinnen hält die Abtissin in der Linken ein geschlossenes Buch. Die Rechte scheint den einhüllenden Mantel noch fester zusammenzuziehen.

 

1) Zeller a. a. O., S. 238.

2) Hase u. Quast a. a. O., Abb. 5.

 

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Eine Anlehnung an die früheren Werke verrät sich in der byzantinisierenden Überhöhung des Schädels unter dem Kopftuche.

Im Gesicht ist das Streben nach weicher Durchbildung der vollen Formen unverkennbar. Dass das Detail nicht von der gleichen Kraft ist wie an den Köpfen in Hildesheim und Magdeburg, erklärt sich wohl aus den weniger ausgeprägten weiblichen Zügen.

Die Falten sind schlicht und ruhig: grosse ungebrochene Längslinien am Mantel, feines Parallelgefältel an Kopftuch und Ärmeln, äusserste Zurückhaltung in der Saumbewegung. Die Symmetrie ist stark betont, besonders in dem unten auseinandergeschlagenen Mantel.

Der senkrechte Fall der Falten betont den schon durch die Sockelplatte angedeuteten Charakter der Standfigur. Trotzdem soll die Figur nicht als stehend aufgefasst werden; denn der Künstler hat hinter dem Kopfe einen viereckigen gewölbten Gegenstand angebracht, der nichts anderes sein kann als ein Kissen. Es kann nur auf eine liegende Gestalt bezogen werden. Hier ist zum erstenmale eine naturalistische Folgerung aus der Lage der Grabplatte gezogen, die über die Bewegung der Figur von Altenplathow hinausgeht. Die Horizontalauffassung, die sich bei der älteren Magdeburger Bronze nur durch eine Inkonsequenz im Beiwerk bemerkbar machte, ist hier dem Künstler bewusst geworden, und er hat in dem Kopfkissen ein Motiv angeschlagen, dessen Ausbildung eine völlige Umgestaltung der Grabfıgur zur Folge haben sollte 1). -

Das Kissen hat bei dem Quedlinburger Grabmal noch rein attributiven Charakter. Den folgenden Jahrzehnten ist es vorbehalten, die durch das neue Motiv versinnbildlichte Umdeutung der Grabfıgur in die Anschauung zu übersetzen.

 

1) Gerade für die Zeit des Auftauchens des wichtigen Kissenmotivs ist das Material an Grabmälern sehr spärlich. Eine Möglichkeit zu seiner Bereicherung besteht in Hamerslehen, wo unter dem Fussboden der Kirche zwei Stuckgrabplatten der Stifterinnen Thietburg u. Mechthild verborgen liegen, wie bis vor wenigen Jahrzehnten die Grabsteine in Quedlinburg (Bau- u. Kunstdenkm. der Prov. Sachsen XIV, 107. Plastische Tätigkeit um 1200 in Hamersleben wird durch die Stuckfıguren der Chorschranken gesichert.

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Kapitel III.

Die liegenden Stiftergrabflguren der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts.

Die Hauptwerke der Sepulkralplastik des 13. Jahrhunderts sind Stiftergrabmäler. Würdigung des Verdienstes um die Kirche, ein historisches Interesse von der einen Seite, andrerseits plastischer Betätigungsdrang und ein in der Denkmalsvorliebe des 19. Jahrhunderts verwandter Zug, der die Ehrung der Persönlichkeit als Vorwand für die Erfüllung dekorativer Bedürfnisse gebraucht, sind als die Faktoren anzusehen, aus denen sich die Errichtung dieser Denkmäler für oft längst verstorbene Personen erklärt. Persönliche Beziehungen, insbesondere solche familiärer Art, wirken nicht oder doch nicht an erster Stelle mit. Wenn Hasak 1) eine mit der Stilentwicklung nicht zu vereinbarende Datierung für das Grabmal Heinrichs des Löwen damit begründen will, dass im vorgeschrittenen 13. Jahrhundert keine Angehörigen des Herzogs mehr in Betracht kämen, die ihm eine Grabplatte hätten widmen können, so wird dies Argument dadurch entkräftet, dass das Grabmal weder dem Vater Kaiser Ottos noch dem Fürsten Heinrich gilt, sondern lediglich dem Gründer des Braunschweiger Blasiusdomes.

Als Attribut des Stifters erscheint das Kirchenmodell. Dies bereits der altravennatischen Kunst geläufige Motiv, in der Monumental- und Miniaturmalerei bis ins späte Mittelalter verwendet, kann sowohl den heiligen Patron eines Gotteshauses wie den Gründer desselben kennzeichnen 2); die ursprüngliche Verwendung ist wohl die in Übergabsszenen an Christus oder die Madonna. In der älteren sächsischen Plastik kommt es szenisch am Godehardstympanon in Hildesheim, attributiv in der Hand Bernwards an der Michaelischorschranke daselbst vor.

Die Modelle auf den Stiftergrabmälern der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lassen das Streben nach möglichst getreuer Nachbildung der Bauwerke erkennen. Dass die Grabfiguren selbst nicht den gleichen Portraitcharakter haben, ist bei ihrer posthumen Entstehung erklärlich und würde vorauszusetzen sein, auch wenn nicht für Einzelfälle literarische Angaben

 

1) M. Hasak, Geschichte der deutschen Bildhauerkunst des 13. Jahrh. Berlin 1899. S. 11.

2) in Frankreich gelegentlich auch den Baumeister: Grabstein des Hue Libergier († 1263) in Reims. Didron, Annales archéol. I. 52.

 

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den Beweis lieferten 1). Ein Beleg dafür, wie unwichtig und unverständlich noch dem späten 13. Jahrhundert die Porträttreue einer Grabfıgur erschien, ist der bekannte Spott Ottokars von Horneck 2) über das Grabdenkmal Rudolfs von Habsburg; die Entstehungsgeschichte dieses Grabmals zeigt gleichzeitig, wie ein Porträtgrabstein vom lebenden Modell abhängig ist und Anfertigung zu Lebzeiten des Darzustellenden fordert; ein Gedanke, der dem Anfang des Jahrhunderts noch fern liegt.

 

Das wichtigste sächsische Grabmal der Periode ist das Heinrichs des Löwen († 1195) und seiner Gemahlin Mathilde († 1189) in Braunschweig.

Das aus Kalkstein bestehende Denkmal befindet sich noch an seinem ursprünglichen Platze, am Ostende des Mittelschiffes des Domes. Auf einer mässig über den Boden erhöhten, unverzierten Platte 3) liegen nebeneinander die beiden Figuren, ohne Beziehung zueinander, der Herzog zur Rechten. Die Köpfe ruhen auf kleinen viereckigen Kissen; zu Füssen sind mit Blattwerk bedeckte Konsolen angebracht, die der Herzogin zur Ausgleichung des Grössenunterschiedes höher und schlanker.

Heinrich ist barhäuptig; er trägt ein Gewand mit langen engen Ärmeln, das über den Knöcheln endigt; darunter wird ein um einige Zentimeter längeres Untergewand sichtbar. Der Mantel entspricht dem der Agnes von Quedlinburg, er ist glockenförmig im Schnitt und mit Pelzaufschlägen versehen. An der linken Körperseite bedeckt er glatt Schulter und Arm, rechts aber ist er von der Schulter herab auf den Rücken geglitten, sodass sich das Band, welches den Mantel vorne zusammenhält, am Halse strafft. Den entgleitenden Mantel hat die rechte Hand erfasst und sich damit vor die Brust gehoben, wobei er sich über den Unterkörper breitet. Auf dieser Hand ruht das Modell des Domes. Die Finger der Linken liegen lässig am Griff des Schwertes, das der Herzog geschultert hat; es steckt in der vom Gurtriemen umwickelten Scheide.

Mathilde trägt ein langes Kleid mit hoher Gürtung und engen, feingefältelten Ärmeln. Ein Kopftuch lässt jederseits nur eine lockige Strähne des gescheitelten Haares sehen. Auf dem Haupte ruht ein schlichter Reif, geschmückt mit drei offenbar in flacher Treibarbeit zu denkenden Rosetten, von deren mittlerer eine grosse längliche Perle auf die Stirn herabhängt.

 

1) Für Heinrich den Löwen: Acerbus Morena, M. G. SS. XVIII, 681. Für Graf Dedo von Landsberg: Chron. Misnense; Schannat, Vindemiae literariae I, 81. (Fulda u. Leipzig 1723).

2) Österreich. Reimchronik, V. 39125-39170. M. G. D. Chr. V, 1, 508f.

3) 235,5 X 148,5 cm. Abb. Hasak a. a. O. Tafel 3.

 

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Der Mantel mit Aufschlägen und Band entspricht dem des Herzogs, er fällt beiderseits vorn über die Schultern; die eine Hälfte wird zunächst vom rechten Unterarm gehemmt, dann aber überschneidet der Saum schräg den Körper, sodass derselbe in seinem untern Teil ganz eingehüllt wird. Den Saum der anderen Mantelhälfte haben die zum Gebet zusammengelegten Hände erfasst und ziehen ihn mit empor.

Die Einbeziehung des Gewandes in die Körperbewegungen ermöglicht einen mannigfachen Faltenwurf, es ergeben sich aus ihr grosse flüssige Linien in dem weichen Stoff.

Die Faltenmotive bestimmen so sehr den Charakter der Skulptur, dass eine Würdigung derselben von ihnen ausgehen muss. Zur Gewandgeste tritt eine zweite Gruppe von Motiven, die durch Faltenstauung gebildet sind. Das lange Gewand der Mathilde schichtet sich über den Füssen zu vielfach bewegten Formen; die Hebung ihrer Arme, die den Stoff des Mantels am freien Fall hindert, das Einschieben des Schwertgriffes in die Mantelfalten Heinrichs begründen entsprechende Bildungen. Der weiche Stoffcharakter ist dabei durchaus gewahrt. Man hat den bestimmten Eindruck, dass alle Motive an einem lebenden Modell wirklich drapiert sind.

Dieser Anschluss an das Naturbild ist mit Sicherheit auch für die weitere Komplikation des Faltenwurfes anzunehmen: der Meister hat die Modelle, an denen die bereits erwähnten Motive schon drapiert waren, wirklich hingelegt und damit die Konsequenz aus dem Kissenmotiv gezogen. Jetzt tritt eine Fülle weiterer Falten hinzu. Die Aussenkonturen verschwinden unter dem sich rings auf dem Boden lagernden Stoff. Endlich hat der Künstler noch mit selbständigen Änderungen in den Faltenwurf eingegriffen; die merkwürdige Falte, die sich vom rechten Knie der Mathilde aus dreieckig nach rechts ausbreitet, ist kaum anders zu erklären.

Bei der Annahme einer aus der Doppelauffassung der Grabfıgur entwickelten doppelten Schwerkraft erscheint der Faltenwurf durchgängig begründet, und diese Begründung sichert den Figuren gegenüber andern Werken des bewegten Stiles einen stark naturalistischen Gewandcharakter.

Man hat auf diesen Stil häufig das Bild angewandt: es sei, als fahre ein heftiger Wind in die Gewandung. Der Charakter der Braunschweiger Figuren wird dadurch nicht ganz richtig umschrieben, denn es wird dabei eine falsche Vorstellung von der zur normalen, in der Längsachse der Figur wirkenden Schwerkraft hinzutretenden Komponente erweckt. Doch ist das Bild deshalb zu begrüssen, weil es auf wesensverwandte Kunstwerke anderer Epochen weist, bei denen die Wirkung von Schwerkraft und Wind zu einem ähnlichen reichen Faltenstil vereinigt ist. Es weckt besonders die

 

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Erinnerung an ein Werk der antiken Kunst, das in gewisser Weise eine Parallele zum Heinrichsgrabmal bildet: die Nike des Paionios in Olympia steht wie das Braunschweiger Denkmal an einem Punkte der Entwicklung, wo eine eben erreichte Fähigkeit freier Gewandbewegung virtuosenhaft ausgenutzt wird; hier wie dort lässt der Reichtum der Falten die frontale Gebundenheit des Körpers vergessen, obwohl derselbe unter dem Gewande sichtbar gemacht ist.

Der Vergleich mit einer antiken Gewandfigur ist nicht rein äusserlich; denn die reichen Faltenmotive des Braunschweiger Grabmales sind als Abkömmlinge in letzter Linie antiker Formen anzusehen. Die Zurückführung auf Modellstudium erklärt, da sie zum Teil arrangiert wirken, ihre künstlerische Herkunft noch nicht. Nun hat Goldschmidt 1) das um 1200 erwachende Interesse an belebten Gewandmotiven in der Plastik auf einen verstärkten byzantinischen Einfluss zurückgeführt und am Beispiele der Chorschranken in Halberstadt die Übernahme der Dachfalten, der Stauungen des Stoffes, der Gewandschlingen gezeigt, die der byzantinischen Kunst geläufig sind. Die Elfenbeinplastik bot hier die nächsten Analogien.

Die Wurzeln der Braunschweiger Gewandmotive liegen gleichfalls zum grossen Teil in der byzantinischen Kunst. Wenn sich für sie die nächsten Parallelen in der Malerei finden, so bietet die Annahme einer Übertragung malerischer Motive auf die Plastik keine Schwierigkeiten. Denn es ist sicher, dass Zeichnungen und Skizzen zum gebräuchlichsten Handwerkszeug der Bildhauer des 13. Jahrhunderts gehörten. Im Skizzenbuche des Villard von Honnecourt sind solche Blätter erhalten. Einen Fall praktischer Verwendung derartiger Zeichnungen aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts weist Wolters 2) nach: der offenbare Zusammenhang einer Engelsfigur an einem der Strebepfeiler des Halberstädter Domes mit der Reimser Plastik erklärt sich in seiner Besonderheit nur durch die Annahme einer vermittelnden Zeichnung. Selbst innerhalb einer geschlossenen Werkstatt müssen Skizzen verwendet sein. Wenn bei einer der Figuren vom Wechselburger Lettner- König David - , welche Kopien nach Statuen der Freiberger Goldenen Pforte sind 3), das Spruchband des Vorbildes missverstanden und wie ein weiches zum Gewande gehörendes Band behandelt ist, so erklärt sich das Missverständnis am einfachsten, wenn eine Zeichnung die Vermittlung bildete. Die Stellung des vordersten Juden auf der Schlangenerhöhung

 

1) a. a. O. S. 234 f.

2) Alfred Wolters, Beiträge zur Gesch. der Plastik im Halberstädter Dom. Hallenser Dissertation 1911. Kap. II. S. 77.

3) Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkm. 2 I, S. 417 leugnet unbegreiflicherweise direkte Beziehungen zwischen Freiberg und Wechselburg.

 

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derr Wechselburger Kanzel und die damit übereinstimmende des Daniel an der Goldenen Pforte deuten gleichfalls auf eine gemeinsame gezeichnete Musterfigur 1). Für die Tracht dieser Prophetenfigur in Freiberg liefert die Übereinstimmung mit der entsprechenden Gestalt der zerstörten Deckengemälde der Halberstädter Liebfrauenkirche 2) einen weiteren Beleg für Zusammenhänge zwischen Plastik und Flächenkunst.

Der Grundcharakter der byzantinischen Gewandmotive ist ein flächiger, sie dienen der linearen Bewegung und dem malerischen Reichtum. Es ist daher verständlich, dass sie eine reiche Ausgestaltung in der Malerei erfahren; glänzende Beispiele dafür sind die Miniaturen des Goslarer Rathausevangeliars 3), die Monumentalgemälde an den Decken der Halberstädter Liebfrauen- 4) und der Hildesheimer Michaeliskirche 5), an den Wänden und Wölbungen des Braunschweiger Domes. Hier, wo das Material weniger Hemmungen bietet, erfolgt die Aneignung der bewegten Motive früher als in der Plastik.

Aus dem Kreise dieser Malereien geht nun die Gewandauffassung des Braunschweiger Grabmales hervor. Vor allem ist das Goslarer Evangeliar verwandt in der reichen Abwandlung der Gewandgesten, dem Heben eines Mantelzipfels durch die Hand, dem Herabgleiten des Mantels von der Schulter, dem Aufhalten des Mantelfalls durch den erhobenen Unterarm, der Gewandstauung über den Füssen, dem Umschlagen der Säume. Dass keine genauen Entlehnungen vorkommen, liegt ohne Zweifel daran, dass der Braunschweiger Meister die Motive, die er benutzen wollte, sich aus wirklichem Stoff hergestellt hat. Besonders klar ist dies Verfahren bei der grossen Dreiecksfalte, die vom rechten Knie der Mathilde ausgeht. Sie entspricht der Faltenbildung, die regelmässig bei byzantinisierenden Liegefiguren vorkommt; ein besonders deutliches Beispiel ist der ruhende Jesse der Hildesheimer Decke, eine ältere - nicht durch Kontrolle am Modell korrigierte - plastische Verwendung finden wir an einem Fragment der südlichen Chorschranke der Michaeliskirche in Hildesheim 6).

Der bestimmende Einfluss des Naturvorbildes verrät sich auch in der Geste der Mathilde. Sie schliesst sich inhaltlich dem alten Orantengrabstein an, aber die Bewegung ist neu: die Handflächen sind einander zugekehrt.

 

1) Dabei ergibt sich für die Freiberger Figur die Blockfläche, von der der Bildhauer ausging. Die Verkümmerung des nicht in dieser Fläche liegenden linken Unterarmes gibt eine Bestätigung dafür.

2) Beschreibung von Quast, Kunstblatt 1854. Zitiert bei Doering, Bau- u. Kunstdenkm. der Prov. Sachsen XXIII, Halberstadt (Halle 1902) S. 328.

3) A. Goldschmidt, Das Evangeliar im Rathause zu Goslar. Berlin 1910.

4) Doering a. a. O.

5) Zeller a. a. O. Tafel 31, 32.

6) Zeller a. a. O. S. 202, Fig. 139 (jetzt im Andreasmuseum).

 

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Für den ersten Eindruck handelt es sich um eine Geste, die zu jener Verknöcherung der antiken Gebetsstellung keine Beziehung hat, bei der die Hände, mit den Innenflächen nach vorn, vor die Brust gezwängt sind. Aber es ist zu beachten, dass die alten Darstellungen keine wirklich ausgeführte Bewegung nachbildeten, sondern sich aus zeichnerischem Unvermögen erklären. Bei Profılfıguren wird von der vorderen Hand der Rücken, von der anderen die Innenfläche gezeigt. Bei der wirklichen Bewegung waren die Handflächen vermutlich nicht streng nach vorn orientiert, sondern einander leicht zugekehrt, natürlich nicht in der Schärfe der gleichfalls durch zeichnerische Konventionen bedingten Profilansicht. Der Übergang zur völligen Annäherung der Hände kann sich bei der ausgeführten Bewegung ganz allmählich vollzogen haben, während die Künstler die alte Darstellungsformel festhielten. Jedenfalls ist der Übergang im 12. Jahrhundert schon geschehen: bei Profilfguren der Bronzetüren in Gnesen 1) liegen die Hände bereits aneinander. Für die Vorderansicht aber trägt erst das 13. Jahrhundert dem wirklich Gesehenen Rechnung.

Da es sich hier nicht um eine neue Geste handelt, ist sie nicht zur Begründung kunstgeschichtlicher Abhängigkeiten zu verwerten. Insbesondere ist daraus, dass sie im ersten Viertel des Jahrhunderts auch in Frankreich auftaucht (Chartres, Querschiffportale), kein Zusammenhang mit der französischen Kunst zu konstruieren.

Denn für einen solchen Zusammenhang fehlt jeder weitere Anhalt. Die Stufe der französischen Entwicklung, die dem Braunschweiger Grabmal entspricht, ist die der Pariser Westfront und der Querschifffassaden von Chartres. An ruhig stehenden Gestalten sind gemässigte Bewegungen naturgemäss durchgeführt. Im Ausdruck herrscht grosse Zurückhaltung. Die Gewänder kleben nicht am Körper, sondern schmiegen sich ihm in freier Bewegung an; im Fluss der Falten der dünnen Stoffe wird der Eindruck des Stofflichen gewahrt; der Faltenwurf ist durch Gewandgesten bereichert. Aber die auf dieser entsprechenden Grundlage entstandenen Werke weichen stark von einander ab; in Frankreich ordnen sich alle Motive einer architektonisch bedingten Vertikaltendenz unter, während die Ausbreitung der Faltenmassen über den liegenden Braunschweiger Figuren diesen ein gänzlich unarchitektonisches, ornamental-indifferentes Gepräge verleiht. Eine Bekanntschaft mit der französischen Skulptur hätte die Entfaltung dieses Elementes sicherlich unterbunden. Die malerisch reiche Gewandbewegung der Figuren wurzelt nicht in der Skulptur, sondern in der gleichzeitigen sächsischen Malerei, deren Hauptwerke oben genannt wurden.

 

1) Dehio u. v. Bezold, Denkmäler deutscher Bildhauerkunst, 12. Jahrh. Tafel 1 und 6.

 

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Eine für die Figuren selbst kaum in Betracht kommende Beziehung zur französisch beeinflussten Kunst ergeben die Konsolen, die Ähnlichkeit mit solchen der Cistercienserkirche im benachbarten Riddagshausen 1) haben; sie übertreffen dieselben jedoch durch die Elastizität ihres Kranzes aus schmalen überfallenden Blättern. Die Anordnung einer Statue auf einer Konsole vor einer Wandfläche ist im übrigen ein altes Motiv der sächsischen Kunst; mehrfach kommt im 12. Jahrhundert eine solche Anbringung von Apostelfiguren über den Arkaden des Mittelschiffes vor (Gandersheim 2), Cluss 3), Dom zu Goslar 4)).

Nachdem das Verhältnis zu den beiden fremden Kunstkreisen, die im 13. Jahrhundert in Deutschland wirksam sind, derart für das Braunschweiger Denkmal bestimmt ist, dass mit der französischen Plastik keine Zusammenhänge bestehen und dass byzantinische Motive zu Eigengut verarbeitet sind, gilt es, das Werk in der heimischen Plastik einzureihen. Es zeigt sich, dass hier unmittelbare Vorstufen nicht vorhanden sind. Aus dem Gewandstil der Skulptur des frühen 13. Jahrhunderts, wie ihn die Chorschranken in Halberstadt und Hamersleben zeigen, sind die Braunschweiger Motive nicht zu entwickeln; die entscheidende Einwirkung auf die Werke des bewegten Stiles, neben Braunschweig etwa die Engel in Hecklingen, liegt für die Gewandbildung offenbar auf malerischem Gebiete. In den Köpfen ist der Anschluss an die ältere Plastik stärker, hier braucht zwischen dem zweiten und dritten Stil kein neuer Einfluss von aussen angenommen zu werden. Es ist etwa der Kopf der jüngeren Bronzefigur in Magdeburg mit dem des Herzogs Heinrich zu vergleichen. Das um 1200 so kräftige Bemühen um die Einzelzüge ist stehen geblieben und hinter der lebendigen Durchführung des Gewandes zurückgetreten. Die jugendlichen, weichen und ganz unbewegten Züge Heinrichs und Mathildens sind mit Hilfe der schon um 1200 erreichten Errungenschaften durchgeführt. Während aber bei dem Magdeburger Kopfe innerhalb der Entwicklung des 12. Jahrhunderts ein naturalistischer Eindruck zu verzeichnen war, wirken die Braunschweiger wie Idealtypen. Goldschmidt weist darauf hin, dass ein entsprechender jugendlicher, glatter Kopftyp für Engelsfiguren verwendet wurde (Hecklingen, Magdeburg), bei den Grabfıguren vermutlich eine Erhöhung des Verstorbenen über das Erdendasein andeutend.

Einen Anhaltspunkt zur Datierung des Grabmals bietet das Kirchen-

 

1) Meier u. Steinacker, Bau- u. Kunstdenkm. des Herzogt. Braunschw. II., 141; 144, Tafel XII.

2) Steinacker, Bau- u. Kunstdenkm. d. Herzogt. Br. V., 100., 164 (Abb.)

3) Ebenda S. 61.

4) C. Wolff, Kunstdenkm. der Prov. Hannover II, 1 u. 2. S. 55. Fig. 50.

 

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modell. Da das nicht dem ursprünglichen Bauplane angehörige Kleeblattfenster im ersten Langhausjoch schon angegeben ist, focht P. J. Meier 1) die von Goldschmidt wahrscheinlich gemachte Datierung auf etwa 1230 an und setzte 1260 als terminus post quem, da das Fenster erst dieser Zeit angehöre. Die Untersuchungen von Hermann Giesau 2) schliessen das Fenster jedoch mit Sicherheit der von ihm erforschten Cistercienserbauhütte 3) an und ermöglichen es, die dreissiger Jahre als Entstehungszeit des Fensters und damit auch des Grabmales anzunehmen.

Die Einwirkung des Grabmales auf andere Skulpturen bestätigt diese frühe Datierung. Vor allem ist die Grabfigur der Äbtissin Kunigunde von Quedlinburg ( 1231) heranzuziehen, die nicht unmittelbar nach ihrem Tode entstanden zu sein braucht, deren Entstehungszeit aber nicht ohne Schwierigkeit um Jahrzehnte hinauszuschieben ist. Die Figur zeigt, wie schon Quast 4) feststellte, in Stellung, Tracht und Faltenbildung unleugbaren Zusammenhang mit Mathilde von Braunschweig; die Erstarrung der Stellung und die Vereinfachungen des Faltenwurfes lassen dabei die Abhängigkeit des Quedlinburger Werkes vermuten, die zur Gewissheit wird durch die Beibehaltung einzelner Gewandmotive trotz Fortlassung der Motivierung (beim Fall des Mantels über die Unterarme, bei der Hebung des Mantels zwischen den Händen). - Die Figur mit Kissen und Blattkonsole ist nach Art der ältesten Quedlinburger Grabsteine von einem Inschrift- und einem Ornamentrahmen umzogen. Fur das Blattwerk zu Füssen ist keine Entlehnung von Braunschweig anzunehmen, es findet sich bereits an dem in der Disposition übereinstimmenden Grabmal der Sophia von Brena 5) in Quedlinburg († nach 1225). Über diesen sehr stark zerstörten Stein ist im übrigen nichts zu sagen, als dass er dem der Agnes ( 1203) noch näher steht und noch keinen Zusammenhang mit Braunschweig aufweist.

Die inschriftlich nicht gesicherten Namen der beiden Äbtissinnen sind aus einer Angabe Kettners 6) zu folgern. Er berichtet nach „alten Chronicken“, in der Mitte der Kirche sollten Sophia von Hadmersleben und Elisabeth von Kirchberg begraben liegen. Äbtissinnen dieses Namens hat Quedlinburg nicht gehabt; es liegt offenbar eine verderbte Nachricht vor, die sich nur auf Sophia von Brena und Kunigunde von Kranichfeld und Kirchberg be-

 

1) Bau- u. Kunstdenkm. der Stadt Braunschweig, Wolfenb. 1906. S. 15.

2) Vorläufige Veröffentlichung im 3. Bericht über die Denkm. deutscher Kunst, Berlin 1914, S. 36.

3) Studien zur sächsisch-thüring. Kunstgesch. I. Hermann Giesau, Eine deutsche Bauhütte aus dem Anfang des 13. Jahrh. Halle 1912.

4) Hase_u. Quast a. a. O. S. 13, Abb. 6.

5) Hase u. Quast a. a. O. S. 12, Abb. 4 (irrtümlich auf Äbtissin Gerburg † 1139 bezogen).

6) Kirchen- und Reformationsgeschichte von Quedlinburg. Quedl. 1710. S. 289.

 

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ziehen kann. Wenn nun im Mittelschiff der Kirche zwei Grabsteine erhalten sind, die stilistisch zweien der vier 1225-1232 erwähnten Äbtissinnen gehören müssen - da sie sicher jünger als der der Agnes von 1203, älter als der der Gertrud von 1270 sind -, so liegt es nahe, hier einen Zusammenhang zu vermuten. Die beiden fraglichen Steine sind nun die einzigen aus dem Mittelschiff, die keine Namensangabe tragen. Vermutlich sollte die chronikalische Notiz, welche Kettner benutzt, die Namen der beiden Grabfıguren bewahren, während für die inschriftlich gesicherten anderen Steine keine solche Aufzeichnung nötig erscheint; die Notiz wurde zu einer Zeit gemacht, als die Tradition schon nicht mehr sicher war.

Ein Doppelgrabstein der Frankenberger Kirche in Goslar 1) bietet nur dadurch Interesse, dass die Figuren nach dem Vorbilde des Braunschweiger Grabmales angeordnet sind; von dem Geiste desselben ist jedoch in dem sehr geringwertigen Werke nicht das mindeste zu spüren. Die Dargestellten könnten Ritter Volcmar v. Goslar (urkundlich bis 1253 2)) und seine Gattin sein; er scheint bei der Schenkung der Kirche an die büssenden Schwestern Mariae Magdalenae eine Hauptrolle gespielt zu haben, da er in der Schenkungsurkunde von 1236 als erster weltlicher Zeuge erscheint 3).

In dem Grabmal, das in der Gandersheimer Stiftskirche dem Gründer Herzog Ludolf 4) († 866) errichtet wurde, sieht Bode 5) ein Vorbild des Heinrichsgrabes. ln der Tat folgt aus der Ubereinstimmung der Attribute und Bewegungen (bis in Einzelheiten wie die Stellung der einzelnen Finger) ein Zusammenhang, und die Steifheit der Gandersheimer Holzfıgur lässt sie für den ersten Anblick als das ältere Werk erscheinen. Doch ist die Priorität des Braunschweiger Denkmales sicher; denn das Kirchenmodell Ludolfs ist kein Abbild des Gandersheimer Münsters (die charakteristische Gestaltung der Westteile 6) fehlt), sondern nach Abrechnung einzelner Vereinfachungen ein solches des Braunschweiger Domes. Die Folge grosser Schüsselfalten am Mantel Ludolfs macht sogar seine Datierung auf die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts wahrscheinlich, in denen die grossen Reimser Gewandmotive der deutschen Plastik bereits geläufig sind.

 

In der Klosterkirche zu Pegau 7) wurde im 13. Jahrhundert dem Stifter,

 

1) Honemann, Alterthümer des Harzes, Clausthal 1754, I, 25. Wolff, Bau- u. Kunstdenkm. Prov. Hannover II, 1, 183 (Abb.)

2) G. Bode, Urkundenbuch der Stadt Goslar I u. II (Halle 1893 u. 1896). Die Urkunde II, 90 von 1263 gehört nach dem Siegel dem Sohne Volcmars, nicht, wie Bode im Register angibt, diesem selbst.

3) Ebenda II, 549.

4) Steinacker, Bau- u. Kunstdenkm. des Herzogtums Braunschw. V, 156. Tafel XX.

5) Geschichte der deutschen Plastik, S. 51.

6) Steinacker a. a. O. S. 124, Abb. 79.

7) Steche, Bau- u. Kunstdenkm. des Königr. Sachsen XV, Amtshauptmannsch. Borna (Dresden 1891). S. 91. Tafel 10-12. Dehio u. v. Bezold, Deutsche Bildhauerkunst, 13. Jahrh. Tafel 7.

 

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Ritter Wiprecht von Groitzsch († 1124) ein Grabmal gesetzt, das zu den Hauptwerken der deutschen Plastik gehört. Nach dem Abbruch der Kirche ist es in die Pegauer Laurentiuskirche gelangt.

Die reichlich lebensgrosse (1,85 m) Gestalt des Ritters nimmt fast die ganze Höhe der Sandsteinplatte ein. Er hält in der Linken den Schild und das darunter liegende Schwert, in der Rechten den Schaft einer Fahne, deren Tuch sich, am Ende in drei Streifen geschlitzt, über das Kopfkissen breitet. Die Füsse stehen auf einer Platte vom Grundriss eines halben regelmässigen Sechsecks, deren Fläche nach vorn geneigt ist; im spitzen Winkel zwischen ihr und der Grundplatte liegt ein kleiner Löwe.

Wiprecht erscheint als ziemlich junger Mann mit reichem Lockenhaar und kurzem Vollbart. Seine Kleidung entspricht in den Grundzügen der Heinrichs des Löwen: doppelter Leibrock, Mantel mit Pelzaufschlägen. Was jedoch der Tracht des Pegauers einen ganz einzigartigen Charakter verleiht, ist die überreiche Verwendung von Schmuck. Den Halsausschnitt des Gewandes umgibt ein breiter mit Edelsteinen geschmückter Kragen; von der Mitte hängt ein riesiges Brustkleinod in Rautenform herab, auf dem acht Steine einen grossen facettierten umgeben; mehrere von der unteren Spitze des Kleinods herabhängende Steine reichen, in immer abnehmender Grösse, fast bis zum gleichfalls reichverzierten Gürtel. Ein breites ebenfalls steingeschmücktes Querband über der Brust schmiegt sich dem Stoffe an und lässt vermuten, dass die Fassung der Steine nicht durchweg als festes Metall, sondern zum Teil als weiche Goldborte gedacht ist. Zierborten umschliessen die Handgelenke; der Mantel trägt auf jeder Schulter eine grosse Rosette der Art, wie sie häufig angebracht wurde, um die Endknoten des Mantelbandes zu verdecken 1) (das hier plastisch nicht angegeben ist). Die Freude am Edelsteinschmuck zeigt sich ferner am Rande und Mittelkleinod des Schildes, am umlaufenden Rande der Grabplatte und der Fussplatte. Dargestellt ist der Schmuck durch - grossenteils erneuerte - Glasflüsse und Halbedelsteine, die dem Sandstein eingefügt sind; erhebliche Farbreste erhöhen die Pracht des Grabmales: Gold an den Schmuckfassungen, Blau am Leibrock, Rot an Mantel und Fahne.

Als Grabfigur bedeutet das Werk gegenüber dem Braunschweiger Denkmal einen weiteren Schritt zur Lösung aus der kirchlichen Bindung. Der Stifter ist nicht mehr durch das Attribut des Kirchenmodells gekennzeichnet, sondern es wird durch die repräsentative Bewaffnung mit Schild, Schwert

 

1) v. Falke, Der Mainzer Goldschmuck der Kaiserin Gisela. Berlin 1913. S. 26.

 

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und Lanze der Charakter des Ritters hervorgehoben. Die statische Auffassung ist der Braunschweiger verwandt; obwohl nach ihrer Bewegung und den offenen Augen die Figur lebend gedacht ist, sucht sie der Künstler nach Möglichkeit als liegend darzustellen. Die Horizontalauffassung gelingt aber vollständig nur beim Beiwerk, dem Löwen und dem Fahnentuch; in der Figur selbst sind nur Ansätze dazu vorhanden im Einsinken des Stoffes am Unterkörper, den Allgemeincharakter bestimmt jedoch die dem Künstler offenbar geläufıge Standfigur. Ein neues für die Liegeauffassung heranzuziehendes Moment liegt in der Schrägstellung der Fussplatte, die dadurch aus einer Standfläche zu einer Fussstütze wird. Noch ganz als Standfläche gedacht kommt sie bei den Magdeburger Bronzeplatten vor, als naturalistisch durchkonstruierte Fussstütze bei dem Naumburger Bischofsgrabmal aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.

Dass beim Pegauer Grabmal das neue Motiv eines Tieres zu Füssen auftaucht, wurde bereits erwähnt; auf die inhaltliche Bedeutung des Motives soll weiter unten im Zusammenhange eingegangen werden.

In der Technik der eingesetzten Glasflüsse liegt eine Beziehung zur älteren Stuckplastik (z. B. Grabmal in Enger, Madonna in Erfurt). Abgesehen von dieser technischen Reminiszenz jedoch bietet die Schmuckfreude des Pegauer Denkmals den reinsten Eindruck vom ursprünglichen Charakter der plastischen Gruppe, der es angehört: der Werkstatt der Goldenen Pforte. Was in Freiberg und Wechselburg zum grössten Teil der Bemalung der Statuen überlassen war und nur bei einzelnen Figuren durch plastische Andeutung im Steinmaterial erhalten ist, erhielt sich beim Wiprecht durch das eingesetzte glänzende Material.

Den engen Zusammenhang mit Freiberg erweist der Gewandstil, der mit einer Mehrzahl dünner übereinandergelegter Stoffe eine Mannigfaltigkeit locker gezogener, über die ganze Fläche verbreiteter Falten erzeugt; am nächsten steht der Pegauer Figur die „Ecclesia“ der Goldenen Pforte. Der Zusammenhang zeigt sich weiter in der Stellung, besonders in der für die Freiberger Schule charakteristischen Haltung des Fahnenschaftes, der nur vom Zeigefinger umspannt wird (Freiberg: Ecclesia, Aaron, David, Hauptengel des Tympanons). Der Kopftypus endlich gibt die nähere Bestimmung innerhalb der Freiberger Schule. Zwei Hauptarten der Kopfbildung treten an der Goldenen Pforte auf. Die eine (Beispiele: Königin von Saba, Salomo, Tympanon) zeigt runde Formen, die Haut liegt prall an, die Augen quellen etwas vor, der Brauenbogen ist wenig markiert. Der zweite Typus (Aaron, Johannes Baptista, David) wölbt Stirn und Brauenbogen stark vor, die Augen treten zurück, an der schlaffen Haut zeigt sich ein Eingehen auf Ober-

 

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flächenwirkungen. Diesem Typus, der auch für den Wechselburger Lettner der massgebende gewesen ist, schliesst sich die Figur von Pegau an; die nächste Beziehung besteht zum Johannes Baptista in Freiberg.

Die Werkstatt der Goldenen Pforte setzt schon die Bekanntschaft mit Frankreich voraus. Der Zusammenhang ist nicht direkt und führt auch zu keinen wörtlichen Entlehnungen, wie etwa in der Bamberger Gruppe. Eine freie Verwendung französischer Motive findet z. B. beim Melchisedek in Wechselburg statt, dessen Kopf und linke Hand der gleichnamigen Chartreser Statue entsprechen (Nordquerschiff Mittelportal, letzte Figur links). Eine Einwirkung der französischen Gotik ist bei der Pegauer Figur wohl darin zu erblicken, dass ihr Meister trotz seiner Absicht, eine Liegefigur zu schaffen, sich dem Einfluss der auf die Standfigur berechneten Faltenmotive nicht hat entziehen können.

 

Das Doppelgrabmal des Grafen Dedo († 1190) und seiner Gemahlin Mechthildis (†1189) zu Wechselburg 1) setzt das Pegauer Grabmal und wahrscheinlich auch das Braunschweiger voraus.

Bei der links 2) liegenden männlichen Figur ist das Vorbild Wiprechts deutlich. Zwar fehlt der diesem Werke spezifische Edelsteinschmuck, aber die Kleidung - ein neues Motiv ist die Rundkappe - ist verwandt und übereinstimmend die Bewaffnung mit Schild, Schwert und Fahne, deren dreigeteiltes Tuch über dem Kissen liegt. Für die Abhängigkeit des Wechselburger Werkes bietet ausser der Verschleifung aller Formen einen sicheren Anhalt das Übergreifen des Schwertheftes über den Schildrand, das die in Pegau mögliche Fortführung der Schwertlinie unter dem Schilde ausschliesst.

Die Pegauer Motive genügen aber dem Wechselburger Bildhauer noch nicht; er legt deshalb den Fahnenschaft in die Linke, die schon Schild und Schwert stützt (unschöne Überschneidung des Schildes!) und gibt der dadurch freiwerdenden Rechten ein Kirchenmodell zu halten. Ausserdem fasst diese Hand noch ein Stück Stoff in der Weise, wie die Rechte Heinrichs des Löwen unter dem Kirchenmodell den Mantel rafft. Es ist das Ende eines breiten Spruchbandes, dessen anderes Ende in der Rechten der Mechthildis liegt.

Die Häufung der Aktionsmotive der Hände tritt auch bei der weiblichen

 

1) Steche, Bau- u. Kunstdenkm. des Königr. Sachsen XIV, Rochlitz (Dresden 1890) S. 127. Abb.: Hasak a. a. O. S. 4. Sponsel, Fürstenbildnisse aus dem Hause Wettin, Dresden 1906. Tafel 3.

2) Bei der Benutzung der Photographien von Tirpitz-Wechselburg ist Vorsicht anzuraten, sie vertauschen rechts und links.

 

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Figur hervor. Die Rechte hält ausser dem Spruchbande ein dünnes Tuch, das vor dem Körper herabhängt, die Linke aber rafft den Mantel und fasst ein halbgeöffnetes Buch, zwischen dessen Seiten der Daumen liegt. Diese Sucht nach Vielfältigkeit der Handbewegungen ist die Steigerung eines schon an der Goldenen Pforte auftretenden Zuges (Beispiel: Königin von Saba).

Am Braunschweiger Grabmal fand sich eine ähnliche Neigung, jeder Körperbewegung eine Gewandbewegung anzuschliessen; da jedoch die Wechselburger Motive mit Ausnahme der Rechten Dedos andere sind, lässt sich ein Zusammenhang daraus nicht erschliessen. Ein solcher wird jedoch wahrscheinlich gemacht durch die Art, wie bei der weiblichen Figur das Liegen betont und der Körper unter dem Gewande deutlich gemacht ist. Über der Verwandtschaft, die in der Freude an unruhigem Gefältel liegt, ist allerdings nicht zu übersehen, dass aus der bewegten Unruhe der Braunschweiger Figur in Wechselburg eine schlaffe Unordnung geworden ist, wie überhaupt die Schlaffheit der Formen das Wechselburger Grabmal nicht nur von den Braunschweiger Figuren, sondern auch von der gesamten Freiberger Werkstatt scheidet; es ist ein Spätwerk dieser Schule, das in der nachlässigen Verwendung der geläufigen Motive nicht mehr der Blütezeit angehört.

Wenn der wahrscheinliche, aber nicht bündig zu beweisende Zusammenhang mit Braunschweig besteht, so ist keinesfalls Wechselburg der gebende Teil, wie Hasak 1) nahelegt; zur Begründung der Übereinstimmungen können bei dem oben betonten Charakter der Stiftergrabmäler nicht die verwandtschaftlichen Beziehungen der Nachkommen Dedos und Heinrichs herangezogen werden, sondern es ist vielmehr die allgemeine künstlerische Zusammengehörigkeit von Nieder- und Obersachsen als Grundlage dafür anzuführen.

Die Schrägplatten unter den Füssen sind in einer Pegau entsprechenden Form gebildet; ihre Unterseite wird von Rankenwerk noch ganz romanischen Charakters verdeckt; die symmetrischen Ranken gehen bei Dedo vom Munde einer Maske aus, ein gleichfalls romanisches Motiv; bei Mechthildis ragen aus den Ranken zwei kleine jugendliche Halbfiguren hervor, die sich mit einer Hand auf die Grundplatte des Grabmals stützen, während sich die andere gegen die Fussstütze stemmt. Entsprechende Figürchen in Rankenwerk kommen an der Goldenen Pforte am Ansatz der Archivolten vor, während die an Frankreich erinnernden kleinen Figuren unter den Füssen der Freiberger Gewändestatuen nicht die gleiche Belebung zeigen.

Das breite Band, das die beiden Grabfıguren gemeinsam halten, wird

 

1) a. a. O. S. 10.

 

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man nach der sonstigen Verwendung solcher Bänder in der Freiberger Gruppe als Spruchband ansprechen müssen, obwohl der Platz zwischen den beiden Liegefiguren der denkbar ungünstigste zur Anbringung einer Inschrift ist. Nach analogen Inschriftbändern bei Grabfiguren (Köln, St. Maria im Kapitol, Grabstein der Hl. Plektrudis 1), Quedlinburg, Grabstein der Abtissin Gertrud 2) von 1270) wird man als Inhalt der wohl ehemals aufgemalten Inschrift ein Gebet vermuten, das den Verstorbenen in den Mund gelegt war.

 

Ein Werk mit bisher nicht beachteten, äusserst merkwürdigen Beziehungen zu der besprochenen Grabmälergruppe ist zur Diskussion zu stellen: das nur in einer freien Kopie erhaltene erste Grabmal des Markgrafen Gero in Gernrode.

In der Gernröder Stiftskirche steht ein spätgotisches Grabdenkmal des 965 verstorbenen Stifters, datiert 1519 3). Die Figur entspricht durchaus diesem Datum; sie ist gerüstet, trägt in der Rechten eine Fahne, in der Linken ein Schwert; die Füsse stehen auf einem wappenhaltenden Löwen. Eine Merkwürdigkeit fällt jedoch bei der umlaufenden, aus gotischen Minuskeln bestehenden Inschrift auf. Am Kopfende steht der Name: „dux et marchio Gero huius ecclesie fundator“; unter den Worten „Gero huius“ ist in kleinerer Schrift mit Kapitalbuchstaben das Wort „SAXONUM“ hinzugefügt. Die Einfügung, die man allenfalls hinter „dux“ erwarten könnte, erscheint an dieser Stelle sinnlos. - Nun ist eine zweite Inschrift mit ebenfalls ganz unverständlicher Stellung des gleichen Wortes in Gernrode erhalten. Auf der Empore im Südflügel des Querschiffes befindet sich ein Gemälde auf Holzgrund, der Zeit um 1500 angehörig, von sehr geringer Qualität. Es stellt nach der Überschrift gleichfalls den Markgrafen Gero dar:

GERO * DVX * ET * MARIHIO (!)

FVNDATOR * HVIVS * EΓΓLFSIE (!)

* SAXONV

Offenbar handelt es sich um eine unverstandene Kopie einer schlecht erhaltenen älteren Inschrift, und es liegt nahe, auch für die Figur des Gemäldes ein Vorbild anzunehmen. O. v. Heinemann 4) zog diesen Schluss; er sah in dem Gemälde die Nachbildung einer älteren Grabfıgur, an deren Stelle die Tumba von 1519 trat; der Zweck des Bildes war vermutlich, bei

 

1) Joh. Klein, Die Skulpturen des 13. Jahrh. im Dom zu Münster, Berliner Dissertation 1914. S. 81 f.

2) S. unten S. 54.

3) Büttner Pfänner zu Thal, Anhalts Bauund Kunstdenkmäler, Dessau u. Leipzig 1892. S. 28.

4) Die Stiftskirche zu Gernrode. Bernburg 1865, S. 38. - Photogr. des Gemäldes von E. Kliche-Quedlinburg.

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der Anfertigung des neuen Grabmales als Vorlage zu dienen (das kaum in Gernrode selbst entstanden ist; es bestehen Beziehungen zum Kreise der Vischer). Der Künstler desselben hielt sich aber nur sehr wenig an die Vorlage, und man suchte in Gernrode wenigstens die Abweichung von der Inschrift nachträglich nach Möglichkeit zu korrigieren 1).

Zur Bestimmung des Verhältnisses des Malers zu seinem Vorbilde bietet die Inschrift einen festen Ausgangspunkt. Er folgte überall, wo ihm die Buchstaben nicht klar waren, ängstlich seiner Vorlage, wandte aber dort, wo er sicher war, unbekümmert Formen seiner Zeit an. Zur ersten Gruppe gehören die unvollständigen E (= F) und C (= F, I), zur zweiten die schnörkelhaften Schaftunterbrechungen bei V und X sowie das M in Form eines H, von dessen Querstrich in der Mitte eine Senkrechte nach unten geht (entsprechende Form z. B. auf Inschriften Memlingscher Bilder). Das C des Originales muss Winkelform gehabt haben, Analogien bietet der Quedlinburger Grabstein von 1270. Den ursprünglichen Zusammenhang der Worte hat der Maler dem Bildformat zuliebe fallen lassen; dadurch erklärt sich der Punkt vor dem einzelnstehenden „Saxonum“.

Bei der Figur ist soviel sicher, dass der Maler sie nicht selbständig erfunden haben kann. Der Versuch zeitlicher Bestimmung des Vorbildes ergibt nun aber einen merkwürdigen Zwiespalt. Die Tracht - kurzer Leibrock mit engen Ärmeln, Beinkleider, kreuzweise Binden um die Unterschenkel bis zum Knie - könnte sehr wohl dem 10. Jahrhundert 2), also einer zeitgenössischen Darstellung Geros angehören. Das Fehlen eines Mantels ist allerdings für eine repräsentative Figur dieser Zeit wie der folgenden .Jahrhunderte sehr auffallend.

Nach dem gesamten erhaltenen Material ist jedoch die Annahme einer Grabfıgur für das 10. oder das frühe 11. Jahrhundert äusserst unwahrscheinlich. Da die Inschrift und die Beziehung zu dem späten Grabmal eine Grabfigur als Vorlage nahelegen, wird man auch in der erhaltenen Grabplastik nach Verwandtschaften suchen. Und da würden sich die Bewaffnung: Lanze mit dreigeteilter Fahne in der Rechten, Schwert und darüberliegender Schild in der Linken, ferner das Tier zu Füssen, die sechseckige Sockelplatte der Figur des Gemäldes ungezwungen erklären, wenn ein Vorbild nach Art der Pegauer Grabfigur vorhanden war. Die dem Maler zuzuschreibenden

 

1) Für den sepulkralen Charakter der älteren Inschrift spricht, dass Slevogt (De sepulturis imperatorum etc., Jena 1722) als Grabschrift Geros eine -- ungenaue - Aneinanderfügung der Bildinschrift und der späteren Grabinschrift gibt, trotz der sich ergebenden wörtlichen Wiederholungen; eine Quellenangabe fehlt.

2) H. Weiss, Kostümkunde“ II. Stuttgart 1883. S. 317. 326 f. 331.

 

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Veränderungen entsprachen dabei seiner Behandlung der Inschrift: die Figur konsequent in eine freie Standfıgur umgedeutet, die in den Einzelformen willkürlich behandelten Attribute vom Körper abgerückt, die Fahne frei wehend, das Tier auf den Sockel gelegt, die dreiseitig vorspringende Fussplatte zum Sechseck ergänzt. Wenn dieser Zusammenhang als zu frei erscheinen sollte, so ist zu bedenken, dass etwa für die Sockelform sich schwer eine andere Ableitung bieten wird. Wenn schliesslich beim Rock des Gero eine dem Wiprecht verwandte Edelsteinfreude sich zeigt, so muss die Möglichkeit eines Zusammenhanges mit Ausläufern der Freiberger Schule ernsthaft erwogen und im Auge behalten werden, obwohl zuzugeben ist, dass für die dabei vorauszusetzenden archaisierenden Elemente vorläufig keine Parallelen vorhanden sind.

 

Erneuerungen mittelalterlicher Grabmäler im 16. und 17. .Jahrhundert sind nicht selten. Man darf sich jedoch im allgemeinen keinen zu grossen Hoffnungen über die an diesen späten Skulpturen festzustellenden alten Stilmerkmale hingeben. Das ausgeführte neue Grabmal in Gernrode hat keinen stilistischen Zusammenhang mit seinem Vorgänger. Es gehört zu den Ausnahmen, wenn eine Holzfigur des Heiligen Godehard in Hildesheim aus dem 17. Jahrhundert noch eine klare Vorstellung von ihrem Vorbilde aus dem 14. Jahrhundert vermittelt 1) Den Eindruck gotischen Schwunges, der sich am Grabmal Kaiser Lothars in Königslutter zeigt, wird man schon zögern auf sein frühestes Grabmal zurückzuführen, da dasselbe zweimal (1600 und 1709) durch ein neues Werk ersetzt wurde 2). Auf jeden Fall ist es gewagt, von den Erneuerungen alter Grabdenkmäler ausser auf ihren Stil auch auf ihre Qualität schliessen zu wollen.

Ein Beispiel dafür, wie auf Grund zweifelhafter Kopien verschwundenen Skulpturen eine ungerechtfertigte Bedeutung zuerkannt wird 3), sind die Wettinergräber auf dem Petersberge bei Halle 4). Sie müssen hier heran gezogen werden, weil man ihre Originale zu den Grabmälern von Braunschweig und Wechselburg in Beziehung gesetzt hat.

Die erhaltenen Denkmäler sind zehn liegende Sandsteinfıguren des Mark-

 

1) Kratz, Der Dom zu Hildesheim. Hildesh. 1840, III, S. 80. Zellers (a. a. O. S. 39) Annahme eines spätromanischen Vorbildes ist unbegründet. Die nicht ganz wertlose Holzfigur von 1659 steht in verwahrlostem Zustande im Obergeschoss des Domkreuzganges, wie mir Herr Direktor Ernst in Hildesheim gütigst nachwies.

2) Meier u. Steinacker, Bau- u. Kunstdenkm. des Herzogtums Braunschw. I, Kreis Helmstedt, 219.

3) Bode, Geschichte der deutschen Plastik, S. 51.

4) J. L. Sponsel, Fürstenbildnisse aus dem Hause Wettin, Dresden 1906. Tafel 1 u. 2.

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grafen Konrad des Grossen († 1157) und seiner Familie; auf der gemeinsamen Tumba sichern das Datum 1567 und zwei Monogramme Zeit und Künstler der Figuren; sie gehören, wie Sponsel nachgewiesen hat, der Werkstatt der Dresdner Bildhauer Hans und Christoph Walther an. Sie entstanden nach dem grossen Kirchenbrande von 1565, nach einer zweifelhaften Tradition 1) zum Ersatz für die bei dieser Feuersbrunst geschmolzenen Bronzeoriginale. Dass die zusammengeschmolzenen Bronzemassen noch einen Anhalt für stilgetreue Erneuerung des Denkmälerkomplexes geben konnten, ist sehr wenig glaubhaft. Aber auch wenn, wie es nach Sponsels Ausführungen möglich erscheint, steinerne Grabfiguren beschädigt den Brand überdauerten, ist die Übernahme von Stileigentümlichkeiten nicht vollig gesichert. Im Dresdner Stadtmuseum stehen einige Karyatiden 2) aus dem Kreise der Walther, vom Trostschen Grabmal von 1559 (!) stammend, die mit den über den Füssen auseinanderschwingenden Faltenkurven den Petersberger Figuren durchaus entsprechen.

Die männlichen Figuren mit Ausnahme Konrads d. Gr. sind sehr gleichförmig bewegt; sie halten sämtlich in ähnlicher Weise einen konkav gebogenen Schild, zum Teil wie Renaissancewappenhalter mit beiden Händen. Das lässt darauf schliessen, dass nicht für alle zehn Figuren Vorbilder vorhanden waren. Insbesondere wurde sicherlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts jenem Konrad († 1175) kein Grabmal errichtet, dem wegen seiner Teilnahme an verbotenem Turnier unter ungeheurem Aufsehen das kirchliche Begräbnis verweigert wurde 3).

Der Grund, weshalb man gerade zu dem Wechselburger Grabmal Beziehungen festzustellen suchte, ist vermutlich der, dass Markgraf Dedo ein Sohn Konrads d. Gr. war. Wie gering aber bei den Stiftergrabmalern Familienzusammenhänge zu werten sind, wurde schon oben betont. Die von Sponsel angeführten künstlerischen Übereinstimmungen sind nicht geeignet, die Beziehungen zu Wechselburg wahrscheinlich zu machen. Einzelheiten wie das Überfallen eines Gewandbausches über den Gürtel kommen kaum in Betracht neben den grossen Abweichungen, die die Petersberger Figuren

 

1) Die ich nur bis auf Bothe (Beschreibung des Klosters auf dem Petersberge, Halle 1748), Pfarrer vom Petersberge, habe zurückverfolgen können, der sich auf mündliche Überlieferung beruft. Ebert (Provinzialblätter für die Provinz Sachsen 1838, 8), auf dem die Literatur des 19. Jahrhunderts über die Denkmäler fusst, nennt leider die Quellen aus der Brandzeit nicht, aus denen er mit Sicherheit folgern will, „dass metallene Grabdenkmäler bei dem Brande vorhanden waren, . . . ebenso sicher aber auch, dass sie nicht über das 15. Jahrhundert hinausgingen“ (!)

2) Gurlitt, Bau- u. Kunstdenkm. d. Königreichs Sachsen, XXI. Stadt Dresden. S. 65. Abb.

3) Chronicon montis sereni, M. G. SS. XXIII. S. 153 f.

 

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in Attributen, Stellungen und Tracht zeigen. Die Statuen der Walther tragen keinen Mantel, sondern nur einen langen, bis über die Füsse fallenden Leibrock. Dafür findet sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts keine Analogie. Gehen die Gewandmotive wirklich auf die Originale zurück, so ist bei den grossen fliessenden Faltenlinien und dem Auseinanderschwingen über den Füssen eher eine Verwandtschaft mit Werken der späteren Jahrzehnte anzunehmen, etwa der Stilstufe der Magdeburger klugen und törichten Jungfrauen. In den Köpfen wird man auch in diesem Falle eine grosse Selbständigkeit der Kopisten annehmen müssen (das Vorkommen von Schnurrbärten, die Greisenhaftigkeit der Luitgard!). - Andrerseits wird es schwer halten, die Petersberger Figuren als stilreine Erzeugnisse des 16. Jahrhunderts aufzufassen. Die Frage kompliziert sich dadurch, dass die dem 16. Jahrhundert widersprechenden Elemente schon bei den Dresdner Figuren von 1559 auftreten. Haben wir es etwa mit einem archaisierenden Meister zu tun, der antiquarische Studien trieb? Dann wäre vielleicht die Annahme direkter Vorbilder für die Petersberger Grabfiguren unnötig, und wir hätten dafür die Hypothese einzusetzen, dass sie auf Grund einer allgemeinen Beschäftigung des Künstlers mit gotischer Kunst entstanden seien. Ich vermag diese Frage noch nicht zu entscheiden; nur das negative Ergebnis glaube ich aussprechen zu konnen, dass Zusammenhänge mit den Stiftergrabmälern der ersten Hälfte des Jahrhunderts sehr unwahrscheinlich sind; es sind aus den Petersberger Statuen keine Schlüsse auf die Grabplastik dieser Zeit zu ziehen.

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Kapitel IV.

Das späte dreizehnte Jahrhundert, Wiederaufnahme der Standfigur.

Der bereits mehrfach erwähnte Grabstein der Äbtissin Gertrud ( 1270) von Quedlinburg 1), der letzte in der geschlossenen Reihe der Stiftskirche, schliesst sich in dem für das 13. Jahrhundert ungewöhnlichen umlaufenden Inschriftstreifen den älteren Gliedern der Folge an. Die Figur verzichtet auf die - nur im Kissen anklingende - Darstellung des Liegens; in der leichten Senkung des Oberkörpers nach rechts, des Kopfes nach links verrät sich sogar ein Streben nach der Beweglichkeit einer Standfıgur.

Das grösste Interesse beansprucht das figürliche Beiwerk. Die Figur steht auf einem grossen Vogel, der seinerseits die Füsse auf ein Tier mit langem Schlangenleib und Vorderfüssen setzt. Auf den Schlangenschwanz dieses Tieres legt ein kleiner Löwe die Tatze, während sich an seinem Kopfe ein zwergenhaftes Ungeheuer mit seehundähnlichem Kopf und Entenfüssen zu schaffen macht. - Zu Seiten des Kopfes der Gertrud erscheinen Halbfiguren von Engeln, die Weihrauchfässer schwingen. Der Weihrauch gilt der gen Himmel fahrenden Seele 2), und die Engel gehören mehr zu einer Szene nach Art der Himmelfahrt des Bruno von Hildesheim als zu einer Darstellung der körperlichen Erscheinung der Toten. Diese Verbindung steht jedoch nicht vereinzelt da, ältere Beispiele dafür sind in Frankreich erhaltena 3).

Fur das Tiermotiv haben wir in dem Quedlinburger Grabmal ein Beispiel, das eine sichere inhaltliche Deutung ermöglicht. Es wird sich deshalb empfehlen, von diesem sicheren Punkte aus allgemein auf die Frage der Tierfiguren an Grabmälern einzugehen.

Die landläufige Meinung legt den zahllosen Beispielen von Hunden und Löwen in der Grabplastik eine Symbolik unter, nach der der Löwe, zu Füssen des Mannes, ein Sinnbild der Kraft, der Hund bei weiblichen Grabtiguren ein Bild der Treue sein soll. Die Irrigkeit dieser Deutung zum mindesten für die Frühzeit erhellt daraus, dass mehrfach Hunde auf männlichen

 

1) Abb. Hase u. Quast a. a. O. Fig. 7.

2) K. Escher, Repert. f. Kunstw. XXXV, 1912, S. 104.

3) Amiens, Grabmal des Bischofs Evrard de Fouilloy, † 1222. (Michel, Histoire de l'art II, 1, S. 191). St. Denis, Grabmal des Prinzen Johann, † 1247. (Vitry et Brière, Église abbatiale de St. D., Paris 1908. Nr. 21).

 

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Grabmälern vorkommen (erstes Grabmal Geros in Gernrode, Grabfigur Kaiser Heinrichs III. in der Ulrichskapelle des Goslarer Kaiserhauses; in Frankreich: St. Denis, Grabmal des Prinzen Ludwig 1260 1)).

Bei dem Quedlinburger Grabstein ist nun nicht nur eine Deutung der Tiere auf Eigenschaften der Verstorbenen ausgeschlossen, sondern die allein mögliche Erklärung liefert auch den Schlüssel zur Deutung in anderen Fällen. Die vier Tiere stellen offenbar den Löwen, die Aspis (Schlange), den Basilisken (das vogelartige Wesen) und Drachen dar, die der seit altchristlicher Zeit häufig illustrierte 2) Psalmvers 90, 13 vereinigt: „Super aspidem et basiliscum ambulabis, et conculcabis leonem et draconem“. Die Anordnung der Tiere zu Füssen der Figur soll den Sieg über das Böse versinnbildlichen, und das Motiv gehört zu jenen besonders im 12. Jahrhundert beliebten Darstellungen des Sieges des Gerechten, deren Kreise wir auch das Grabmal von Magdeburg mit dem Dornauszieher glaubten zuweisen zu können.

Bei den Illustrationen des genannten Psalmverses sind nicht immer alle vier Tiere vorhanden, sondern bisweilen nur Löwe und Draches 3). Von ihnen ist der Drache eindeutig 4) als Vertreter einer finsteren Macht zu bestimmen, sodass er auch dort, wo er allein zu den Füssen einer Figur vorkommt, mit Sicherheit als Symbol des überwundenen Bösen gedeutet werden kann. Ausser Darstellungen des Heiligen Michael 5) kommen dabei besonders Grabfiguren in Betracht, vor allem solche von Bischöfen, wie die erwähnten Bronzeplatten von Amiens.

Es liegt nahe, auch die Löwen auf Grabmälern im gleichen Sinne zu deuten. Hier ist jedoch der symbolische Gehalt komplexer Art. Goldschmidt 6) zeigt, wie der Löwe im Anschluss an die vielen verschiedenen Bibelstellen, die ihn nennen, in ganz verschiedenem Sinne gefasst werden kann, als Symbol der Macht Gottes oder des Bösen. Die Anbringung zu Füssen einer Figur wird immer auf ein Vorherrschen der letzteren Auffassung weisen. Gerade beim Grabmal wird man aber in der Darstellung des Löwen noch das Mitschwingen eines auf nichtbiblischer Grundlage stehenden Glaubens

 

1) Vitry-Brière a. a. O. Nr. 20.

2) Goldschmidt, Albanipsalter S. 52 f.

3) Beispiele, Goldschmidt a. a. O. S. 53.

4) Als Beleg für die Eindeutigkeit, mit der dem 12. Jahrh. der Drache Sinnbild des Bösen ist, sei verwiesen auf die von Schlange und Drachen umwundenen Gestalten von Adam und Eva am Relief der Externsteine. Zur ikonographischen Ableitung dieser Darstellung sind sicherlich die rein attributiven Tiere des Oceanus und der Terra heranzuziehen, die am Fusse karolingischer Kreuzigungen erscheinen. Vergl. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karol. u. sächs. Kaiser. I. Berlin 1914. Nr. 78, 83, 85, 88.

5) Beispiel: Bamberg, Georgenchor.

6) a. a. O. S. 65 f.

 

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annehmen: nach der Angabe der Bestiarien, der Löwe erwecke seine totgeborenen Jungen durch sein Gebrüll am dritten Tage zum Leben, gilt der Löwe als Sinnbild der Auferstehung 1). Der komplexe Charakter der Symbolik erhellt aus einem Beispiel im Goslarer Evangeliar 2), wo im Gefüge einer und derselben ornamentalen Komposition nebeneinander Simson im Löwenkampf und der Löwe als Erwecker seiner Jungen erscheinen, wobei das zweite Thema offenbar durch den Löwen des ersten angeregt ist.

Der 21. Psalm schildert die Fährlichkeiten, die den Gerechten bedrohen, gleichwie die Löwen den Daniel; es werden dabei in dichterischen Parallelismen an die Stelle des Löwen verschiedene andere Tiere gesetzt, so Vers 17 der Hund: „circumdederunt me canes multi“. Von diesem Psalm fällt nicht nur ein Licht auf die Bedeutung der Hunde auf Grabmälern, sondern es ist auch der Rückschluss daraus zu ziehen, dass für die entsprechenden Löwen ebenfalls der Charakter der drohenden bösen Macht der überwiegende ist.

Eine Schwierigkeit für die Annahme dieser symbolischen Deutung könnte man darin finden, dass etwa bei Wiprecht von Pegau nicht das wirkliche Stehen auf dem Tier dargestellt ist, sondern dasselbe isoliert unter der Fussplatte liegt. Die Übernahme der byzantinischen Sockelplatte und die Sonderlage der Grabfıgur haben hier in der Tat eine unklare Darstellung geschaffen, von der, wenn sie allein dastände, eine Deutung wie die angegebene nicht abzulesen wäre. Jedoch sind die Standfiguren der gleichzeitigen und gleichartigen Plastik heranzuziehen, bei denen die Sonderbedingungen der Grabfigur fortfallen, und hier ist das Stehen auf Tier- und Menschenfıguren in der Tat klar und eindeutig ausgeführt. Gleichzeitig ergibt sich aber aus den Standfiguren, dass das Motiv der fıgurierten Konsole neben dem symbolischen Gehalt auch im Formalen wurzelt. Die belebte Konsole, zu deren Vorstufen die säulentragenden Löwen und die Karyatiden der oberitalienischen Kunst zahlen, ist in Frankreich an den Chartreser Querschiffvorhallen aus fast rein formalem Interesse ausgebildet.

Es ist nicht möglich, den zusammengeduckten Tier- und Menschengestalten unter den Füssen der grossen Statuen durchweg inhaltliche Bedeutung beizumessen. Bei den deutschen Verwendungen des Motives ist zum Teil der symbolische Charakter unzweifelhaft (Kreuzgruppen von Halberstadt, Wechselburg, Freiberg), in einzelnen Fällen wenigstens eine attributive Bedeutung vorhanden (Goldene Pforte, Daniel auf dem Löwen), zumeist aber in den Konsolfiguren ein nur formales Motiv zu erblicken (Magdeburg, Statuen

 

1) Mâle, Die kirchliche Kunst des 13. Jahrh. in Frankreich. Deutsch von Zuckermandel, Strassburg 1907, S. 54.

2) Goldschmidt, Goslarer Evangeliar, Tafel V.

 

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des geplanten Nordportales; Goldene Pforte, die meisten Gewändestatuen; Wechselburg, Abraham und Melchisedek). Auch an Grabmälern kommen solche inhaltlosen Konsolen vor; zum Beispiel sind die Halbfiguren zu Füssen der Mechthildis in Wechselburg sicher kein „Symbol“ ihrer beiden

vor ihr verstorbenen Kinder 1), sondern nur dekorative Stützfiguren. Eine symbolische Bedeutung ist daher nicht immer vorauszusetzen; wo sie sich dagegen ungezwungen ergibt, wird man sie annehmen, zumal wenn sie wie bei den Tieren für Einzelfälle - Quedlinburg; die Drachen der Bi-

schofsgräber - gesichert ist.

 

Die Stellung des Grabmales der Gertrud innerhalb der Quedlinburger Grabsteinfolge wurde bereits kurz gestreift: die Entwicklung der Liegefıgur, für die der Stein der Agnes von 1203 in dem Kissenmotiv einen ersten Ansatz, die Figur der Kunigunde von 1231 im Anschluss an Braunschweig die Fortführung brachte, ist abgebrochen; die Liegeauffassung beschränkt sich wieder ausschliesslich auf das Kopfkissen. Im übrigen erscheint die Grabplatte als die bildmässig gerahmte Darstellung einer stehenden Gestalt.

Für diesen Rückschritt zur Standauffassung der Grabfigur, mit dem die Quedlinburger Platte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht alleine dasteht, liegen verschiedene Gründe vor. Der eine besteht darin, dass die bildmässig aufrecht gedachte Grabplatte auch in der Zeit gepflegt wurde, als die vollplastische Grabfigur liegend aufgefasst wurde, und zwar in den mit den Mitteln der Flächenkunst und des flachen Reliefs gearbeiteten Grabsteinen. Ein zweiter Grund sind die französischen Einflüsse, die den Charakter der deutschen Skulptur nach der Mitte des Jahrhunderts bestimmen.

Beispiele rein flächenhafter figürlicher Grabplatten, deren eingehende Behandlung über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen würde, sind in der sächsischen Kunst des 13. Jahrhunderts die gravierten Messingplatten der Bischöfe Yso in Verden ( 1231) 2) und Otto I. in Hildesheim († 1279) 3), die mit Ritzzeichnung versehene Steinplatte des Bischofs Richwin von Naumburg ( 1125) 4), eine Platte mit Malereiresten von 1267 in Lindau (Anhalt) 5).

Sodann sind die Grabplatten mit flachem Relief zu nennen, denen sowohl nach ihrer Technik der Anreiz zur Darstellung der Liegefıgur fehlt als auch in ihrer architektonischen Umrahmung ein bestimmendes Vertikalmotiv gegeben ist.

 

1) Hasak a. a. O. S. 4.

2) Mithoff, Kunstdenkm, im Hannöverschen V, S. 121.

3) Zeller a. a. O. S. 145.

4) Bau- u. Kunstdenkm, Prov. Sachsen XXIV, S. 227.

5) Büttner Pfänner zu Thal a. a. O. S. 513.

 

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Architekturelemente ohne besondere Gliederung begegneten uns im 12. Jahrhundert an den Baldachinen in Enger und Hildesheim (Adelog); eine durchgeführte Architektur, einen säulengetragenen Bogen, zeigt im Beginn des 12. Jahrhunderts die figurenlose Grabplatte des Bischofs Udo von Hildesheim († 1114) 1). Entsprechend ist die Umrahmung am Grabstein des Propstes Bodo († 1213) in Barsinghausen 2), sie umgibt die in sehr flachem Relief gebildete Figur des Verstorbenen, der im Messgewande mit dem Kelch in der Hand dasteht. Vom Scheitel des Bogens reicht die Segenshand Gottes herab (auch dazu die Grabplatte Udos zu vergleichen), eine abgekürzte Darstellung des beim Grabmal des Presbyters Bruno ausgeführten Gedankens.

Auf dem Grabstein des vor 1249 verstorbenen Vogtes Giselbert 3) im Museum zu Goslar erscheint eine reichere Ausbildung des architektonischen Rahmens, in der Mitte des Kleeblattbogens 4) auch hier die Gotteshand. Die Figur, im pelzverbrämten Mantel mit Schild, zeigt in derber Ausführung einen karikaturenhaft unruhigen Faltenstil, eine Verwilderung des in Goslar an der Kanzel der Neuwerkskirche 5) vorkommenden bewegten Stiles.

Den Einfluss der französischen Gotik auf die Grabplastik verraten die grossen Schüsselfalten am Mantel der Gertrud von Quedlinburg. Sie sind wie die entsprechenden Partien der Gandersheimer Stifterfıgur der französischen Hochgotik entlehnt; bei den noch zu besprechenden Stifterinnen von Heiningen, an denen die gleichen Motive auftreten, wird der Weg der Übernahme genauer gezeichnet werden.

In der französischen Gotik entscheidet die Abhängigkeit der Skulptur von der Architektur dafür, dass die Bewegungs- und Gewandmotive der Statuen im Anschluss an die senkrechte Achse entwickelt werden. In Frankreich ist die architektonisch gebundene Gewändestatue für die Plastik so sehr massgebend, dass ihre Motive auch an den Grabfiguren ohne weiteres verwen-

 

1) Zeller a. a. O. S. 123.

2) Wolff, Bau- u. Kunstdenkm. Prov. Hannover I, 1. S. 62.

3) Abb. Wolff, Bau- u.- Kunstdenkm. v. Hannover II, 1, S. 201. Das dort angegebene Todesdatum 1266 ist nicht haltbar; Giselbert war bereits 1256 verstorben (Bode, Urkundenbuch von Goslar II, Halle 1896, Nr. 37). Da die Urkunde Bode II, 22, um 1253, auf den gleichnamigen Neffen des Vogtes G. bezogen werden kann, ist die letzte Erwähnung desselben Bode I, 609 vom 19. IV. 1245. Die wahrscheinlichste Lesung des Datums in der überarbeiteten Inschrift des Grabsteines ist M-CC-XLV [. . . Ka]lendas Decembris, sodass Giselberts Todestag auf November 1245-1249 anzusetzen ist.

4) Zu den ausspringenden Rundungen an den Absätzen des Kleeblattbogens vergl. die Fenster am Grossen Heil. Kreuz in Goslar; Hartung, Motive der mittelalterl. Baukunst in Deutschland, Berlin o. J. III, Tafel 174.

5) Wolff, Bau- u. Kunstdenkm. der Prov. Hannover, II, 1. S. 108.

 

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det werden. Das Problem der liegenden Grabfigur, das in Sachsen im Kreise des Braunschweiger Grabmales energisch in Angriff genommen wird, in Westfalen den plumpen Versuch der Freckenhorster Grabfıgur 1) gezeitigt hat, fehlt in der französischen Plastik des 13. Jahrhunderts. Die Königsgrabmäler, die Ludwig der Heilige nach 1263 in St. Denis seinen Ahnen errichten liess 2), sind völlig stehend gedachte Figuren.

Um beim Grabmal den Widerspruch einer stehend gedachten Figur in liegender Stellung zu vermeiden, gab es zwei Möglichkeiten. Die eine ist die in Braunschweig verwirklichte: Die Grabfigur wird der horizontalen Lage entsprechend durchgebildet. Die zweite Möglichkeit ist, dass die wagerechte Lage der Grabplatte aufgegeben und auf einer aufgerichteten Platte eine aufgerichtete Gestalt dargestellt wird. In der späteren Gotik ist diese zweite Lösung mehrfach an Orten gefunden, an denen eine grosse Zahl von Denkmälern - etwa die der Erzbischöfe im Mainzer Dom - aus Platzrücksichten die Aufrichtung der Platten an der Wand forderte.

Einen solchen Bruch mit der traditionellen Horizontallage des Grabdenkmals hat auch das 13. Jahrhundert bereits vollzogen, und zwar bei der Gruppe, für die ohnehin der Zusammenhang mit dem Grabe vielfach ein nur gedachter war, beim Stifterdenkmal. Der entscheidende Schritt geschieht in Naumburg. Als es sich darum handelt, den Stiftern 3) des dortigen Domes ein Ehrenmal zu errichten - ein Gedanke, der dem der Ahnenreihe Ludwigs IX. in St. Denis entspricht - schliesst man sich nicht an ihre zumeist im Dome befındlichen 4) Grabstätten an, sondern stellt ihre Gestalten aufrecht an den Hochwänden des Westchores auf. Es wird damit die Möglichkeit geschaffen, die skulpturalen Bewegungsmotive in ihrer vollen Mannigfaltigkeit auszunutzen, und wenn die freie und reiche Lebendigkeit der Naumburger Stifter mit den stillen und frontalgebundenen Figuren der frühen sächsischen Grabplastik keinen formalen Zusammenhang aufweist, so ist es doch zweifellos, dass die freie Entfaltung der profanen Persönlichkeit, die hier zutage tritt, nur denkbar ist auf Grund der in der Grabplastik vollzogenen Einführung der Profanfigur in die Kirche.

In Niedersachsen zeigen einige weibliche Stifterfiguren besonders deutlich eine entsprechende Umbildung eines alten Typs unter neuen Einflüssen: zwei Stuckfiguren in Heiningen 5), die Stifterinnen Hildeswid und Alburgis

 

1) Johannes Klein a. a. O. S. 30, Anm. 30.

2) Vitry-Brière a. a. O. Nr. 5-18.

3) S. den Brief Dietrichs II. von 1249; Bau- u. Kunstdenkm. d. Prov. Sachsen XXIV. S. 17.

4) Ebenda S. 106 f.

5) Mithoff, Kunstdenkm. im Hannöverschen III (1875) S. 89f.

 

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(10. Jahrh.) darstellend, und eine sehr ähnliche Figur der Herzogin Agnes 1) ( 1266) 2) in ihrer Stiftung Wienhausen bei Celle.

Die Heininger Statuen, aufrecht ohne architektonischen Zusammenhang an einem Pfeiler der Kirche aufgestellt, sind fast völlig symmetrisch; zur Rechten steht die Mutter, Hildeswid, mit dem Kirchenmodell in der Rechten, links ihre Tochter Alburgis mit einem Buch in der Linken. Die erstere ist ausgezeichnet durch reicheren Schmuck der Gewandung; er ist angegeben durch plastisch eingesetzte Steine, wie in Pegau, dieselben scheinen jedoch hier wie die Figur aus Stuck zu bestehen.

Beide Figuren tragen einen auf den Schultern aufliegenden Mantel über dem langen, gegürteten Kleide; die beiden inneren Hände der Gruppe sind gegen das Mantelband auf der Brust ausgestreckt. Die äusseren Hände, in denen die Attribute liegen, raffen den Mantel, der sich über den Unterkörper legt. Die leicht vorgeneigten Köpfe tragen Kronen, welche über einem edelsteingeschmückten Reif in Blätterzacken auslaufen; bei Alburgis liegt unter der Krone ein auf die Schultern herabfallender Schleier.

Die Qualität der Skulpturen ist nicht hervorragend, die Rundung der Gesichts- und Handflächen recht allgemein, die scharfgeränderten Augen mit ausgebohrter Pupille starr, die Brauen einfache Bogen, schematisch in die Nasenlinie übergeführt, am Munde nur die Unterlippe plastisch durchgebildet, die Haarsträhnen einförmige Wellenlinien. Die fast genaue Wiederholung gleicher Motive deutet auf einen erfındungsarmen Künstler; die aus der Bewegung nicht verständlich abgeleiteten Gewandmotive (z. B. Laufen die Mantelfalten nicht wirklich in der Hand zusammen) erwecken den Eindruck der Entlehnung.

Wenn bei der Statue in Wienhausen die Übereinstimmungen nicht sogleich erkannt werden, so liegt das an dem verschiedenen Erhaltungszustand: die Wienhäuser Figur trägt einen dicken graugrünen Ölfarbenanstrich mit teilweiser Vergoldung, sodass viele Einzelheiten verschmiert sind; die Heininger Figuren zeigen dagegen unter einer dünnen Tünche noch die Einzelheiten der Ausführung. - Die Tracht der Agnes entspricht der Alburgis: langes, gegürtetes Gewand, über den Füssen sich stauend, auf der Brust ein einzelnes Kleinod (hier eine blumenartige Rosette); der Mantel fällt über

 

1) Mithoff, Archiv f. Niedersachsens Kunstgesch. II. Kloster Wienhausen. Hannover o. J.

2) Das Todesjahr 1266 gibt Scheid, Origines Guelficae III, Hannover 1752, S. 144 „nach einem Wienhäuser Manuskripte“ an. Das von L. v. Heinemann (Heinrich v. Braunschw., Pfalzgraf bei Rhein, Gotha 1882, S. 188) genannte Datum 1248 fusst auf der Urkunde Orig. Guelf. III, 722, die aber nicht als terminus ante quem für den Tod der Agnes verwendet werden kann.

 

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beide Schultern, die eine Hälfte ist über den Unterkörper gezogen, das symmetrisch gefaltete Kopftuch kehrt gleichfalls wieder. Eine über dem ganz ebenen Kopfabschluss zu ergänzende Krone fehlt heute; sie war wie bei Hildeswid von Heiningen aus einem Stück für sich gearbeitet. Nach der Ergänzung stimmt, wenn wir die Höhe der Krone zu 10 cm rechnen, die Grösse der Statuen überein: Hohe der Agnes 172 cm, der Alburgis mit Krone 182 cm.

Die Rechte der Agnes hält das Kirchenmodell, die Linke macht die bekannte Mantelbandbewegung. Die einzige grössere Abweichung von Heiningen ist der ungebrochene Fall der linken Mantelhälfte, der einen wirksamen Gegensatz zur bewegteren rechten Seite ergibt. Im übrigen entspricht der Faltenwurf den beiden anderen Figuren: die Schüsselfalten des Mantels, ihre Überführung in die senkrechten Falten des Untergewandes, das Umknicken der Falten über den Füssen, der Wellensaum des Kopftuches. Charakteristisch ist, dass das Zusammenlaufen der Mantelfalten in einem Punkte, das nicht wie in Heiningen durch die Bewegung motiviert werden konnte, dadurch bewirkt ist, dass der Mantelzipfel unter dem linken Handgelenk durchgezogen ist. Man vergleiche damit den Quedlinburger Grabstein von 1270.

Als historischer Anhalt für den Zusammenhang zwischen Wienhausen und Heiningen ist anzuführen, dass die Besiedlung von Wienhausen durch Nonnen aus dem Heiningen benachbarten Wöltingerode geschah.

Das Vorbild der Stuckfiguren finden wir in der stehenden Madonna der Marienkapelle im Halberstädter Dom. Die Tracht und die Hauptfaltenmotive stimmen überein, besonders die grossen Schüsselfalten am Mantel; Einzelformen wie die scharfumränderten Augen, die ungebrochenen Brauenbogen, die plastisch nicht angegebene Oberlippe, die Faltung des Kopftuches und die Haarbildung zeigen gleichfalls die nächste Verwandtschaft. Auch die Höhe der Halberstädter Madonna ist als Argument für den Zusammenhang anzusehen (etwas unter 185 cm). Die Heininger Figuren schliessen sich dem Vorbilde ängstlicher an, die Statue von Wienhausen verrät dagegen eine etwas freiere Hand.

Die Ableitung des Stiles der Madonna hat Wolters 1) gegeben; sie schliesst sich den im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandenen Strebepfeilerfiguren des Halberstädter Domes an, die wiederum mit der Zwischenstation Minden auf die Reimser Plastik zurückzuführen sind.

 

1) Alfred Wolters, Beiträge zur Geschichte der Plastik des Halberstädter Domes. Hallenser Dissert. 1911. Kap. II. - Die Madonna besteht nach dem Befunde der Rückseite aus Stuck, nicht, wie W. annimmt, aus Stein.

 

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Anhang

Die Inschriften der figürlichen Grabmäler.

Die folgende Zusammenstellung verfolgt nicht den Zweck, eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der Grabschriften des 12. und 13. Jahrhunderts zu geben; es wäre dazu unerlässlich, in weitem Umfange die literarisch überlieferten Inschriften sepulkralen Charakters sowie die figurenlosen Grabplatten heranzuziehen. Nach dem Thema der vorliegenden Arbeit kann es sich hier nur darum handeln, die Beschreibung der figürlichen Grabmäler durch Angabe der zugehörigen Inschriften zu ergänzen.

Im 12. Jahrhunden kann die Hinzufügung einer Inschrift zu den Grabfiguren als Regel gelten. Dagegen verschwinden in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Inschriften fast völlig aus der fıgürlichen Grabplastik; das Interesse konzentriert sich fast ausschliesslich auf die formale Durchbildung der Gestalten.

Der Inhalt der Inschriften erstreckt sich mit verschiedener Bewertung der einzelnen Faktoren auf den Namen des Toten, Angaben über sein Leben und seine Verdienste, das Todesdatum, das Fortleben seiner Seele, allgemeine Gedanken über die Vergänglichkeit des Irdischen.

Nicht immer ist der Name genannt. Bisweilen, so bei den durch das Kirchenmodell gekennzeichneten Stiftern, erscheint er uns auch ohne Inschrift gesichert; auch das Götzenbild zu Füssen des Magdeburger Erzbischofs mochten die Zeitgenossen als individuelles Attribut 1) Friedrichs von Wettin benachten, unter dem der Kreuzzug gegen die Heiden gepredigt wurde. In einigen Fällen aber ersetzt kein individuelles Merkmal den fehlenden Namen, etwa bei den Quedlinburger Äbtissinnen von 1225 und 1231. Man mochte annehmen, die starke Betonung des Artistischen habe bei dem Braunschweiger Grabmal und seinem Kreise die Vernachlässigung der historischen Angabe zur Folge gehabt. Die künstlerisch minder bedeutenden Grabmäler der gleichen Zeit (Nr. 12, 15 der folgenden Zusammenstellung) verzeichnen gewissenhaft den Namen.

Von Zeitangaben findet sich meist nur die Angabe des Kalendertages des Todes, die für die Memorienfeiern von Wichtigkeit war. Das frühste Bei-

 

1) Das Motiv, das bei der jetzigen aufrechten Aufstellung der Grabplatte so gut wie gar nicht zur Geltung kommt, fiel bei der ursprünglichen Lage weit stärker ins Auge.

 

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spiel für Nennung der Jahreszahl ist der Grabstein Bischof Adelogs von Hildesheim † 1190 (10), dem sich erst in den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts ein weiteres Beispiel anschliesst: Grabstein des Giselbert v. Goslar (Nr. 15).

Eine Würdigung des Toten von grossen historischen Gesichtspunkten aus geben nur die drei Distichen auf Rudolf von Schwaben (1). Sie rühmen kurz sein Verdienst und seine Taten, umschreiben sein Verhältnis zu Reich und Kirche, suchen nach einer allerdings reichlich hoch gegriffenen historischen Parallele zu seiner Persönlichkeit und betonen das Fortleben seines Werkes über seinen Tod hinaus. In allen späteren lnschriften wird, wenn überhaupt vom Leben des Verstorbenen die Rede ist, auf abgesonderte Einzelheiten hingewiesen, auf die Stiftung des Gotteshauses, auf die Sorge für die Armen der Gemeinde (9) oder gar auf uns nicht eben bezeichnend erscheinende Tatsachen wie die Vermehrung der Einkünfte der Kirche (10). In einigen Fällen wird in kurzen Adjektiven der Charakter des Toten gerühmt (6, 10, 16). Auf die äussere Erscheinung des Entschlafenen und seine Darstellung auf dem Grabmal nehmen die Inschriften Brunos von Hildesheim (9) und der Kunigunde von Quedlinburg (13) Bezug.

Die Hinweise auf die Vergänglichkeit der Welt und die Hinfälligkeit alles Irdischen nehmen den breitesten Raum ein auf den drei ältesten Quedlinburger Grabsteinen (3, 4, 5) und dem von 1231 (13). Auch am Grabmal Adelogs (10) klingt das Thema an.

In der Stellung zum künftigen Leben der Seele wandelt sich die Ausdrucksweise stark. Auf den ältesten Grabmälern erscheint die Tatsache der Aufnahme in die Seligkeit als feststehend und selbstverständlich; diese Gewissheit wird bei Rudolf von Schwaben und Friedrich von Wettin ganz in Parenthese angedeutet (1, 6). Allmählich aber tritt als Interpretation der Orantengeste der Figuren das Flehen um die Gewährung des ewigen Lebens ein, teils als direkte Bitte an Christus (9, 16), teils als Aufforderung zur Fürbitte an den Leser (10). Auch das Gebet der Grabfıgur selbst wird vermittelst eines Spruchbandes oder eines aufgeschlagenen Buches in Worte gekleidet (10, 16; auch beim Grabmal in Wechselburg?) - Ausserhalb dieses Gedankenkreises, der dem Leben in der Ewigkeit gilt, steht die Inschrift der Agnes von Quedlinburg (11), die dem Körper der Entschlafenen friedliche Ruhe im Grabe wünscht; es ist vielleicht nicht zufällig, dass dieser Gedanke gerade bei der Grabfigur sich äussert, die in der Einführung des Kissenmotives das Eingehen auf das naturalistische Liegen der Gestalt zeigt. In der Form der Inschriften besteht ein Gegensatz zwischen metrisch abgefassten und Prosaangaben. Zur ersten Gruppe gehören als reichste Äusse-

 

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rung die drei leoninischen Distichen auf Rudolf von Schwaben (1), an zweiter Stelle folgen die vier gereimten Hexameter vom Grabmal Wittekinds (2). Von den späteren Grabschriften geht keine über die Zusammenfassung zweier Verszeilen hinaus (6, 9, 10, 11, 13, 15, 16). Bei den Prosainschriften kommen ausser den blossen Namens und Todesangaben auch Bibelsprüche vor (3, 4, 5, 9).

Von den Grabmälern mit einheitlicher Inschrift scheiden sich diejenigen, an denen mehrere Inschriften ohne inhaltlichen oder formalen Zusammenhang angebracht sind; sie finden sich zuerst an den Grabsteinen um 1200 (9, 10), bei denen die zusammenhanglose Ausführlichkeit im Einklang steht mit dem künstlerischen Bemühen um die Darstellung der Einzelzüge.

Der Platz der Inschriften auf der Grabplatte ist in der Regel ein umlaufender Rahmenstreifen. Die Buchstaben werden meist so angeordnet, dass sie auf der Innenlinie dieses Rahmens stehen, die Inschrift also im Sinne des Uhrzeigers umläuft (1); der Anfangspunkt ist das untere Ende der linken Langseite. Bei den ältesten Quedlinburger Steinen wird von dieser Anordnung die untere Schmalseite abgesondert, auf der die Buchstaben der Todesnotiz auf der äusseren Rahmenlinie aufstehen, sodass sie auf den am Fussende der Platte stehenden Leser berechnet sind (3, 4, 5). - Diese Rücksichtnahme auf den Standpunkt des Beschauers führt zu weiteren Abwandlungen des Schemas (10, 12, 15). Auch wird der Anfangspunkt der Umschrift bisweilen im 13. Jahrhundert in die Mitte der oberen Schmalseite verlegt (11, 16). Ausser dem Inschriftrahmen kommt die Anordnung in Form einer Schrifttafel (6), die Füllung von Querstreifen (9), Baldachinen (10), Spruchbändern, Büchern mit Schrift vor (9, 10, 15).

Im Gegensatz zu der beim Merseburger Grabmal (1) waltenden Rücksicht auf die metrische Gliederung sind die späteren Inschriften sorglos auf den verfügbaren Raum verteilt, sodass der Übergang von einer Rahmenseite auf die andere oft mitten im Worte erfolgt.

Die erhaltenen Schriftzeichen sind mit Ausnahme der jüngeren Magdeburger Bronzeplatte (8, die Buchstaben in der Fläche liegend und vergoldet) und des Grabsteines von Barsinghausen (12, erhabene Buchstaben) in den Grund eingetieft; das Motiv des Spruchbandes in Wechselburg lässt vermuten, dass bisweilen Inschriften nur durch Malerei angegeben waren.

Die vertieften Buchstaben werden im 12. Jahrhundert in dreieckigem Querschnitt der Tiefen sorgsam ausgeführt, die Verbreiterungen der Schaftenden sorgfältig behandelt, bisweilen fast ornamental ausgebildet (7, 9). Im 13. Jahrhundert sinkt der Grad der Durchbildung der Schrift; der winklige Querschnitt der Schäfte weicht mehrfach einem solchen in Gestalt eines

 

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sehr flachen Rechtecks (11, 16), Füllung der dadurch entstehenden vertieften Fläche mit Farbe kommt vor (16).

Die Buchstaben sind ausnahmslos Majuskeln. Im 12. Jahrhundert sind die Formen, falls sie sich auf dem Inschriftstreifen genügend entfalten können, breit; schmale Formen finden sich nur bei knappem Raum (3, 4, 5). Im Laufe der Entwicklung erfolgt der allgemeine Übergang zu schmaleren Formen.

Ausnahmslos ist die Kapitalschrift mit Uncialen durchsetzt. Bei den Bronzeinschriften tritt das unciale Element schon früh stark hervor (1). Bei den Steininschriften setzt es sich, nachdem zuerst der Kapitalcharakter noch durchaus der herrschende ist, allmählich mehr und mehr durch. Dabei ist die Entwicklung nicht einheitlich; die stärkere Bevorzugung der Unciale und die Reaktionen gegen diese Bevorzugung sind offenbar vielfach rein individuelle Elemente. Die Einzelheiten über das Verhältnis von Kapital- und Uncialformen (K:U) sind bei den einzelnen Inschriften im folgenden vermerkt.

 

1. Merseburg. Rudolf v. Schwaben († 1080).

Rex hoc Rodulf[us], patru[m] p[ro] lege p[er]e[m]ptus,

Plorandus merito conditur in tumulo.

Rex illi similis, si regnet tempore pacis,

Consilio, gladio non fuit a Karolo.

Qua vice res viruit, hic sacra victima belli

- Mors sibi vita fuit - ecclesiae cecidit.

Die Umschrift der Bronzeplatte beginnt am unteren Ende der linken Langseite. Auf den Langseiten je zwei Verszeilen, auf den Schmalseiten je eine. Lücken von etwa vier Buchstabenbreiten zwischen den beiden Versen der Langseite, solche von etwa drei Buchstaben in der Mitte der Kurzseiten; an der oberen Schmalseite sind für die Lücke die beiden - metrisch notwendigen - Schlussbuchstaben des Namens Rodulfus geopfert 1). - Da das Verhältnis von Länge und Breite annähernd = 3: 1, sind die Buchstaben an den Schmalseiten sehr gedrängt. Worttrennung durch Kreuze nur teilweise durchgeführt, besonders an den Schmalseiten aus Platzmangel vernachlässigt. Sehr sorgfältige Buchstaben. Uncialen: D (K:U = 4: 1);

 

1) Im Inventar, Bau- u. Kunstdenkm. Prov. Sachsen VIII, 144, findet sich die seltsame Ansicht es habe ständig oder zeitweise ein Kreuz über der Grabplatte gelegen und die Lücken seien mit Rücksicht auf seine Arme gelassen. Das ist schon wegen der anzunehmenden Kreuzform ausgeschlossen; der Querbalken müsste in der Mitte des Längsbalkens ansetzen. Standen vielleicht auf den Lücken die bei Memorienfeiern gebräuchlichen Leuchter?

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E (6: 11); M (4:2); beim Uncial-M gehen symmetrische Rundungen von einem festen Mittelschaft aus. Die runde und spitze Form für U und V etwa gleich oft verwandt (8:7). Ligaturen: TR. Kürzungen nur bei den gedrängten Zeilen der Kurzseiten; Kürzungsstrich über den Buchstaben.

2. Enger. Wittekind. († 807). Grabstein um 1100. Vier leoninische Hexameter, vermutlich von der ursprünglichen Tumba, in einer verderbten Wiederholung auf der Tumba des 17. Jahrhunderts. Getreuere Abschrift bei Bernhard Wittius 1517 1).

Ossa viri fortis, cuius sors nescia mortis,

Iste locus claudit. „Euge bone“ spiritus audit 2)

Omnes mundantur, hunc regem qui venerantur,

Egros hic morbis celi rex salvat et orbis.

3 - 5. Quedlinburg. Äbtissinnen Adelheid I.| ( 1044), Beatrix († 1062), Adelheid II. ( 1095). Grabsteine 1129 - 1139.

3. XVIIII. Kl. Feb. Hathelh(eid) abb[atiss]a o[biit].

Homo vanitati similis fa | ctus est, dies | eius sicut umbra pretereunt 3).

4. III. idus Jul. Beatr | ix abb[atiss]a o[biit].

Cum interierit homo, non | sumet om[n]ia | neq[ue] descendet cum eo gl[ori]a eius 4).

5. III. idus Jan. Hathelh[eid] abb[atiss]a ob[iit].

Homo, sicut fenum dies eius, ta | mquam | flos agri, sic efflorebit 5).

Namen und Datum auf der unteren Schmalseıte, bei 4. auf die rechte Langseite übergreifend; Standlinie der Buchstaben der äussere Rand des Inschriftstreifens. Für die Buchstaben der Sprüche Standlinie der innere Rand, demgemäss Anfang am unteren Ende der linken Langseite. - Durchweg Worttrennung durch Punkte. Umbiegen an den Ecken ohne Berücksichtigung der Wortgliederung. Spruchanfang und Ende durch Zierkreuze bezeichnet. - Wo nicht, wie in den Todesnotizen, Platzmangel, sind die Buchstaben sehr sorgfältig, breit und in weitem Abstand voneinander. Uncial: G und O (dem Zweilinienschema eingefügt) sowie das H am Wortende. Beim E nahezu regelmässiger Wechsel von Kapitale und Unciale. - Für A drei Formen: 1. obere und mittlere Verbindung der Schäfte horizontal. 2. mittlere Verbindung gebrochen. 3. die Form des R mit fehlender oberer Bauchung. - Für U und V ausschliesslich die spitze Form. - Ligaturen: AB (Schrägstellung des gemeinsamen Schaftes), HE, VS (die obere Hälfte des aufsteigenden V-Schaftes durch die obere S-Rundung er-

 

1) Historia antiquitus occidentalis Saxoniae seu nunc Westphaliae. Herausgeg. Münster 1778.

2) Luc. 19, 17. Euge, bone serve, quia in modico fuisti fidelis.

3) Ps. 143, 4.

4) Ps. 48, 18.

5) Ps. 102, 15.

 

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setzt). Kürzungen bei ausreichendem Raum (Spruch der Adelheid I.) vermieden; am stärksten bei den Todesnotizen. Formen des Kürzungszeichens:

1) horizontales Durchstreichen des Nachbarbuchstabens; beim Schluss-H, J, L, O. 2) Horizontalstrich über dem Buchstaben; beim B und N. 3) Punkt über dem Buchstaben, bei Form 3) des A. 4) der sonst für die Endung -us gebräuchliche Haken beim Q für que. -- Das obiit der Todesnotiz zweimal durch O mit Kürzungszeichen 1), einmal durch OB mit Kürzungszeichen 2).

6. Magdeburg. Erzbischof Friedrich von Wettin. ( 15. I. 1152.)

Octava decima | Februi rede | unte Kalenda

Quem Deus | ascivit p[rae]sul | venerand[us] obiv[it].

Die Inschrift des Bronzegrabmals hat die Form einer hinter Friedrichs Kopf angebrachten Tafel mit drei Reihen, die durch Doppellinien von einander getrennt sind. An jeder Seite des Kopfes eine dreifach ohne metrische Rücksichten abgeteilte Verszeile. - Keine Worttrennung. - Für Bronzeschrift auffallend wenig Uncialen: E (1:8), bei M und N gleichmässiger Wechsel von Kapitale und Unciale. Die Uncialform des M zieht die beiden ersten Schäfte zu einem O zusammen und fügt den dritten als Rundung an. Für U und V einmal Rundform, 7mal die winklige. Kürzungen sparsam: Horizontalstrich über dem Buchstaben, us-Haken. Ligaturen: TE, VE, UN. Sonderformen: beim K und R setzen Bauchung und geschwungene Schrägstriche in je einem Falle völlig getrennt am Hauptschaft an.

Die Verwandtschaft mit den lateinischen Inschriften der Türen in Nowgorod beweist für diese, die Adelung 1) dem 13. Jahrhundert zuschreibt, Gleichzeitigkeit mit der Entstehung, der Bronzearbeit. Die Ähnlichkeit ist am stärksten bei den sorgfältigeren Inschriften in Nowgorod; die flüchtigeren zeigen vielfache Variationen und epigraphisch ungewöhnliche Bildungen (besonders auffallend die tironische Kürzung für et!) Merkwürdig ist, dass bei im übrigen stärkerer Bevorzugung der Unciale an den Türen das Uncial-N noch nicht verwandt ist.

7. Altenplathow. Hermann von Plothe († nach 1170.)

[...ka]l Maii o[biit] [Her | m]annus [mi]les s[an]c[t]i Mauricii . . . | . . . | . . .

[Tho]mas Jaco[bus... B]artho[lo]meu[s] Mat[heus]...

Von der Umschrift kaum die Hälfte erhalten. Ein Inschriftfragment, das den Namen sichert, von Rosenfeld 1910 in dem oben angegebenen Aufsatze veröffentlicht. - Die persönlichen Angaben beginnen links auf der oberen Schmalseite; inhaltliche Bedeutung und Zusammenhang der linken Langseite mit den Apostelnamen unerklärt. -- Worttrennung durch Punkte. - Die Buchstaben sind charakterisiert durch sehr starke Spaltung an den

 

1) Korssunsche Türen, Berlin 1823 Facsimile der Inschriften.

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Schaftenden, sie entsprechen darin den Inschriften der auch stilistisch zugehörigen Seligpreisungen in Magdeburg. Dort wie in Altenplathow kehrt die bei den Magdeburger Bronzeinschriften (6) beschriebene Form des Uncial-M wieder; ausserdem Uncialformen für E und V: Obiit: horizontal

durchstrichenes O.

8. Magdeburg, Erzbischof Wichmann ( 1192) oder Ludolf ( 1205).

Der umlaufende Inschriftstreifen bis auf geringe zusammenhangslose Reste in der oberen Hälfte der linken Langseite und der linken Hälfte der oberen Schmalseite zerstört, lesbar die Buchstaben: . . . anxit . . . . itum pacificu . . . ominis in di . . Auch diese nach der verschiedenen Orientierung der Buchstaben nicht in der ursprünglichen Anordnung. Der Bronzestreifen der Inschrift war gesondert gearbeitet und mit Bleilötung der Platte eingefügt. Wıggert 1) vermutet, die Lösung des Zusammenhanges und die Zerstörung der Hauptteile der Inschrift sei beim Dombrande 1207 erfolgt. - Die Buchstaben nicht vertieft, sondern in der Fläche liegend und vergoldet. Inschriften auf „laminis cupreis cum aureis litteris“ werden mehrfach erwähnt 2).

9. Hildesheim. Dom. Presbyter Bruno. ( um 1195)

a) Umschrift des Steines, unten links beginnend, oben im Halbkreis geführt:

Brunoni, cuius speciem monstrat lapi[s] iste,

Qui sua pauperibus tribuit, da gaudia Chr[ist]e,

b) am unteren Teilungsstreifen:

Bruno pr[es]b[yte]r.

c) am Teilungsstreifen der beiden oberen Felder:

Q[uam]d[iu] uni ex m[inimis] m[eis] fe[cistis], m[ih]i f[ecistis] 3).

d) auf dem offenen Buch Christi: Venite bened[icti] patri[s] mei 4) In den Zwickeln des Kleeblattbogens kreuzgeschmücktes Α und Ω. Worttrennung durch Punkte, teils auf der unteren Linie, teils in halber Buchstabenhöhe. - Kräftige Majuskeln. Neigung zu leicht geschwungener Erweiterung der Schaftenden, zum Teil (B, L) vollständige Biegung des Hauptschaftes zur Kurve. Beim A, dessen oberer Abschluss horizontal, teils gerade Schäfte, teils Schwingung des ersten, in einem Falle auch des zweiten Schaftes Uncialen: D, E (K:U = 7:4), M (bevorzugt die symmetrische Uncialform mit festem Mittelschaft, in einem Fall auch die andere Form, die die beiden

 

1) Geschichtsblätter für Stadt u. Land Magdeburg II 1887. S. 197

2) Grabmal Alberos von Trier † 1152, M. G. SS. VIII. 258- Grabmal Wolbodos v. Lüttich 1021. M. G. SS. XX. 559. Grabmal des Gebhard v. Konstanz, † 995, Petershausen. M. G. SS. XX. 639.

3) Matth. 25, 40.

4) Matth. 25, 34.

 

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ersten Schäfte zum O zusammenschliesst), N. Beim T in einem Fall eine Art Uncialform: der Schaft wie ein G gebogen. Die spitze Form für U und V bevorzugt (10: 1). Ligaturen fehlen. Kürzungsstrich über dem Buchstaben (prbr = presbyter), durch den Buchstaben (XPE [mit horizontal durchstrichenem P] = Christe); Kürzung durch übergeschriebenen Buchstaben (Minuskel-i über M = mihi); für -s der -us Haken (lapi[s], patri[s].) Bei der lnschrift c) starke Suspensionskürzungen.

10. Hildesheim, Dom. Bischof Adelog († 1190).

a) an beiden Langseiten, von dem an der linken Langseite stehenden Beschauer zu lesen:

Hic Asle reditus emit, peccata fatenti

Da veniam frater et miserere deus.

b) Auf dem Baldachin, ebenso orientiert:

Hic situs est presul Adelogus vir pietatis,

Mire dulcis homo, deus eum iunge beatis.

c) in der Hohlkehle des Baldachins:

A[nn]o M°C°LXXXX XII k[a]l[endas]

Octob[ris] o[biit] Adelog[us] ep[iscopu]s.

d) auf dem offenen Buch in der Linken der Figur, in zwei Seiten geschrieben:

Gloria forma gedus mundana probabilis altum

Transit marcet abit hec modo clamo tacens ora pro me.

gedus fälschlich für genus. Bertram 1) stellt die Worte zur Erzielung eines metrischen Zusammenhanges um:

Gloria mundana transit, forma probabilis marcet,

Genus altum abit, haec modo clamo tacens:

Ora pro me.

Die so hergestellten Verse sind jedoch metrisch kaum einwandfreier als eine rhythmische Lesung der bestehenden Stellung, die daher ruhig beibehalten werden kann.

Die Schriftformen sind mit 9) verwandt, doch nicht ganz übereinstimmend. Die Neigung zur Ausbiegung der Schaftenden ist schwächer. Das A hat stets gerade Schäfte. Uncialen: E (K:U = 24:4), G, M (10:4). Für U und V meist (9:5) die runde Form, der erste Schaft leicht s-förmig geschwungen. - Keine Ligaturen, wenig Kürzungen: epc = episcopus, p = pro, schrägdurchstrichenes o = obiit, -us-Haken.

11. Quedlinburg, Äbtissin Agnes von Meissen. († 1203.)

 

1) Hildesheims Domgruft, Hild. 1897, S. 35.

 

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Die Unterleiste des Schriftrahmens fehlt; es ist anzunehmen, dass sie nach Analogie von 3.-5. Todesdatum und Namen trug. - Die Lesung der Umschrift der drei anderen Seiten beginnt in der Mitte der oberen Schmalseite und springt vom Ende der rechten Langseite auf die linke über:

Jes[us] Chr[istu]s Agnetis teneat loca certa quiet[is]

[Ni]l p[er]horrescat, i[n] pace diu requiescat.

Eine fehlerhafte viel benutzte Lesung bei Kettner 1).

Die Buchstaben sind durch sehr lange Querstriche an den Schaftenden ausgezeichnet. Vereinzelt (A, L) Schaftschwingung. Uncialen: E (K:U = 3:6), G. Ligaturen: NE, OR. Zu der letzteren vergl. die Teppiche im Quedlinburger Zitter. Kürzungsstrich durch den Buchstaben (p = per, IHSPC [mit durchstrichenem P] = Jesus Christus) oder darüber (T = in).

12. Barsinghausen, Propst Bodo. ( 1213.)

Zu Häupten der Relieffıgur: Bodo p(raepositus). Erhabene Buchstaben, Schaftrundung bei B und D.

13. Quedlinburg, Äbtissin Kunigunde. ( 1231.)

Qui transis, cerne, quid era(m), quid si(m), vaga sperne.

Mundi namque levis sic transsit (!) gloria quevis.

Wie bei 10) ist die Umschrift mit Rücksicht auf die Lage der Grabplatte orientiert; dieselbe befand sich in der nordöstlichen Ecke des Grabsteinkomplexes, war also am Fussende und der rechten Langseite frei, für den Standpunkt an diesen beiden Seiten ist die Stellung der Buchstaben berechnet. Demgemäss beginnen beide Verse in der linken unteren Ecke des Steines. Die Verse sind durch Schrägkreuze getrennt. Worttrennung durch Punkte. lm Buchstabencharakter 11) noch nahestehend. Uncialen: D (K:U = 2:1), E (2:6), G, M. Ligatur: NE. Kürzungsstrich über dem Buchstaben.

14. Goslar. Doppelgrabstein der Frankenberger Kirche, Vogt Volcmar v. Goslar (- 1253) und Gemahlin?

Nach der Auffindung 1540 am Kopfende auf dem Inschriftstreifen die Namen Ram und Gosa eingegraben. Von der alten sehr verriebenen Inschrift noch zu lesen:

[obiit . . . Feb]ruarii. o[biit . . . no]n .Ju[l oder n].

Offenbar waren die Todesdaten ohne jeden Zusatz angegeben. Majuskeln. Das O für obiit schräg durchstrichen.

15. Goslar, Museum, Grabstein des Vogtes Giselbert, (1245 - 49.)

a) auf beiden Langseiten, zu lesen von der rechten Langseite aus:

Anno dni MCCXLV... [ka]le[n]das Dece[m]bris obiit Giselbert[us]

advocat[us....].

 

1) Kirchen- u. Reformationsgeschichte v. Quedlinbg. Q. 1710, S. 289.

 

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b) Umschrift des Schildes:

Quem lapis iste tegit fundando bonum(?) sibi legit(?).

c) Im Mittelfelde des Schildes:

Hoc ospital memor e[st] Giselbreht.

Die Inschriften sind stark verrieben, mehrfach zerstört, zum Teil unverstanden nachgekritzelt. Soweit die Buchstaben noch Schlüsse zulassen, wurden Uncialen bevorzugt (E, M, N). Die Neigung der Schäfte nach rechts bei c) geht wohl auf Rechnung des Überarbeiters.

16. Quedlinburg, Äbtissin Gertrud ( 1270).

a) Umschrift:

Hic sita c|unctorum Gertrudis forma bonorum,

Cu|m grege sanctorum requiescat in arce | [p]olorum.

XII id[us] Octob[ris] o[biit] Ger[t]rud[is] abb[atissa].

Die Rücksicht auf den Standpunkt des Beschauers (13) ist wieder aufgegeben; die Anordnung entspricht dem Grabstein der Agnes (11) einschliesslich der für diesen angenommenen Ergänzung. Zwei Buchstaben der zweiten Verszeile greifen auf die untere Schmalseite über.

b) Aufschrift des Spruchbandes, in zwei Reihen, von der linken Langseite aus zu lesen, entsprechend der Lage der Platte in der südöstlichen Ecke des Grabsteinkomplexes:

Sis michi, magne deus, | precor et[e]rn[us] iubileus.

Flach vertiefte Buchstaben, mit Farbe gefüllt. Uncialen: E (5:6), H (1:1), M (5:2), N (4:2), T (5:2). Für U und V die spitze Form bevorzugt (9:3). Für C und G mehrfach rechtwinklig abgeeckte Formen. Ligatur NE. Bei a) Kürzungen nur in der Todesnotiz, beim Datum und obiit ohne Kürzungszeichen, bei abb[atissa] Kürzungsstrich über der Zeile, bei b) us-Haken.

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Bildernachweis der Einfügungen:

Adolph Goldschmidt: Die Stilentwicklung der romanischen Skulptur in Sachsen. Jahrbuch der preußischen Kunstsammlung XXI 1900 S. 225 ff.

P. J. Meier: Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogthums Braunschweig. Erster Band. Die Bau- und Kunstdenkmäer des Kreises Helmstedt. Wolfenbüttel Julius Zwissler 1896 S. 26

 

Hinweis:

August Fink war ein deutscher Kunsthistoriker und in Berlin ein Schüler Adolf Goldschmidts. Er war am Provinzialmuseum in Hannover und an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel tätig und leitete das Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig von 1934 bis 1955.