Wann starb Kaiser Lothar III.?

 

Von Otto Kruggel

 

Das Todesdatum Lothars von Süpplingenburg ist zwar eindeutig überliefert und durch die Angabe der Regierungszeit des Herrschers zusätzlich belegt, dennoch entstanden bald unterschiedliche Auffassungen darüber, die sich vereinzelt bis heute gehalten haben. Bei den Angaben zu Geburt und Heirat des Herrschers verhält es sich ähnlich.

 

In Breitenwang am Lech, dem Sterbeort Lothars III., gilt der 3. Dezember 1137 als dessen Todestag. Dort hat Herzog Leopold Friedrich von Anhalt 1867 zu Ehren seines Ahnen eine eiserne Gedenktafel an der westlichen Außenwand der Kirche anbringen lassen1).

 

Giesebrecht, der auf diese Tafel verweist, folgt ihr auch hinsichtlich des Todesdatums2). Bernhardi hingegen schreibt: „Der Tod trat am 4. Dec. (II Non. Dec.) wahrscheinlich in den ersten Morgenstunden ein, während es noch Nacht war, da dieser Tag in der Angabe der Regierungszeit Lothars auf der in seinem Grabe gefundenen Bleiplatte nicht mitgerechnet wird.“3) Er nennt dann die Quellen zu beiden und weiteren Tagesangaben und entscheidet: „Den Ausschlag gibt die in Lothars Grab gefundene Bleitafel . . . Sie zeigt das Datum: II Nonas Decembris.“ Dies wird durch die besagte Tafel, die 1618 oder 1620 mit anderen Beigaben dem Grabe Lothars entnommen wurde und sich jetzt im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig befindet, bestätigt4).

 

Hartmut Ehrentraut5) kommt in seiner Dissertation, die Inschrifttafeln

 

1) Adolf L ü d e r s, Der Kaiserdom zu Stift Königslutter (1904) 9 Anm. 1. 2) Wilhelm G i e s e b r e c h t, Geschichte der deutschen Kaiserzeit IV 2 (1875) 150. 3) Wilhelm B e r n h a r d i, Lothar von Supplinburg (Jahrbücher der deutschen Geschichte, 1879) 786 ff. 4) Sie gehörte jetzt allerdings mit dem gleichen Recht in das Kaiserdom-Museum in Königslutter, mit dem Braunschweig das Löwenstandbild auf dem Burgplatz für sich beansprucht! 5) Hartmut E h r e n t r a u t, Bleierne Inschrifttafeln aus mittelalterlichen Gräbern (Diss. masch. Bonn 1951).

 

in mittelalterlichen Gräbern gewidmet ist, zu dem gleichen Ergebnis wie Bernhardi. Schramm – Mütherich6) bieten ein älteres Foto der Bleiplatte, das diese noch in einem besseren Erhaltungszustand als heute (Abb. 1) zeigt. Der rechte Plattenrand war damals noch gradlinig und hatte nur eine etwa dreieckige Fehlstelle zwischen Zeile 5 und 7, durch die kein Text verlorenging. Die vorliegende Zeichnung (Abb. 2) berücksichtigte dieses ältere Foto und übernahm von dort die Formen der Endbuchstaben von Zeile 11 und 12.

 

Der Text lautet nach Ergänzung seiner durch Beschädigung der Platte verlorengegangenen Teile:

LOTHARIVS DI GRA / ROMANORV(M) IMPERA / TOR AVGVSTVS / REGNAVIT ANNOS / XII MENSES III DI / ES XII OBIIT AVTEM / II NONAS DECEM / BRIS VIR IN XPO FIDELIS / SIM'(VS) VERAX CONSTA(N)S PA / CIFICVS MILES IMP(ER)TERRITVS / REDIENS AB APVLIA SAR / RACENIS OCCISIS ET E / IECTIS

 

Dies heißt eindeutig: Lothar, von Gottes Gnaden römischer Kaiser, Augustus, regierte zwölf Jahre, drei Monate, zwölf Tage und starb am 4. Dezember, ein Christus treuester Mann, wahrredend, beständig, friedenstiftend, ein furchtloser Kämpfer, aus Apulien zurückkehrend, wo er die Sarazenen geschlagen und vertrieben hatte.

 

Die knappe und klare Aussage ließ in 850 Jahren keine wesentlichen Auffassungsunterschiede aufkommen. Wenn aber II Nonas Decembris mit „am 3. Dezember“ übersetzt wird, dann ist das einfach falsch.

 

Kalenderdaten werden mit Ordnungszahlen durchnumeriert. Diese beginnen mit eins: es gibt weder ein Jahr noch einen Tag Null, und die Kalenden, Nonen und Iden des julianischen Kalenders, auf die rückläufig gezählt wird, haben die Numerierung I. Der Tag davor hat die Nummer II. Bei voller Schreibweise heißt das im Falle der Angabe von Lothars Tod ante diem II nonas decembris. Es erübrigt sich, hier näher auf den römischen Kalender und seinen Gebrauch in der Kanzlei der römisch-deutschen Kaiser des Mittelalters einzugehen7).

 

Doppelt falsch ist es, wenn als Originaltext III nonas decembris und der 4. Dezember in der Übersetzung genannt werden, obwohl am Ende das richtige Datum von Lothars Tod steht. Die Umrechnung der römischen Datierung, an der laut Ehrentraut8) bis 1297 festgehalten wurde, führte offensichtlich in allen Zeiten zu Fehlern.

 

Bernhardis Entscheidung für das auf der Bleitafel verzeichnete und von ihm richtig umgerechnete Datum fand nicht überall Anerkennung. Schien ihm doch selbst die angegebene Regierungszeit damit nicht in Einklang zu stehen. Rechnet man vom 4. Dezember 1137 zwölf Jahre, drei Monate und zwölf Tage zurück, ergibt das den 24. August 1125 als Tag des Regierungsantritts König Lothars. Zwar fiel die Entscheidung bei der Mainzer Königswahl

 

6) Percy Ernst S c h r a m m - Florentine M ü t h e r i c h, Denkmale der deutschen Könige und Kaiser (Veröffentl. d. Zentralinstituts f. Kunstgeschichte in München 2, 1962) 1, 179.
7) Vgl. dazu vor allem Harry B r e ß l a u, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (31958) 822 ff.
8) Wie Anm. 5, S. 9.

 

von 1125 erst am 30. August, aber der von Erzbischof Adalbert I. einberufene Hoftag begann am 24. August, dem Bartholomäustag. Im nächsten Umkreis des Herrschers galt 1137 also dieser Tag des „mittelsten in der heiligen Zahl der Zwölfboten“9) als Datum des Regierungsantritts. Somit stimmen die Angaben zur Regierungszeit und das Datum des Todestages auf diesem authentischen Denkmal überein: Lothar von Süpplingenburg regierte vom Bartholomäustag 1125 bis zum Barbaratag 1137.

 

Die Entscheidung des Herrschers, die anni regni nicht vom Tage der Krönung in Aachen, dem 13. September 1125, an zu zählen10), könnte - drei Jahre nach dem Wormser Konkordat - als besondere Betonung der Vorrangigkeit des Fürstenvotums vor dem kirchlichen Zeremoniell gewertet werden. Bei einem Kandidaten, der vor allem von den kirchlichen Reformkreisen forciert wurde, eine wenig wahrscheinliche Haltung. Doch bleibt diese demonstrative Zählung der Königsjahre beachtenswert, wenn sie auch noch nichts erweist. Ersichtlich ist jedenfalls, daß mos et consuetudo, die in diesem Bereiche bestimmend waren, gewahrt wurden11).

 

Durch Scheibelreiters Untersuchungen zum Regierungsantritt Lothars III.12) erfährt man diesbezüglich nicht mehr, als daß der Charakter der Vielzahl zeitlich und örtlich getrennter Akte der Königserhebung - Designation, Wahl, Krönung, Huldigung, Umritt, Servitium regis usw. - bald konstitutiver, bald deklarativer Natur war.

 

Schließlich sei noch auf die strikte Beachtung des attemperate nach dem Kirchenkalender bei Lothars Terminierungen hingewiesen. Immer waren Ankündigung, in seinem Sinne zu handeln, und Anruf um seinen Schutz und Segen mit der Wahl des Tages eines bestimmten Heiligen zu Beginn eines Unternehmens verbunden. Dadurch galten die großen Unternehmungen dieser Zeit nicht als Wunsch oder Vorhaben der Herrschenden, sondern als Gottes Gebot. So war man auch neben den persönlichen Bindungen durch den Heiligenkalender vereint und ständig einbezogen in das große Heilsgeschehen, das das irdische Leben von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht bestimmt. Zu Lothars Zeiten konnte die Festsetzung der Königswahl auf den Tag eines bestimmten Heiligen als Kern dessen gewertet werden, was heute Regierungserklärung genannt wird.

 

In der Praefatio des ambrosianischen Lobgesanges heißt es zu Bartholomäus: „Oh, wie müssen wir diesen wunderbaren Apostel loben, dem die Herzen der nächsten Völker nicht genügen, das Wort Gottes zu säen, sondern der mit gleichsam geflügeltem Fuß zu den Indern zog ans Ende der Welt . . .“. Die Fürsten des Reiches, allen voran Erzbischof Adalbert I. von Mainz, hatten also mit der Wahleinladung zum Tag des Apostels Bartholomäus die wichtigste

 

9) Die Legenda aurea deutsch; übersetzt v. Richard B e n z (1984) 624 ff.
10) So tut es etwa Johann Friedrich B ö h m e r, Regesta Chronologico-diplomatica regum atque imperatorum Romanorum inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII. (1831) 108.
11) Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza. Herausg. v. Emil von O t t e n t h a l und Hans H i r s c h (MGH DD 8, 1927) XV.
12) Georg S c h e i b e l r e i t e r, Der Regierungsantritt des römisch-deutschen Königs (1056-1138), in: MIÖG 81 (1973) 33 ff.

 

Aufgabe des zu wählenden Königs zur heiligen Pflicht machen wollen, und Lothar nahm dies an. Der Appell aus dieser Entscheidung konnte damals nur lauten: Die Grabstätte des Heiligen in Benevent, das ehemalige Reichsgebiet im Süden Italiens muß dem Reich zurückgewonnen werden. Kaiser Lothar kam der übernommenen Verpflichtung nach. Am 1. September 1137 hörte Kaiserin Richenza in der Kirche des heiligen Bartholomäus in Benevent die Messe und stiftete auf seinem Altar ein kostbares Gewand und ein Pfund Silber13).

 

Nachdem die Richtigkeit der Regierungszeitangabe erwiesen wurde, bleibt die Frage zu beantworten, worauf die bei vielen Interpreten geäußerte Meinung zurückzuführen ist, jene sei fehlerhaft. Die Zählung der zwölf Tage machte dabei offensichtlich mehr Schwierigkeiten als die Übertragung des Datums aus der römischen in die fortlaufende Zählweise. Da die genannten zwölf Tage über das Ende des Monats November oder des August gezählt werden können, ergibt sich eine Differenz von einem Tag, da der August einen Tag mehr hat als der November. Eine Vermutung, man habe den Todestag nicht mitgerechnet, kann diese Differenz verdoppeln. Tatsächlich finden sich aber größere Unterschiede in jenen Interpretationen und mancherlei unhaltbare Begründungen.

 

Verbreitet ist die These, auf der Bleiplatte hätte ursprünglich III nonas Decembris gestanden. Der äußere Einerstrich der Zahl III sei verlorengegangen und daher zu ergänzen. Ein Blick auf die Inschrifttafel zeigt, daß ein dritter Strich am Anfang der sechsten Zeile diese aus dem randlosen Schriftblock und damit über die Schnittkante der Bleiplatte hinausragen ließe. Giesebrecht ändert die Anzahl der auf der Platte genannten Tage von zwölf auf drei: Das kann ein Versehen sein oder der Versuch, auf den 30. August 1125 als Beginn der Herrschaft Lothars zu kommen. Da keine Version ganz überzeugte, schien der Kompromiß mit der Datumsangabe 3./4. Dezember als die beste Lösung.

 

Die Angabe Breitenwangs als Sterbeort wird heute nicht mehr in Frage gestellt. Auch über die Datierung der Beisetzung in Königslutter zum 31. Dezember 1137 gibt es keine anderslautenden Meinungen. Wiederholt angezweifelt wurde die Mitteilung Ottos von Freising14), daß der Kaiser in einer äußerst ärmlichen Hütte (vilissima casa) starb. Wenn nicht auf dem ganzen Weg von Trient nach Breitenwang, so doch von Nassereith oder Lermoos her, zog die Eskorte mit dem kranken Kaiser auf der Via Claudia Augusta, einer lang bewährten, ausgebauten Römerstraße. Eine Kette von Burgen und Klöstern sicherte die Alpenübergänge. Vilissimae casae hätte man derartige Bauten wohl nicht nennen können. Doch brachte man den totkranken Herrscher sicher nicht in eine ganz ärmliche Hütte, sondern wahrscheinlich in das beste Haus des Ortes, der demnach ohne Adelssitz gewesen wäre. Ob letzteres zutrifft, muß bezweifelt werden. Immerhin ist für Breitenwang bereits 1094 eine

 

13) Vgl. dazu Charlotte K u c k, Das Itinerar Lothars von Supplinburg (Diss masch. Greifswald 1945) 47.
14) Chronicon sive de duabus civitatibus VII 20 (ed. Heinrich Hofmeister) MGH SS rer. German. in us. schol. (45) 318.

 

Kirche urkundlich erwähnt, die als Urpfarre des ganzen Gebiets anzusehen
ist15).

 

Zu untersuchen wäre auch, ob Lothar am Silvestertage (nicht in der Silvesternacht!) 1137 an der Stelle beigesetzt wurde, wo man 1978 seinen Sarkophag fand und er heute noch liegt. Genannt wird diese Stelle entgegen damaliger Übung nicht. Da bis zur Bestattung nur der Ostteil der Kirche errichtet oder im Bau war, wäre die Beisetzung an jenem Ort auf ungeweihtem Boden erfolgt: Geradezu auf einem Bauplatz! Solches hat nicht einmal Heinrich V. mit den Gebeinen seines Vaters getan, die er so lange in der ungeweihten St. Afra-Kapelle des Speyerer Doms abstellen ließ, bis der über Heinrich IV. verhängte Bann aufgehoben worden war.

 

In Chroniken des Stiftes Königslutter wird die Beisetzung der Kaisertochter Gertrud in der Johanneskapelle des Stiftes erwähnt. Dem Chronisten war also nicht bekannt, daß Gertrud - aufgrund ihrer zweiten Ehe mit dem Babenberger Heinrich II. Jasomirgott - zunächst in Klosterneuburg und später in Heiligenkreuz bei Wien beigesetzt wurde. Vorausgesetzt, der Sachverhalt einer Beisetzung eines Mitglieds der Herrscherfamilie ist richtig, in der falschen Zuschreibung aber noch ein Reflex ursprünglicher Wahrheit enthalten, so könnte doch Lothar III. selbst gemeint gewesen sein. Die Gertrudüberlieferung wäre dann eine Konstruktion, die das Fehlen der Grablege der Kaisertochter im Dom erklären sollte. Bei den Ausgrabungen im Bereich der ehemaligen Johanneskapelle wurden keine Gräber gefunden.

 

Die Berichte über die Öffnung der Fürstengräber im Jahre 1978 setzen die Tradition der Unklarheiten und Widersprüche in der Lothargeschichte fort. Es mutet eigenartig an zu hören, daß die um 1095 geborene und 1141 gestorbene Richenza 50 bis 65 Jahre alt geworden sein soll16). Die auffällig unterschiedliche „hellere Braunfärbung bei nicht so ausgedehntem Kristallbewuchs der Skeletteile Lothars“ im Vergleich zu jenen Richenzas und Heinrichs des Stolzen könnte ganz einfach die Folge unterschiedlicher Bestattungsarten sein. Solche sind durchaus anzunehmen. Die weite Entfernung zwischen Sterbe- und Begräbnisort erforderte bei Lothar die in solchen Fällen bei Fürsten übliche Mehrfachbestattung. Unter den Berichten über derartige Bestattungen gibt es einen mit auffallender und vielleicht aufschlußreicher Parallelität. Thietmar von Merseburg berichtet in seiner Chronik über das Leichengeleit und -begängnis Ottos III., der am 24. Januar 1002 in Paterno starb und am 5. April, dem Ostertag dieses Jahres, mitten im Chor des Aachener Münsters beigesetzt wurde: „Dux vero cum his Augustanam attingens urbem, dilecti senioris intestina duabus lagunculis prius diligenter reposita in oratorio sancti presulis Othelrici, quod in honorem eius Liudulfus, eiusdem aecclesiae episcopus, construxit, in australi parte monasterii sanctae martyris Afrae sepulturae honorabili tradidit et ob animae remedium suae C mansos

 

15) Siehe dazu Reclams Kunstführer Österreich. Baudenkmäler 2 (1961) 53.
16) Wolfgang P e t k e, Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1985) 413 Anm. 46. - Ausgrabungen in Niedersachsen. Archäologische Denkmalpflege 1979-1984. Herausg. v. Klemens W i l h e l m i (1985) 287 ff.

 

propriae hereditatis concessit. Deindeque dimissa cum pace magna multitudine ad civitatem suam, quae Nova vocatur, corpus cesaris prosequitur“17).

 

Die Leiche Lothars wurde von Breitenwang bis Neuburg sicher auf dem gleichen Wege befördert. In Augsburg, das Otto von Freising als einzige Station des Leichengeleits nennt, wurde nach der - freilich späten Überlieferung - dem Toten ein Öffentliches Amt gehalten18). Nun waren die Beziehungen des Kaisers zu Augsburg nicht besonders gut19); dennoch entspräche dem ganzen Geschehen auch die Beisetzung der inneren Organe Lothars, der sich als Fortsetzer ottonischer Politik sah. Es gibt zwar keinerlei Zeugnis für die Beisetzung der intestina Lothars III. in Augsburg, aber eine derartige Annahme würde die Lücke, die die Geschichtsschreibung hinsichtlich des angeblichen Totenamtes für den Kaiser in Augsburg hinterließ, am sinnvollsten schließen. Man kann diese Vermutung als gebotenen und gerechtfertigten Analogieschluß betrachten, wenn man die zeitlichen Umstände, die gewöhnliche Übung und die Eigenart Lothars in Rechnung stellt.

 

Auf solche Hypothesen werden wir immer angewiesen sein, um dem Mangel an Nachrichten entgegenzuwirken, der durch den Herrschaftswechsel nach dem Tode Lothars entstand. Damit ging auch die sächsische Geschichtsschreibung zurück. Die jetzt an vorderste Stelle tretende staufische beeinflußte das Bild der deutschen Geschichte stark und vernachlässigte Kaiser Lothar von Süpplingenburg in gleichem Maße.

 

Der Herrscher, der nach Otto von Freising durch seine Tüchtigkeit und Beharrlichkeit dazu beitrug, der Krone des Reiches das frühere Ansehen wiederzugeben20), hat 850 Jahre nach seinem Tod noch immer nicht die entsprechende Wertung in der Geschichtsschreibung gefunden21).

 

17) Chronicon IV 51 (ed. Robert Holtzmann, 1935) MGH SS N.S. 5, 190.
18) Davon berichtet erst Johann Fabricius, Johannis Letzneri ...Beschreibung . . .des Stifftes Königslutter (1715) 24.
19) Er hatte 1132 die Stadt plündern und zerstören lassen. Bei seiner Rückkehr von der Kaiserkrönung im August 1133 mied Lothar Augsburg offensichtlich. Selbst zur Bestätigung der Wahl des während seines ersten Italienzuges nominierten Bischofs Walter von Augsburg ging er nicht dorthin.
20) Wie Anm. 14: cuius virtute et industria corona imperii ad pristinam dignitatem reduceretur.
21) Trotz einiger Ansätze bei Odilo E n g e l s, Beiträge zur Geschichte der Staufer im 12. Jahrhundert I, in: Deutsches Archiv 27 (1971) bes. 329 ff., 408.

 



 

 

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Abb.1: Schrifttafel aus den Grabbeigaben Kaiser Lothars III. Blei, 203 x 189 mm. Herzog Anton
                               Ulrich-Museum Braunschweig. Museumsfoto: B. P. Keiser.

 

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Abb. 2: Schrifttafel aus den Grabbeigaben Kaiser Lothars III. Blei,
203 x 189 mm. Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig. Zeichnung:
                                      Otto Kruggel

 


Veröffentlicht in:
MITTEILUNGEN DES INSTITUTS FÜR
ÖSTERREICHISCHE GESCHICHTSFORSCHUNG
MIÖG Bd. 97/3-4  (1989) S. 427-434

Wann wurde Lothar von Supplinburg geboren?

 

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Wann wurde Lothar von Supplinburg geboren?

 

Eine genealogische Untersuchung von Fritz Curschmann.

 

Die Beantwortung der in der Überschrift aufgeworfenen Frage liegt uns in ganz bestimmter eindeutiger Form in einer Chronik vor, die nur ein Jahrzehnt nach Kaiser Lothars III. Tode verfaßt ist. Bedenkt man, wie selten in unseren mittelalterlichen Quellen Geburtsangaben sind 1), so möchte man meinen, die Quellennotiz, um die es sich hier handelt, müßte schon um ihrer Seltenheit willen hoch geschätzt worden sein. Das Gegenteil aber ist der Fall gewesen; seit einem Jahrhundert fast hat man an der Aussage nur herumgekrittelt oder sie ganz beiseite geschoben und sich begnügt, aus allgeweinen Erwägungen heraus und auf Grund unbestimmter Angaben, die Kaiser Lothar während seiner Regierung als alten Mann charakterisieren, den Geburtstermin des Supplinburgers annähernd zu schätzen.

 

Im Kloster Disibodenberg an der Nahe 2) wurde, wie es scheint um 1147, auf Grundlage der Weltchronik des Marianus

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1) Im Gegensatz zum Todestage, der in frommem Gedenken oft noch lange gefeiert wurde, spielt der Geburtstag offenbar das ganze Mittelalter hindurch noch gar keine Rolle. Aus der Königsfamilie sind uns im 11. und 12. Jahrhundert von in einer Reihe von Fällen in gleichzeitigen Quellen Geburtsdaten, nach Jahr und Tag überliefert, ziemlich häufig, wenn es sich um den Kronprinzen handelt. Doch ist z. B. Konrads II. Geburtsjahr nur angenähert festzustellen, Friedrichs I. auch nicht ganz sicher (s. u. S. 92 Anm. 39). Daß der Geburtstag eines deutschen Grafen, Lothars von Supplinburg, in der Disibodenberger Chronik bis auf wenige Tage genau überliefert wird, ist ein ganz seltener Fall, der sich nur dadurch erklärt, daß dieser Graf später König und Kaiser wurde.

2) An der mittleren Nahe, im Winkel, der durch die Vereinigung von Glan und Nahe gebildet wird, lag das Kloster. In den Stürmen der französischen Revolution ist es zugrunde gegangen, die Stätte seiner Ruinen wird auf der Generalstabskarte durch die Eintragung Disibodenberger Hof bezeichnet.

 

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Scotus, aber für die neuere Zeit unter Hinzuziehung einer Reihe weiterer uns bekannter, doch zum Teil auch nicht in der Originalform vorliegender Quellen, eine umfangreiche neue Weltchronik kompiliert 3). In ihr findet sich am Ende einer ausführlichen, die Dinge aber ganz einseitig im Sinne der sächsisch-gregorianischen Partei färbenden Relation über die Entstehung des Streites zwischen Heinrich IV. und den Sachsen die uns hier berührende Notiz. Im Anschluß an einen kurzen Bericht über die Schlacht bei Homburg an der Unstrut, 9. Juni 1075 4) - Jahr und Tag werden ausdrücklich angegeben -, heißt es 5): „- - interiit ibi comes Gevehardus, pater Lutgeri, qui postmodum imperium assumpsit, qui etiam paucis diebus ante hoc praelium natus fuit.“ Demnach wäre also Lothar in den ersten Tagen des Juni 1075 geboren.

 

Gegen diese Nachricht, die unzweifelhaft auf sächsische Überlieferung, wahrscheinlich sogar einen sächsischen Berichterstatter selbst zurückgeht 6), hat sich nun, soweit ich sehe zuerst, Heinrich

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3) Näheres über diese Quelle bei Böhmer, Fontes rer. Germ. III p. XXXIX ff., hier die Begründung der Datierung der Entstehung der Chronik auf 1147 und Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen II6 S. 433 f. Abgedruckt ist die Compilation zuerst unter Marians Namen von Herold (Basel 1559), dann ebenso von Joh. Pistorius, Illustrium veterum scriptorum, qui rerum a Germanis - - - gestarum historias vel annales posteris reliquerunt tomus unus. Francofurt 1583 p. 266 ff. und in den folgenden Ausgaben seines Werkes. Erst durch Herausgabe des unberührten Marian nach der vatikanischen Originalhandschrift durch G. Waitz, MG. SS. V (1844) 481 ff. wurde die Grundlage für die richtige Beurteilung der Disibodenberger Compilation geschaffen. Das Werk ist dann noch zweimal unter der nicht sehr glücklichen Bezeihnung von Annalen herausgegeben worden, von Böhmer als Annales Disibodenbergenges (s. o.), von Waitz als Annales S. Disibodi MG. SS. XVII, 4 ff. Beide haben aber nur die jüngeren Partien der großen Chronik abgedruckt, Waitz sogar nur, was ihm an anderer Stelle nicht überliefert schien. Daher geben diese beiden Editionen keine rechte Dorstellung von der wirklichen Gestalt der großen Chronik.

4) Sehr ausführlich über die Schlacht und die ihr vorhergehenden Ereignisse, G. Meyer von Knonau, Jahrbücher Heinrichs IV. Bd. II, 495 ff. und Exkurs V a. a. O. 874 ff.

5) MG. SS. XVII, 7, 45

6) Man lese den Bericht im Zusammenhang und man wird nicht zweifeln, er ist geradezu gespickt von Gehässigkeit, die Heinrichs IV. Bosheit und seinen Sachsenhaß veranschaulichen sollen: die einleitenden Worte: rex Henricus omnes Saxones servituti subicere cogitabat; das vermessene Wort, das dem König in den Mund gelegt wird, Saxonia regio pulcherima, sed servi nequissimi; die Klatschgeschichte von den dreißig auf der Harzburg geschändeten sächsischen Frauen.

 

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Luden in seiner Geschichte des teutschen Volkes gewandt 7) und ihr die Aussage des Petrus Diaconus Casinensis gegenübergestellt, der Lothar bei seinem zweiten Aufenthalt in Italien (1137) als wohl hundertjährigen Greis – was Luden allerdings nicht wörtlich nehmen will – bezeichnet 8), und dazu eine kurze Nachricht in der Chronik des Magister Albert von Stade 9). Dieser, den Ereignissen schon recht fernstehende Chronist, berichtet im Anschluß an die Schilderung des Gefechts bei Gleichen 10) (1088) nach Frutolf von Michelsberg 11) in einem Zusatz 12): „Ibi (Gliche) etiam Liemarus, Bremensis archiepiscopus, captus

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7) Bd. X (1835) S. 8. Bei Erörterung der Gründe, die Lothars Kandidatur befördert haben sollen: „Er war schon ein Mann in höheren Jahren und die Abnahme seiner Kräfte, wenn noch nicht bemerklich, doch gewiß nahe; selbst das Ziel seiner Tage stand nicht in großer Ferne. Und die Begründung S. 552 Anm. 9; der Bericht der Disibodenberger Chronik hier gemäß der Struveschen Edition als Marianus Scotus zitiert.

8) Verfasser dieser Fortsetzung der Klosterchronik von Monte Cassino, begonnen um 1140 (Wattenbach II6 S. 237), er hat Lothar mit eigenen Augen gesehen, ist aber ein echt südländischer Phantast. Über ihn sehr eingehend E. Caspar, Petrus Diaconus und die Cassineser Fälschungen. Berlin 1909, sein Verhältnis zu Lothar s. dort S. 23 ff. Die entscheidende Stelle, lib. IV c. 124 MG. SS. VII, 839, 30: Imperator - - - cum iam ad grandaevam, centenariam scilicet dierum suorum pervenisset aetatem, et finem dierum suorum non ignoraret. In derselben Quelle lib. IV c. 126 a. a. O. 842, 10 wird Lothar bezeichnet als „morbo simul et senio fessus.“

9) Magister Albert, noch im 12. Jahrhundert geboren, trat 1240 ins Minoritenkloster zu Stade ein, hat damals, vielleicht auch schon früher, seine große Weltchronik begonnen und sich mit ihr durch über zwei Jahrzehnte beschäftigt, vergl. Wattenbach II6 S. 439 f.

10) Über die Ereignisse, die Erhebung Eckberts von Meißen, die Belagerung seiner Burg Gleichen in Thüringen durch Heinrich IV. und das Gefecht vor der Burg am Heiligabend 1088 (nicht 1089, wie Frutolf angibt) s. Meyer von Knonau IV, 222.

11) Vom Herausgeber J. M. Lappenberg noch als Ekkehard von Aura bezeichnet. Daß in Wirklichkeit der Hauptteil dieser Chronik von Frutolf von Michelsberg (Benediktinerkloster vor den Toren von Bamberg) ca. 1099 verfaßt ist, hat H. Breßlau nachgewiesen (Bamberger Studien, N. Archiv d. Gesell. f. Ältere deutsch. Geschichte XXI [1896] 197 ff.); der Bericht über das Treffen, MG. SS. VI, 207, 15.

12) MG. SS. XVI, 40.

 

 

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est a comite Ludero, qui postea regnavit 13). Qui dedit pro redemptione sua advocatiam Breme et 300 marcas argenti; et ita restitutus est episcopatui suo.“ Diese Aussage, meint Luden, müsse ebenfalls zur Verwerfung der Disibodenberger Überlieferung führen, denn Lothar sei sonst zur Zeit dieses Gefechts erst 14 Jahr alt gewesen 14). Jaffé vermehrt in seinen Jahrbüchern Lothars 15) die bisher bekannten Beweisstellen um zwei neue: nach Otto von Freising ist Lothar „plenus dierum“ gestorben 16), was auf einen 62jährigen Mann wohl nicht paßt; der Byzantiner Johannes Kinnamos bezeichnet ihn bereits bei seinem Regierungsantritt als „άνδραέσχατογέροντα17), Also, meint Jaffé, ist Lothars Geburt „höher hinaufzurücken“ als der Disibodenberger Bericht will. Den so zusammengetragenen Belegstellen hat Giesebreht nichts hinzuzufügen: indem er das Hauptgewicht, wie es scheint, auf die Kriegstat im Gefechte von Gleichen, die einem 13jährigen Knaben nicht zugetraut werden könne, legt, schließt er, Lothar „wird demnach gegen zehn Jahre beim Tode seines Vaters, gegen sechzig Jahre zur Zeit seiner Wahl und wenig über siebzig Jahre bei seinem Lebensende

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13) Die Worte zeigen, daß die Stelle nicht aus einer gleichzeitigen Quelle übernommen ist.

14) Genau, bei richtiger Ansetzung des Gefechtes, sogar erst 13½ Jahr.

15) Geschichte des Deutschen Reiches unter Lothar dem Sachsen, Berlin 1843, vergl. hier in der 1. Beilage, Über Lothars Herkunft, Lebensdauer und Geburtsort S. 229.

16) In seiner chronica sive historia de duabus civitatibus lib. VII c. 20, in der neuen Ausgabe von A. Hofmeister SS. rer. Germ. p. 339. Es ist auffallend, daß der in genealogischen Dingen so wohl beschlagene Herausgeber das Ottos Angabe widersprechende Zeugnis der Disibodenberger Chronik zwar in der Anmerkung anführt, aber gegen seine übliche - doch, wie sich zeigen wird, falsche - Bewertung d. h. Verwerfung nicht Widerspruch erhebt.

17) Auf das Zeugnis dieses den Ereignissen zeitlich, wie örtlich fernstehenden Autors - er schrieb seine sieben Bücher byzantinischer Geschichte, umfassend die Regierungen der Kaiser Johannes II. Komnenos (1118-1143) und Manuel I. (1143-1180), als Geheimsekretär des zuletzt genannten Herrschers zwischen 1180 und 1183, vergl. Karl Krumbacher, Gesch. d. byzant. Literatur (2. Aufl.) 279 ff. - ist nicht der geringste Wert zu legen. Seinem Berichte über Lothars Regierungsantritt (lib. II. c. 20, Migne, Patrologia ser. graeca II. tom. 133, p. 416) liegt keinerlei deutsche Quelle zu Grunde, er enthält nichts als unklares Gerede, wie man es in Byzanz herumtrug.

 

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gewesen sein“ 18). Wilhelm Bernhardi schließlich, der zur Neubearbeitung der Jahrbücher Lothars den ganzen Quellenstoff nochmals durchgearbeitet hat, weiß in seinem, sonst an wertvollen Ergebnissen reichen Exkurs, Lothars Familie 19), zur Frage nach der Zeit der Geburt des späteren Kaisers den alten Quellenzeugnissen und Schlüssen nur zwei neue Belegstellen von ganz geringer Bedeutung hinzuzufügen : „tam senio quam infirmitate gravatus“ lassen die Paderborner Annalen Lothar sterben 20) und Gottfried von Viterbo „sene prorsus adempto“ 21). Also schließt Bernhardi: „Lothar wird ungefähr fünfundsiebzig Jahr alt geworden sein.“

 

Bei der Übereinstimmung so gewichtiger Stimmen schien die Frage nach Lothars Alter endgültig entschieden und ist, soweit ich sehe, nicht wieder näher untersucht worden. Kein Wunder also, daß die Angaben über ihn in den bekannten und maßgebenden neueren Darstellungen der deutschen Geschichte im wesentlichen übereinstimmen; überall wird er als alter Mann hingestellt, oft das Fehlen männlicher Nachkommen als in den Augen der Fürsten förderndes Moment bei seiner Wahl betont. Einige wenige Stichproben mögen genügen: „Mehr als sechzigjährig“ nennt ihn Lamprecht bei seiner Wahl 22); „etwa 65 Jahr alt“ war er damals nach Georg Winters Ansicht 23); „vielleicht 60 oder mehr Jahr alt" schätzt ihn Dietrich Schäfer bei seinem

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18) Geschichte der deutschen Kaiserzeit IV (1875) Anmerkungen S. 416 ff.

19) Lothar von Supplinburg, Leipzig 1879, im genannten Exkurs die Ausführungen über Lothars Geburt und Alter S. 811.

20) Erhalten in der Chr. reg. Coloniensis, SS. rer. Germ. 74.

21) Die Verse, auf die es ankommt, finden sich in Gottfrieds Pantheon, dem letzten 1185 und den folgenden Jahren verfaßten Werke (Wattenbach II2 S. 290 ff.) des vielschreibenden Autors (MG. ss. XXII, 259 25):

Lotharius senuit, Conradi longa iuventus
Obtulit obsequium, set post, sene prorsus adempto;
Succedens iuvenis regia iura tulit.
Es ist klar, daß auf diese Aussage, obwohl Gottfried, der sächsischer Herkunft war, Lothar in seiner Jugend gekannt haben muß, bei der deutlichen Antithese des greisen Lothars und seines jugendlichen Nachfolgers - der übrigens auch schon 45 Jahre alt war, als er zur Regierung kam - kein großer Wert zu legen ist.

22) Deutsche Geschichte II (1892) 376.

23) Jastrow-Winter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Hohenstaufen I (1897) 319

 

 

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Regierungsantritt 24); und Hampe meint, „Lothar war mit seinen etwa sechzig Jahren nach den Vorstellungen jener jugendlichen Zeit schon ein hochbetagter Greis“ 25). Am vorsichtigsten drückt sich noch Hauck aus, doch ist er, wie der Zusammenhang deutlich zeigt, keineswegs von dem Disibodenberger Bericht beeinflußt, wenn er den Supplinburger „spätestens 1070“ geboren sein läßt 26). Ich kann nicht leugnen, daß ich unter dem Eindruck dieses communis consensus omnium doctorum die Dinge in meinen Vorlesungen bisher ebenso dargestellt habe, bis sich mir in jüngster Zeit imVerlaufe von weiter reichenden genealogischen Untersuchungen Beobachtungen ergaben, die mit dem bisherigen Ansatz von Lothars Geburt auf etwa 1060-65 ebenso unvereinbar waren, wie sie die Aussage des Gewährsmannes der Disibodenberger Chronik stützten. Es kommt auf eine Untersuchung über den Verwandtenkreis Lothars an, und es sei hierbei gleich bemerkt, das mir über das von Bernhardi gesammelte Material hinaus neue Tatsachen nicht vorliegen, daß das neue Ergebnis sich aber zeigt, sobald man die aus dem alten Bestande sich ergebenden Schlüsse folgerichtig bis zu Ende durchführt.

 

Über den Mannesstamm von Lothars väterlichen Vorfahren, die Supplinburger, ist unser Wissen äußerst gering, schon der Name des Großvaters ist nicht mehr sicher feststellbar 27). Lothars Vater war Graf Gebhard, der, wie schon bemerkt, am 9. Juni 1075 in der Schlacht an der Unstrut im Kampfe gegen Heinrich IV. fiel 28). Dies Datum steht vollständig fest, denn die Kunde der

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24) Deutsche Geschichte I (5. Aufl. 1916) 258.

25) Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer (1909) S. 90, ebenso in der 3. Aufl. (1916) S. 96.

26) Kirchengeschichte Deutschlands IV (1. u. 2. Aufl. 1903) 114 Anm. 2; ebenso 3. u. 4. Aufl. 1913 S. 121 Anm. 2.

27) Als „quidam princeps de Brunswich“ bezeichnet ihn die fundatio ecclesiae collegiatae in castro Querfurt, der wir das meiste verdanken, was wir von Lothars Vorfahren auf der väterlichen Seite, die Familie der Großmutter auf dieser Seite, wissen, vergl. Bernhardi S. 807 ff.

28) Die Nachrichten über die Schlacht hat Meyer von Knonau in einem besonderen Exkurs gesammelt, Jahrbücher Heinrichs IV. Bd. II, 874 ff. Graf Gebhards Tod ist danach, außer durch die Disibodenberger Chronik, noch überliefert durch: Bruno de bello Saxonico c. 46 SS. Rer. Germ. (ed. II) p. 31, die Paderborner Annalen (ed. P. Scheffer-Boichorst, Annales Patherbrunnenses S. 96), den Nekrolog des Klosters St. Michael zu Lüneburg (hg. von A. Chr. Wedekind, Noten zu einigen Geschichtsschreibern im deutsch. MA. III, 43), der den Tod unter dem 9. Juni, natürlich ohne Jahr, einträgt, und eine spätere Quelle, die die eindrucksvolle Tatsache vom Tode des Vaters eines Kaisers im Kampfe gegen den Kaiser seiner Zeit bewahrt hat, Otto von Freising, Chronica lib. VI c. 34 ed. Hofmeister SS. Rer. Germ. p. 304.

 

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Disibodener Chronik vom Schlachtentode Gebhards bestätigen eine Reihe anderer Quellenzeugnisse. Der Todestag ist aber – das einzige chronologisch ganz sichere Factum im Leben des Vaters eines Kaisers, das uns überliefert ist; wir wissen nicht, wann Gebhard geboren wurde, nicht, wann er seine Ehe mit Hedwig von Formbach 29), der Mutter Lothars einging. Eine ganz allgemeine Vorstellung nur vom Alter der beiden Ehegatten entsteht, wenn man sich vor Augen hält, daß der Gatte im Kampfe fiel, die Gattin nach seinem Tode in zweiter Ehe Herzog Dietrich von Lothringen (1115) heiratete und ihm noch drei Kinder schenkte 30): Herzog Simon, der seinem Vater nachfolgte (1115 bis 1141), und zwei Töchter, Gertrud-Petronella und Oda oder Ida, später Gattinnen des Grafen Florenz II. von Holland und des bayerischen Grafen Sieghard von Burghausen. Von den Schwiegersöhnen starb Graf Sieghard bereits 1104 unter Hinterlassung von Nachkommenschaft, eines uns bekannten Sohnes, Gebhard. Es ergibt sich also: Hatte Hedwig von ihrer einen Tochter 1104 bereits einen Enkel, so muß sie bald nach dem Tode des ersten Gatten die zweite Ehe eingegangen sein; weiter, sie muß noch jung zum ersten Male Witwe geworden sein.

 

Über das Geschlecht der Formbacher Grafen ist uns im Kloster, das sie an ihrem Stammsitze stifteten 31), eine Genealogie

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29) Aus einem bayerischen Grafengeschlecht, das seinen Namen nach der Burg (später Kloster) Formbach (heute Vornbach) am linken Ufer des Inn, oberhalb Passau trägt, das weitere s. u.

30) Vergl. Bernhardi S. 813 und die Stammtafel auf der folgenden Seite.

31) Dies geschah um 1090, der erste Abt des Klosters wurde 1094 geweiht, die Aufzeichnung über die Vorgänge bei der Begründung der neuen Stiftung, UB. des Landes ob der Enns I, 625. Über die Geschichte der Grafen von Formbach, immer noch am vollständigsten, Joseph Moriz, Kurze Geschichte der Grafen von Formbach, Lambach und Pütten, München 1803 und zur Ergänzung Joseph Klämpfl, Gesch. d. Grafschaft Neuburg am Inn. Verhandl. d. Hist. V. f. Niederbayern XI (1865) 55 ff.

 

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der Gründerfamilie überliefert 32), in der es über Kaiser Lothars mütterliche Großeltern heißt: „Fridericus, senioris Tymonis filius, cum in curia regis moraretur, neptem ipsius regis 33) Gertrudem nomine clam accipiens coniugem aufugit et postea reddiens gratiam imperatoris accepit. Sed cum rediret, optimates regis eum insequentes pro eadem iniuria interfecerunt. Cum unam tantum filiam Hedwig nuncupatam ex eadem Gertrude genuisset, que Hedwig mater fuit Lotharii regis et Ite comitisse de Purkchusen“. Ein echt mittelalterliches Kulturbild, dies Wirken ungebändigter Triebe selbst unter den Menschen der obersten Schicht der deutschen Aristokratie! Aufsehenerregende Vorgänge werden hier mit wenigen Worten geschildert - Entführung der Königsnichte, Wiederversöhnung zwischen Entführer und dem Hofe und abermaliger Bruch des Friedens durch neue blutige Gewalttat -, und doch, wie bezeichnend wieder einmal für die Lückenhaftigkeit unserer Überlieferung, der Bericht steht ganz isoliert da; wir wissen nichts über die Begleitumstände, nichts über die Motive der Handelnden, nichts insbesondere über den Zeitpunkt, wann sich die Gewalttat, die Graf Friedrichs von Formbach Leben ein Ziel setzte, ereignet hat 34). Aus dem Todesdatum des Vaters läßt sich

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32) In einem Codex saec. XV. der Münchener Bibliothek, mehrfach herausgegeben, zuletzt von G. Waitz MG. SS. XXIV, 76 ff.

33) Über die Frage, wie Gertrud mit dem König, doch wohl Heinrich III., verwandt war, läßt sich keine Klarheit gewinnen, nicht einmal eine Vermutung möchte ich aufstellen, wie es Otto von Dungern, Thronfolgerecht und Blutsverwandtschaft der deutschen Kaiser seit Karl dem Großen (2. Aufl. 1910) S. 93 getan hat.

34) Diese Behauptung wird bei Kennern von Bernhardis schon oft genannten Exkurs Verwunderung erregen, denn dort ist S. 810 unter Berufung auf eine Eintragung in einem Formbacher Traditionscodex, die bei Chr. Lud. Scheidt, Origines Guelficae III (1752) praef. p. 14 abgedruckt sein soll, behauptet, Graf Friedrich sei 1059 erschlagen worden. Zu Unrecht, Bernhardi hat sich verlesen und ein wichtiges C übersehen: „A. D. Millesimo C0LVIIII0 obiit comes Ekkebertus - - - Mediolanae occisus“ beginnt die Stelle. Es handelt sich um den Urenkel von Graf Friedrichs ältesten Bruder Tiemo, der 1159 vor Mailand fiel und in Formbach beigesetzt wurde. Für die Datierung der angehängten Notiz, daß der ebenfalls erschlagene Graf Friedrich ebenfalls im Familienkloster seine letzte Ruhestätte fand, ist die Stelle ohne jede Bedeutung. Zu 1160 aus anderem Codex fast wörtlich die gleiche Eintragung im UB. des Landes ob der Enns I, 778 abgedruckt.

 

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also kein Terminus ante quem für die Geburt seiner Tochter Hedwig, der Mutter Lothars, gewinnen.

 

Etwas günstiger liegt die Überlieferung bei Lothars Großmutter mütterlicherseits, Gertrud, der Tochter des Grafen Conrad aus dem Hause der Markgrafen der sächsischen Nordmark 35). Sie starb erst 1116 36), zur Zeit also, als ihr Enkel längst zum Manne herangewachsen war 37). Wie ihre Tochter, so hat auch Gertrud zweimal geheiratet; nach dem Tode Friedrichs von Formbach ging sie eine neue Ehe mit Herzog Ordulf von Sachsen ein, die 1072 durch den Tod des Gatten wieder gelöst wurde, nachdem ein Sohn, der jung verstorbene Graf Bernhard, aus diesem Bunde hervorgegangen war 38). Gertrud hat also auch ihren zweiten Gatten noch 44 Jahr überlebt, das ist nur möglich, wenn sie ein hohes Alter erreicht hat. Nimmt man nun also einmal an, sie sei etwa 80 Jahr alt geworden, so wäre sie etwa 1036 zur Welt gekommen und, bleibt man bei der herrschenden Ansicht von Lothars Geburt zwischen 1060-65,

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35) Eine Genealogie dieses Geschlechts als Vorfahren Lothars bringt die Sächsische Weltchronik c. 237 im Anschluß an die Erzählung von Lothars Wahl (MG. Deutsch. Chr. II, 199, 5), Stammtafel danach bei Bernhardi S. 814.

36) Zum Jahre 1116 n. Chr. und 11. Regierungsjahre (das Jahr des Regierungsantrittes 1106 ist mitgerechnet) bringen die Ann. Magdeburg. (MG. SS. XVI, 182, 25) als einzige Nachricht: Gertrudis ductrix obiit, avia Lotharii imperatoris. Die Chronologie in den vorhergehenden und folgenden Jahren ist gut, so daß auch diese einzelstehende Nachriht als einwandsfrei angesehen werden muß.

37) Vergl. Bernhardi S. 12 ff. die Nachrichten über Lothars Leben vor seinem Regierungsantritt: 1100 hat er geheiratet, 1106 wurde er von Heinrich V. nach dem Aussterben der Billunger mit dem Herzogtum Sachsen belehnt, 1115 führte er das sächsische Heer, das am Welfesholze über den Kaiser siegte.

38) Die Nachrichten über die Ehe zusammengestellt bei Bernhardi S. 810. Wann der Sohn, der als Knabe durch Sturz vom Pferde umkam, gestorben ist, ob vor oder nach dem Vater, bleibt ganz unsicher, da uns nur der Todestag, 15. Juli, im Nekrolog des Lüneburger Michaelsklosters überliefert ist. Hieraus läßt sich also kein Anhalt zur chronologischen Bestimmung der Ehe gewinnen. Über Ordulfs Todesjahr 1072 s. Meyer von Knonau II, 148; den Todestag, 28. März, überlieferte wieder das Lüneburger Nekrologium. Die beste Stammtafel der billungischen Herzöge von Sachsen gibt O. von Heinemann, Zsch. d. hist. V. f. Niedersachsen, Jg. 1865 (1866).

 

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schon mit 25-30 Jahren Großmutter geworden. Unmöglich, selbst im jung freienden Mittelalter! Wie ist die Schwierigkeit zu lösen? Indem man die Geburt Gertruds gewaltsam noch ein Jahrzehnt hinaufsetzt und dekretiert, sie muß 90 Jahr alt geworden sein? Das ist doch sehr bedenklich; einfacher scheint, sich wieder auf die Disibodenberger Überlieferung mit dem Termin 1075 für Lothars Geburt zu besinnen. Eine Frau, die bis 1072 in zwei Ehen Kinder geboren hatte und dann nach dem in diesem Jahre erfolgten Tode des zweiten Gemahls noch 44 Jahre, bis 1116, gelebt hat, kann 1075 wohl, viel früher schwerlich, die untere Grenze des Großmutteralters von etwa 40 Jahren erreicht haben.

 

So findet die Nachricht der Disibodenberger Chronik, aus Erwägungen, die mit der Überlieferung dieser Quelle nicht das geringste zu tun haben, heraus eine Stütze, und das fordert dazu auf, doch nochmals unvoreingenommen zu prüfen, was eigentlich gegen diese in ihrem Wortlaute so bestimmte und auf sächsische Überlieferung zurückgehende Aussage gesprochen hat. Nicht viel und nicht sehr Erhebliches, sieht man genau zu. Keine Nachricht haben wir, die gegenüber der Chronik, die Lothars Geburtsjahr allein ausdrücklich nennt, ihr widersprechend angibt, er sei zu diesem oder jenem feststellbaren Termin, so und so viel Jahre alt gewesen 39). Alle Belegstellen bewegen sich nur in allgemeinen Ausdrücken, um nicht zu sagen Redensarten; phantastisch übertreibende Südländer - Petrus von Monte Casino, Johannes Kinnamos -, staufische Parteileute - Otto von Freising und Gottfried von Viterbo -, die den letzten vorstaufischen Kaiser und Gegner des Herrschergeschlechts, dem sie anhängen, geringschätzig als verbrauchten Greis im Gegensatz zum jugendfrischen Geschlecht seiner Nachfolger hinstellen, sprechen zu uns. Ihnen schließen sich

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39) Für andere bekannte Persönlichkeiten der Zeit liegen uns solche Nachrichten gelegentlich vor und wir sind öfter allein auf sie zur Bestimmung ihres Alters angewiesen. Ein bekannter Fall: Friedrich Rotbarts Geburtsjahr ist uns nicht überliefert, die Angaben über sein Alter, die man in den Geschichtswerken findet, stützen sich allein auf einen Brief Abt Wibalds von Korvey, der bald nach seiner Wahl, März 1152, in einem Brief an Papst Eugen III. schrieb: princeps noster, nondum ut credimus annorum triginta (s. H. Simonsfeld, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Friedrich I. Bd. 1, 2).

 

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die ungefähr gleichzeitigen Paderborner Annalen an: „tam senio quam infirmitate gravatus“ liest man. Wem‘s beliebt, der kann die Aussage wörtlich nehmen: wenn ein 62jähriger sich zur Todeskrankeit legt, so ist er natürlich gealtert, verbraucht, wahrscheinlicher aber, der Paderborner Annalist folgt der allgemeinen Anschauung, die übertreibend Lothars Alter überschätzte. Wir aber können aus dieser Übereinstimmung der Quellen nur schließen, daß Lothar früh gealtert war, und unsere kriegserfahrene Zeit weiß, wie schwer die Jahre ergrauender Soldaten zu schätzen sind, wie schnell mancher, den wir vor kurzem noch rüstig kannten, unter den Feldzugsstrapazen altert.

 

So bleibt als einzige Lothars Geburtsansatz auf 1075 widersprechende Nachricht noch Albert von Stades Angabe übrig, er habe im Gefecht vor der Burg Gleichen am Heiligabend 1088 Erzbischof Liemar von Hamburg-Bremen gefangen genommen. Unmöglich, ein Knabe von 13½ Jahr! Geduld! Zunächst ist zu bemerken, daß Magister Albert erst 150 Jahre nach den Ereignissen schreibt. Aber dies wäre an sich kein durchschlagender Grund zum Mißtrauen, denn oft genug haben uns jüngere Quellen allein alte, gute und gleichzeitige Nachricht erhalten. Daß dies nun im vorliegenden Falle nicht zutrifft, darauf kommt es an. Der Stader Chronist bringt über das Gefecht zunächst wörtlich den Bericht des Zeitgenossen Frutolf von Michelsberg 40) und fügt dann von sich aus an - der Zusatz zu Lothars Namen, „qui postea regnavit“, beweist mindestens die nicht gleichzeitige Stilisierung dieser Sätze - hier wurde Erzbischof Liemar von Bremen vom Grafen Luder gefangen genommen umd löste sich später wieder, indem er dem Supplinburger die Vogtei über seine Kirche überließ und 300 Mark Silber zahlte. Auf der zweiten Nachricht, über die Erwerbung der Vogtei, liegt doch das Hauptgewicht, aus den kurzen Worten „Liemarus - - captus est a comite Ludero“ nun herauszulesen, Lothar habe den Erzbischof mit eigener Hand gefangen genommen und müsse deshalb älter als 13½ Jahr gewesen sein, das geht zu weit, das heißt die Worte der Quelle ungebührlich pressen. Liemar war der Getreueste der Getreuen Heinrichs IV., seine Nachbarn die Supplinburger standen auf der Gegenpartei, Graf Gerhard

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40) s. o. S. 85.

 

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fiel 1075 im Kampfe gegen den Kaiser, sein Sohn Lothar ist als Vertreter der sächsisch-gregorianischen Partei in die Höhe gekommen. Sehr begreiflich also, daß zur Zeit seiner Unmündigkeit sein uns unbekannter Vormund das Aufgebot der Supplinburger, als von Markgraf Ekkehart geführt ein neuer Kampf der Sachsen gegen Heinrich IV. entbrannte, der antikaiserlichen Partei zuführte. Möglich, daß der junge Graf, dessen Wehrhaftmachung mit 15 Jahren, ja nahe bevorstand, zur Fehde mitgeritten ist, daß er vor Gleichen im Kampfgewühl mitgestritten hat, mag glauben oder nicht glauben, wer will. Politisch war die Auslieferung des gefangenen Kirchenfürsten an den feindlichen Nachbarn, damit dieser von ihm für sich Vorteile erpresse, jedenfalls zweckmäßig und dem Brauche der Zeit entsprechend. Also auch aus Albert von Stades Chronik ist nichts Durchschlagendes gegen die bestimmte Aussage des Disibodenberger Berichtes herauszuholen.

 

Man könnte innehalten, um aber nichts bei Seite zu lassen, was zur Stützung des Ergebnisses - Lothar 1075 geboren - auf das unser Beweisgang hinzielt, beitragen kann, seien noch zwei weitere Beobachtungen und Erwägungen vorgetragen: Einkindschaft fällt schon in unserer Zeit auf, doppelt im zeugungsstarken Mittelalter, das gewollte Beschränkung der Kinderzahl nicht kannte. Lothar aber war das einzige Kind seiner Eltern. Wodurch erklärt sich die auffallende Tatsache? Der nächstliegende Gedanke, ein von der Mutter bei der ersten Geburt erworbener Defekt, der weitere Geburten ausschloß, sei die Ursache gewesen, ist abzulehnen, denn Hedwig hat ja in ihrer zweiten Ehe noch drei Kindern das Leben geschenkt 41). Die andere Möglichkeit, dauernde Entfremdung der Gatten in einer Ehe, die nach Geburt des ersten Kindes noch längere Zeit gedauert hat? Unmöglich, das Gegenteil ist uns ausdrücklich überliefert: die Kirche trennte die Ehe der Eltern wegen zu naher Verwandtschaft, mit Gewalt aber holte sich Graf Gebhard die geliebte Gattin zurück und lebte mit ihr, die Exkommunikation seines Diözesanbischofs nicht achtend, weiter zusammen 42).

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41) In ihrer Ehe mit Herzog Dietrich von Lothringen s. o. S. 89.

42) Diese Nachricht findet sich in dem schon erwähnten (s. o. S. 91) genealogischen Exkurs der Sächsischen Weltchronik c. 237, MG. Deutsch. Chr. II, 199, vergl. dazu Bernhardi S 810 f.

 

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Unschwer lösen sich die Bedenken aber, traut man dem Disibodenberger Bericht, der uns sagte, Lothar sei wenige Tage vor dem Tode des Vaters zur Welt gekommen, dann konnte natürlich kein Kind mehr folgen.

 

Zweitens: Lothars Heirat im Jahre 1100 ist uns gut überliefert durch die Aussage des Annalista Saxo zu 1115, seine Gattin Richenza, die Tochter Heinrichs des Fetten von Northeim, habe ihm in diesem Jahre nach fünfzehjähriger Ehe die erste Tochter geschenkt 43). Dann hätte Lothar nach der herrschenden Ansicht erst im Alter von 35-40 Jahren geheiratet. Recht auffallend im früh freienden Mittelalter und bei einem Manne, der wußte, daß auf seinen zwei Augen allein die Zukunft des großen Familienbesitzes ruhte. Mehr noch, wir können nachweisen, daß die Gattin, die der Supplinburger heimführte, tatsächlich noch ein kleines Mädchen, vielleicht erst ein Kind von wenigen Jahren war 44). Vorzüglich paßt hierzu der auf den

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43) MG. SS. VI, 751, 30: Richenza ductrix XV annos sterilis manens duci Liudero filiam in festivitate paschali genuit. Über die scheinbar widersprechende Nachricht Alberts von Stade s. u.

44) Solche frühen Ehen waren im Mittelalter unter dem hohen Adel Europas nicht selten – man denke nur an das kindliche Paar Heinrich IV. und Bertha von Savoyen, die Ehe der Heiligen Elisabeth – und sind entschieden bisher noch nicht genug beachtet worden, manche kinderlose Ehen bei Gatten, die später in anderen Ehen Kinder zeugten, waren z. B. wohl solche Frühehen (so war z. B. Herzog Welf I von Bayern, geb. spätestens 1037, ehe er 1056 nach Deutschland kam, schon einmal in Italien verheiratet gewesen). - Zum vorliegenden Falle: Richenzas Mutter Gertrud war dreimal verheiratet (s. Stammtafel), durch die Todesdaten ihrer beiden ersten Gatten 1085 und 1101 Frühjahr, sind die äußersten Grenzen ihrer zweiten Ehe umgeschrieben. Auf Grund einer zu frühen Ansetzung der sogenannten Stiftungsurkunde des Klosters Lippoldsberg an der Weser, in der Gertrud bereits mit ihrem Sohne Otto aus der Ehe mit Heinrich von Northeim erscheint, auf 1088 (so Ludwig Schrader, Die ältesten Dynastenstämme zw. Leine, Weser und Diemel, Göttigen 1832, der das Stück S. 225 abdruckt, von ihm beeinflußt auch noch Bernhardi) war man gezwungen, die Schließung der zweiten Ehe sehr schnell nach 1085 anzunehmen. Dazu liegt jetzt kein Anlaß mehr vor, das Kloster entstand erst zwischen 1090 bis 1094 (s. Dobenecker, Regesta Thuringiae I Nr. 972 und Wilh. Dersch, Hessisches Klosterbuch [Veröffentl. d. Hist. Komm. f. Hessen XII, 1915] S. 81). So wird man die Geburt Richenzas und ihrer Schwester Gertrud – denn der Bruder Otto war doch offenbar das älteste kind der zweiten Ehe Gertruds – ganz allgemein ins letzte Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts setzen dürfen. - Will man übrigens allen Gegengründen zum Trotz dabei bleiben, Gertrud könne doch sehr bald nach 1085 wieder geheiratet, Richenza doch das älteste Kind dieser Verbindung gewesen sein, so kommen wir für 1100 doch erst auf ein Alter von 13 Jahren, immer noch zu früh zum Eingehen einer wirklichen Ehe.

 

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ersten Blick dem Annalista Saxo scheinbar widersprechende Bericht Alberts von Stade, der von einer Eheschließung zwischen Lothar und Richenza erst im Jahre 1113 weiß 45). Um Vollziehung der Ehe 46) handelt es sich nur, das bestätigt uns der Annalista Saxo, wenn er im übernächsten Jahre die Geburt des aus diesem Bunde hervorgegangenen Kindes meldet.

 

Kurz, wohin man sieht, ergeben sich Schwierigkeiten, wenn man bei dem bisherigen Ansatz von Lothars Geburt, 1060-65, bleibt, sie lösen sich ohne Zwang, wenn man dem Disibodenberger Bericht 47) folgt und sagt, Lothar ist wenige Tage vor dem Tode seines Vaters, also in den ersten Tagen des Juni 1075 geboren 48).

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45) MG. SS. XVI, 321, 35: Luderus dux Saxonie accepit filiam Heinrici Crassi et Gertrudis comitisse nomine Rinkensam, que peperit ei filiam Gertrudem.

46) Es ist mißlich, aus einem Wort so viel zu schließen, aber deutet das „accepit“ nicht auch an, warum es sich handelt?

47) Man wird am Ende unserer Beweisführung kaum mehr begreifen, wie die Aussage des Disibodenberger Berichtes je so in Mißkredit kommen konnte. Man bedenke, daß sie Luden und Jaffé noch als nichts wie eine befremdliche Interpolation in den Text des Marianus Scotus erschien, der, gestorben 1089, mit dem Worte „qui postea regnavit“ bereits auf ein Ereignis anspielt, das lange nach seinem Tode fällt.

48) Lothar war also 25 Jahr, als er heiratete, er nahm ein Kind zur Gattin, von der er erst nach über einem Jahrzehnt Kinder erwarten konnte. Früher nahm man an, er sei 35-40 Jahre zur Zeit einer Eheschließung gewesen und das wurde oben als kaum glaublich hingestellt. Kommt beides nicht auf ziemlich dasselbe hinaus? Nicht ganz zunächst, denn es ist doch ein Unterschied, ob der 25jährige oder der 35iger ein Kind freit, dann aber bedenke man auch, welche reiche Erbin Richenza war. Sie brachte ihrem Gatien die reiche brunonische Erbschaft ein und auf der Vereinigung dieses Besitzes und der Güter der Supplinburger beruhte später die Machtstellung des Welfenhauses in Norddeutschland. Gertrud, die Tochter Lothars und Richenzas, heiratete Heinrich den Stolzen, den Vater Heinrichs des Löwen.

 

Verwandtenkreis Lothars von Supplinburg.

 


                                                         Quidam princeps ∞ Ida               Graf Friedrich ∞ I Gertrud
                                                         de Brunswich        von Querfurt  von Formbach     von der
                                                                                                                                   Nordmark
                                                                                                                                          † 1116
                                                                 ____________________        ________________

Heinrich der Fette ∞ II Gertrud von BS           Graf Gebhard        ∞        I Hedwig
von Northeim            † 1117 Dez. 9                 von Supplinburg            von Formbach
† 1101                                                               † 1075 Juni 9                  II ∞ Herzog Dietrich
                               I ∞ Graf Dietrich v.                                                  v. Lothringen † 1115
                                     Katelenburg † 1085
                            III ∞ Markgraf Heinrich d. Ältere
                                     v. Eilenburg † 1103

______II______           _____I______     ___________________II____________________

      Richenza     ∞ 1100   Graf Lothar         Herzog Simon I  Gertrud oder     Oda oder Ida
  † 1141 Juni 11             von Supplinburg     v. Lothringen     Petronella               ∞
                                           * 1075 Juni             † 1141             † 1144            Graf Sieghard
                                           † 1137 Dez. 3                                      ∞                v. Burghausen
                                                                                               Graf Florenz II         † 1104
                                                                                                 von Holland      ___________
                                                                                                     † 1121                Gebhard
_______________________________                                                                        ∞
                  Gertrud                                                                                                Sophie von
            * 1115 April 18                                                                                             Wettin
            † 1143 April 18

 

 

Quelle:

Zs. des historischen Vereins f. Nds. Jg. 1920 S. 83-96 incl. Tafel Verwandtenkreis Lothars von Supplinburg.