Die Graduale des Kaiserdoms

 

 

Eine Entdeckung im Stadtarchiv

Leider ist von den Schätzen und Zeugnissen des so reichen ehemaligen kaiserlichen Stifts Königslutter nur sehr wenig erhalten. Und dieses wenige befindet sich, abgesehen von den restlichen Gebäuden, hauptsächlich außerhalb von Königslutter. Die Aktivität um Erhaltung und Würdigung war am Ort offensichtlich gering oder wenig erfolgreich. Auch heute steht dem Bemühen um mehr Erfolg auf diesem Gebiet noch viel Trägheit und Unverständnis entgegen. Da erfreuen dann selbst kleine Erfolge und Entdeckungen.

Kürzlich gab es eine solche Entdeckung im Stadtarchiv. Dort befindet sich, besonders behütet, ein „Geldregister des Stiffts Königslutter“ von 1649/50, in dem alle Einnahmen und Ausgaben des Klosters in dieser Zeit sauber und aufschlußreich eingetragen sind. Die Bilanz schließt mit Guthaben, nicht mit Schulden. Und das kurz nach dem auch für Königslutter so verheerenden Dreißigjährigen Krieg. Damals gab man also kein Geld aus, das man nicht hatte. Aus diesem Sparsamkeitsprinzip hatte der Buchbinder, sicher ein Mönch, Wiederverwendung betrieben und beide Deckel des Geldregisters mit einem bereits benutzten Pergament dauerhaft bezogen. Mit einem alten Chorbuchblatt!

Das 31,5 x 42 cm große Pergament und die üblichen neun Noten- und Textzeilen darauf sind gut erhalten. Der Block aus gotischen Hufnagelnoten im Fünfliniensystem und außergewöhnlich exakt geschriebene Gotiko-Rotunda mit drei Zierbuchstaben ist ein Genuß für Kenner und Liebhaber alter Schriften. Zwei der Initialen sind im Sepiaton des Ganzen als schwungvolle Texturabuchstaben gezogen. ln dieser Schriftart druckte Gutenberg seine berühmte 41zeilige Bibel. Wir finden gute steingehauene Textura am Brunnenhaus und an der ehemaligen Klus des Klosters. Der dritte Zierbuchstabe ist ein blau ausgemaltes konturiertes V in der älteren Unzialeschrift. Alle drei sind offensichtlich weniger als Sinnverstärkungen oder Sinnfugen gesetzt, sondern sollen vielmehr Textlücken unter Psalmodiewendungen bzw. die dadurch entstandenen Verdichtungen im Notenbild ausgleichen. Darin beweist sich noch einmal das gute Formgefühl und Können des Schreibers.

In der benediktinischen Liturgie war der bereits vom Bischof Ambrosius (374 - 397) eingeführte Wechselgesang zweier Chöre üblich. Nach diesem wurde ein solcher Gesang Antiphon (griech. = Dagegentönendes) und das Chorbuch Antiphonar oder Antiphonale genannt. Daß Ambrosius in unserem Kaiserdom einst besondere Verehrung genoß, beweist seine Darstellung im Vierungsturmfries.

Im 12. Jahrhundert kam der Name Graduale für verschiedene Meßgesänge auf, die auf den Stufen vor dem Altar gesungen wurden (lat. gradus == Stufe). Im Kaiserdom wurde die Chorstufe bei der Emeuerung des Fußbodens zur Apsis verlegt. Damit auch alle Sänger, die sich darum scharten, die Texte und Noten lesen konnten, wurden diese recht groß geschrieben. Um 1000 bildete sich ein ikonographisches Schema für die Illustrationen der Antiphonare aus. Dem Ablauf des Kirchenjahres folgend wurden Szenen aus dem Leben Christi oder Marias in prächtigen, oft mit Blattgold hinterlegten Miniaturen der Ordnung der Gesänge entsprechend dargestellt. Berühmtestes mittelalterliches Antiphonar ist das von St. Peter in Salzburg.

Der Text auf unserem Pergament ist Matth. 4,18 - 22 bzw. Mark 1, 16 - 19 entnommen. Dort wird berichtet, wie die Fischer und Brüderpaare Simon und Andreas sowie Jakobus und Johannes auf Christi Geheiß „ohne weiters ihre Netze verließen und ihm gefolgt sind,“ der sie zu Menschenfischern machte.

Die Verwendung der im 13. und 14. Jahrhundert in Italien entwickelten Rotunda und der Textura läßt auf eine Entstehung des Blattes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schließen. In dieser Zeit wurde wahrscheinlich der Bau der Stiftskirche mit der Errichtung der Westtürme vollendet. Auch die erste Orgel soll laut Maiboms „Chronik von Königslutter“ in dieser Zeit unter dem Abt Henricus Gerke (1483-1503) von einem Mönch nebem dem Andreasaltar gebaut worden sein.

Nach der Reformation verloren die Chorbücher der katholischen Liturgie ihre Bedeutung und wurden vielfach zum Einbinden von Büchern verwendet. Unser „Venite post me (Folgt mir nach)- Antiphon ist das einzige bekannte Exemplar aus dem Benediktinerkloster Königslutter und das älteste Schriftstück des Stifts am Ort.

Hoffentlich kann es bald einen würdigen Platz im Kaiserdom-Museum Königslutter finden, um dort vom Chor- und Geldwesen des Klosters zu künden.


Otto Kruggel

veröffentlicht in:
Das Moosholzmännchen Nr. 163/1984
heimatkundliches Beiblatt des lutterischen Stadtbüttels April 1984  S. 33-34

 

Chorbuchblatt Graduale

Konzert und Musikworkshop am 16.02.2013

Konzert und Musikworkshop
KÖNIGSLUTTER. Die Gesänge der Hildegart von Bingen und der Gregorianische Choral mit seiner Kraft und Tiefe vermitteln Ruhe und Gelassenheit in unserem heutigen geräuschvollem Leben voller Hektik und Unruhe.
Der Obertongesang, dessen Wurzeln im asiatischen Raum liegen, mit seinen meditativen entspannenden Klängen ergeben in der Kombination mit den Gesängen von Hildegard von Bingen ein einzigartiges Klangerlebnis.
Am 16. Februar findet im Gemeindezentrum der Stiftskirchengemeinde Königslutter ein Workshop statt, in dem jeder, der gerne singt, Erfahrungen machen kann. Der Workshop findet in der Zeit von 16 bis 18 Uhr statt. Sigrid Bruckmeir und Reinhard Schimmelpfeng, beide gefragte Musikpädagogen aus Bremen, werden diesen Workshop leiten und alle Interessierte in diese Musikwelt einführen. Um 19.30 Uhr geben beide Künstler im Kaiserdom ein Konzert. Zu hören ist Musik der Gregorianík und Operngesang, untermalt mit Instrumenten wie Tontrommel und Shruty-Box.
Informationen über Preise und Anmeldung, die erforderlich ist, gibt es bei Domkantor Andreas Schultz, Telefon 05353/96511 und as.domkantor@t-online.de.

Veröffentlicht in:
Helmstedter Blitz vom 06.02.2013  S. 10