Die Kapitelle der Chorsäulen in Königslutter

Die klugen und törichten Jungfrauen

 

Die beiden Doppelarkaden des Chorquadrates im Kaiserdom von Königslutter verbinden den wuchtig-flächigen östlichen Vierungsbogen mit dem profilierteren, fast stufenportalhaften der Apsis, teilen die Höhe der Chorwände und öffnen diese zu den Nebenchören. Konzentrationspunkt der Chorseitenwand ist jeweils das große Chorarkadenkapitell, aus dem Hochwand und Schildbogenfläche scheinbar herauswachsen wie eine Baumkronensilhouette aus dem Stamm. Chonwandgestaltung wie Chorsäulenkapitelle sind hochgradige Meisterwerke. Sie sind es in handwerklich-technischer Gediegenheit ebenso wie in künstlerisch-schöpferischer Aussage und architektonischer Komposition. Die Arkadenfolgen des Langhauses werden hier nach ihrem Ausgreifen in die Querhausarme wieder auf das Ziel gerichtet. Das Ziel des Christen ist das ewige Leben. Nur gottgefälliges Tun führt dort hin. Gotteshaus und Gottesdienst weisen ihm ständig den Weg zu dieser Lebensführung. Der Verlust des paradiesischen Lebens durch die Schuld war der Ausgangspunkt dieser Didaktik und ihrer bildlichen Darstellungen in einer romanischen Kirche. Den Höhepunkt bildete die zweite Ankunft, die Wiederkunft Christi. In der Offenbarung des Johannis wird sie bilderreich geschildert, und die romanischen Kirchenbauer verwandten diese Bilder zur Ausgestaltung ihrer Chöre. Seit dem 11. Jahrhundert war die Etimasie, die Vorbereitung, in der Ostkirche fester Bestandteil der Darstellung des Jüngsten Gerichts und aus gleicher Zeit ist das Spiel von den klugen und törichten Jungfrauen in Frankreich (St. Martial zu Limoges) nachgewiesen. ln Matth. 25, 31 - 32 heißt es: „Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und all seine Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet." „So ergibt sich als selbstverständlich für die Apsis das große Bild des sitzenden Erlösers, der, das Buch des Lebens aufgeschlagen in der linken Hand haltend, die rechte segnend erhebt. Die nächste Umgebung des Herrn bildet sodann eine Reihe Engelfiguren.“ Das schrieb August Essenwein am 22.1.1887 in seinem „Project für die polychrome Ausstattung der Stiftskirche in Königslutter.“ Liest man dort weiter, findet man einen Widerspruch zu der bis 1894 durchgeführten Ausmalung. In seinem Entwurf für die Chorwände hatte er „einerseits die klugen und törichten Jungfrauen dargestellt, die den Herrn erwarten, andererseits den Triumph der Tugenden über die Laster.“ Wir finden aber nur die über die Laster triumphierenden Tugenden auf den Arkadenhochwänden über den prächtigen, zweifellos originalen Chorsäulenkapitellen. Wo sind die klugen und törichten Jungfrauen? Gerade dieses Thema aus Matth. 25, 1 - 13 ist von allen Gleichnissen Christi durch die bildende Kunst am häufigsten dargestellt. Bereits in den Wandmalereien der Katakomben Roms (Coemeterium ostrianum, Anf. 4. Jh.) wie in den frühesten Miniaturmalereien des christlichen Ostens (Codex purpureus Rossanensis, 6. Jh.) sind Darstellungen dieser wichtigen, auf die Parusie, auf das Jüngste Gericht bezogenen Fabel zu finden, und sie lassen sich durch das ganze Mittelalter hindurch in der Kunst des Ostens und des Westens verfolgen bis hin zu den monumentalen Gestaltungen durch Skulpturen an den gotischen Portalen. In Braunschweig gibt es solche Skulpturen am nördlichen Querhausgiebel der Martinikirche und gemalte Darstellungen in den berühmten Wandbildern des Domes. Und in Königslutter, im „Pantheon der deutsch-romanischen Baukunst“, soll diese letzte Mahnung zur Wachsamkeit fehlen? Allein das Wissen um die Bedeutung dieser Parabel in der christlichen Lehre von den letzten Dingen und der Eschatologie für das 12. Jahrhundert hätte längst zur Suche und zum Finden ihrer Darstellung in der Stiftskirche Kaiser Lothars führen müssen. Essenwein fand sie offensichtlich. Da er aber 1892 vor der Beendigung der Ausmalung starb, kamen wir nicht in den Genuß einer abschließenden Begründung und Beschreibung, die er jeder seiner Kirchenausstattungen folgen ließ und von denen einige inzwischen als bibliophile Kostbarkeiten gelten. In den 13 Seiten, die der herzogliche Baurat Wiehe im Mai 1894 unter dem Titel: „Die Ausmalung der Stiftskirche zu Königslutter“ veröffentlichte, wird über die Konzeptänderung der Chorwandbemalung nichts erwähnt. Seitdem befaßte man sich wissenschaftlich mehr mit der Baugeschichte und der Oberfläche der Bauzier, deren Gestaltvorbilder das Dunkel um Bauzeit und Baumeister erhellen sollen. „Das romanische Kapitell ist nun mal die dichteste Synthesis von erfindendem Geist im Bilden und universal-ordnendem Geist im Bauen, zu der das Mittelalter gelangte (Gosebruch, „Königslutter und Oberitalien“), und da die Kapitelle von Königslutter außergewöhnliche Zeugnisse dieses Zusammenspiels sind, nahm die Literatur darüber beachtlichen Umfang an. Bild- und Bauwerk zu verbinden, hängt aber mit dem Aussagegehalt, mit der Ikonologie beider zusammen, und die waren der Sinn romanischer Kirchen. Selbstverständlich fand die letzte Mahnung in Form des Themas von den klugen und törichten Jungfrauen ihren gemäßen Platz in der Etimasie, in der Vorstufe zum Jüngsten Gericht, also im Chor. Und dort, wie könnt's anders sein, an den Konzentrationspunkten, den Chorsäulenkapitellen. Das man das so lange übersehen konnte!

Da fällt einem die Parabeltheorie nach Luk. 8,9 - 10 ein: „Es fragten ihn seine Jünger und sprachen, was dies Gleichnis wäre. Er aber sprach: „Euch ist gegeben, zu wissen das Geheimnis des Reiches Gottes, den anderen aber in Gleichnissen, daß sie es nicht sehen, ob sie es schon sehen und nicht verstehen, ob sie es schon hören.“

 

Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen ist hier verbunden mit 1. Petr. 5,8: „Seid nüchtern und wachet, denn euer Widersacher, derTeufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, wen er verschlinge.“ Die Zeit des Erbarmens ist vorbei, die Stunde des Gerichtes da. Die Tür bleibt verschlossen für alle zu spät Reue empfindenden und Gnade erflehenden. So lautet die Auslegung Augustins zu dieser Bibelstelle. Das „wahrlich, ich kenne euch nicht“ ist für die törichten gefallen. „In der Nordgegend, bei der Masse der Teufel“ stehen sie und erwarten mit bitterem Seufzen den Ausgang des Jüngsten Gerichts, heißt es im Rupertsberger Codex der Hildegard von Bingen (1098 - 1179). Genau so finden wir es von Meisterhand in Stein gehauen und in den Bau eingebunden in der „Nordgegend“ des Ostbaus von Königslutter. Und von genialem Geist erfunden! Man findet diese letzte Mahnung sonst in kostbaren Schreinen oder in Wandmalereien dargestellt. Der Meister von Königslutter konnte in seinem „hervorragenden Werk, wunderbar durch vielfältiges Steinbildwerk“, dieses Hauptthema des Chorraumes, dessen Säulen er auf- und so herausstellte, nicht anderen überlassen. Die damalige Entwicklung vom Naiv-Erzählenden des Reliefstils hat hier eine Stufe der Typisierung der Gestalt und Abstrahierung in der Darstellung geistiger Inhalte erreicht, die es schaffte, und das ist meines Wissens einmalig, das Gleichnis von den 10 Jungfrauen auf zwei Gesichtstypen, auf Mimik zu reduzieren. Keine Lampen oder Fackeln, keine Körper und Körpersprache, keine Gestik, wie sie uns in den meisten Darstellungen dieses Gleichnis verdeutlichen. Hier ist also das Bindeglied zwischen den kleinfigurigen Darstellungen der klugen und törichten Jungfrauen an Kapitellen (St. Etienne, Toulouse) und Archivolten (St. Trophime, Arles) und den großen Gestalten an den Gewänden gotischer Portale. Im Nordkapitell steckt das Entsetzen und Erstarren über die schreckliche Erkenntnis der endgültigen Verdammung in dem lediglich durch die Kapitellseiten verdreifachten Gesicht der Törichten, flankiert von fletschenden Löwen. Abt Suger genügte auch jeweils eine der Jungfrauen zur Darstellung ihres Typs am mittleren Westportal von St. Denis in Paris. Die Fünfzahl hat in der altjüdischen Literatur oft den Sinn von „einige, etliche“. Unsere Redewendung von den sieben Sachen weist die ähnliche Doppeldeutung aus. Im Südkapitell dagegen die Klugen. „Sie tragen das Siegel des Glaubens im Strahlenkranze ihrer guten Werke.“ (Hildegard von Bingen). Die gute Gewißheit spricht aus diesen klassisch schönen Gesichtern. Selbst die Löwen haben dort weichere Konturen und werden somit zu Wächtern und Beschützern des Guten wie der rechte Portallöwe. Beschreibungen der sonstigen Kapitellteile gibt es genügend, und die Ergebnisse des Aufspürens von Gestaltvorbildern müssen später folgen. Da in der damaligen Kunst in Norditalien keine Darstellungen dieser Parabel zu finden sind, wohl aber Akanthusblätter, Löwen und Greifen mit besonderer Vorliebe in Kapitellen kombiniert wurden und in Südfrankreich das antike Kopf- oder Büstenkapitell ins Romanische übertragen worden war, vereinigt Königslutter auch in diesem Falle Lombardisches mit Provencialischem.

 

Und dies in höchst sinnvoller Weise. Eichwede wies schon 1904 hin auf „die künstlerische Steigerung, die in klarbewußter Durchführung eines sinnreichen Grundgedankens, wie in maßvoller und harmonischer Verteilung der Ornamentik zur glatten Fläche, sich als eine besonders abgeklärte Schöpfung darbietet.“



Otto Kruggel

veröffentlicht in:
Das Moosholzmännchen Nr. 166/1984
heimatkundliches Beiblatt des lutterischen Stadtbüttels August 1984  S. 21-24

 


Für Detailinformationen zu den klugen und törichten Jungfrauen wird folgende
Literaturstelle empfohlen:

Heine, Hildegard, Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen. Eine
literarisch-ikonographische Studie zur altchristlichen Zeit. Diss. Leipzig 1922.