Auszug aus Ferdinand Eichwede "Beiträge zur Baugeschichte der Kirche des kaiserlichen Stiftes zu Königslutter"
"BEITRÄGE ZUR BAUGESCHICHTE DER KIRCHE DES KAISERLICHEN STIFTES ZU KÖNIGSLUTTER
DISSERTATION ZUR ERLANGUNG DER AKADEMISCHEN WÜRDE EINES DOKTOR-INGENIEURS
EINGEREICHT VON DIPL.-ING. FERDINAND EICHWEDE
GENEHMIGT VON DER KÖNIGL. TECHN. HOCHSCHULE ZU HANNOVER
REFERENT: PROFESSOR H. STIER
KORREFERENT: PROFESSOR Dr. HOLZINGER
HANNOVER DRUCK VON CARL KÜSTER. 1904
MEINEN LIEBEN ELTERN IN DANKBARKEIT GEWIDMET
Inhaltsverzeichnis.
1) Einführung.
2) Die Arbeiten des Meisters Nicolaus.
A. in Ferrara pag. 3
B. in Verona
a. am Dom 4
b. an San Zeno Maggiore 5
C. in Modena 6
3) Königslutter.
I. Skulpturelles 9
a. Bogenfriese 12
b. Blattbildungen 13
c. Säulenkapitäle 14
d. Säulenschäfte 16
e. Menschliche Figuren und Köpfe 19
f. Portallöwen 21
g. Die Inschrift an der Apsis der Stiftskirche zu Königslutter 23
II. Architektonisches 28
4) Schluss 37
Einführung.
Künstlerischen Studien in der Lombardei nachgehend,
wurde ich gelegentlich der Betrachtung des Hauptportales
am Dome zu Verona auf gewisse dort vorkommende Motive
aufmerksam, welche in augenfälliger Ähnlichkeit in dem
ornamentalen Schmuck der Stiftskirche zu Königslutter ent-
halten sind.
Nähere Studien dieses reichgeschmückten Portales wie
der Umstand, dass es laut Inschrift bereits im Jahre 1135,
also vor der Begründung der Stiftskirche zu Königslutter
erbaut worden ist, ergaben die überraschende Gewissheit,
dass wir in den Details dieses Portales Vorbilder für gewisse
Schmuckteile der Stiftskirche zu Königslutter zu suchen haben,
und es lag die Vermutung nahe, dass der in künstlerischer
Vollendung in Niedersachsen einzig dastehende Formen-
reichtum der Stiftskirche zu Königslutter in seinem ganzen
Umfange auf lombardische Vorbilder zurückzuführen sei.
In weiterer Verfolgung dieser am Domportale zu
Verona aufgefundenen, mit Königslutter verwandten Spuren
an anderen Kirchenbauten dieser Zeit, zunächst in Verona
selbst und sodann im nördlichen Italien überhaupt, fand ich
2
in San Zeno Maggiore zu Verona eine Reihe von Einzel-
formen, die als Ergänzung zu dem am Dom dort Gefundenen
mich nunmehr jedes Zweifels behoben, dass von hier aus
direkteste Beziehungen zu Königslutter bestanden haben
mussten. Weitere besonders interessante Resultate lieferte
dann der Dom zu Ferrara, indem ich hier nicht allein
wieder neue verwandtschaftliche Formen mit denen von
Königslutter vorfand, sondern auch zu der Überzeugung ge-
langte, dass die fraglichen Arbeiten dieser drei italienisclıen
Kirchen, sowie der ganze bildnerische Schmuck von Königs-
lutter, nur ein und desselben Meisters Werk sein konnten.
Schliesslich liess sich die Tätigkeit dieses Meisters noch an
den Domen zu Modena und Piacenza erkennen. An dem
erstgenannten Bau, anscheinend seinem frühesten Arbeits-
felde, können wir ihn jedoch nur als Gehülfen vermuten.
Meister Nicolaus.*)
An den Domen zu Ferrara, Verona und San Zeno
Maggiore zu Verona finden wir bei den hier in Frage
kommenden Arbeiten Inschriften eingemeisselt, die in eigen-
artiger Weise auf die Tätigkeit ihres Urhebers Bezug
nehmen. Als „Meister Nicolaus, der dies herrliche Werk
vollbracht hat und den wir alle loben sollen" - mit
solchen und ähnlichen Lobeserhebungen verkündet dieser
eigenartige Künstler an den genannten Bauten seinen Namen
und sucht seine Mitmenschen und die Nachwelt von dem
Werte seiner Leistungen in naiv origineller Weise zu über-
zeugen.
Als frühestes Werk, an welchem die Tätigkeit des
Meisters Nicolaus durch Inschrift gesichert ist, müssen wir
den grossen Portalbau am Dom zu Ferrara ansehen. Ob
der als Baumeister der Kirche genannte Meister Nicolaus
*) Die Tätigkeit des Meisters Nicolaus in ltalien soll hier nur in-
soweit berücksichtigt werden, als es für das Verständnis der nachfolgenden
Betrachtungen erforderlich ist. Eine ausführliche Abhandlung über die
Arbeiten dieses Meisters bringt Zimmermann in „Oberitalische Plastik im
frühen und hohen Mittelalter, Verlag von A. G. Liebeskind, Leipzig 1897.
4
aus Ficarolo identisch ist mit unserem Meister Nicolaus, mag
dahingestellt bleiben; jedenfalls - und das ist für uns besonders
wichtig - ist der gesamte bildnerische Schmuck dieser Kirche,
selbstredend nur soweit der alte Bau noch vorhanden ist,
allein sein Werk und zum mindesten auch der Aufbau der
beiden grossen Löwenportale, die sich an der West- und
Südfront erheben (letzteres ist jetzt abgebrochen).
Aus der Inschrift am Westportale:
„ANNO MILLENO CENTENO TER QUOQUE DENO
QUINQUE SUPERLATIS STRUITUR DOMUS HEC
PIETATIS
ARTIFICEM GNARUM QUI SCULPSERIT HEC NICO-
LAUM
HUC CONCURRENTES LAUDENT PER SECULA
GENTES“.
(Im Jahre eintausend einhundert dreissig
und noch dazu fünf wird erbaut dies Gotteshaus.
Den kundigen Künstler Nicolaus, der dies ausgehauen hat,
mögen alle Menschen, die hier zusammenkommen, durch
Jahrhunderte loben.)
entnehmen wir den Abschluss seiner dortigen Tätigkeit mit
dem Jahre 1135.
Wir müssen annehmen, dass nach Vollendung dieser
Arbeiten der Meister nach Verona übergesiedelt ist, wo ihm
bei den Umbauten des Domes und San Zeno Maggiore's,
die in diesen Jahren ausgeführt sein sollen, erneute Be-
schäftigung zuteil wurde.
Der gewaltige Portalbau des Domes zu Verona, dessen
Erbauung dem Meister Nicolaus gelegentlich der Erweite-
rung des Domes gesondert übertragen zu sein scheint, zeigt
5
im Aufbau wie in den Details im wesentlichen dieselben
Formen wie das grosse Westportal des Domes zu Ferrara.
Die Freude am Ornamentieren der Bauglieder, ja aller
Flächen, tritt hier noch stärker hervor als dort, doch zeigt
sich hie und da schon mehr Klarheit und Zusammen-
hang in der Komposition der zur Darstellung gelangten
Szenen. Übrigens scheint die Errichtung dieses Portales mit
gewisser Hast betrieben zu sein, wenigstens hat der Meister
sich dazu verstanden, Werkstücke eines älteren Baues wieder
zu verwenden; besonders auffällig tritt uns dies bei den
zur Einwölbung des grossen unteren Tonnengewölbes zu-
sammengetragenen ornamentierten Friesstücken entgegen. -
Auch hier wieder eine Inschrift des Meisters, dessen Wort-
laut mit der zweiten Hälfte derjenigen des Domes zu Ferrara
wörtlich übereinstimmt:
„ARTIFICEM GNARUM QUI SCULPSERIT HEC NICO-
LAUM
HUC CONCURRENTES LAUDENT PER SECUIA
GENTES“.
An diese Arbeit wird sich vermutlich der Portalbau
von San Zeno Maggiore unmittelbar anschliessen. Wiederum
wird ihm hier die Ausgestaltung des Portalbaues an der
Westfacade anvertraut, der mit Recht als ein Meisterwerk der
Bildhauerkunst jener Tage weit und breit genannt wird.*)
*) An den seitlich des Portales befindlichen Figurenfeldern, auf
denen Szenen aus dem alten und neuen Testamente, sowie aus der
Tlıeoderich-Sage dargestellt sind, nennt sich ausser Meister Nicolaus noch
der Meister Wiligelmus. Ob dieser, wie von verschiedenen Seiten an-
genommen wird, mit dem am Dome zu Modena durch Inschrift ge-
nannten Meister Wiligelmus identisch ist, erscheint mir zweifelhaft.
6
Die Inschriften des Meisters Nicolaus im Tympanon und an
einer Darstellung des rechten Figurenfeldes lauten:
„ARTIFICEM GNARUM QUI SCULPSERIT HEC NlCO-
LAUM
OMNES LAUDEMUS CHRISTUM DOMINUMQUE RO-
GEMUS
CELORUM REGNUM SIBI DONET UT IPSE SUPERNUM“.
(Den kundigen Künstler Nicolaus, welcher dies aus-
gehauen hat, lasst uns alle loben und Christum den Herrn
bitten, dass er selbst ihm das himmlische Reich schenken
möge.)
„HlC EXEMPLA TRA(H)l POSSUNT LAUD(I)S NlCOLAl“.
(Hier kann man Beispiele für den Ruhm des Nicolaus
gewinnen.)
Ausser diesem glänzend ausgestatteten Portalbau sind
ohne Frage von unserem Meister die bei der Verlängerung
des Langhauses erforderlich gewordenen vier Kapitäle aus-
geführt, die den herrlichsten Skulpturenschmuck im Inneren
der Kirche bilden. Schwerlich wohl vermag Italien diesen
Arbeiten in der Blütezeit der romanischen Kunst etwas
Gleiclıwertiges an die Seite zu stellen. - Im Jahre 1139
scheint der Umbau von San Zeno vollendet gewesen zu sein.
Neben diesen drei grossen Werken des Meisters Nico-
laus, an denen seine Arbeit durch Inschriften gesichert ist,
habe ich noch am Dome zu Modena ornamentale Arbeiten
gefunden, die meines Erachtens seiner Hand zuzuschreiben
sind. Was der Meister hier geschaffeıı, ist ohne weiteres
nicht zu ersehen; wohl aber vermögen wir Rückschlüsse zu
ziehen, indem wir seine späteren Arbeiten, besonders die in
7
Ferrara und Verona, mit den Bildhauerarbeiten des Domes
zu Modena vergleichen. Wenngleich seinen späteren Leist-
ungen gegenüber das, was uns hier als seine Arbeiten an-
spricht, noch unreif und schülerhaft erscheint, so besitzen
diese doch schon vieles von der selbständigen Auffassuııg,
die seinen späteren Schöpfungen eigen ist. Dem damals
jedenfalls noch jungen Bildhauer hat man im wesentlichen
die Ornamentierung der Kapitäle an der äusseren Gallerie
zugewiesen. Ferner dürfte ihm die Ausbildung oder wenig-
stens doch die Ornamentierung des Südportales zuzuschreiben
sein; jedenfalls ist diese Anlage für seine späteren grossen
Portalbauten in Ferrara und Verona vorbildlich gewesen.
Sowohl die genannten Kapitäle, wie die Säulen an den
Laibungen des Südportales zeigen unverkennbare Überein-
stimmungen mit gleichen Teilen der Dome zu Ferrara und
Verona (vergl. Tafel V, Abbildung 4 und 6
und Tafel VI, Abbildung l, 2 und 3;
a, b und c), ferner deuten die Köpfe
Tafel VIII, Abbildung 7 und 8, wie auch 10 und 11 auf die
Hand desselben Meisters hin. (Vergl. auch die Profilbildungen
Abbildung 5 des Textes.)
Die am Dome zu Modena erwähnte Jahreszahl 1099
dürfte den Beginn der Umbauten am Dome bezeichnen,
sodass wir die Erstehung seiner Arbeiten hier in die erste
Zeit des zwölften Jahrhunderts zu setzen haben.*)
*) In Handbüchern werden bei Besprechung des Domes zu Modena
als Meister der dortigen Skulpturen Wiligelmus und Nicolaus genannt,
auch auf Abbíldungen des Domes finden wir beide Namen verzeichnet;
doch habe ich den Namen „Nicolaus“ in einer Inschrift nicht feststellen
können.
8
Gewisse Beziehungen zu den Arbeiten des Meisters
Nicolaus haben ohne Frage auch die beiden Nebenportale
des Domes zu Piacenza, doch stehen diese Arbeiten nicht
auf der künstlerischen Höhe der hier besprochenen Portal-
bauten, sodass wir sie nicht als eigene Sclıöpfungen unseres
Meisters anzusprechen vermögen.
Königslutter.
I. Skulpturelles.
Unser Pfad führt uns nunmehr nach Königslutter.
Bei Anerkennung meiner vorstehenden Darlegungen
werden die über die Entstehungszeit der Stiftskirche und
insbesondere ihrer Ornamentik bisher geltenden Annahmen
eine erhebliche Verschiebung erfahren müssen.
Da die Entstehungsgeschichte der Stiftskirche zu Königs-
lutter in der zweiten Abteilung dieses Abschnittes behandelt
werden soll, sei hier nur darauf hingewiesen, dass die Da-
tierung der Ornamentik gegen das Ende des 12. Jahrhunderts,
wie bisher geschehen, unhaltbar wird, weil wir mit dem
Lebensalter des Meisters Nicolaus zu rechnen haben, und
dieser bereits zu Anfang des 12. Jahrhunderts als Bildhauer
am Dome zu Modena tätig gewesen ist. - Er wird dem-
nach um die Mitte des 12. Jahrhunderts bereits ein Greis
von etwa 70 Jahren gewesen sein müssen.
Gelangen wir aber zu der Überzeugung, dass wir auch
die ornamentale und bildnerische Ausgestaltung der Kirche
zu Königslutter unserm Meister zu danken haben, so müssen
wir annehmen, dass er bald nach Vollendung seiner Ar-
beiten in Verona nach Königslutter übersiedelt ist und dort
während der nächsten Jahre gearbeitet hat. - Die Ent-
10
stehungszeit der Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter
wird danach um etwa 40 Jahre früher als bisher zu da-
tieren sein.
Nun zu seinem Werke selbst.
Es scheint, dass der Meister, während der Bau der
Stiftskirche bereits iın Entstehen war, nach Königslutter be-
rufen worden ist, um diesen bedeutendsten niedersächsischen
Kirchenbau der Zeit, jene Stiftung Kaiser Lothars, mit reichem
bildnerischen Schmuck zu versehen. Freilich, die nüchternen
Bruchsteinwände einer niedersächsischeıı Basilika boten ihm
dazu wenig Gelegenheit. Weit bescheidener als bei den
italienischen Bauten waren hier die Dimensionen, besonders
mangelte es sehr an der Höhenentwickelung. Ihm fehlte
der schöne Veroneser Marmor; statt dessen stand hier allein
ein stark löcheriger grobstruktierter Kalkstein zur Verfügung,
in allem galt es also sich anpassen und einschränken. Der
Wert der Arbeiten musste auf wenige Einzelheiten konzen-
triert werden.
Der Glanzpunkt der Stiftskirche zu Königslutter, ja das
Glanzwerk unseres Meisters überhaupt, ist seine Ausgestaltung
der Apsis, insbesondere der grosse Bogenfries. Vermissen
wir an seinen früheren Werken wohl mehr oder minder
den grossen einheitlichen Zug in der Komposition, und
ınacht sich an Stelle dessen der Hang zu äusserlicher
Dekoration geltend, so erleben wir hier eine künstlerische
Steigerung, die in klarbewusster Durchführung eines sinn-
reichen Grundgedankens, wie in massvoller und harmonischer
Verteilung der Ornamentik zur glatten Fläche, sich als eine
besonders abgeklärte Schöpfung darbietet. Ziehen wir dazu
11
das hohe technische Können, ein für damalige Zeit ausser-
ordentliches Formengefühl und vor allem eine solch glänzende
stilistische Auffassung des Meisters mit in Betracht, so müssen
wir uns hier zu einem Werke bekennen, dass sich zu einer
der vollendetsten Schöpfungen der romanischen Stilepoche
erhebt. ln dem künstlerischen Werdegange des Meisters
bedeutet dieses Werk zweifellos den Höhepunkt. Eine
Steigerung erscheint hier, abgesehen von kleinen, für den
Gesamtwert der Arbeit aber völlig unerheblichen Un-
beholfenheiten, kaum noch möglich.
Es ist begreiflich, dass Kunstforscher, denen ein An-
halt über die Herkunft dieses Werkes fehlte, eine solche
ausgereifte Schöpfung in die späteste Zeit des romanischen
Stiles datierten, und somit deren Entstehungszeit an der
Schwelle des 13. Jahrhunderts allgemein anerkannt worden ist.
Als weitere Arbeiten unseres Meisters an dieser Kirche
koııımen noch in Betracht das Löwenportal, ein Werk von
gleich künstlerischem Werte wie der herrliche Bogenfries,
eine stattliche Reihe reicher antikisierender Kapitäle im
Innern der Kirche, die mit reichen Akanthusblattrosetten
geschmückten Schlusssteine der Gewölbe und ferner der
doppelschiffige Kreuzgang am südlichen Seitensclıiff, der
sich einer hohen Berühmtheit erfreut.
Auf den nachfolgenden Tafeln sind die uns interes-
sierenden Einzelformen der fünf in Frage kommenden Bauten
zusammengestellt, um einen genauen Vergleich zwischen den
italienischen und den Arbeiten zu Königslutter im einzelnen
durchführen zu können, und damit den Beweis für die Richtig-
keit meiner im Vorstehenden dargelegten Auffassung zu
erbringen.
12
Die Tafeln I und II zeigen den grossen Bogenfries an
der Apsis zu Königslutter und einen nämlichen vom Portale
des Domes zu Verona.
Schon die Wiederkehr derselben, am Domportale zu
Verona zum Ausdruck gebrachten Idee, die Darstellung eines
Jagdzuges in den Öffnungen eines Bogenfrieses, ist auffällig
genug, um sofort an Königslutter erinnert zu werden; eine
Betrachtung der Einzelheiten dieses Frieses aber erbringt
bereits den augenfälligsten Beweis, dass zwischen diesen
Werken direkteste Beziehungen bestanden haben müssen.
Wir finden an beiden Friesen den auf dem Horn blasenden
Jäger, den verfolgenden Hund, den gejagten Hirsch und den
vom Hunde gepackten Hasen.
Es sei hier erwähnt, dass unser italienischer Meister
ähnliche Darstellungen einzelner jagender und gejagter Tiere
an seinen beiden Portalbauten in Verona wiederholt ange-
bracht hat; auch diese tragen mehr oder minder denselben
Abb. 1. Domportal zu Verona
Einfügung: Aufnahme durch Otto Kruggel 1982 am Domportal zu Verona
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Jagdfriesmotiv Foto 2012
Abb. 2. Domportal zu Verona
Ausdruck wie die der beiden Friese. - In den Abbildungen
1 und 2 des Textes sind zwei dieser Tiere vom Domportale
zu Verona, ein Hund und ein Schwein, dargestellt, die beide
des Vergleiches mit Königslutter besonders wert sind.
13
Abwechselnd mit den Tierdarstellungen sind die Bogen-
felder der Friese durch reichausgebildete Rosetten geschmückt,
die der Meister schon am Dome zu Ferrara, wie auch an den
beiden Portalen zu Verona, ınit Vorliebe verwendet hat (vergl.
hierzu noch die Abbildung 3 des Textes).
Abb. 3. (Ferrara.) (Verona.) (Königslutter.)
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Jagdfriesmotiv, Foto 2012
Hervorgehoben seien auch die in den Bogenzwickeln
des Veroneser Frieses aus gewundenen Stielen hervorwachsen-
den Blätter und die fast genau gleichen Blattbildungen in den
Pilasterkapitälen zu Königslutter.
Besonders frappierend erscheint ferner die Anbringung
der Inschriften, die in beiden Fällen über den Bögen des
Frieses hinlaufen. Näheres über die Inschrift zu Königslutter
am Sclılusse dieser Betrachtung.
Auf den folgenden Tafeln III, IV und V findet sich
eine Reihe akanthisierender Blattformen. Zunächst sei über
deren charakteristische Eigentümlichkeit einiges vorausge-
schickt. (Vergl. hierzu Abbildınıg 4 des Textes.)
a b c d
Abb. 4.
14
Offenbar zur Erreichung einer kräftigen Wirkung hat
der Meister zunächst ein dickfleischiges, ungegliedertes, in
Abbildung 4a dargestelltes Kernblatt angeordnet an
dessen Unterseite sich das eigentliche Blatt anschmiegt (Ab-
bildung 4b). Häufig ist dann das Kernblatt auf seinem
Überfall mit einer Mittelrippe versehen, wie in Abbildung 4a,
oder es wird auch dieser von einem meist palmenförmig
gestalteten Blatte überdeckt (vergl. Abbildung 4c). In diesem
Falle tritt das Kernblatt dann nur durch seine glatte Kante
in die Erscheinung.
Schliesslich kommen noch Beispiele vor, bei denen
das Kernblatt zwischen den beiden umhüllenden Blättern
weggearbeitet ist, sodass anscheinend ein Hohlraum zwischen
letzteren gebildet wird (vergl. Abbildung 4d).
Wir finden diese Blattbildungen in Ferrara, Verona
und Königslutter, während Modena noch die sonst allgemein
üblichen Formen aufweist. - Die in Abbildung 4d dar-
gestellte Blattform findet sich nur in San Zeno zu Verona
und in Königslutter.
Beim Vergleich der zusammengestellten Blattformen
sei noch auf die in Tafel III Abbildung 1 und 3 (Königs-
lutter) wiederkehrenden Halbblätter hingewiesen, ferner
auf ein die Mittelrippe des Akanthusblattes überdeckendes
schmales Blatt in den Abbildungen 5, 7 (Verona) und 8
und 9 (Königslutter) der Tafel III.
Auf Tafel IV ist neben den Blattforınen in erster Linie
die Komposition der Kapitäle der Betrachtung wert, auch
auf den durch einen Blattkranz verzierten Wulst in Abbildung 3
(Ferrara) und in Abbildung 2 (Königslutter) sei besonders
15
aufmerksam gemacht. Das fähnchenartige Blatt (a) in Ab-
bildung 8 (Königslutter) kehrt auf Tafel V in Abbildung 1
(San Zeno, Verona)
und Abbildung 3 (Königslutter) wieder.
Tafel V zeigt uns zunächst in den Abbildungen 1, 2
und 3 eine Gruppe akanthisierender Blattkapitäle, bei denen
über die Eckblätter stilisierte Tierköpfe hervorluken.
Bei der in den Abbildungen 4, 5, 6,
7 derselben Tafel
zur Darstellung gebrachten Gruppe von Kapitälen scheint
der Meister, von ähnlicher ldee ausgehend wie bei der
Bildung des besprochenen Akanthusblattes mittels eines
Kernblattes, durch Zusammensetzung vier solcher Kernformen
zur Entwickelung eines neuen interessanten Kapitäles ge-
langt zu sein. Die den Domen zu Modena, Ferrara und
Verona und der Stiftskirche zu Königslutter entnommenen
Kapitäle lassen in dieser Reihenfolge die Ausreifung dieser
ldee gut erkennen. Der ursprüngliche Gedanke der vier
dickfleischigen Kernblattformen, der diesen Kapitälen die
charakteristische Gestalt gibt, tritt an dem kleinen Kapitäl
vom Dom zu Modena. Abbildung 4 Tafel V,
noch unverhüllt in die Erscheinung. In Ferrara, Abbildung 6 Tafel V,
dagegen erkennen wir an Stelle des Kernblattes nur noch
dessen Form, die unter den vier Seiten der Kapitäl-Deck-
platte weit herausquillt, in den Diagonalansichten tiefe Kerben
bildet und durch dreimal vier Blätter gänzlich umhüllt ist.
Klarer noch tritt uns des Meisters ldee in den fast ganz
übereinstimmend gestalteten Kapitälen am Dom zu Verona
und an der Stiftskirche zu Königslutter entgegen (Abbildungen 5
und 7 Tafel V). Der Hauptunterschied zwischen diesen
und dem Kapitäle zu Ferrara besteht in der reicheren Aus-
16
bildung der grossen, die vier Kerben ausfüllenden Palmen-
blätter. In Ferrara finden wir unter diesen noch selbst-
ständige Kernblätter vor, deren Ueberschläge in die Er-
scheinung treten, während bei den beiden späteren Bei-
spielen in Verona und Königslutter die Spitzen der Palm-
blätter selbst nach aussen umgeschlagen sind und zur Aus-
füllung der hartwirkenden Kerben eine besonders kräftige
Ausgestaltung erfahren haben.
Neben reicher Erfindungsgabe verrät der Meister ein
fein künstlerisches Gefühl in der Gestaltung dieser Kapitäle
als tragendes Element. Einen ganz besonderen Ausdruck
findet dieses noch dadurch, dass er den italienischen Kapitälen
in Rücksicht auf die dort vorwaltenden schlankeren Ver-
hältnisse flüssigere und leichtere Formen gibt, während er den
gedrungeneren Verhältnissen und den anscheinend grösseren
Belastungen in Könígslutter durch gedrungenere Gestaltung
der Kapitäle Rechnung trägt. Dass der Meister an diesen
Kapitälbildungen einen besonderen Gefallen gefunden hat,
und sich des Wertes seiner Leistungen voll bewusst ge-
wesen ist, bezeugt er dadurch, dass er allein in Königslutter
viermal dasselbe Kapital wiederholt hat. Ohne Zweifel ge-
hört diese Gruppe der Kapitälbildungen zu dem Reizvollsten
was die romanische Kunst je geschaffen hat, vor allem aber
liefert sie uns den untrüglichsten Beweis für die Identität
ilırer Urheber.
Wir betrachten nun die Säulenschäfte.
Eine ganz besondere Gelegenheit zur Ausbildung und
Schmückııng dieser Bauglieder hat sich unserm Meister bei
der Ausgestaltuııg der grossen italienischen Portalbauten der
Dome in Modena, Ferrara und Verona geboten.
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ln den Abbildungen 1, 2 und 3 der Tafel VI sind
Teile der Portallaibungen der drei genannten Dome wieder-
gegeben, deren Säulenschmuck wir in ganz gleicher Weise
an den vier Säulenschäften, Abbildungen 4, 5, 6 und 7
Tafel VI, des Kreuzganges zu Königslutter wieder begegnen.
Die über den Abbildungen 4, 5, 6 und 7 angebrachten
Buchstaben a. b. c. d. entsprechen den mit den gleichen
Buchstaben bezeichneten vier, in den Abbildungen 1, 2 und 3
Tafel VI vorkommenden Typen.
- Die Typen a und b
finden wir auch an dem Löwenportale zu Königslutter.
Besonders bemerkenswert ist auch hier die Wiederkehr
charakteristíscher Einzelheiten. So sei auf den am Fussende
der Säule, sowohl in Verona wie in Königslutter vor-
kommenden Blattkranz der Abbildungen 8 und 9 Tafel VI
hingewiesen, weiter auf das im Typus b an den italienischen
Bauten wie auch in Königslutter auftretende, in die Kehle
gelegte Blatt und das am Fusse der Säule befindliche kleine
halbellipsenförmige Plättchen im Typus a.
Anmerkung: Der Säulenschaft, Abbildung 7 Tafel VI,
ist heute nicht mehr in Königslutter vorhanden. Die Zeichnung
ist einem alten, jedenfalls vor Restaurierııng der Kirche an-
gefertigten, im Besitze des Herrn Th. Massler zu Hannover
befindlichen Relief entnommen.
Es sei hier noch einiger bemerkenswerter Details ge-
dacht, die in Abbildung 5, Seite 18 des Textes wieder-
gegeben sind.
In besonders charakteristischer Weise behandelt unser
Meister die figürlichen Schmuckformen.
Sowohl sein Tierornament wie die Darstellung mensch-
licher Köpfe und Figuren sind Schöpfungen von hoher
18
stilistischer Reife. Die individuelle Schaffenskraft tritt uns in
ihnen in hervorragendem Masse entgegen und verleiht diesen
Abb. 5.
Arbeiten einen hohen Reiz. ln der Komposition höchst
originelle und phantastische Tierbilder, die sich in reiz-
vollster Linienführung miteinander verschlingen, zeigt uns
Tafel VII.
19
Auch hier begegnen wir der gleichen typischen Aus-
bildung sowohl an den in Frage stehenden italienischen
Bauten wie an der Stiftskirche zu Königslutter: ein schlangen-
artiger Rumpf, geflügelt und mit zwei Beinen behaftet, ein
Hundekopf, etwa dem eines Terriers gleichend, sind die
charakteristischen Bestandteile dieser seltsamen Tiergebilde.
In wenigen Fällen nur finden wir an Stelle des Hunde-
kopfes den eines Löwen in stark stilisierter Form. Hals und
Schwanz sind meist durch Schuppen oder Rippen mit Perl-
schnüren verziert; einen ähnlichen stilistischen Schmuck
weisen die Flügel dieser Tiere auf.
Charakteristisch ist auch die Verschlingung der Tiere
untereinander. Besonders gern umschlingen sie sich mit
ihren Hälsen, so in den Abbildungen 3, 7 und 8 am Dom
zu Ferrara,
in Abbildung 1 in San Zeno zu Verona
und in gleicher Weise in Königslutter in den Abbildungen 4 und 6.
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang entspr.Tafel VII Abb. 4 Foto 2012
Auf Tafel VIII ist eine Anzahl menschlicher Köpfe dar-
gestellt; auch in ihnen zeigt sich bei den italienischen
Arbeiten wie in Königslutter ein gleicher phantastischer
Zug. So finden wir in den Abbildungen 3 und 4 dieser
Tafel zwei höchst eigentümliche Köpfe in Ferrara und Königs-
lutter, widderartige Hörner tragend; ein Motiv, dem wir in
dieser Zeit schwerlich anderen Orts noch begegnen möchten.
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Jagdfriesmotiv entspr. Tafel VIII Abb. 4 Foto 2012
Die fast völlige Übereinstimmung der in den Ab-
bildungen 1 und 2 dargestellten Köpfe ist so augenfällig,
dass es kaum erforderlich erscheint darauf hinzuweisen.
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Jagdfriesmotiv entspr. Tafel VIII Abb. 2 Foto 2012
Ebenso dürfte die Ähnlichkeit des Gesichtsausdruckes
und der Schmuckteile der in den Abbildungen 5 und 6
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Jagdfriesmotiv entspr. Tafel VIII Abb. 6 Foto 2012
zur Anschauung gebrachten Köpfe ein und desselben Meisters
Hand verraten.
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Auch die in den Abbildungen 7 - 11 wiedergegebenen
Köpfe, die sich als Konsolen am Dom zu Modena, Ferrara
und zu Königslutter finden, sind Arbeiten, die in der Zeit
ihrer Entstehung sicherlich zu den allerbesten und weitent-
wickelsten gehört haben. Mit besonderem Interesse vermögen
wir bei der letztgenannten Gruppe die fortschreitende künst-
lerische Entwicklung unseres Meisters zu verfolgen.
Was ihm in Modena noch ein unbedeutendes Motiv
war, und was er in Ferrara angestrebt, das hat er in Königs-
lutter in fast künstlerischer Vollendung erreicht.
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Jagdfriesmotiv, Aufnahme 2012 entspr. Tafel VIII Abb. 9
In der Stilisierung des menschlichen Kopfes hat das gesamte Mittel-
alter diesen Schöpfungen nur wenig Gleichwertiges an die
Seite zu stellen.
Ein beliebtes Motiv des Meisters ist ferner, die mensch-
liche Figur als tragendes Bauglied künstlerisch auszuwerten
(vergl. die Abbildungen 12, 13 und 14 Tafel VIII).
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang entspr. Tafel VIII Abb. 14 Foto 2012
Am Portale des Domes zu Ferrara hat er die Last des
Bogens mittels der Säulen durch zwei hockende Männer-
gestalten aufnehmen lassen, die ihrerseits auf dem Rücken
je eines Löwen ihren Platz finden (Abbildung 12).
In ähnlicher Weise, jedoch direkt unter dem Bogen,
also oberhalb der Säulen, finden wir gleiche Männergestalten
am Dom und an San Zeno zu Verona (Abbildung 13).
Auch an den beiden Nebenportalen des Domes zu
Piacenza sind die tragenden Männergestalten in ähnlicher
Weise wie am Domportale zu Ferrara angewendet.
Die Wiederverwendung dieses Motives hat sich der
Meister auch in Königslutter nicht versagt (Abbildung 14).
Dort finden wir es im Kreuzgange an den Stirnwänden als
21
Stützen der Gewölbe wieder. Die Haltung des Körpers,
besonders aber die Behandlung des Gewandes, müssen auch
hier wieder überzeugend wirken. Besonders die Behandlung
der Ärmelfalten weicht in den drei wiedergegebenen Bei-
spielen um nichts von einander ab.
Dass der Meister in diesen Figuren sein und seines
Gehülfen Bildnis hat darstellen wollen, scheint nicht ausge-
schlossen. Unter den drei oberitalienischen Arbeiten wenig-
stens lässt sich ein gewisser charakteristischer Gesiclıtstypus
wohl feststellen. Leider hat der Zahn der Zeit uııd brutale
Menschenhand den beiden Königslutterer Figuren derartig
mitgespielt, dass eine derselben bei der Restaurierung völlig
hat erneuert werden müssen, die andere aber genauere
Gesichtszüge nicht mehr erkennen lässt.
Schliesslich haben wir uns noch mit den Portal-Löwen
zu beschäftigen.
Wer die beiden wundervoll stilisierten Tiere des Nord-
portales der Stiftskirche zu Königslutter einer näheren Be-
trachtung unterzieht, der ınuss alsbald inne werden, dass
eine solch abgeklärte Schöpfung nicht das Werk einer freien
Erfindung sein kann, und es muss sich beim Anblick dieser
Tiere einem jeden unwillkürlich die Frage aufdrängen: nach
welchen Vorbildern hat der Schöpfer dieser Arbeit ge-
schaffen? - Deutschland vermag nichts aufzuweisen, was
sich diesen Leistungen auch nur entfemt an die Seite stellen
könnte. Hier also ist es zu natürlich, dass wir unsere
Blicke nach Oberitalien wenden, wo doch dieses Motiv an
fast jedem grösseren Kirchenbau vorzufinden ist. Es muss
dabei verwunderlich erscheinen, dass in den vielen, zum Teil
22
sehr engehenden Arbeiten über die Stiftskirche und ihre
Ornamentik nirgend der Beziehung zwischen den oberitalie-
nischen Arbeiten und denen von Königslutter gedacht
worden ist. - Nur C. W. Hase sagt in seinen Baudenk-
mälern Niedersachsens, gelegentlich der Bespreclıung dieser
Löwen, dass dem Meister die oberitalienischen Kirchen
bekannt gewesen sein müssten.*)
Abb. 6. (Königslutter.) Bild ersetzt durch Aufnahme von 2012
In Abbildung 6 des Textes habe ich einen der beiden
alten Original-Löwen von Königslutter, die jetzt im Innern
der Kirche Aufstellung gefunden haben, wiedergegeben; hier-
mit vergleiche man den in Abbildung 7, Seite 23 des Textes
dargestellten Portal-Löwen von San Zeno und ferner den
Greifen am Dom zu Verona (Abbildung 8, S. 24, des Textes).
* Vergl. Anmerkung Seite 38
23
Die Tiere von Königslutter sind wegen der nur ge-
ringen verfügbaren Höhe gelagerter gestaltet als ihre ita-
lienischen Vettern; im übrigen ist auch hier wieder überall
denkbar grösste Ähnlichkeit zu verzeichnen. - Bei den ge-
legentlich der Restaurierung der Kirche nach den stark be-
schädigten Originalen ausgeführten Nachbildungen mussten,
besonders an den Köpfen, beträchtliche Ergänzungen vorge-
nommen werden, für die positive Belege nicht mehr vor-
Abb. 7. (San Zeno, Verona.) Anmerkung: Zeichnung ersetzt durch Foto 2013
handen waren. Wenn die Veroneser und die Ferrareser
Arbeiten damals schon mit berücksichtigt worden wären,
würde sicherlich manches, besonders im Gesichtsausdruck
der Tiere, anders durchgebildet sein.
Es sei jetzt noch der Inschrift an der Stiftskirche zu
Königslutter mit einigen Worten gedacht.
Wie schon früher erwähnt, findet sich diese Inschrift
24
Abb. 8. (Dom zu Verona.) Anmerkung: Zeichnung ersetzt durch Foto 2013
25
Abb. 9. (Königslutter, der Löwe ist erneuert. Ersatz mit Foto 2012)
26
an der Apsis zwischen dem Bogenfriese und der Akanthus-
welle, und zwar in Spiegelschrift.
Von rechts nach links gelesen lautet diese Inschrift:
+HOC OPUS EXIMIUM VARIO CELAMINE MIRUM+SC(ulpsit...)
(Dieses prächtige durch mannigfaches Relief aus-
gezeichnete Werk hat gemeisselt...)
Auch hier unverkennbare Ähnlichkeit mit den er-
wähnten oberitalienischen Inschriften. - Die gleiche Art
der Anordnung, die gleiche Buchstabenbildung, auclı die
Anwendung der Kreuze wie bei den oberitalienischen -
kurz, alles lässt darauf schliessen, dass die in dieser Arbeit
angezogenen Inschriften von einer Hand stammen. Die
Eigentümlichkeit der Anwendung der Spiegelschrift wie der
Umstand, dass der Meister hier auf die offenbar beabsichtigte
Weiterführung der Inschrift verzichtet hat, legt uns die
Vermutung nahe, dass er durch die Bauleitung oder den
Klosterherrn daran gehindert worden ist, in nämlicher Weise
wie in Verona und Ferrara sich und sein Werk zu ver-
herrlichen; was übrigens nicht sehr verwunderlich erscheinen
mag, da in Deutschland etwas derartiges durchaus un-
gebräuchlich war.
Damit beschliesse ich meine Vergleichsstudien über
den bildnerischeıı Schmuck der Stiftskirche zu Königslutter
und den oberitalienischen Bauten. lch will ohne weiteres
zugeben, dass das Studium der hier gebotenen Zeich-
nungen allein nicht genügen kann, um zu der von mir
gewonnenen Überzeugung zu gelangen, doch das sorgfältige
Studium der bildnerischen Werke selber, die genaue Be-
27
obachtung der Linienführung dieser Ornamentik und der
Art der Behandlung des Materials muss sie uns aufdrängen.
Ich habe im Vorstehenden stets Wert darauf gelegt
nachzuweisen, dass der ornamentale Schmuck der Stifts-
kirche zu Königslutter von Meister Nicolaus' eigener Hand
geschaffen sei, und ich habe die feste Überzeugung, dass
dieses tatsächlich der Fall ist; reihen sich doch die Königs-
lutterer Arbeiten an die von diesem Meister in Oberitalien
geschaffenen so folgerichtig an, dass sie in dem Werdegang
dieses Künstlers gewissermassen die ausgereifte Frucht seines
Schaffens bilden.
Aber, wenn auch diese meine gewiss wohl begründete
Annahme nicht zutreffend sein sollte, wenn also ein Schüler
und Mitarbeiter des Meisters Nicolaus, der dann jedenfalls
seines grossen Meisters in hohem Masse würdig gewesen sein
müsste, alles das, was wir am Schmuck der Stiftskirche zu
Königslutter bewundern, geschaffen haben sollte, so habe ich
doclı in dieser Arbeit nachgewiesen, dass die Ornamentik
dieser Kirche entlehnt ist aus Norditalien, dass wenigstens
ihr geistiger Urheber der Meister Nicolaus ist, dessen
herrliche Werke die Glanzzeit der romanischen Stilepoche
in Oberitalien bedeuten.
II. Architektonisches.
Die Entstehungsgeschichte der Stiftskirche zu Königs-
lutter ist bereits zu Anfang dieser Arbeit flüchtig gestreift;
sie musste naturgemäss für mich ein ausserordentliches
Interesse gewinnen, weil meine Folgerungen nicht in Ein-
klang zu bringen waren mit der heute geltenden An-
schauung (vergl. Meyer, Die Bau- und Kunstdenkmäler des
Herzogtums Braunschweig), nach welcher zwar mit dem
Bau des flachgedeckten nüchtern ausgestatteten Langhauses
im Jahre 1135 begonnen sein soll, dagegen der mit dem
reichen hochentwickelten Ornament ausgestattete, in allen
Teilen gewölbte Ostbau einer Bauperiode des letzten Drittels
oder Viertels des 12. Jahrhunderts zugeschrieben wird. Es
soll also, und das sei hier besonders hervorgehoben, das
Langhaus zunächst und erst später der Ostbau aus-
geführt sein.
Grund zu dieser Annahme ist einmal der Umstand
gewesen, dass Kaiser Lothar, der im Jahre 1135 selbst die
Veranlassung zur Erbauung der Kirche gab, mit der Be-
stimmung, dass sie dereinst als Grabeskirche für ihn dienen
sollte, schon, nachdem er am 5. Dezember 1137 auf seiner
29
Rückkehr von Italien in Breitenwang in Tyrol verstorben,
am letzten Tage desselben Jahres im Langhause der Kirche
beigesetzt worden ist; - man nahm also an, dass dieser
Bau bis dahin annähernd fertiggestellt war. - Zum andern
sah man sich veranlasst, worauf ich schon früher hingewiesen
habe, in Rücksicht auf die hohe Entwickelung der Orna-
mentik des Ostbaues und deren Ähnlichkeit mit Schmuck-
formen anderer zu Ende des 12. Jahrhunderts entstandener
Kirchenbauten Niedersachsens, den Ostbau der Stiftskirche
ebenfalls in die Entstehungszeit dieser Bauten zu datieren.
Vergl. Taf. IX. Man hatte sich hierbei noch mit dem Löwen-
portale abzufinden, das offenbar der Zeit des Ostbaues an-
gehörte, und hat die Ansicht vertreten, dass dieses später in
die bereits vorhandene Wand des Langhauses eingebaut sei.
Dieser an sich ganz plausibel erscheinenden Begründung
der Annahme, dass der Ostbau der Kirche in das letzte
Drittel oder Viertel des 12. Jahrhunderts gehöre, konnte ich
aber meine auf eingehende Studien begründete Überzeugung,
dass auch der Ostbau in der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts entstanden sei, nicht opfern, und so entschloss
ich mich, das gesamte Mauerwerk der alten Stiftskirche, so-
weit es ohne Gerüst und Naclıgrabung möglich war, einer
genauen Untersuchung zu unterziehen.
Ich bin dabei zu folgenden Resultaten gelangt:
Zur Orientierung über die nachfolgenden Dar-
legungen diene der in Abbildung 10, Seite 30 des
Textes angeführte Grundriss der Stiftskirche, dessen
Mauern zum Teil schwarz angelegt, zum Teil schraf-
tiert sind.
31
1. Die Bauzeit der Kirche zerfällt in zwei Perioden,
die durch die verschiedene Anlegung der Grundrisszeichnung
gekennzeichnet werden.
2. Abbildung 11 des Textes zeigt den Teil der nörd-
lichen Aussenwand des Seitenschiffes, an dem das Mauer-
werk der beiden Bauperioden aneinander schliesst. Die hier
ohne weiteres ins Auge fallende Abtreppungslinie der Quader
beweist deutliclı, dass der Ostbau der ältere ist.
3. An den dem Langhause zugekehrten Seiten der
beiden westlichen Vierungspfeiler, und ebenfalls an den der
Bauperiode des Ostbaues angehörenden Teilen der Aussen-
mauern, befinden sich Dienste (vergl. den Grundriss), die
keinen anderen Zweck haben konnten als den, Schild- und
Gurtbögen der Gewölbe, die man hier wie im Querschiff
auszuführen beabsichtigte, aufzunehmen. - Ich schliesse auch
hieraus, dass man zunächst den Ostbau bis zu den ersten
Arkadenpfeilern, und zwar einschliesslich dieser Pfeiler, aus-
geführt und die Absicht gehabt hat, das später zu erbauende
Langhaus einzuwölben. Dass die ersten Arkadenpfeiler mit
dem Ostbau entstanden sind, nehme ich aus konstruktiven
Gründen an, da diese mittels der von ihnen nach den
Vierungspfeilern zu geschlagenen Gurtbögen den Schuh der
in ihrer Längsaxe liegenden Hauptgurten der Vierung auf-
nehmen mussten. Diese Arkadenpfeiler wurden dann bei
späterer Erbauung des Langhauses mit den Anschlussbögen
wohl entfernt, um sie den geringeren Abmessungen der
Langhaus-Arkaden anzupassen. Bei dieser Gelegenheit hat
man aber aus irgend welchem Grunde die von den
Vierungspfeilern ausgehenden Gurtbogen-Anfänger in
Einfügung: Pfeilervorlage an der nördlichen Außenwand entspr. Abb. 11 Foto 2012
33
der alten Breite bestehen lassen und die neuen schmaleren
Gurtbögen dagegen gewölbt (vergl. Abbildung 12, S. 34 des
Textes). -- Nichts spricht so deutlich dafür, dass erst der
Ostbau und später das Langhaus entstanden ist, als
diese Bogenanfänger, denn, was hätte dazu veranlassen sollen,
diese Bogenanfänger breiter zu gestalten als die bereits
fertigen Gurtbögen der Langhaus-Arkaden, wenn das Lang-
haus früher als der Ostbau erbaut worden wäre?
Anmerkung: Einen ganz ähnlichen Fall finden wir
bei der zwei Jahre vor der Stiftskirche zu Königslutter ge-
gründeten St. Godehardikirche zu Hildesheim, deren Grundriss
des Ostbaues, wie C. W. Hase hervorhebt, mit dem von
Königslutter eine auffallende Aehnlichkeít zeigt. Auch hier
sind aus dem von mir für Königslutter angeführten Grunde
die ersten Langhaus-Arkaden mit dem zuerst erbauten Ostbau
errichtet, jedoch bei späterer Erbauung des Langhauses nicht
beseitigt.
Es sei hier noch der kleinen Pfeilervorlage an der
nördlichen Aussenwand gedacht (vergl. Abbildung 11 des
Textes und den Grundriss). Es ist wohl nicht anzunehmen,
dass man bei späterer Erbauung des Ostbaues die Absicht
gehabt haben sollte, sich der mühevollen Arbeit zu unter-
ziehen, diese Pfeilerchen. die doch lediglich als dekoratives
Motiv anzusehen sind, an die Mauerflächen des fertigen
Langhauses anzublenden, vielmehr ist anzunehmen, dass
man bei späterer Erbauung des im Gegensatz zum Ostbau
sehr einfach gehaltenen Langhauses, sei es aus Sparsamkeits-
rücksichten oder um den Bau rascher vollenden zu können,
auf diesen Zierrat verzichtete.
4. Das Löwenportal ist nicht, wie angenommen, später
eingebaut, sondern gleich beim Hochbau der Umfassungs-
34
mauern mit angelegt. Als Beweis hierfür dienen in erster
Linie die langen Werkstücke A und B (Abbildung 13 des
Textes) des Sockelgesimses zu beiden Seiten des Portales,
welche die Gehrungen des um das Portal gekröpften
Gesimses enthalten, und ferner der Umstand, dass die Fugen
des Portalgewändes sich korrekt denen des übrigen Mauer-
Ersatz Abb. 12 durch Foto 2012
Werks anpassen. - Die spätere Einfügung der zu diesem
Portalbau gehörenden Werkstücke müsste im Äussern zu
erkennen sein. Keinenfalls würde man sich der Mühe
unterzogen haben, die erwähnten langen Werkstücke A und B
in das vorhandene Maueıwerk einzuschieben, sondern man
35
würde diese Steine vor den Gehrungen abgesetzt und die
Gehrungen des Gesimses an hochstehenden Gewändestücken
angehauen haben. Das über dem Portale befindliche, in
Abbildung 13 des Textes schraffierte Mauerwerk. welches
offenbar einer späteren Bauzeit als das Löwenportal an-
gehört, ist vermutlich in Zusammenhang zu bringen mit
einem späteren Aufbau der Türme; keinenfalls kann aus
Abb. 13.
Einfügung: Abb. 13 entsprechendes Foto 2012
diesem auf die spätere Einfügung des Löwenportales ge-
schlossen werden.
5. Sämtliche fünf Apsiden haben eine nachträgliche
Verblendung der Aussenwände erhalten. Augenscheinlich
hat dem Meister, der während des Aufbaues der Chorpartie
berufen wurde, um diese mit ornamentalen Schmuck zu
versehen, das vorhandene schlichte Mauerwerk für seine
Zwecke nicht genügt.
36
Aus den unter 2, 3 und 4 niedergelegten Resultaten
meiner Forschungen geht für mich die unumstössliche Tat-
sache hervor, dass zunächst der Ostbau und erst
später das Langhaus der Kirche erbaut ist.
Bezüglich der Beisetzung des Kaisers Lothar wird man
sich mit der Tatsache, dass im Jahre 1135, wie jenerzeit all-
gemein üblich, zunächst mit dem Ostbau begonnen ist,
ebenso leicht abfinden als mit der bisherigen Annahme.
So ist es denkbar, dass, als die Leiche des Kaisers nach
Königslutter gebracht wurde, deren Beisetzung wegen der
in dem Ostbau vielleicht zur Zeit aufgestellten Rüstungen
auf dem Chor, wo eigentlich wohl der Begräbnisplatz hätte
sein sollen, nicht möglich gewesen ist, und man deshalb
dazu das damals noch nicht begonnene Langhaus gewählt
hat, das nun in grösster Eile fertiggestellt werden musste,
um für den kaiserlichen Herrn ein schützendes Dach zu
schaffen. Hieraus, und vielleicht auch aus dem weiteren
Umstande, dass nach dem Tode des hohen Gönners die
Mittel zur Fertigstellung des Langhauses knapper, als früher
angenommen, bemessen waren, liesse sich auch eine Er-
klärung dafür finden, dass man auf die Einwölbung des
Langhauses verzichtete und dieses im Gegensatz zu dem mit
weit reicheren Mitteln ausgestatteten Ostbau einfacher ge-
staltete.
Schluss.
Habe ich nun in der letzten Abteilung „Architek-
tonisches" nachgewiesen, dass der Bau der Stiftskirche zu
Königslutter mit dem Ostbau begonnen ist, so knüpft sich
an diesen die Jahreszahl 1135 als diejenige der Begründung
der Kirche, und es wird damit meine Annahme, dass Meister
Nicolaus bald nach Vollendung seiner Arbeiten in Verona
mit den Arbeiten in Königslutter begonnen hat, in das
Bereich der Möglichkeit gerückt.
Wer aber die in Frage stehenden Werke aufmerksamer
Betrachtung unterzieht und sich davon überzeugt, wie diese
eigenartige Kunstrichtung von Modena bis Könígslutter sich
ganz folgerichtig entwickelt hat, der muss mit mir zu der
Überzeugung gelangen, dass diese Epoche den Werdegang
eines Meisters bedeutet, und dieser Meister kann nur Nico-
laus gewesen sein.
Wie weit seine Persönlichkeit dabei in Betracht kommt
und welcher Anteil an diesen Arbeiten seinen Gehülfen oder
seinen Schülern zufällt, lässt siclı nicht unbedingt feststellen,
und doch meine ich, dass sich durch alle diese Arbeiten die
eigene Hand unseres Meisters wie ein roter Faden un-
38
verkennbar hindurchzieht, und es gibt gewisse Dinge, wie
die beiden Bogenfriese zu Verona und in Königslutter. die
ich seiner Hand allein zusprechen möchte.
Nun tritt aber die Stiftskirche zu Königslutter nicht nur
künstlerisch, sondern auch zeitlich in den Vordergrund der
niedersächsischen Kunstepoche jener Zeit. Es hat sich ohne
Frage hier eine Schule gebildet, deren Einfluss wir bald in
weitem Umkreise erkennen.
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Chor, Foto 2012, entspr. Abb. 1 auf Tafel IX
Einfügung: Hildesheim, St. Michael, Langhaus, Foto 2012, entspr. Abb. 2 auf Tafel IX
Einfügung. Braunschweig, Dankwarderode, Rittersaal, Foto 2012, entspr. Abb. 3 auf Tafel IX
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Foto 2012, entspr. Abb. 4 auf Tafel IX
Einfügung: Braunschweig, Dankwarderode, Foto 2012, entspr. Abb. 5 auf Tafel IX
Einfügung: Braunschweig, Dankwarderode, Foto 2012, entspr. Abb. 7 auf Tafel IX
Einfügung: Hecklingen, Kl.-Kirche, Foto 2013 entspr. Abb. 8 auf Tafel IX
Einfügung: Goslar, Neuwerkkirche, Foto 2012, entspr. Abb. 6 auf Tafel IX
Einfügung: Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang, Foto 2012, entspr. Abb. 9 auf Tafel IX
Einfügung: Braunschweig, Dom, Chorbrüstungsschranken, derzeit im BLM, Foto 2012 entspr. Abb. 17 auf Tafel IX
ln Hildesheim (St. Michael),
Braunschweig, Goslar, Hecklingen und Wunstorf (vergl.
Tafel IX) treten die Erfolge dieser Schule zutage, aber
man wird in den Arbeiten von Königslutter immer den
Meister erkennen - das schöne Ebenmass und die voll-
endete Durchbildung der Einzelformen, wie sie Königslutter
bietet, sind in den späteren Arbeiten nirgend zu finden.
Anmerkung. Nach Abschluss dieser Arbeit ersehe ich,
dass Herr Professor P. J. Meyer in einer Betrachtung „Der
Meister von Königslutter in Italien" (Kunstchronik Jahrgang XII
No. 7) sich ebenfalls mit der Frage des Zusammenhanges
zwischen Kônigslutter und Verona beschäftigt hat, dabei jedoch
zu wesentlich anderen Schlüssen als ich gelangt.
Auf die Einzelheiten dieser Arbeit glaube ich nicht ein-
gehen zu sollen, weil es sich, wie Herr Professor Meyer selber
bemerkt, dabei nur erst um einige „vorläufige Beobachtungen“
handelt und eine eingehende Untersuchung demnächst folgen soll."
Quelle:
Ferdinand Eichwede: "Beiträge zur Baugeschichte der Kirche des kaiserlichen Stiftes zu Königslutter"
Dissertation an der königl. techn. Hochschule zu Hannover 1904
Abbildungen auf der Homepage wurden soweit verfügbar zur Verbesserung der Verständlichkeit des Textes teilweise durch neuzeitliche Fotos verbesserter Auflösung ersetzt und direkt in den Text eingefügt.
Für Interessierte zum Thema sei auf einen im Programmheft Frühling Sommer 2012 im Kaiserdom Königslutter angekündigten Vortrag von Dr. Norbert Funke "Nicolaus von Ferrara im Kaiserdom zu Königslutter" verwiesen.
Termin war der 09.05.2012 19:00 Uhr
Veranstalter: Italienisches Kulturinstitut Wolfsburg
LINK: http://www.iicwolfsburg.esteri.it/IIC_Wolfsburg/webform/SchedaEvento.aspx?id=335
Der Vortrag und die integrierte Führung waren außerordentlich informativ. Hr. Dr. Funke konnte die architektonischen und bildhauerischen Besonderheiten des elften und zwölften Jahrhunderts in Italien den Zuhörern sehr detailliert vermitteln. Die Bezüge zu Deutschland belegte er vor allem anhand von Bildmaterial. Seit seiner Dissertation ist Hr. Dr. Funke fachlich mit dieser Materie vertraut. Königslutter kann sich glücklich schätzen, im Hinblick auf den Kaiserdom von diesem bauhistorischen Erfahrungsschatz zu profitieren.
Weitere ausführliche Informationen zu den Veranstaltungen sind auch auf der Website des Kaiserdoms zu finden:
LINK: http://www.kaiserdom-koenigslutter.de
[nbsp
P.J. Meiers Rezension zur Dissertation Eichwede 1904
Beiträge zur Baugeschichte der Kirche des kaiserlichen Stiftes zu Könıgslutter von Dipl.-Ing Ferdinand Eichwede; Doktordissertation der Königl. Technischen Hochschule in Hannover. 38 Seiten und 9 Doppeltafeln Hannover 1904
Es ist mit Freuden begrüßt worden, daß seit Einführung des Doktoringenieurs auf den deutschen Hochschulen diejungen Architekten beginnen, Arbeiten baugeschichtlicher Art für ihre Dissertationen zu verwerten. Eichwede hat dazu eigene Beobachtungen benutzt, die ihm den engsten Zusammenhang zwischen den dekorativ-plastischen Arbeiten an der Stiftskirche zu Königslutter und denen am Dom zu Ferrara und am Dom sowie S. Zeno in Verona bewiesen und hat in vortrefflíchen, durch Lichtdruck wiedergegebenen Tuschzeichnungen alle die Säulenkapitäle, Schäfte, Akanthusblattwellen und figürlichen Darstellungen aufgenommen, aus denen sich jener Zusammenhang auf das Überzeugendste ergibt, er hat aber seine vergleichenden Beobachtungen auf die Dome in Modena und Braunschweig, auf die Kirchen St. Michael in Hildesheim, Neumark und Frankenberg in Goslar, die in Wunsdorf und Hecklingen sowie schließlich auf die Burg Dankwarderode in Braunschweig - leider ohne die genaue Angabe, an welchen Teilen der Gebäude sich die betreffenden Zierstücke befinden - ausgedehnt und damit das Vorhandensein einer weit verzweigten Schule nachgewiesen. Erst nach Vollendung der Arbeit und gegen Ende ihrer Drucklegung hat der Verfasser dann erfahren, daß derselbe Beweis – bereits vom Referenten in der »Kunstchronik« N. F. XII, Nr. 7 erbracht war, freilich ohne das bildliche Material, das erst jetzt auch den Ungläubigsten überzeugen muß, und dessen Fehlen dem kleinen Aufsatze das Gepräge »vorläufiger Beobachtungen« aufdrücken mußte. Konnte ich somit die Veröffentlichung der Aufnahmen Eiclıwedes als eine erfreuliche und notwendige Ergänzung der eigenen Arbeit begrüßen, so muß ich doch bekennen, daß die Dissertation den schlagendsten Beweis für die Aufstellung Dehios in seinem viel angefochtenen Vortrage auf dem Erfurter Denkmalpflegetage liefert, daß die Technische Hochschule - von vereinzelten Ausnahmen abgesehen - nicht der Ort ist, wo die wissenschaftlich-methodische Forschung kunst- oder baugeschichtlicher Art gelehrt wird. Was der junge Architekt in der Regel dort nicht lernen kann, das vermager erst durch ein jahrelanges Selbststudium naehzuholen, aber er wird ebensowenig wie Eichwede sofort in der Lage sein, Beobachtungen zu einem systematischen Beweis zu verdichten. Das zeigt sich beim Verfasser besonders in der Art, wie er mit den zeitlichen Ansätzen umspringt; er wirft hier wieder alles durcheinander, was, wie es schien, endgültig festgestellt war. Er geht nämlich von den beiden Tatsachen aus, daß der Dom von Ferrara das Weihejahr 1135 trägt, und daß Königslutler in demselben Jahre gegründet wurde, hat sich aber nicht im mindesten darum gekümmert, daß die anderen deutschen Bauten entweder durch vollkommen sichere Zeitangaben oder durch unzweifelhaft stilistische Eigentümlichkeiten in das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts verwiesen werden. Wenn die Chorbrüstungsschranken des 1173 begonnenen Braunschweiger Doms dieselben Akanthusblattwellen wie der Chor in Königslutter zeigen, wenn dann die Burg Dankwarderode wieder mit dem Dom und mit Königslutter víelfache stilistische Ubereinstimmungen besitzt und an einer Anzahl ihrer Kapitäle geperlte Bänder aufweist, wie sie eben das letzte Viertel des Jahrhunderts kennt, und wenn andererseits die Ostteile der Neuwerker Kirche in Goslar und das Langhaus von S. Michael in Hildesheim 1186 geweiht werden, so haben wir für die zeitliche Ansetzung der in diesen Bauten vertretenen Zierformen so viele Handhaben, wie man sie sich nur wünschen kann. Damit ist aber auch für die Ostteile und für den Kreuzgang in Königslutler das Urteil gesprochen. Und wie ist es möglich, daß ein Architekt glaubt, das schlichte Langhaus dort, das doch von Anfang an die Grabanlage Kaiser Lothars († 1137) enthalten sollte, wäre später errichtet als der reiche Kreuzgang, der sich doch erst an das Langhaus anlehnt. Auch was der Verfasser sonst für seine Meinung ins Feld führt, ist nicht stichhaltig, sondern läßt sich leicht auf andere Weise erklären. Es bleibt also bei dem, was ich vor drei Jahren niederschrieb: alle jene deutschen Arbeiten, mit ihnen aber auch die verwandten oberitalienischen Werke gehören dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts, bezw. der Zeit unmittelbar vorher an, und das Jahr 1135 bedeutet für Ferrara nur den Anfang des Neubaues, dessen Vollendungszeit wir nicht kennen. Es bleibt aber auch die weitere Aufgabe, festzustellen, wie weit sich der Einfluß des großen Meisters von Königslutter erstreckt hat. Eichwede hat hier noch lange nicht das Thema erschöpft.Der Kapitelsaal des Ägidienklosters in Braunschweig, der Chor der Zisterzienserkirche in Marienthal, der Chor der Klosterkirche in Schöningen sind Beispiele für die nächste Umgebung von Königslutter, die Ostteile der Stiftskirche in Gandersheim, die nördliche Vorhalle des Domes in Goslar, das Refektorium der Klosterkirche in Ilsenburg, die Bibliothek in Kloster Huyseburg, das Refektorium des Zisterzienserklosters in Michaelstein, die María-Magdalenen-Kapelle der Liebfrauenkirche in Halberstadt, der Zitter der Stiftskirche in Quedlinburg, der obere Kreuzgang der Stiftskirche in Gernrode zeigen uns den ganzen nördlichen Harzrand unter dem Einfluß von Königslutter, und wie die von Hildesheim abhängige Stiftskirche in Wunstorf den nordwestlichsten Ausläufer dieser Schule bedeutet, so findet sie im südlichen Kreuzgang des Doms in Magdeburg im Nordosten, in den Klöstern Wimmelburg und Sittichenbach bei Eisleben, sowie in der Doppelkapelle zu Landsberg bei Halle im Südosten ihre Grenze; aber alle diese zahlreichen und gewiß noch zu vermehrenden Beispiele halten sich zeitlich im Raum des letzten Viertels des 12. Jahrhunderts.
P..J. Meier
Veröffentlicht in:
Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe Neue Folge 16.Jg. 1904/1905 Nr. 2 vom 21.Oktober 1904 S. 21-23
P.J. Meier "Der Meister von Königslutter in Italien"
DER MEISTER VON KÖNIGSLUTTER IN ITALIEN. 1)
In seinem grundlegenden Buche »Oberitalische Plastik im frühen und hohen Mittelalter« fasst M. G. Zimmermann sein Urteil über den Meister Nikolaus, den Schöpfer der Portalbauten am Dom in Ferrara, am Dom und an S. Zeno in Verona (S. 84 f) dahin zusammen, dass jener in der Betonung des Gegenständlichen sich den älteren, stark nordisch fühlenden Bildhauem, besonders dem Meister Wilhelm in Modena eng anschlösse, dass er aber in der gleichzeitigen Beherrschung des Formalen sich als der erste wirkliche Italiener bekunde. ln der That wird man durch seine Werke – so ausschliesslich italienisch ist ihr Gesamteindruck – in formaler Beziehung nicht an deutsche Denkmäler erinnert, wie dies noch bei den Reliefs Wilhelms der Fall ist. Und doch lassen sich bei näherer Prüfung die engsten Beziehungen zwischen diesen Vorhallen und deutschen Werken nachweisen, Beziehungen, die auf jene ein nicht weniger helles Licht werfen, wie auf diese: ln der Werkstatt des ltalieners Nikolaus ist ein hervorragender deutscher Meister als Gehiife thätig gewesen, seinem Namen nach unbekannt, aber weithin berühmt durch sein Hauptwerk: der Meister von Königslutter, d. h. .der Meister, der zunächst den plastischen Schmuck der Ostteile, des Kreuzgangs und des Löwenportals der dortigen Stiftskirche 2) gearbeitet hat. Genau wie Nikolaus hat er unter die Säulen des erwähnten Eingangs kauernde Löwen, unter die Abschlussbogen im Kreuzgang sitzende Tragfiguren gestellt, und beide stimmen nicht allein in der allgemeinen Haltung, sondem auch in allen Einzelheiten, die Löwen selbst in jedem Büschel des Fells mit den Löwen und Greifen des Nikolaus, die eine der menschlichen Figuren selbst in den sonderbaren Falten am Ärmel
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1) Ich gebe hier nur erst einige vorläufige Beobachtungen und behalte mir eine eingehende Untersuchung für später vor.
2) Vgl. meine Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Braunschweig I, 209 ff.
mit der Figur unter der nördlichen Säule der Ferrareser Vorhalle überein. Die konsolenartigen Köpfe an der Chorapsis in K. sehen genau so aus, wie die an derselben Vorhalle, und der bekannte Jagdfries dort findet sein Vorbild am Veroneser Dom. Dass sich in den Rosetten an den Gewölben und der Chorapsís, in der Akanthusblattwelle an der letzteren, in den korinthisierenden Kapitellen der Kirche, wie des Kreuzgangs in K. ein Studium antiker Vorbilder zeigt, war längst beobachtet worden. An einer Eigenart lässt sich aber jetzt noch bestimmter nachweisen, in welcher Umgebung der Meister diese klassischen Formen kennen lernte. Sowohl in K. wie in Verona und Ferrara sind die Akanthusblätter nicht mit jener antiken Kühnheit im Uberschlag dünn ausgearbeitet, sondem es legt sich auf das Hauptblatt zur Verstärkung von oben her ein zweites Blatt, so dass ein leerer Raum zwischen beiden zu liegen scheint. Man kann wohl auch sonst beobachten, dass die nur bossierten Akanthusblätter, die besonders im 11. Jahrhundert in Deutschland wie in den romanischen Ländem üblich waren, die Veranlassung zu dieser sonderbaren Abweichung von der Antike gaben. Aber genau solche Blätter, wie sie K. und die von ihm abhängigen Werke nördlich des Harzes zeigen, kommen sonst nur noch in den Portalbauten des Meisters Nikolaus vor. Die Übereinstimmung in allen diesen Dingen ist zu gross, als dass eine mehr oder weniger flüchtige Bekanntschaft des Meisters von K. mit den italienischen Werken zur Erklärung ausreichte. Der Deutsche hat vielmehr in der Werkstatt des ltalieners selbst den Meissel gehandhabt, den Schlegel geschwungen. Dass trotz der Gleichheit der Einzelformen der Eindruck des Ganzen hier ebenso deutschromanisch, wie dort italienisch ist, kann nicht Wunder nehmen. Säulen von der Schlankheit, Reliefs und Profile von der Flachheit der italienischen wären aus dem Gesamtbilde, das die Kirche in K. bot, einfach herausgefallen. Leichter noch erklärt sich, dass der Meister von K. als Gehilfe in dieser Beziehung keinen Einfluss auf den Italiener ausgeübt hat. Und doch ist es mir noch sehr zweifelhaft, ob nicht im einzelnen manches, was wir der Eigenart des ltalieners zuzuschreiben geneigt sind, auf die Rechnung des Deutschen kommt. In einem Kapitell am Veroneser Dom, dem südlichen der Vorhalle, spricht sich aber die deutschromanísche Formgebung trotz Verwendung des Akanthusblattes ganz besonders unzweideutig aus. Hier ist der scheinbar leere Raum zwischen den beiden übereinander gelegten Blättern so gross, dass seitwärts noch je ein weiteres Blatt zum Abschluss nötig wird; dabei springt diese eigenartige Blättergruppe auf den vier Seiten des Kapitells weit vor und es muss zur Ausfüllung der vier leeren Ecken dazwischen je ein knollenartiges Blatt dienen. Von klassisch südlichem Formengeist ist hier nichts zu spüren. Zugleich aber wiirde das Kapitell, auch wenn seine deutsche Eigenart angezweifelt werden sollte, mehr noch wie die oben erwähnten Figuren und Ornamente beweisen, dass der Meister von K. thatsächlich in Verona und Ferrara gearbeitet hat. Denn genau dasselbe so verzwickte, durch und durch individuelle Kapitell kehrt mit allen seinen Einzelheiten je zweimal am Löwenthor und im Kreuzgang in K. wieder 1), um dann im Gebiet des nördlichen Harzes noch weiterhin eine grosse Rolle zu spielen. Nur eine und dieselbe Hand kann dies Kapitell in Verona und in K. gearbeitet haben. Das zeigt allein schon der Umstand, dass weitaus die meisten nordharzischen Beispiele dieser Kapitellart, d. h. die, die nicht vom Meister von K. selbst herrühren, trotz aller Abhängigkeit von diesem auf den ersten Blick als Werke einer anderen Hand erkannt werden. Auch darf darauf hingewiesen werden, dass der deutsche Meister ausschliesslich unter dem Einfluss des Nikolaus steht, während andere Italiener ohne jede Wirkung auf ihn geblieben sind. Das künstlerische Verhältnis, das somit zwischen dem Deutschen und dem Italiener bestanden hat, ist für beide Teile gleich ehrenvoll und fruchtbar gewesen. Jeder hat seine Eigenart bewahrt, jeder dem andem, von dem er lernte, auch wieder reichlich gegeben. Denn auch das doppelte Akanthusblatt, dessen sich Nikolaus, so weit ich sehe, ausnahmslos bedient hat, lässt eher auf einen deutschen Erfinder, als auf einen italienischen schliessen. Die Bedeutung des deutschen Meisters, die schon angesichts des plastischen Schmucks der Stiftskirche zu K. so klar hervortritt, lässt sich aber doch erst voll ermessen, wenn man beobachtet, wie dieses herrliche Werk den Ausgangspunkt für eine neue, ausserordentlich fruchtbare dekorative Schule in Niedersachsen gebildet hat, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.
Dagegen muss ich schon in dieser vorläufigen Besprechung noch die zeitlichen Verhältnisse berühren. An Meister Nikolaus' Ferrareser Vorhalle steht die Jahreszahl 1135, nicht allerdings als die der Erbauung der Vorhalle selbst, sondern als die der Grundsteinlegung der ganzen Kirche. Aber es liegt nahe, sie doch mit Zimmermann auch für die zeitliche Ansetzung der Vorhalle zu verwerten. Das ist jetzt
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1) Vgl. a. a. O. S. 213 und Taf. XXIV.
aber nicht mehr möglich. Die oben erwähnten Übereinstimmungen zwischen Ferrara-Verona und K. sind so gross, dass wir die betreffenden Teile der Stiftskirche in K. unmittelbar auf die italienischen Vorhallen folgen lassen müssen. Die Stiftskirche ist allerdings gleichfalls 1135 begonnen worden; aber Chor und Querhaus, Löwenportal und Kreuzgang gehören erst einer zweiten Bauperiode an, und diese lässt sich zeitlich ganz genau festlegen. lhr Beginn liegt vor dem Jahre 1186. Denn jenes Kapitell mit den vierfachen Akanthusblättern kehrt, vermutlich von der Hand des Meisters von K. selbst, in der Michaeliskirche zu Hildesheim und von der Hand eines Schülers desselben, am Chor der Neuwerkskirche in Goslar wieder, und der Umbau der ersten, dem die herrlichen Säulen angehören, ist ebenso wie der Bau der östlichen Teile der zweiten in dem genannten Jahre geweiht worden. Andrerseils haben sich bei der Herstellung des Doms in Braunschweig, den Heinrich der Löwe 1173 begann, an dem aber im übrigen der Meister von K. nicht beschäftigt war 1), Reste einer Akanthusblattwelle gefunden, die von den Chorschranken herrührt, und die sich vollkommen mit der am Chor in K. deckt. In den siebziger und achtziger Jahren muss also der Meister in K. u. s. w. thätig gewesen sein. Die Vorhallen in Ferrara und Verona gehören daher auch erst der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts an, und es ist wahrscheinlich, dass nun auch die Reliefs des Meisters Wilhelm in Modena nicht unerheblich später anzusetzen sind, als der in der Künstlerinschrift genannte Beginn des Dombaus (1099).
P.J. Meier
Veröffentlicht in:
Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe. Neue Folge 12. Jahrgang 1900/1901 Nr. 7 vom 29.11.1900 S. 97-100
Auszug aus Erwin Kluckhohn "Die Kapitell-ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter" - Teile I. und IV.
"ROMANIK IN NIEDER-SACHSEN
Dissertation Erwin Kluckhohn
DIE KAPITELLORNAMENTIK
DER STIFTSKIRCHE ZU KÖNIGSLUTTER.
Studien über Herkunft, Form und Ausbreitung.
VON ERWIN KLUCKHOHN.
ln den folgenden Untersuchungen soll die Entwicklung der beiden wichtigsten
Kapitelltypen von Königslutter durch einen Zeitraum von rund hundert Jahren verfolgt
werden. Beide Typen treten in der Nachfolge von Königslutter immer zusammen auf und
gehen, wie ich glaube zeigen zu können, auf eine gemeinsame Wurzel zurück.
Beim ersten der beiden Typen handelt es sich um ein korinthisierendes Kapitell,
das in Königslutter mehrfach abgewandelt wird (34--51),
Kaiserdom Königslutter, Chor
Kaiserdom Königslutter, südliches Querhaus
aber doch eine gleichbleibende
Eigenschaft hat: in der unteren Zone steigt hinter jedem Blatt noch ein zweites begleitendes
auf, das sich mit seiner Spitze über das vordere wölbt. Das hintere Blatt ist dabei entweder
eine kaum gegliederte Masse, oder es ist dem vorderen entsprechend durchgebildet; teil-
weise bleibt zwischen den beiden gezackten Blatträndern ein glatter Streifen stehen, teil-
weise wird dieser getilgt, so daß zwischen dem vorderen und dem hinteren Blatt für die
Vorstellung ein Hohlraum liegt.
Den anderen Kapitelltypus hat Weigert als „Palmettenfächerkapitell“ bezeichnet (52-55).
Kaiserdom Königslutter, Löwenportal
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
Kaiserdom Königslutter, Löwenportal
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
Der Name erklärt sich daraus, daß sich die Blätter an den Kapitellecken in halber
Höhe fächerförmig entfalten. Unter der Ecke der Deckplatte rollen sie sich zu einer Volute
ein, während ihre Stengel sich am Säulenhals mit den seitlichen Rändern der Blätter an
den Seitenmitten verbinden. Deren äußerste Spitzen berühren sich über den Stengeln der
Eckblätter; zugleich schmiegt sich der obere Blattrand an das Fächerblatt an. In der
Mitte begegnet ihm ein von oben herabkommendes Blatt, das unter der Deckplatte hervor-
quillt. Da die Eckblätter bis zu diesen Berührungspunkten vordringen, treffen hier vier
Blätter zusammen, die weit über die beim korinthisierenden Kapitell stets streng ein-
gehaltenen Blockgrenzen vortreten und das Schwergewicht des Kapitells von den Ecken
nach den Seitenmitten verlegen. P. J. Meier hat deswegen (in mündlicher Unterredung)
vorgeschlagen, statt „Palmettenfächerkapitell“ „Vierblattgruppenkapitell“ zu sagen, doch
wird sich bei der Untersuchung der Vorstufen zeigen, daß von den typischen Eigenschaften
dieses Kapitells das Fächerblatt früher deutlich ausgebildet wird als die Vierblattgruppe,
und deswegen werde ich bei dem von Weigert verwendeten Namen bleiben, obwohl er
das Kapitell nur unvollkommen umschreibt.
Herkunft und Ausbreitung dieser beiden Kapitelltypen gilt es also zu untersuchen.
I. HERKUNFT.
A. DER STAND DER FORSCHUNG.
P. J. Meier hat zuerst auf die Beziehungen der Bauornamentik von Königslutter
zu einigen Bauten in Italien hingewiesen (Kunstchronik, N. F. 12, 1901, „Der Meister von
Königslutter in Italien“). Unabhängig davon hat Eichwede („Beiträge zur Baugeschichte
der Kirche des kaiserl. Stiftes zu Königslutter“, Diss. Hannover, 1904) nochmals diese Be-
36 Marburger Jahrbuch Bd. 11 1938/39
527
ziehungen aufgezeigt und durch eine Fülle allerdings nicht immer zuverlässiger Zeichnungen
verdeutlicht. P. J. Meiers Beobachtungen sind damit vollauf bestätigt worden. Engere Be-
ziehungen waren erkannt zwischen Königslutter und Bauten in Ferrara und Verona. Auf-
gegriffen und in den weiteren Rahmen der sächsischen Bauornamentik im 12. Jahrhundert
gestellt sind diese Beziehungen von Adolph Goldschmidt in einer Rede auf dem Historikertag
in Berlin 1908 („Die Bauornamentik in Sachsen im 12.Jahrhundert", gedruckt in den Monats-
heften für Kunstwissenschaft 1910). Während P.J.Meier von einer Mitwirkung des deutschen
Meisters von Königslutter in der Werkstatt des Nikolaus von Ferrara gesprochen hatte,
und während Eichwede angenommen hatte, daß Meister Nikolaus persönlich nach Königs-
lutter gewandert sei, denkt Goldschmidt nur an eine Wanderung einiger italienischer Stein-
metzen von Ferrara nach Königslutter. Die Priorität der italienischen Formen ist nicht
bestritten worden, bis 1932 in einer Kölner Dissertation (Otto Gaul, Die romanische Bau-
kunst und Bauornamentik in Sachsen) jede Beziehung zwischen Italien und Sachsen im
12. Jahrhundert geleugnet worden ist. Hieran knüpft Weigert in seinem Aufsatz über „Das
Kapitell in der deutschen Baukunst des Mittelalters“ (Zeitschrift für Kunstgeschichte V, 1936)
an. Er erkennt zwar an, daß die Ansicht Gauls nicht zu halten ist, da die Formen in Italien
und Deutschland auch nach seiner Meinung zu sehr übereinstimmen; er versucht nun aber,
diese gemeinsamen Formen aus der deutschen Entwicklung zu erklären.
Weigerts These hält einer eingehenden Nachprüfung nicht stand. Die deutsche,
speziell die sächsische Kapitellornamentik vor Königslutter ist in ihrem Charakter so stark
unterschieden von der in Königslutter selbst, daß eine Erklärung des Königslutterer Stils
von hier aus kaum möglich ist. Man wird in der sächsischen Kapitellornamentik des 12.]ahr-
hunderts vergeblich suchen nach Vorstufen zu den für die Königslutterer Kapitelle typischen
Eigenschaften: die starke Auflockerung des Kapitellkerns nach der Tiefe bin, die Umsetzung
der Blockmasse in pflanzliches Geschehen, die lebendige, an antike Vorbilder angelehnte
Blattstruktur. Die sächsische Kapitellornamentik zeigt von der karolingischen Zeit an einen
stets gleichbleibenden Grundzug: die Entfernung vom korinthischen Urbild wird immer
größer; das Kapitell wird immer weniger als organische Einheit empfunden, die einzelnen
Teile verselbständigen sich mehr und mehr; sie werden in ihrem Wert entweder stark
gesteigert oder ganz vemachlässigt, während für den Gesamteindruck das Massenmäßige
des Kapitells entscheidend ist. Andererseits können wir in Italien beobachten, wie im
Anfang des 12.Jahrhunderts, von einem erneuten Anschluß an die Antike ausgehend, sich
Formen entwickeln, die der Königslutterer Ornamentik ganz unmittelbar verwandt sind.
Da diese die gleichen Blattzusammensetzungen zeigen wie die korinthisierenden Kapitelle
in Königslutter, und da sich hier außerdem das Palmettenfächerkapitell langsam heraus-
bildet, das dann in Königslutter fertig auftritt, kann über die Priorität Italiens kein Zweifel
sein. Deshalb verzichte ich auf eine eingehende Diskussion der Weigertschen These, die
durch die nachfolgenden Untersuchungen ihre überzeugende Widerlegung finden wird 1)
B. DIE VORSTUFEN IN ITALIEN.
1. Der Gang der Kapitellentwicklung.
Wie bereits P. I. Meier erkannt hat, liegen die unmittelbaren Voraussetzungen für
Königslutter in Ferrara und Verona. Die beiden Typen von Königslutter beherrschen bereits
1) Die von Weigert angeführten Vorstufen zum Palmettenfächerkapítell (Zeitschr. f Kunst-
gesch. V, S.31) reichen in keiner Weise zur Ableitung dieses wichtigen Kapitelltypus aus. Die Über-
setzung der ganz flächigen Darstellung ins Räumliche und das Vortreten der Seitenmitten bleiben bei
Weigert unerklärt.
528
die dortige Kapitellornamentik. Bei einer kritischen Durcharbeitung der oberitalienischen
Kapitelle habe ich die Überzeugung gewonnen, daß beide Typen auf Modena zurückgehen,
wo sich die Steinmetzen von Ferrara geschult haben müssen. Ich werde deswegen zunächst
die aus der Formanalyse abgeleitete Entwicklung der Kapitelle von Modena über Ferrara
nach Verona darstellen. In dem nachfolgenden Abschnitt über die Datierungen werde ich
mich dann mit den bisher in der Literatur vertretenen Ansichten auseinandersetzen.
Die oberitalienische Kapitellornamentik des späten 11. Jahrhunderts zeigt das Ende
eines langen Umbildungsprozesses des antiken Kapitells. Aufbau und Blattgliederung lassen
nur noch sehr im allgemeinen erkennen, daß hinter den Schöpfungen des 11. Jahrhunderts
als Vorbilder antike Werke stehen. Die Blätter sind entweder sehr stark durch übertrieben
bewegte Umrißformen des Blattrandes und erhabene Rippen auf dem Blattkörper zersetzt
oder aber zu unförmigen, ungegliederten Gebilden verfestigt. Demgegenüber finden wir
am Dom zu Modena einen ganz neuen Einsatz. Zwar sind die Kapitelle der Krypta noch
im Sinne des 11. Jahrhunderts gestaltet und ebenso die der Apsiden der Oberkirche 1).
An der Fassade aber begegnet uns ein neuer Stil, und zwar zusammen mit den Werken
des Bildhauers Wilhelm. Vitzthum 2) hat betont, wie stark die Arbeiten Meister Wilhelms
von der vorangehenden Zeit unterschieden sind, und wie hier plötzlich wieder das Auge
für die Antike offen ist, während man vorher antike Denkmäler nicht zum Vorbild genommen
habe. Auch Kautzsch 3) verweist darauf, daß in der Kapitellornamentik der Zeit um 1100
sich verschiedentlich eine enge Verbindung antiken Formguts mit „langobardischen“ Vor-
stellungen findet. Gerade in Modena treffen seiner Meinung nach ältere und jüngere Formen
zusammen: die langobardische Tradition zeigt sich in der Krypta, das Zurückgreifen auf
die Antike an der Fassade. Genau so kann man den brettartig platten Formen der Fenster-
umrahmungen an S. Abondio in Como die aus grundsätzlich neuem Geist geschaffene Ranke
Meister Wilhelms am Hauptportal in Modena gegenüberstellen.
Bei den Kapitellen am Vorbau des gleichen Portals (1, 2)
ist mit der Antike über-
einstimmend allerdings weniger die Blattstruktur als der Aufbau, der in beiden Fällen aus
Kranzblattreihe, Hochblattreihe und Doppelhelices auf jeder Seite besteht. Freilich sind
in Modena nur vier Kranzblätter und auch nur vier Hochblätter vorhanden, und die Helices
wachsen nicht hinter Hüllblättern auf, sondern entwickeln sich erst im oberen Teil des
Kapitells aus der Blockmasse heraus, ohne Verbindung mit den unteren Zonen. Die Hoch-
blätter haben dabei teilweise die Funktion der antiken Hüllblätter übernommen, sie schmiegen
sich an die Voluten an. Beim rechten Kapitell (1)
sind in Analogie zu den Blättern an den
Kapitellecken zur Stützung der inneren Voluten kleine Blätter gebildet, die zunächst unge-
gliedert über den Kranzblättern aufwachsen, dann aber durch ihren reich gestalteten Über-
schlag deutlich hervortreten. Der wesentlichste Unterschied gegenüber dern klassischen
Vorbild besteht darin, daß in der Heliceszone keine Kelchforrn sichtbar oder auch nur
fühlbar wird. Gerade diese obere Zone ist als Block empfunden, aus dem die Formen
herausgearbeitet sind, und der dabei unmittelbar sinnfällig bleibt. Der Block hat nämlich
nur an den Ansatzpunkten der Helices leichte Einziehungen, die der Gliederung der Deck-
platte entsprechen. Diese hat nicht die durchgehende Schwingung wie in der Antike;
vielmehr wird die Abacusblüte durch einen Klotz ersetzt, und während die Abacusecken
und der Klotz in einer gleichen vorderen Ebene liegen, sind zwischen ihnen Einziehungen
1) Die hier übliche Art der Blattbildung lebt außerdem fort an den Kapitellen vom Unter-
geschoß der Porta dei principi und, schon mit Elementen des neuen Stils durchsetzt, an der Porta della
pescheria. Auch später stirbt diese Richtung nie ganz ab.
2) Dıe Malerei und Plastik des Mittelalters in Italien, Handbuch der Kunstwissenschaft 1924, S. 78.
3) „Oberitalien und der Mittelrhein“, in L'ltalia e l'arte straniera, Roma 1922.
36* 529
in der Form regelmäßiger Kreissegmente gebildet. Dies bedeutet natürlich gegenüber
dem klassisch-korinthischen Kapitell eine starke Verblockung der Heliceszone, die dadurch
noch besonders hervorgehoben wird, daß in der Eckansicht die Voluten nicht aneinander-
stoßen, sondern an der Ecke ein unverziertes Blockstück stehenbleibt.
Dies Kapitell 1 enthält verschiedenartige Blattformen. Die Voluten zeigen nur in
ihrer äußersten Endigung die Vorstellung eines blattmäßigen Körpers. Etwas stärker ge-
gliedert sind die Eckblätter unter den Außenvoluten: der Blattrand bildet eine gleichmäßige
und nur wenig geschwungene Linie, die Oberfläche des Blattes ist glatt bis auf zwei er-
habene Rippen in der Längsrichtung. Von ähnlich geringer Gliederung sind die kleinen
fünffingrigen Palmetten am Säulenhals, dort, wo die Eckblätter ansetzen. Voll starker und
lebendiger Durchbildung sind dagegen die kleinen Blätter unter den Innenhelices: der
Blattrand schwingt in rhythmischem Wechsel stärker und schwächer; die stärkeren Ein-
ziehungen sind auf der Blattoberfläche durch kleine parallele Erhebungen hervorgehoben und
außerdem führen deutlich betonte Rippen zu ihnen hin; an den schwächer geschwungenen
Teilen des Blattrandes wird die Blattfläche durch parallele Riefelungen belebt, so daß also
ein reiches Bild entsteht, zumal das ganze Blatt aus der Tiefe herauswächst und sich über-
schlägt, denn auf diese Weise verlaufen alle Linien kurvig. - Die gleiche Blattbildung
finden wir bei den Kranzblättern wieder, allerdings hier weniger sinnfällig. Bei flüchtiger
Betrachtung haben wir den Eindruck großer, sich kräftig in den Raum vorwölbender
Blätter. In Wahrheit aber besteht jedes „Blatt“ aus mehreren Blättern, die sich um einen
festen Kern herumlegen, oder anders gesagt: ein Kern schiebt sich zwischen zwei auf-
wachsende Blätter und trennt deren seitliche Ränder voneinander. Da sich nun die seit-
lichen Blätter eng an den Kern anschmiegen und sich mit ihm zusammen nach vorn wölben,
so entsteht die Vorstellung, als ob es sich im ganzen um ein einheitliches Blatt handele.
Diese Vorstellung ist natürlich auch beabsichtigt, denn beim antiken Kapitell ist der hier
in Modena aufgespaltene Komplex als ein einheitliches Blatt gebildet.
Strenger antikisch sind die Kranzblätter am linken Kapitell des Portalvorbaus (2).
Hier herrscht deutlich die Vorstellung eines großen ungeteilten Blattes mit stark aus-
gebildeter Mittelrippe, doch schiebt sich auch hier ein fester Körper in das stark räumlich
empfundene Blatt hinein und bildet eine Stütze für den dünnen Blattkörper. In gleicher
Weise sind die Hochblätter gebildet. Zwischen ihnen aber befinden sich, gänzlich unantik,
keine aufwachsenden Blätter, sondern aus den Innenhelices entwickelt sich ein nach unten
fallendes Blatt. Der Rand dieses Blattes zeigt die gleiche Gliederung wie die Blätter unter
den Innenhelices beim Kapitell 1, nur werden die Endigungen der stärkeren Einziehungen
dadurch noch hervorgehoben, daß sie durch Bohrlöcher erweitert sind.
Ganz ähnlich den großen Blättem des Kapitells 2 sind die Eckblätter an einem
Zwerggaleriekapitell der Fassade gebildet (3).
Allerdings ist hier nicht so deutlich eine
feste Masse in das bewegte Blatt hineingeschoben; dafür wird die Lücke durch Blatteile
ausgefüllt, die mit der Volute zusammenhängen. Es bleibt auch hier die enge Bindung
eines gegliederten Blattes an einen anderen Körper bestehen. Dagegen ist in einem anderen
Kapitell der Zwerggalerie der Fassade (4)
nur das durchgeformte Blatt gewahrt, und es
tritt deutlich eine Auflockerung zwischen Blatt und Volute ein. Das Blatt selbst aber verrät
seine Herkunft von den Kranzblättern des Kapitells 2.
Die Kapitelle 3 und 4 stellen eine starke Vereinfachung des Formenapparates der
großen Portalkapitelle 1 und 2 dar. Die Kranzblattreihe und die Innenhelices samt ihren
Stützblättern sind getilgt, erhalten sind nur die Eckblätter mit den zugehörigen Voluten
und zwischen diesen ein schmales aufsteigendes Blatt, das dem zwischen den Voluten beim
Kapitell 2 ähnelt.
530
Einige andere Kapitelle in Modena (am Obergeschoß der Porta dei principi, Abb. 5 und 6)
geben den ursprünglichen Bestand des korinthischen Kapitells etwas vollständiger
wieder. Sie haben noch Kranz- und Hochblätter, aber die beiden Blattreihen sind fast zu
einer einzigen verschmolzen, indem die Spitzen der Kranzblätter bis zu den Hochblättern
hinaufgezogen sind. Andererseits aber ist die Fortlassung der lnnenhelices beibehalten.
Neu hinzugekommen ist die Rosette in der Mitte der oberen Zone; sie mutet wie eine
vergrößerte Deckplattenblüte der antiken Kapitelle an. Die Blätter sind etwas feinnerviger
als bei den Kapitellen der Fassade, ihr Rand hat eine fast erregte Art der Schwingung.
Beim linken Kapitell (5) haben die Kranzblätter neben ihrem Ansatz am Säulenhals noch
kleine begleitende Blätter, die wie Überbleibsel der an den Kern seitlich angelehnten
Blätter beim Kapitell 1 wirken. Beim rechten Kapitell (6) sind diese mit dem großen Blatt
zu einer Einheit zusammengewachsen, so daß sich das Blatt über die ganze Kapitellseite
ausbreitet und nur an der Ecke etwas Raum für die Stengel der Eckblätter läßt. Zugleich
ist eine für die Zukunft wichtige Veränderung vorgenommen: die beim Kapitell 5 noch
sehr massig gebildeten Voluten sind aufgelockert, indem die Einrollung kleiner geworden
ist und sich dadurch von den Eckblättern entfernt hat; zu diesen wird die Verbindung
durch ein kleines, aus der Volute herauswachsendes Blatt hergestellt. Beim Kapitell 1
waren in der Heliceszone die Ecken des Blockes stehengeblieben, ohne Rücksicht darauf.
daß zwischen Volute und Hochblatt eigentlich bis auf den Punkt, wo sie sich berühren,
Freiraum sein müßte. Diesem Blockstück wird nun eigenes Leben gegeben, und zugleich
bleibt die starke Festigkeit der Ecke gewahrt. Vorbereitet ist dieses Eckblatt bei den
Kapitellen 3 und 4; zu einem selbständigen Wert kommt es erst beim Kapitell 6.
An diese Stufe in der Entwicklung des korinthisierenden Kapitells knüpfen die
Steinmetzen von Ferrara an. Allerdings ist der Gesamteindruck etwa bei einem Kapitell
der südlichen Zwerggalerie (7)
wesentlich von dem des Kapitells 6 unterschieden. Das ist
bedingt durch Verschiebungen in den Proportionen und Änderungen der Blattstruktur. Die
Blätter der Kapitelle von Ferrara führen jedoch einen in Modena zuerst auftauchenden
Gedanken fort, nämlich die Festigung eines bewegten Blattes durch eine Folie. Diese
Folie hat in Modena nur ganz andeutungsweise den Charakter eines Blattes bekommen.
Im Grundsätzlichen ähnlich sind einige Blätter an den Kämpfern der Seitenportale an der
Ferrareser Domfassade gebildet (8).
Auch hier wird ein reich gegliedertes Blatt an eine
ruhige Masse angelehnt. Aber diese dient nicht mehr nur zur Stützung des vorderen
Blattes, sondern sie wird in ihrem Wert gesteigert, indem sie selbst den Charakter eines
Blattes bekommt, das sich mit seiner Spitze nach vorn wölbt. An dem mittleren Blatt des
Kämpfers hat der sich vorwölbende Körper deutlich blattmäßige Struktur. Eine weitere
Steigerung bedeuten die Blätter des Kapitells 7. Hier ist dem hinteren Blatt eine sehr
lebhafte Gliederung gegeben, der Blattrand ist nun genau so gezackt wie beim vorderen
Blatt, zwischen den beiden gezackten Rändern aber bleibt ein glatter Streifen stehen, der
die Funktion des ursprünglich hinteren Blattes übernommen hat, nämlich ruhige Folie für
den bewegten Rand zu sein. Bei einigen Kapitellen der Zwerggalerie (9 und 10)
wird gelegentlich auch dieser glatte Streifen noch getilgt, und nun stoßen zwei gezackte
Ränder aneinander, und zwar so, daß für die Vorstellung zwischen beiden Blättern ein
Hohlraum bleibt, dessen Tiefe für das Auge nicht genau erfaßbar ist. Damit sind die
Blattzusammensetzungen erreicht, die, wie wir zu Beginn unserer Untersuchung sagten, für
Königslutter kennzeichnend sind.
Außer den Blattformen wird in Ferrara auch der Aufbau des Kapitells weiter-
gebildet. Das Kapitell 7 schließt an das Kapitell 6 in Modena an, nur sind die Proportionen
etwas breiter. Mit Modena verwandt ist auch ein Kapitell der nördlichen Zwerggalerie (9).
531
Allerdings sind hier nicht die Seitenmittelblätter, sondern die Eckblätter beherrschend für
den Gesamteindruck. Man kann sich an die starke Bedeutung der Eckblätter bei den
kleinen Kapitellen 3 und 4 erinnert fühlen, doch wird in Ferrara wegen der stärkeren
Breitenausdehnung des Kapitells an der Seitenmitte noch die Spitze eines aus der Tiefe
nach vorn kommenden Blattes zwischen die Eckblätter eingeschoben. - Die Helices dieses
Kapitells zeigen außerdem noch eine eigenartige Blattstruktur, die aus der Zusammen-
setzung des Blattes aus mehreren Einzelblättern entwickelt ist. Das nach der Ecke auf-
steigende Blatt hat nach oben hin einen stark gezackten Rand, der begleitet wird von
einem einfachen glatten Streifen. Goldschmidt hat, unter Hinweis auf ähnliche Formen in
der Buchmalerei 1), gezeigt, daß für uns auf diese Weise die Illusion eines aufgerollten
Blattes mit einem glatten und einem gezackten Rand entsteht. Diese Vorstellung lebt auch
in der Volute selbst weiter, nur bei dem hängenden Eckzapfen ist nicht klargelegt, wie
er sich aus dem Blattkörper des Eckblattes entwickeln kann. Vielleicht liegt in dem Neben-
einander des glatten und des gezackten Blattrandes eine Verquickung der klassischen Helices
mit ihren Hüllblättern vor, vielleicht ist die Form hier in Ferrara aber auch selbständig
entwickelt.
Dieses Kapitell 9
ist unmittelbar maßgeblich geworden für Königslutter (36-38).
Kaiserdom Königslutter, südwestlicher Vierungspfeiler
Kaiserdom Königslutter, nordöstlicher Vierungspfeiler
Kaiserdom Königslutter, südliches Querhaus
Dort werden aber auch noch andere Anregungen von Ferrara weitergebildet. Ein Kapitell
der südlichen Zwerggalerie in Ferrara (10)
unterscheidet sich vor allem dadurch von dem
Kapitell 9, daß es stärker in die Fläche ausgebreitet ist. Außerdem sind die bei 9 nur
eben angedeuteten Blätter einer mittleren Zone hier auf Kosten der oberen Zone sehr
gesteigert. Teilweise verkümmern die Voluten dabei sehr, teilweise behalten sie ihre alte
Rundung, doch sind die Helices nicht als volle Blätter ausgebildet wie bei 9, sondern sind
nur dreirippige Stengel (wie in Königslutter bei 47 und 48).
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
Das hängende Eckblatt gewinnt zugleich an Bedeutung, denn es hat nun den breiten Raum
von der Volute bis zu den unteren Eckblättern zu überbrücken.
Neben den Kapitellen von Ferrara sind für Königslutter auch die von Verona
bedeutungsvoll. Das Kapitell 7
lebt weiter in einem Kapitell im Langhans von S. Zeno in Verona. (11).
Die untere Zone ist unmittelbar verwandt bis auf kleine Abweichungen in
der Blattgliederung. Neuartig sind dagegen in der oberen Zone die Tierköpfe statt der
Voluten, die ebenso wie die kleinen im Winde spielenden Blätter an der Seitenmitte der
oberen Zone ihre Vorstufe an Zwerggaleriekapitellen von Ferrara haben. (Die Tierköpfe
kehren in Königslutter wieder bei den Kapitellen 34 und 35,
Kaiserdom Königslutter, Chor
Kaiserdom Königslutter, nördliches Querhaus
das im Winde spielende Blatt am Kapitell 38.)
Kaiserdom Königslutter, südliches Querhaus
Eine andere Abwandlung des Kapitells 7 findet sich am Vorbau des Hauptportals
vom Veroneser Dom (12).
Der ganz andersartige Eindruck ist durch die verflächigte Blatt-
struktur bedingt, aber auch durch die Umgestaltung der oberen Zone und die allgemeine
Streckung der Proportionen. Für Königslutter bedeutungsvoll wird die Einführung des
großen aufsteigenden Blattes in der Mitte der oberen Zone (39, 40, 43).
Kaiserdom Königslutter, südöstlicher Vierungspfeiler
Kaiserdom Königslutter, Apsis Untergeschoss
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
Alle Blätter bleiben sehr eng an den Kern gebunden, jede Vorstellung einer freien Schwingung
oder gar eines von den Blättem eingeschlossenen Hohlraumes ist getilgt. Erreicht ist dadurch
eine sehr starke Geschlossenheit der Gesamtform.
Die für Königslutter entscheidenden italienischen Kapitelle sind hiermit genannt.
Wir haben uns jedoch noch kurz mit dem Nachleben dieser Kapitelle in Italien selbst zu
befassen, weil sich von hier aus Schlüsse auf die Übertragung der Formen nach Königs-
lutter ergeben werden.
1) „Die Bedeutung der Formenspaltung in der Kunstentwicklung“, Harvard University Press,
Cambridge, Massachusetts, 1937.
532
Dem Kapitell 12 in Verona in der starken Geschlossenheit verwandt ist eins am
Vorbau des rechten Seitenportals der Domfassade in Piacenza (13).
Die starke Ausdehnung der Voluten bedingt eine Zusammenziehung der breiten Mittelblätter des Kapitells 12
zu schmalen Blättern, die an die Kapitelle 3 und 4 in Modena erinnern. Daß die gezackten
Blattränder an glatte angelehnt werden, ist bei diesem Kapitell kaum zu spüren, doch
zeigen andere Kapitelle der Domfassade deutlich Nachfolge der besonderen Form des
Kapitells 9 in Ferrara.
Ein reich gestaltetes Kapitell in der Krypta von Piacenza, das sich an das Ferrareser
Kapitell 7 anschließt, bildet Weigert ab (Abb. 53 auf Seite 34 der Zeitschrift für Kunst-
geschichte V, 1936). Hier zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Formenhäufung. Zugleich
aber werden die Blätter in die Fläche gebunden wie beim Kapitell 13.
Typisch dafür ist das windbewegte Blatt an der Seitenmitte unter der Deckplatte.
Eine deutliche Nachwirkung von Ferrara finden wir in einem Kapitell des Portals
am Dom in Cremona (14).
Der Aufbau ist genau so einfach wie beim Kapitell 3 in
Modena, doch zeigt die Volute mit dem hängenden Eckblatt eine Fortbildung von Ferrara 9
und 10, und die Anlehnung der gezackten an glatte Blätter ist wie bei Ferrara 9 gebildet.
Außerdem tritt zusammen mit diesem Kapitell ein anderes auf (15),
das im Aufbau Nachwirkung eines Kapitells im Langhaus von S. Zeno in Verona erkennen läßt. Es besteht
aus zwei Reihen gleichmäßig übereinander angeordneter Blätter. Jedes „Blatt“ ist in zwei
Einzelblätter zerlegt; in der unteren Zone sind die jeweils hinteren Blätter ohne starke
Betonung, in der oberen Zone sind sie jedoch bestimmend. Hier wird die gleiche Illusion
eines Hohlraumes erweckt wie etwa beim Kapitell 10 in Ferrara.
Am Kämpfer dieses Kapitells schmiegt sich eine Reihe nebeneinander angeord-
neter ganz fein gefiederter Blätter eng an die schwingende Platte an. Diese sehr differen-
zierte Art der Blattbildung weist auf eine verhältnismäßig späte Entstehungszeit innerhalb
der geschilderten Entwicklung; wir finden sie vielfach in Piacenza, und zwar am gleichen
Portal wie das Kapitell 13 mit seinen stark verfestigten Formen, dann an einem Kämpfer
des nördlichen Querschiffportals und an einigen kleinen Kapitellen am Fenster der mitt-
leren Apsis, vor allem aber im Langhaus des Domes.
Die kleinen Kapitelle des Ostfensters in Piacenza führen unmittelbar hin zu einem
Kapitell am Vorbau des Domportals in Lodi (16),
bei dem wir die überfeine Blattstruktur
besonders deutlich sehen, zugleich aber in der Zusammensetzung der Blattkomplexe aus
vorderem und hinterem Blatt immer noch die Herkunft aus Ferrara spüren. Ebenso
kennen wir das kleine windbewegte Blatt aus Ferrara und Verona. Auffallend ist nur die
Bildung des Helices und das Fehlen eigentlicher Voluten.
Damit haben wir die Entwicklung des schulmäßigen Zusammenhangs der korin-
thisierenden Kapitelle mit Blattzusammensetzung von Modena an bis zu einem Endpunkt
in Lodi verfolgt und kennen jetzt die Stellung der für Königslutter wichtigen Werke
in Ferrara und Verona innerhalb dieser Reihe. Wir müssen nunmehr die Herkunft
und Fortbildung des anderen Kapitelltyps von Königslutter, des Palmettenfächerkapitells.
untersuchen.
Eine so singuläre Form kann nicht unvermittelt erfunden werden, und tatsächlich
läßt sich auch ihre Entstehung aus dem korinthisierenden Kapitell verfolgen.
Als ein wesentliches Element des Palmettenfächerkapitells hatten wir das fächer-
förmige Eckblatt bezeichnet. Wir finden es zum ersten Male in ausgeprägter Form beim
Kapitell 17 (an der Zwerggalerie der Domfassade in Modena).
In der Blattbildung am nächsten verwandt sind die Kranzblätter des Kapitells 2,
allerdings gehören dort in der
Eckansicht die einzelnen Teile verschiedenen Blättern an; wenn man sie sich jedoch zu-
533
sammengefaßt denkt und zugleich die kleine Palmette an der Ecke zu einem längeren Blatt
vergrößert, so kommt man dem Eckblatt des Kapitells 17 sehr nahe. Andererseits kann
man sich bei dem an den Seitenmitten vortretenden Komplex an die Kranzblätter des Kapitells 1
erinnert fühlen, denn auch hier strebten von beiden Seiten Blätter nach der
Seitenmitte hin zusammen; dort trat zwischen ihnen der Kern hervor, hier dagegen ist
diese Stelle mit einem schmalen Blatt verdeckt. Die Mittelrippe auf dem eingeschobenen
Blockstück erinnert hingegen am stärksten an das Kapitell 2. Beide Kapitelle vom Unter-
geschoß des Hauptportals sind also zur Erklärung des Kapitells 17 notwendig. Vom
Apparat des korinthischen Kapitells ist dabei eigentlich nur die untere Zone gegeben, und
die erstaunliche Leistung ist, daß dennoch eine gut schaubare Form entsteht. Wir hatten
in den Kapitellen 3 und 4 Vereinfachungsformen des korinthischen Kapitells gesehen; dort
aber waren die wesentlichen Elemente erhalten geblieben, hier dagegen fehlen die Teile,
die sonst die Überleitung vom Rund der Säule nach dem Quadrat der Deckplatte voll-
ziehen. Das Kapitell müßte um 45° gedreht werden, um sich der Deckplatte anzupassen.
Wenn wir nach der Herkunft des Gedankens suchen, die Seitenmitten durch Her-
vortreten der Blattkomplexe stärker zu betonen als die Ecken, so müssen wir, wie ich
glaube, zum Kapitell 2 zurückgehen. Hier tritt nämlich zum ersten Male die Zusammen-
ziehung mehrerer ursprünglich nicht zusammenhängender Blätter zu einem einheitlichen
Komplex auf, indem die Innenhelices mit den darunter befindlichen Blättern verbunden
werden und diese sich aus den Voluten herausentwickeln 1). Das Motiv des hängenden
Blattes an der Seitenmitte wird weitergebildet an einem Kapitell am Obergeschoß des
Portals (18).
Die beiden Zonen aufsteigender Blätter sind hier zu einer einzigen reduziert,
und da die Seitenmittelblätter die gleiche starke Ausladung haben wie die Kranzblätter
beim Kapitell 2, so muß das ihnen von oben begegnende Blatt nun ebenfalls in den
Raum vorstoßen. Daneben treten die Kapitellecken ganz zurück, es ist nur noch ein Rest
der Voluten vorhanden.
Ähnlich ist ein Kapitell an der Zwerggalerie der Fassade gebildet (19).
Hier dringen die Seitenmitten noch weiter vor, denn nun ist das aufsteigende Mittelblatt auch noch
getilgt, und der Blattkomplex der Seitenmitte breitet sich noch mehr aus. Die Eckvoluten
sind ähnlich wie beim Kapitell 18 und werden durch schmale Blätter gestützt. An einem
späteren Kapitell der Zwerggalerie der Nordseite (20)
sind auch diese aufgesogen von den
sich immer mehr ausdehnenden Mittelblättern, und die Volute ist nur noch ein Ableger
des Stengels dieser Blätter. An einem Kapitell der südlichen Zwerggalerie (21)
verschwindet die Volute sogar ganz. All diese Kapitelle zeigen. daß der Gedanke, die Seitenmitte statt
der Ecke zu betonen, in Modena vielfach abgewandelt wird, so daß das Kapitell 17 von
diesem Gesichtspunkt aus keine Einzelerscheinung ist. Zugleich erscheint bedeutungsvoll,
daß bei den Kapitellen 19 bis 21 zwar die Blattkomplexe der Seitenmitten am weitesten
vortreten, die wesentlichen Blätter aber von den Ecken aus hochwachsen. Auch darin
besteht Verwandtschaft zum Kapitell 17; dort bleibt freilich das an der Ecke aufwachsende
Blatt wirklich Eckblatt, während es sich bei den Kapitellen 19 - 21 nach der Seitenmitte
hinwendet und sich dort erst wirklich entfaltet.
Das Kapitell 17 erfährt nun eine Weiterhildung, die die in Ferrara auftretende
Form des Palmettenfächerkapitells vorbereitet. Dabei bleibt die starke Ausbreitung der
Fächerblätter bestehen, zugleich aber wird dem Fächerblatt eine Volute gegeben. Diese
1) Diese Blattzusammenziehungen leben weiter an den Vorbaukapitellen der Abteikirche in
Nonantola (Aufn. Marburg 681). Am rechten Kapitell tritt der dabei entstehende Blattkomplex weiter
vor als die Deckplatte, am linken Kapitell wird er durch eine Rosette ersetzt. Hier gewinnen zugleich
die Eckblätter stark an Bedeutung.
534
Stufe ist vertreten durch ein Kapitell der südlichen Zwerggalerie (22).
An einem anderen Kapitell dort (23)
sind zwar die Voluten weniger ausgebildet, dafür aber breitet sich nun
das beim Kapitell 17 noch ganz schmale Blatt an der Seitenmitte weiter aus. Zugleich
tritt der stützende Kern zurück. der aus dem Kapitell 2 übernommen war, und der Raum
zwischen den Blättern bleibt unter der Deckplatte unausgefüllt. Erst in Ferrara (25)
wird hier ein dem unteren Mittelblatt gleichwertiges Blatt eingeführt. Wir dürfen wohl an-
nehmen, daß dabei Kapitelle wie 18 bis 21 anregend gewirkt haben.
Von den Palmettenfächerkapitellen von Ferrara steht eins in der südlichen Zwerggalerie (24)
Modena noch sehr nahe. Wie beim Kapitell 17 ist das Fächerblatt ohne Volute
gebildet, sonst hat es die gleiche Schwingung wie bei 22. Die Struktur des unteren Mittel-
blattes erinnert am ehesten an die Eckblätter von 23, genauer gesagt haben wir hier die
klassische Blattstruktur vor uns, wie sie an den Portalen von Ferrara und besonders an
den korinthisierenden Kapitellen der Zwerggalerie ausgebildet ist 1).
Wesentlich ausgewogener als das Kapitell 24 wirkt ein Kapitell an der nördlichen Zwerggalerie (25),
denn hier sind die Fächerblätter mit Voluten ausgestaltet, wie schon bei Modena 22;
dadurch tritt eine stärkere Verbindung mit den Ecken der Deckplatte ein.
Außerdem ist die Blattstruktur der Fächerblätter durch stärkere Einziehungen und zugleich
natürlichere Schwingung des Blattrandes lebendiger geworden. Sehr wesentlich ist, daß
die Blattränder der Fächerblätter und der oberen Mittelblätter nicht ineinandergreifen wie
bei 24, sondern daß zwischen ihnen ein freier Raum bleibt. Ähnlich wie bei den Kapitellen 9
und 10, nur in sehr verstärktem Maße, wird hier für die Vorstellung von den Blättern ein
Hohlraum eingeschlossen. Dadurch ist das Gefühl der Schwere, das den Palrnettenfächer-
kapitellen 22 und 24; anhaftete, wieder aufgehoben. und der schwere Block bekommt für
das Auge Leichtigkeit der Erscheinung.
Ein kleines Kapitell der südlichen Zwerggalerie des Domes in Ferrara ist in den
Proportionen etwas schlanker als die bisher untersuchten Kapitelle. Alle Linien laufen
etwas steiler, und das Fächerblatt entfaltet sich nicht unmittelbar am Säulenhals. Die
oberen Seitenmittelblätter bekommen noch mehr Bedeutung.
Damit ist die unmittelbare Voraussetzung für ein Kapitell am Vorbau des Veroneser Domportals gegeben (26).
Hier werden die bis jetzt noch isolierten Teile zusammen-
gezogen, indem sich die unteren Mittelblätter mit ihren seitlichen Ausstrahlungen über den
Stengeln der Fächerblätter berühren und diese Stengel außerdem mit den Randstücken
der Mittelblätter verbunden werden. Die Entfaltung des Fächerblatts beginnt erst in
halber Höhe des Kapitells. Damit ist ein Gedanke des Kapitells 23 in Modena und des
eben genannten Kapitells in Ferrara weitergedacht. Der Aufbau dieses Kapitells in Verona
bildet die unmittelbare Vorstufe für Königslutter.
Eine etwas andersartige Fortbildung des Ferrareser Typs finden wir an einem
Kapitell des rechten Seitenportals an der Domfassade zu Piacenza (27).
Auch hier entfalten sich die Fächerblätter erst in halber Höhe des Kapitells, diesmal aber nicht über
den Berührungspunkten seitlicher Blattspitzen, sondern erst über einem kleinen neu ein-
geschobenen Blatt. An Modena erinnert die geringe Ausbildung des oberen Mittelblattes,
die wie ein Rückgriff auf die dortige Gestaltung wirkt. Dennoch wird man nicht sagen
können, daß dies Kapitell in Piacenza ohne Ferrara und Verona zu erklären sei, denn es
enthält die typische Eckknolle des Fächerblattes, wie sie in Ferrara entwickelt ist, und
außerdem zeigt das Portal, an dem sich dies Kapitell befindet, auch sonst Nachwirkungen
1) Dem Kapitell 24 verwandt sind zwei Kapitelle, die ursprünglich am Vorbau des Haupt-
portals standen und jetzt, stark zerstörl, in der Vorhalle aufgestellt sind. Am Portal befinden sich sehr
schlechte Nachbildungen (Restauration laut Inschrift 1830).
535
von Ferrara. Endlich enthält die Zwerggalerie der Hauptapsis am Dom zu Piacenza eine
fast wörtliche Wiederholung des Kapitells 26, nur sind die Einzelheiten etwas härter und
eckiger, die Linienführung des Umrisses ist etwas erregter, so wie an vielen Kapitellen in
Piacenza.
Eine getreue Wiederholung des Kapitells 25 in Ferrara finden wir noch an einem
Kapitell in Cremona (14).
Hier ist das obere Mittelblatt sehr stark betont und zeigt Verwandtschaft mit Verona.
Die Palmettenfächerkapitelle von Piacenza und Cremona haben nicht nach Königs-
lutter weitergewirkt, sie zeigen uns nur, wie in Italien dieser Typus weiterlebt, nachdem
er in Ferrara und Verona seine reinste Ausprägung gefunden hat. Mit den hier genannten
Werken schließt die Entwicklung ab, während in Deutschland zahlreiche Umbildungen eine
längere Lebensdauer dieses Kapitelltyps zeigen.
2. Datierungen.
Wir haben versucht, innerhalb der Kapitellornamentik eine stilistische Entwick-
lung festzustellen, und haben bei den einzelnen Werken von einem „früher“ oder „später“
gesprochen. Die so gewonnene relative Chronologie ist nun in Einklang zu bringen mit
dem, was über die Geschichte der Bauten, an denen sich die Kapitelle befinden, bekannt ist.
Bei keinem der fraglichen Bauten können wir mit Sicherheit die Entstehungszeit
der Ornamentik angeben. Die Geschichte der oberitalienischen Architektur des 12. Jahr-
hunderts ist noch durchaus ungeklärt. Für die einzelnen Bauten sind uns meist eine An-
zahl Daten überliefert, aber es ist kaum möglich, sie bei den langen, mit vielfachem Plan-
wechsel verbundenen Bauzeiten stets richtig auf einzelne Bauteile zu beziehen. Daher ist
die Forschung hier noch voller Kontroversen, und es kann im folgenden auch nur ver-
sucht werden, mögliche Entstehungszeiten anzugeben. Dann muß sich ergeben, ob unser
Entwicklungsbild von dieser Seite aus haltbar ist.
Ich beginne mit dem Dom zu Ferrara, weil wir über diesen Bau verhältnismäßig
klar unterrichtet sind. Hier finden wir am Portal die Jahreszahl 1135 und die Angabe, daß
zu dieser Zeit der Dom im Bau war 1). Schon bei der Interpretation der Inschrift gehen
die Meinungen auseinander. P. J. Meier 2) hat, als er die Beziehung zwischen Ferrara und
Königslutter zuerst feststellte, nachdrücklich betont, daß es sich hier nur um die Grundstein-
legung des Domes handeln könne und die Jahresangabe für die wirkliche Entstehungszeit
des Portals nichts aussage. An dieser Meinung hält er, nach mündlicher Äußerung, auch
jetzt unbedingt fest. Die gleiche Ansicht wird neuerdings von Arturo Giglioli in der Festschrift
zur Jahrhundertfeier des Domes vertreten 3). In der gleichen Festschrift aber kommt Bertoni,
gestützt auf eine eingehende Interpretation der Portalinschrift und anderer Inschriften am
Dom (die jetzt nicht mehr erhalten, aber leidlich sicher überliefert sind), zu dem Ergebnis,
daß der Dom bereits vorher begonnen worden ist, und zwar 1132 auf Grund eines Breve
des Papstes Innozenz II., und daß bei der Weihe 1135 die unteren Teile der Fassade mit
dem Portal standen. Dies ist die in der wissenschaftlichen Literatur meist vertretene Meinung 4),
1) Die Inschrift lautet:
ANNO MILLENO CENTENO TER QUOQUE DENO
QUINQUE SUPER LATIS STRUITUR DOMUS HEC PIETATIS.
2) „Der Meister von Kônigslutter in Italien“, in Kunstchronik, N. F. 12, 1901.
3) A. Giglioli, Il duomo di Ferrara nella storia e neIl'arte. in: La Cattedrale di Ferrara, 1937.
4) Porter (Lombard Architecture, New Haven 1917, Bd. II, S. 407) spricht von einer Gründung
zwischen 1125 und 1133; Frankl (Die frühmittelalterliche und romanische Baukunst, Handb. d. Kunst-
wiss., 1926, S. 214) gibt ohne nähere Begründung das Jahr 1133 an.
536
und ich möchte nach dem Wortlaut der Inschrift annehmen, daß wir das Jahr 1135 wirklich
als Entstehungszeit des Portals ansehen müssen. Im übrigen wird die Datierung des Portals
auch bei einem Baubeginn 1135 nicht wesentlich verschoben, denn sicher hat man beim
Bau mit der Fassade angefangen. Zugleich aber wird im Osten gebaut worden sein, wie
eindeutig aus der unmittelbaren Übereinstimmung der Kapitellformen hervorgeht. Beim
Bau von Osten nach Westen zeigt sich bald ein Bruch, auf der Südseite nach der 7., auf
der Nordseite nach der 4. Zwerggaleriearkade. Bis zu diesen Bruchstellen ist die Zwerggalerie
mit einfachen Säulen versehen, von da aus nach Westen aber mit Doppelsäulen. Außerdem
findet sich auf der Nordseite noch eine deutliche Höhendifferenz der Zwerggaleriestücke,
aus der sich ergibt, daß zunächst vom Chor aus bis zu dieser Bruchstelle, dann aber von
der Fassade nach dem Chor hin gebaut worden ist. Die Verbindungsstücke zwischen der
Fassade und den östlichen Teilen zeigen eine Kapitellornamentik, die mit den von uns
untersuchten Formen kaum noch etwas zu tun hat: die Blätter der Kapitelle sind wesentlich
steifer, wenig gegliedert, teilweise bloß Zungenblätter. Nur wenige Einzelzüge scheinen von
den Werken der Fassade und der Ostteile übernommen zu sein. Wie lange die erste Bauzeit,
der alle von uns untersuchten Kapitelle angehören, gedauert hat, läßt sich nicht angeben.
Da wir den gleichen Meister Nikolaus, der laut Inschrift am Portal tätig gewesen ist und
in dessen Werkstatt die untersuchten Kapitelle entstanden sind, außer in Ferrara noch in
Verona tätig finden, so können wir von dort aus Rückschlüsse auf die Dauer der Tätigkeit
in Ferrara ziehen. Die Fortwanderung der Werkstatt von Ferrara wird hier wohl eine Baupause
verursacht haben, nach der dann mit anderen Steinmetzen und etwas verändertem Plan
weitergebaut worden ist. Eine Gesamtweihe des Domes ist für 1177 überliefert 1).
Für den Dom in Verona haben wir das Anfangsdatum 1139. 1153 wird der
Hochaltar erwähnt 2). Damals müssen also die Ostteile fertig gewesen sein, doch lassen
sich aus dieser Angabe noch keine Schlüsse für die Entstehungszeit des Langhauses und
der Fassade ziehen. Nun finden wir am Chor eine sehr flächige und zarte Ornamentik,
die an der Fassade in den Friesen links und rechts vom Portal in ganz ähnlichem Charakter
wiederkehrt. Hier muß also, wie in Ferrara, im Osten und Westen gleichzeitig gebaut worden
sein. Die feingliedrige Ornamentik unterscheidet sich grundsätzlich von der bedeutend
kräftigeren Modellierungsart am Portalvorbau, der die für Königslutter wesentlichen Kapitelle
enthält und außerdem einen Jagdfries (28, 29),
der in Königslutter sehr ähnlich wiederholt wird 3). Da das gleiche Thema im Fries rechts vom Portal (30)
bereits dargestellt ist, ergibt sich eine unmittelbare Vergleichsmöglichkeit zwischen den älteren und den jüngeren Teilen.
Wir sind hiernach zu dem Schluß gezwungen, daß der Portalvorbau jünger ist als das
Mauerwerk der Fassade. Dies ist auch nach dem technischen Befund sehr wohl möglich.
Über dem Jagdfries am Portalvorbau findet sich in einer Inschrift der Meistername Nikolaus 4).
während die ganz ähnlich lautende Inschrift in Ferrara an der Umrahmung des Portal-
tympanons angebracht ist. Man könnte demnach denken, daß das Portal in Verona noch
ohne Mitwirkung des Nikolaus gearbeitet worden ist und daß erst auf seine Übersiedlung von
Ferrara nach Verona der Plan eines Vorbaus zurückgeht. Die Kapitelle des inneren Portals
haben mit Ferrara nämlich nichts zu tun, und in der Umrahmung des Portaltympanons
1) Am 8. Mai durch Papst Alexander III., vgl. Porter, Lomb. Arch. II, 5. 412.
2) Porter (Lomb. Arch. III, S. 469) bringt die überlieferten Daten.
3) Eichwede hat im Zusammenhang. mit seiner Arbeit über Kñnigslutter die Friese von Verona
und Königslutter zeichnerisch nebeneinandergestellt, zwar nicht in allen Einzelheiten zuverlässig. doch
im ganzen für Vergleiche brauchbar.
4) „ARTIFICEM GNARUM QUI SCULPSERIT HEC NICOLAUM
HUNC CONCURRENTES LAUDANT PER SECULA GENTES".
537
finden wir Ranken mit ganz frei und leicht über die Fläche verteilten Stengeln und Blättern (31),
ähnlich wie an den Ostteilen des Domes, während im Portalvorbau die Ranken sehr muskulöse
und kräftig geschwungene Blätter haben (32).
Nun zeigen aber die Figuren im Gewände
des Portals genau den gleichen Stil wie die entsprechenden Figuren im Gewände von
Ferrara. so daß also bereits hier Meister Nikolaus tätig gewesen sein muß 1). Dennoch müssen
wir annehmen, daß der Vorbau mit seinen Kapitellen und Friesen erst später als das innere
Portal begonnen worden ist. Die Ornamentik der Fassade zeigt also drei Stufen: 1. die
Friese links und rechts vom Portal, 2. das Portal selbst, 3. den Portalvorbau. Nur für die
erste Stufe gilt die Jahreszahl 1139 als Arbeitsbeginn. Das Portal muß zunächst schmucklos
geblieben sein. Meister Nikolaus arbeitet dann die Gewände mit den Figuren und die
Archivolten. Schließlich erfolgt die Übersiedlung der Kapitellomamentiker von Ferrara
nach Verona, und nun erst entsteht der Portalvorbau. Wir werden hier mit einer Ent-
stehungszeit rechnen müssen, die wesentlich später liegt als der Baubeginn 1139. Mir
scheint eine Ansetzung auf um 1150 angemessen. Damit ergibt sich zugleich für den
1. Bauabschnitt des Domes in Ferrara eine Zeit von rund 15 Jahren.
Zur gleichen Zeit wie am Dom in Verona ist dort an S. Zeno gearbeitet worden.
Diese Feststellung, die sich aus der Betrachtung der Kapitelle ergeben hatte, wird durch
die Baugeschichte bestätigt. S. Zeno ist nach 1123 begonnen worden, denn damals wurde
der Kreuzgang vollendet, der bestimmt älter ist als die wesentlichen Teile der Kirche (er
ist später, im 14. Jahrhundert, durch einen Neubau ersetzt worden, aber mit Benutzung
alter Teile). Der Bauvorgang ist von Simeoni in „La basilica di S. Zeno di Verona“ (Verona,
1909) genauer dargelegt worden. Dabei ergibt sich folgendes: An der Stelle der jetzigen
Kirche stand ein Bau des 11. Jahrhunderts, der eine etwas kürzere Ausdehnung nach
Westen hatte als der jetzige, und von dem im Osten noch Mauerteile für den Bau des
12. Jahrhunderts verwendet worden sind. Nach Vollendung des Kreuzgangs hat man mit
einer Vergrößerung der Kirche begonnen, und zwar hat man dabei etwas westlich der
alten Fassade eingesetzt. Dieser Bauteil, der aus Quadern aufgeführt wurde und im Gegensatz
zu den anderen Bauteilen keine Verwendung von Ziegeln zeigt, umfaßt das kurze erste
Joch vom Eingang aus und außerdem das folgende große dreiteilige Joch. Eine Inschrift
an der Südseite der Kirche gibt das Jahr 1138 als Datum der „Wiederherstellung der
Kirche“ an. Daß die Kapitelle dieses westlichen Bauteils damals wirklich fertig gewesen
sind, ist kaum anzunehmen. Die Übersiedlung der Steinmetzen von Ferrara nach Verona
wird nicht so früh stattgefunden haben; ohne sie aber ist das Kapitell 11 nicht zu erklären,
denn die Übereinstimmungen mit dem Kapitell 7 in Ferrara sind zu groß, als daß das Kapitell 11
unabhängig davon entstanden sein könnte. Wir werden hier also die gleichen Entstehungs-
zeiten vermuten dürfen wie beim Portalvorbau des Domes in Verona. Die Kapitelle des
Verlängerungsbaues sind aus weißem Marmor, während bei den späteren Kapitellen weiter
nach Osten, bei der Ersetzung des alten Baues durch einen neuen, roter Marmor verwendet
worden ist. Die Rotmarmorkapitelle zeigen die gleiche Bindung in die Fläche wie die
Kapitelle der westlichen Zwerggaleriestücke am Langhaus des F errareser Domes. Die Ver-
bindung zwischen beiden Bauten wird nicht abgerissen sein 2).
1) Die Portalanlage bedeutet eine Weiterbildung von Ferrara. Einige kleine Änderungen in der
Figurenverteilung sind als Korrekturen zu werten. Über die Beziehungen der figürlichen Plastik an
beiden Portalen vgl. Vitzthum, Die Malerei und Plastik..., S. 84, und Trude Krautheimer-Hess im
Marburger Jahrbuch IV, S. 258.
2) Eine andere Darstellung der Baugeschichte von S. Zeno ist kürzlich von Arslan gegeben
worden (L'Architettura Romanica Veronese, Verona 1939). Er bezieht das Datum 1138 auf den öst-
lichen Teil der Kirche (also auf die Rotmarmorkapitelle) und glaubt, daß der Verlängerungsbau erst im
538
Wir haben also in Ferrara und bei beiden Bauten in Verona eine leidlich sichere
Datierung der für unsere Untersuchung notwendigen Kapitelle gefunden. Von dieser festen
Basis aus können wir nun versuchen, uns mit der umstrittenen Baugeschichte des Domes
von Modena zu befassen.
Hier sind uns durch Inschriften am Dom und durch einen zeitgenössischen Bericht
zwei wichtige Daten überliefert: 1099 als Baubeginn und 1100 als erste Weihe in Verbindung
mit der Überführung der Leiche des hl. Geminianus aus einem älteren Bau in die Krypta
des neuen 1). Es muß damals also mindestens die Krypta fertig gewesen sein, aber nach
dem Bericht werden wir annehmen können, daß bereits weitere Teile errichtet waren, denn
der Architekt weigert sich, weiterzubauen, ehe nicht die Leiche überführt sei. Als Grund
zu dieser Weigerung hat Frankl angegeben 2), daß gar nicht weitergebaut werden konnte,
ehe man nicht die ältere Kirche (in der die Leiche des Heiligen ruhte) abgerissen hatte,
denn die Ostteile der neuen Kirche stünden in nur geringer Entfernung von der alten und
an deren Mauern wäre man beim Bau angekommen. Nun wissen wir von der älteren Kirche
sehr wenig. Grabungen im jetzigen Dom (im Jahre 1913, Ausgrabungsbericht von Bertoni,
„La Cattedrale modenese preesistente all'attuale“, Modena, 1921) haben ein paar Pfeiler
freigelegt, aus deren Stellung die Achse der alten Kirche hervorgeht. Ihre Ausdehnung
aber ist nicht bekannt. Die wenigen Funde ergeben eine fünfschiffige Kirche, deren Fassade
vor der des jetzigen Domes gelegen haben muß. Im Osten dieses älteren Baues habe man
also 1099 begonnen, meint Frankl, gleichzeitig habe man die Fassade der alten Kirche
abgerissen und mit dem Bau einer neuen begonnen, um diese dann später mit den östlichen
Teilen zu verbinden. Der Bauverlauf scheint mir von Frankl richtig angegeben zu sein, denn
am altertümlichsten sind die Kapitelle der Krypta, die der Ostapsiden setzen diesen Stil
unmittelbar fort, unabhängig davon finden wir im Westen einen gänzlich anderen Stil,
dessen langsame Fortbildung von der Fassade nach Osten hin sich an den Kapitellen der
nördlichen und südlichen Zwerggalerie und ähnlich an den Emporenkapitellen im Langhans
ablesen läßt. Ungeklärt ist nur bis jetzt, wie der ältere Bau zu datieren ist. Frankl setzt
ihn, im Anschluß an Porter, in das frühe 11. Jahrhundert. Hamann hat wegen der Pfeilerform
(quadratischer Kern mit vier vorgelegten Halbsäulen) und der Wandvorlagen, die auf Kreuz-
gratgewölbe in den Seitenschiffen deuten, Bedenken gegen diese Datierung geäußert; er
vermutet, wie Frankl berichtet, daß wir in dem älteren Bau denjenigen vor uns haben,
der 1099 begonnen wurde und der dann durch das große Erdbeben von 1117 zerstört und
daraufhin durch den jetzigen Bau ersetzt worden ist. Diese Ansicht wird weiter vertreten
von Tr. Krautheimer-Heß 3). Sie stützt sich dabei auf ihre Untersuchungen der Plastik der
Ostlombardei und hält für das Modeneser Portal eine Datierung auf nach 1117 für wahr-
frühen 13. Jahrhundert aufgeführt worden sei. Dementsprechend ist seiner Meinung nach auch das
Kapitell 11 erst im 13. Jahrhundert entstanden. Mit dieser Ansicht werde ich mich in einer ausführ-
lichen Besprechung des Arslanschen Buches in der Zeitschrift für Kunstgeschichte auseinandersetzen. _
Zu den Kapitellen von Verona vgl. neuerdings auch Géza de Francovich: La corrente comasca nella
scultura rornanica europea, in Rivista del R. Istituto d`Archeologia e Storia dell`Arte, V, 1936, S. 267
und VI, 1937, S. 47.
1) Die Inschriften sind bei Bertoni, Atlante storico-paleografico del duomo di Modena (Modena
1908), Tafel I und II wiedergegeben. Der Bericht („Relatio aedificationis ecclesiae cathedralis Mutinensis
et translatiunis sancti Geminiani“) ist am zuverlässigsten publiziert von Bresslau, M. G. SS. XXX, II, 2,
S. 1308 bis 1313; auszugsweise bei Lehmann-Brockhaus, SchriftqueIlen..., Nr. 2262. Bei Bertoni und
Porter sind auch die Miniaturen abgebildet, die der Handschrift beigegeben sind und die Grundstein-
legung wie die Ausstellung der Gebeine des Heiligen zeigen. Das Original befindet sich im Archivio
Capitolare in Modena. Der Bericht ist als zeitgenóssisch sichergestellt, vgl. Bresslau, S. 1308.
2) Frankl, „Der Dom in Modena“, in Galls Jahrbuch 1927.
3) Marburger Jahrbuch IV, S. 244.
539
scheinlicher als die auf bald nach 1099. Auch rnir erscheint die spätere Datierung des
Gesamtbaues glaubhafter, denn es wäre merkwürdig, wenn die Kirche gar nicht unter dem
Erdbeben gelitten haben sollte, während in dem 9 km entfemten Nonantola der alte Bau
so weit beschädigt wurde, daß ein Neubau aufgeführt werden mußte 1).
Für unsere Kapitelluntersuchung wichtiger ist die Widerlegung anderer von Frankl
vertretener Ansichten. Frankl meint nämlich, daß alle von uns herangezogenen Kapitelle
der Westfassade, sowohl die des Portalvorbaus wie die der Zwerggalerie, erst im 13. Jahr-
hundert entstanden seien. Damit würde die ganze von uns angenommene Kapitell-
entwicklung natürlich über den Haufen geworfen werden. Frankl rekonstruiert die Fassade
des frühen 12. Jahrhunderts ohne die Zwerggalerie mit ihren großen Halbsäulen (nur die
an den Ecken des Baues läßt er stehen), ohne Strebepfeiler, ohne Portalvorbau, ohne
Seitenportale, ohne Radfenster. Richtig ist, daß die Strebepfeiler ebenso wie die Seiten-
portale später eingefügt sind. Die Seitenportale stammen nach Aussage ihrer Kapitelle,
ebenso wie das Radfenster, aus dem frühen 13. Jahrhundert, und bei ihrer Anbringung
sind die Reliefs der Fassade teilweise aus ihrer alten Lage verschoben worden. Für die
übrigen Teile der Fassade läßt sich jedoch Zugehörigkeit zum ursprünglichen Bau nach-
weisen. Gegen Frankl hat Tr. Krautheimer-Heß betont 2), daß alle vier Halbsäulen der
Fassade sicher zum Urbau gehören, da ihre Kapitelle mit je zwei Tierkreisbildern dar-
stellungsmäßig zusammengehören. Von da aus hat sie erschlossen, daß die jetzigen Strebe-
pfeiler zwei alte Halbsäulen verdecken, deren Kapitelle die restlichen vier Tierkreiszeichen
enthalten haben müssen. Wenn nun diese Tierkreiskapitelle zum Urbau gehören, so gehören
dazu auch die Kapitelle der Zwerggalerie und damit die Zwerggalerie selbst. Ein kleines
Zwerggaleriekapitell zeigt nämlich ganz nahe Verwandtschaft mit einem Tierkreiskapitell
(Frankl, Abb. 4). In beiden Fällen handelt es sich um Köpfe, deren Haar pflanzlich stilisiert
ist und bei denen der Schnurrbart in merkwürdiger Weise aus den Nasenlöchern heraus-
wächst. Nicht nur die Motive sind übereinstimmend, sondern ebenso bis in Einzelheiten
hinein die Blattgliederung. Die unmittelbare Zusammengehörigkeit der Halbsäulenkapitelle
mit den Propheten des Portalgewändes hat Tr. Krautheimer-Heß betont 3). Ebenso läßt
sich die Verwandtschaft der Haarbehandlung bei den Köpfen der Tierkreiskapitelle und
denen der Genesisreliefs zeigen. Es besteht also kein Grund, an der Zugehörigkeit der
Halbsäulen und der Zwerggalerie zum ursprünglichen Bau zu zweifeln 4).
Auch die Franklsche Spätdatierung der Portalvorbaukapitelle läßt sich widerlegen.
Die Blätter unter den Innenhelices beim Kapitell 1, die wir bei der Analyse dieses Kapitells
eingehend untersucht haben, stimmen auf das genaueste rnit denen der Portalranke Meister Wilhelms (33)
überein; dort finden wir die gleiche Oberflächengliederung, die gleiche Bildung
des Blattrandes mit seinen kontinuierlichen Schwingungen und Bohrlöchern und die gleiche
Art, das Blatt aus der Tiefe herauskornmen und sich überschlagen zu lassen. - Zwischen
den Palmettenfriesen der Genesisreliefs und denen der Kapitelle 1 und 2 besteht keine un-
mittelbare Übereinstimmung, aber es ist keineswegs notwendig, einen größeren zeitlichen
Abstand anzunehmen. Die Motive sind nahe verwandt: in beiden Fällen wird das breit-
1) Dies besagt eine Portalinschrift, die bei Porter, Lomb. Arch. III, S. 104, abgedruckt ist.
2) Marburger Jahrbuch IV, S. 233.
3) Marburger Jahrbuch IV, S. 238.
4) Kürzlich ist von Kahl versucht worden, die Zwerggalerie spater zu datieren (Günther Kahl,
Die Zwerggalerie, Würzburg 1939). Die hierfür angeführten Gründe sind aber keineswegs stichhaltig.
Kahl hat den Bau niemals selbst gesehen und hat entsprechend unzureichende Vorstellungen; seine
Beobachtungen sind nur von Fotos gewonnen. Aus dem gleichen Grunde sind alle sonstigen Meinungen
Kahls über die oberitalienische Architektur haltlos.
540
entfaltete Blatt jederseits von einem halben Blatt begleitet, nur sind in den Reliefs die Ge-
samtproportionen etwas steiler. - Wir können auch auf die Ähnlichkeiten zwischen dem
Kapitell 2 am Portal
und dem Kapitell 17 an der Zwerggalerie
hinweisen, nachdem wir
für diese die Zusammengehörigkeit mit dem Urbau betont haben. Frankl hat bei den Portal-
vorbaukapitellen Anstoß genommen an den „allseitig dreidimensional geschwungenen Blättern“
mit dem „von der Ebene befreiten dreidimensionalen Krümmungsreichtum der Flächen“;
diese Eigenschaften gibt es seiner Meinung nach erst im 13. Jahrhundert. Nun haben wir
oben gesehen, daß die so stark in den Raum ausladenden Blätter der Kapitelle 1 und 2
in Wahrheit Blattkornplexe sind, indem sich an einen festen Kern reicher durchgebildete
Blätter anlehnen. Diese Blätter bedürfen durchaus der Stützung durch den Kern, sie haben
noch keineswegs von sich aus die starke Kraft der Schwingung wie gotische Blätter.
Alle von uns untersuchten Kapitelle zeigen in ihren Blättern noch durchaus die starke
Bindung an den Block, die Frankl als romanisch gegenüber den gotischen Blättern des
Radfensters bezeichnet. Für das Radfenster trifft die Franklsche Charakteristik durchaus
zu, auch schon für die Kapitellzone der Porta regia. Dagegen sind die von Frankl be-
haupteten Übereinstimmungen zwischen den Kapitellen des Portalvorbaus und denen des
Radfensters einfach nicht vorhanden. Ein verhältnismäßig spätes Kapitell an der südlichen
Zwerggalerie (zwischen der Porta dei principi und der Porta regia) ist motivisch den
Kapitellen des Radfensters sehr verwandt, indem hier nur je ein Blatt an der Kapitellecke
aufwächst und sich unter der Deckplatte umschlägt, ohne sich zu einer Volute einzurollen.
Gerade hier wird die starke Gebundenheit an den Block im Gegensatz zu den sich ganz
frei bewegenden Blättern der frühen Gotik deutlich. Für das Kapitell 18,
das Frankl als Kelchblockkapitell bezeichnet und damit ins frühe 13. Jahrhundert setzt, haben wir oben
gezeigt, daß es in enger Verbindung mit einem Zwerggaleriekapitell der Fassade (19)
und mit einigen der Langseiten (20, 21) steht.
Auch an dem anderen Kapitell des Obergeschosses
bestehen die Blattkörper noch ganz im Sinne der Kapitelle des Untergeschosses aus der
Addition mehrerer Einzelblätter und sind keineswegs so gelöst wie die Blätter in der Ranke
des Radfensters. - Ich nehme also bei allen Kapitellen des Portalvorbaus an, daß sie in
engem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Bau entstanden sind. Dabei ist es durchaus
möglich, daß die Fassade ohne den Portalvorbau begonnen worden ist und daß man ihn
erst hinzugefügt hat, als man beim Bau in der Höhe der Zwerggalerie angekommen war.
Durch die engen Beziehungen zum Portal selbst und zu der benachbarten Zwerggalerie
aber ergibt sich, daß seine Kapitelle in der gleichen Werkstatt gearbeitet sein müssen.
Berechtigt sind Frankls Einwände gegen eine Datierung ins frühe 12. Jahrhundert
jedoch bei den Löwen des Hauptportals. Sie unterscheiden sich durch ihre halbaufgerichtete
Stellung von allen Portallöwen des 12. Jahrhunderts, die immer liegend dargestellt werden
(an den anderen Portalen von Modena, in Ferrara, Verona u. a.). Sie sind ebenso stark
plastisch durchgebildet wie die auf ihrem Rücken sitzenden Konsolen, die mit den Kapitellen
der gleichen Säulen nichts zu tun haben. Ich nehme an, daß die jetzigen Löwen im 13. Jahr-
hundert an die Stelle älterer getreten sind, die vielleicht zerstört waren 1). Die ursprüng-
1) Ein ganz ähnlicher Löwe findet sich im Dom in Bologna neben dem Ausgang aus dem
rechten Seitenschitf nach dem Campanile hin. Hier ist auf die Rückenkonsole später statt der Säule
ein Weihwasserbecken aufgesetzt worden. Stilistisch gehört der Löwe zusammen mit zwei Löwen, die
jetzt innen neben dem Hauptportal stehen und die auf 1220 datiert sind. Vgl. hierzu I. B. Supino:
L'Arte nelle Chiese di Bologna, Bologna 1932 (mit Abb. der Löwen neben dem Hauptportal) uncl
A. Manaresi: La Porta dei Leoni nell'antica cattedrale di Bologna, Firenze 1911. - Damit ergibt sich
für die Modeneser Löwen eine Datierung auf um 1220 oder vielleicht auch etwas später. Zu ähnlichem
Ergebnis ist Frankl auf stilkritischem Wege gekommen (Der Dom in Modena, S. 43).
541
lichen Löwen denke ich mir ähnlich wie die in Nonantola (Abb. 18 bei Tr. Krautheimer-
Heß), also wesentlich kleiner als die jetzigen in Modena. Die Säulenschäfte werden wohl
noch aus dem 12. Jahrhundert stammen und die Verbindung zwischen ihnen und den alten
Löwen wird früher durch hohe Konsolen, wie in Nonantola, hergestellt worden sein. Keines-
wegs kann man aus dem Stil der jetzigen Löwen in Modena den Schluß ziehen, daß der
ganze Portalvorbau aus dern 13. Jahrhundert stammt. Er wird sicher noch in enger Ver-
bindung mit der Fassade selbst aufgeführt worden sein.
Nachdem also für die von uns besprochenen Kapitelle ihre Entstehung im Zusammen-
hang mit dem ursprünglichen Bau nachgewiesen worden ist, kann nochmals auf die Datierung
des jetzigen Baues im Verhältnis zum älteren Bau eingegangen werden. Wenn tatsächlich
1099 mit dem jetzigen Bau begonnen worden ist, würden die von uns untersuchten Kapitelle
nach ihrer Stellung am Bau in die beiden ersten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts zu setzen
sein; wenn dagegen der jetzige Bau erst aus der Zeit nach dem Erdbeben 1117 stammt,
so kommen wir auf das dritte und vierte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts. Gewichtige Gründe
sprachen für die spätere Datierung. Wir können nun auch die Kapitellformen heranziehen.
E ergibt sich nämlich ziemlich deutlich, daß man beim Bau von Westen nach Osten etwa
1135 auf der Höhe der Porta dei principi angekommen sein muß, denn genau an die dort
erreichte Entwicklungsstufe des Palmettenfächerkapitells und des korinthisierenden Kapitells
schließt die Bauhütte von Ferrara an, und außerdem erfährt das Palmettenfächerkapitell
dann in Modena nur noch eine unbedeutende Weiterbildung. Hier wird also eine Fort-
wanderung von Steinmetzen erfolgt sein. Gegen 1135 muß demnach in Modena tatsächlich
gearbeitet worden sein. Frankl dagegen meint, daß ein erster Bauabschnitt von 1099 bis
etwa 1120 reiche und dann erst wieder nach einer längeren Pause 1169 begonnen worden
sei. Die fraglichen Kapitelle. die für Ferrara Vorbedingung sind, wären 1135 also mindestens
15 Jahre alt gewesen; dann wäre es nicht ersichtlich, warum man sich gerade an die
Typen dieses bestimmten Bauteils angeschlossen hat. Wenn die Kapitelle dagegen in die
zweite Bauzeit gehörten, so müßten sie als Nachfolge von Ferrara bezeichnet werden, doch
gäbe das eine unmögliche Abfolge der Kapitellentwicklung, denn die Modeneser Kapitelle
sind deutlich die Vorstufen zu denen in Ferrara. Wenn jedoch bald nach 1117 begonnen
worden ist, so kann man 1135 sehr wohl gerade an dieser Stelle des Baues angelangt
gewesen sein. Eine eindeutige Entscheidung, ob die Franklsche oder die Hamannsche
These zu Recht besteht, ob wir also beim jetzigen Dom den Bau von 1099 vor uns haben
oder nicht, ist nicht möglich, solange wir nicht den älteren Bau genauer kennen.
Nun bleibt noch die Baugeschichte der auf Ferrara und Verona folgenden Bauten
zu untersuchen. Die nächsten Auswirkungen der dortigen Ornamentik hatten wir in Piacenza
gefunden. Für den dortigen Dom ist das Anfangsdatum 1122 überliefert, und zwar in einer
Inschrift an einem Portal der Fassade 1). Es wird hier sicher mit der Fassade begonnen
worden sein. Damit ist aber noch nichts über die für unsere Untersuchung wichtigen
Kapitelle ausgesagt, denn diese befinden sich an den Portalvorbauten, und aus dem Bau-
befund geht einwandfrei hervor, daß die Vorbauten nachträglich hinzugefügt sind: teilweise
sind die den eingefügten Steinen benachbarten Stücke roh abgemeißelt, teilweise finden sich
etwas erweiterte Fugen. Für die plastische Ausgestaltung der Portale hat Tr. Krautheimer-
Heß gezeigt 2), daß sich hier Auswirkungen von Ferrara finden. Damit ergibt sich eine
Datierung auf nach 1135. Auch die Portalvorbauten sind ohne Ferrara nicht zu denken,
1) Ausführliche Angaben hierüber und überhaupt über die überlieferten Baudaten bei Porter,
Lomb. Arch. III. S. 241ff. Vgl. außerdem Lehmann-Brockhaus, Nr. 2345.
2) Marburger Jahrbuch IV, S. 274 f.
542
denn die Atlantenfiguren zeigen den Stil des Meisters Nikolaus. Wir werden die Vorbauten
der seitlichen Fassadenportale (der mittlere Vorbau ist wesentlich jünger) frühestens in die
vierziger Jahre des 12. Jahrhunderts zu setzen haben. Etwa gleichzeitig wird die Krypta
mit dem bei Weigert abgebildeten Kapitell entstanden sein. Aus den überlieferten Baudaten
lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen. Um einiges später sind die Kapitelle der Zwerg-
galerie der mittleren Apsis anzusetzen, bei denen wir Nachfolge von Verona gesehen hatten.
Für Cremona ergibt sich aus den überlieferten Daten abermals keine sichere
Datierung der untersuchten Kapitelle 1). Gerade hier ist die Bauzeit sehr lang, und das
Portal setzt sich in seiner jetzigen Erscheinung aus verschiedenen Bauzeiten zusammen.
Wir sind bei der Datierung der untersuchten Kapitelle rein auf die Stilkritik angewiesen.
Da es sich um späte Nachfolge von Ferrara und Verona handelt, wird eine Ansetzung
auf um 1160 richtig sein.
Eine Bestätigung dieser Datierung entnehme ich aus einem Vergleich mit dem
Dom zu Lodi. Dort haben wir die gleichen stilistischen Tendenzen angetroffen wie in
Cremona, zugleich aber weitere Fortentwicklung von Ferrara und Verona. 1163 oder kurz
vorher wird der Bau in Lodi begonnen worden sein, denn damals wird die Leiche des
hl. Bassianus mit großem Pomp von Lodi vecchio nach dem neuen Lodi überführt. Zugleich
stiftet Kaiser Friedrich I. eine große Summe für die Kirche 2). Doch scheint der Bau, zumal
in den Westteilen, nur langsam fortgeschritten zu sein. So wird eine Datierung des Portals
auf etwa 1170 richtig sein. Wir können eher eine spätere als eine frühere Entstehungs-
zeit vermuten.
Die Ergebnisse dieses Abschnitts sind für uns in doppeltem Sinne bedeutungsvoll.
Einmal hat sich gezeigt, daß die skizzierte Entwicklungslinie der Ornamentik mit den
überlieferten historischen Daten vereinbar ist und durch sie gestützt wird, andererseits
läßt sich von hier aus angeben, wann die Übertragung der Formen nach Deutschland
stattgefunden haben kann. Maßgeblich für Königslutter sind vor allem die Kapitelle der
Zwerggalerie in Ferrara und am Portalvorbau des Domes in Verona. Von hier aus kann
in den fünfziger jahren des 12. Jahrhunderts die Übersiedlung der Werkstattmitglieder
von Italien nach Deutschland erfolgt sein. Die um 1160 entstandenen Kapitelle in Cremona
und die noch späteren in Lodi haben jedenfalls nicht mehr nach Deutschland weitergewirkt.“
.......
1) Die Daten sind zusammengestellt im Marburger Jahrbuch IV, S. 245, auf Grund der An-
gaben von Porter, Lomb. Arch. Il, S. 371f.
2) Über diese Ereignisse ist ein Bericht erhalten, abgedruckt M. G. SS. XVIII, S. 642; aus-
zugsweise bei Lehmann-Brockhaus, Schriftquelleu . .. Nr. 2215. Außerdem ist zu vergleichen Porter, Lomb.
Arch. II, S. 485ff.
37 Marburger Jahrbuch Bd. 11
543
.......
I V. D A S S C H U L V E R H Ä L T N I S Z U I T A L I E N.
Bei der Untersuchung der von Königslutter abhängigen Werke ist vor allem deutlich
geworden, wie stark sich die meisten Kapitelle der Nachfolge von ihrem Vorbild unter-
scheiden. Dadurch wird die Verbindung von Königslutter mit Italien nur um so enger,
denn hier wie dort herrscht bei der Gestaltung des Kapitellblocks das gleiche Grundgefühl:
die vor einem Kern aufwachsenden Blätter bestimmen die Erscheinung des Kapitells. In
den auf Königslutter folgenden Werken geht die Konzeption von der Gesamtform aus,
der sich die Einzelheiten unterzuordnen haben. Deren Durchbildung erfolgt nicht vom
Gesichtspunkt organischen Wachstums aus, sondern nach rein ornamentalen Prinzipien.
Die Oberflächengestaltung der Blätter ist also erst das Sekundäre, die Gesamtform aber
das Primäre. Damit ist grundsätzlich das gleiche erreicht, was vor Königslutter in Quedlinburg
oder im Kreuzgang der Magdeburger Liebfrauenkirche schon vorhanden war. Die Ein-
gliederung in die einheimischen und gewohnten Vorstellungen ist also restlos vollzogen.
Nun hatten wir bereits in Königslutter eine langsame Umdeutung der italienischen
Vorbilder beobachten können. Wir hatten erkannt, wie in den korinthisierenden Kapitellen
des Kreuzgangs der Block immer stärker wirksam wurde, wie ferner in den Kapitellen 56 und 57
Kaiserdom Königslutter, nördliches Querhaus
Kaiserdom Königslutter nördliches Querhaus
schon sehr stark der Würfel spricht, und wie andere Stücke nur noch vereinzelte
Anregungen von den italienischen Kapitellen übernommen haben. Die damit verfolgte
Entwicklung liegt durchaus in der gleichen Richtung wie die nach Königslutter ganz stark
einsetzende Umdeutung. Jetzt wird noch zu untersuchen sein, ob nicht auch schon in
den Kapitellen, die wir unmittelbar neben die in Ferrara und Verona stellen konnten,
geringe Ansätze zu einer Umprägung zu beobachten sind, die die spätere Wandlung vor-
bereiten. Auf diese Weise wird es möglich, das Schulverhältnis zu Italien zu klären. Es
war nämlich bisher die Frage offengeblieben, ob wir in Königslutter mit der Tätigkeit
von Italienern rechnen müssen, oder ob es sich um deutsche Steinmetzen handelt, die sich
in Italien geschult und dann ihre Formen nach Deutschland übertragen haben. Diese Frage
ist grundsätzlich berechtigt, weil im Laufe des 12. Jahrhunderts mehrfach oberitalienische
570
Steinmetzen nach Deutschland gewandert sind und dort gearbeitet haben 1). Es wäre also
durchaus möglich, daß dies auch in Königslutter der Fall gewesen ist.
Ein genauer Vergleich des Gesamtaufbaus der Kapitelle in Italien und Deutschland
kann hier nicht zum Ziele führen. Wir müssen uns vielmehr in die Blattstruktur vertiefen.
Wir hatten die italienische Entwicklung bis nach Ferrara und Verona und dann nach Piacenza,
Cremona und Lodi verfolgen können, die einerseits Verfestigung, andererseits verfeinerte
Gliederung gebracht hatte. Fraglich ist bis jetzt geblieben, ob auch die Königslutterer
Kapitelle als konsequente Weiterbildung zu betrachten sind, ob ihre Blattformen also bei
gelegentlich etwas anderer Erscheinung doch grundsätzlich den gleichen Geist zeigen,
oder ob hier bereits eine Umdeutung beginnt, die auf einen veränderten Stilwillen zurück-
zuführen ist.
Ich führe zunächst einen genauen Vergleich an den sich sehr ähnlichen Palmetten-
fächerkapitellen in Ferrara (25)
und Königslutter (54)
Kaiserdom Königslutter, Löwenportal
durch. Besonders klar erkennbar
ist die Struktur der aufsteigenden Seitenmittelblätter. Das Königslutterer Blatt ist am
Säulenhals durch tiefe Furchen gegliedert, die zwischen erhabenen Stegen liegen; der
mittlere Steg bildet den Ansatz des aufgelegten schmalen Blattes, während die seitlichen
Stege nur bis zu halber Höhe des Blattes vordringen, dort abbrechen und an ihre Stelle
eine Furche tritt, die die Blattlappen voneinander trennt; diese entwickeln sich aus den
Furchen am Säulenhals. Ebenso ist das Ferrareser Blatt aufgebaut, nur liegen dort die
erhabenen und vertieften Formen nicht hart nebeneinander, und die Blattlappen scheinen
sich aus dem Säulenhals heraus zu entwickeln. Das italienische Blatt zeigt mehr Elastizität
der Durchbildung. Das wird vor allem deutlich in Verona am Kapitell 26,
dessen Blätter noch stärker in diesem Sinne durchgeformt sind. Man kann über das italienische Blatt
sagen, daß es „wächst“, während das deutsche „ruht“. Das italienische Blatt scheint vor
unseren Augen aufzuwachsen, während das deutsche in seiner einmal festgelegten Lage
verharrt. Das bedeutet, daß das deutsche Blatt weniger organisch empfunden ist. Lebendigkeit
kann man ihm zwar nicht absprechen, aber es handelt sich mehr um eine ornamentale
als eine organische Lebendigkeit. Damit ist ein Unterschied angedeutet, der zwar in Königs-
lutter gegenüber allen späteren deutschen Schöpfungen gering erscheint, aber immerhin
vorhanden und grundsätzlich wichtig ist.
Wir können ihn an den fächerförmigen Eckblättern bestätigt finden. Sie sind in
Ferrara und vor allem in Verona voll weicher Elastizität, während sie in Königslutter
schwerfälliger und härter erscheinen. Diese Härte würde vor allem bei einer Darstellung
der Blattquerschnitte deutlich werden. Wir würden dann in Italien eine leicht gewellte
Linie erhalten, in Königslutter dagegen eine eckig gebrochene. Höhen und Tiefen sind
hier gleichwertig geworden. Das Blatt besteht also nicht mehr aus Schwellungen zwischen
vertieften Blattausstrahlungen, sondern es ist durch einen gleichmäßigen Wechsel von Rillen
und Stegen gegliedert. In Ferrara kommen die Rippen in weichem Schwung aus der
1) Sie lassen sich urkundlich in Regensburg nachweisen (vgl. Anna Landsberg, Die romanische
Bauornamentik in Südbayern, Frankfurter Diss., 1917). Die dort von ihnen mit Ornaınentik ausgestattete
Kirche ist zwar nicht mehr erhalten, aber an einer ganzen Reihe von Bauten in und um Regensburg
spüren wir deutlich, daß Italiener entweder selbst mitgearbeitet haben oder daß ihr Stil nachwirkt. Aus
stilistischen Gründen können wir einer anderen italienischen Steinmetzengruppe eine Reihe von Kapitellen
in Speyer und Mainz zuweisen, die ihrerseits zahlreiche Nachwirkungen am Mittelrhein, in Hessen und
am Niederrhein erkennen lassen (vgl. die Arbeiten von Kautzsch; außer dem S. 529, Anm. 3 genannten
Aufsatz seine Beiträge in der Zeitschr. f. Gesch. d. Arch., 7, 1919, und im Städeljahrbuch I, 1921).
Ebenfalls haben in Quedlinburg unzweifelhaft Italiener mitgearbeitet (vgl. A. Goldschmidt, Die Bau-
ornamentik in Sachsen im 12. Jahrhundert, Monatshefte für Kunstwiss. III, 1910).
571
vertieften Mitte heraus, in Königslutter aber stoßen sie hart aneinander in den parallel
nebeneinander angeordneten Ansätzen. Dies wird besonders beim Kapitell 52 deutlich.
Kaiserdom Königslutter, Löwenportal
Sehr wesentlich ist auch die schon früher erwähnte Anbringung der Bohrlöcher.
Bei den Kapitellen am Königslutterer Löwenportal liegen sie zwar an den Enden der
Blattrandeinziehung, doch sind sie hier eine ganz „abstrakte“ Form, während sie sich in
Ferrara organisch aus den Einschwingungen ergeben. In Königslutter ist nur noch die
Vorstellung der Aushöhlung vorhanden, sie ist „abgespalten“ aus dem Formenkomplex
des Ferrareser Kapitells und ist nun selbständig verwendet. Sie kann so selbständig werden,
daß das Bohrloch nicht mehr als Endpunkt der Blattrandeinziehung verstanden wird. Bei
den Kapitellen im Königslutterer Kreuzgang (53, 55)
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
Kaiserdom Königslutter, Kreuzgang
liegen die Bohrlöcher nämlich einfach
auf den Rippen, während der Blattrand nicht mehr zu ihnen einschwingt. Nur bei den
Voluten wird noch eine Verbindung zwischen dem Blattrand und den Löchern gesucht.
An den oberen Mittelblättern und den Voluten finden wir in Königslutter aufgelegte
Rippen, während sonst die Oberfläche glatt ist. In Italien sind zwar auch die Rippen
gegenüber den anderen Blatteilen erhaben, aber die Blattoberfläche schwingt neben ihnen
etwas zurück, so daß die Rippen kaum höherliegen als die übrigen Blatteile. Der Blattkörper
scheint die Rippen aus sich hervorzutreiben. In Königslutter wirken sie demgegenüber
als Zutat. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Oberflächenstruktur sich in Italien jeweils
aus dem Wesen des Blattes ergibt, das Blatt sie also erzeugt, während sie in Königslutter
mehr auferlegt erscheint.
Ebenso wie an den Blättern des Palmettenfächerkapitells ließe sich der Vergleich
italienischer und deutscher Blattgestaltung auch an den korinthisierenden Kapitellen durch-
führen. Bei der Besprechung der einzelnen Kapitelle war oben darauf hingewiesen worden,
daß alle in Italien entwickelten Blattzusammensetzungen in Königslutter wiederkehren. All
diese Blätter aber zeigen die gleiche Auffassung vom Wesen des Blattes, wie sie bei den
Palmettenfächerkapitellen zu beobachten war. Während die italienischen Blätter organische
Gebilde sind, sind die deutschen abstrakt aufgefaßt; das italienische Blatt ist immer Gewächs,
das deutsche aber ist Ornament.
Es dürfte nun klar sein, daß der Unterschied, der zwischen den italienischen Kapitellen
und Königslutter festgestellt worden ist, in der Richtung liegt, in der dann in der Nach-
folge von Königslutter in verstärktem Maße eine Umprägung der italienischen Formen vor-
genommen wird. Die Königslutterer Kapitelle unterscheiden sich in grundsätzlichen Dingen
von denen in Ferrara und Verona und haben mit der dortigen Weiterentwicklung in Piacenza,
Cremona und Lodi nichts zu tun. Zu ihrer sprachlichen Charakterisierung mußten die gleichen
Worte gebraucht werden, wie sie zur Kennzeichnung der von Königslutter abhängigen
Kapitelle verwendet worden waren. Sie sind damit deutlich gegen die italienischen Werke
abgesetzt. Sie stehen den Werken der Nachfolge gesinnungsmäßig näher als jenen Stücken,
die als Ausgangspunkt gedient haben. In Königslutter können also nur Deutsche tätig gewesen
sein. Diese können die italienischen Formen nur in Ferrara und Verona kennengelernt
haben, weil es sonst nirgends verwandte Werke gibt. Sie müssen also nach Italien gewandert
sein. Bei den Arbeiten an den dortigen Domen werden sie kaum passive Zuschauer gewesen
sein, sondern sie werden mitgearbeitet haben, wie sich auch für die großen deutschen
Bildhauer des 13. Iahrhunderts eine Tätigkeit in Frankreich hat nachweisen lassen. Allerdings
will es nicht gelingen, ihre Werke in Ferrara und Verona herauszufinden. P. J. Meier hatte
die Konzeption des Palmettenfächerkapitells auf einen Deutschen zurückführen wollen 1).
Diese Ansicht ist nicht haltbar, nachdem die Vorstufen in Modena haben aufgewiesen
1) „Der Meister von Königslutter in Italien", Kunstchronik 1901.
572
werden können. Die deutschen Steinmetzen haben anscheinend in Italien nur Mitarbeit
geleistet und den Kapitellen nicht ihre endgültige Gestalt gegeben, während sie in Deutschland,
ganz auf sich gestellt, die übernommenen Vorstellungen mit eigenem Gedankengut durch-
drungen haben, so daß es bei noch so genauer Übertragung des Formenapparates doch
zu Umdeutungen in den Einzelheiten kommen mußte 1).
Besonders in die italienische Formenwelt eingelebt hat sich der Meister des Tierfrieses
an der Apsis in Königslutter. Der Veroneser Tierfries ist so ähnlich (28, 29),
daß in beiden Fällen die gleichen Hände tätig gewesen sein müssen. Freilich soll nicht gesagt sein, daß
die Konzeption des Veroneser Frieses auf den Königslutterer Meister zurückgeht. Wir
werden diesen vielmehr als Gesellen in der italienischen Werkstatt anzusehen haben. Auch
hier läßt sich nämlich in Königslutter der Beginn einer Umdeutung nachweisen, vor allem
an der Akanthusblattwelle über dem Fries.
Von Italien aus gesehen erscheinen die Werke der deutschen Steinmetzen, vor
allem in der Nachfolge von Königslutter, weniger organisch, weniger durchempfunden,
vielleicht auch formloser. Das alles ist aber nur dadurch bedingt, daß die Deutschen andere
Dinge gewollt haben als die Italiener, es ist nur Folge der Umprägung, die verursacht
wird durch das Verlangen, das Massenmäßige des Kapitells hervorzuheben, den Umriß
sprechen zu lassen, oder auch die durchgebildete Masse zu geben, während auf der Ober-
fläche des Blocks die abstraktornamentale Linienphantasie sich auswirken kann. Hier be-
stätigt sich die alte Beobachtung, daß die Deutschen nichts von fremder Kunst über-
nommen haben, ohne ihm einen neuen Sinn zu geben und seine Gestalt zu ändern.
1) Einzelne Züge der Königslutterer Kapitelle, die zur Unterscheidung von den Vorbildern in
Ferrara und Verona genannt wurden (wie die Entfernung der Bohrlöcher vom Blattrand oder die ge-
ringere Lebendigkeit der Blätter), findet man gelegentlich auch an weniger qualitätvollen Werken in Italien,
etwa im Atrium von S. Ambrogio in Mailand. Deswegen wird man diese italienischen Werke natürlich
nicht deutschen Steinmetzen zuschreiben. Andererseits unterscheiden sich die Königslutterer Kapitelle
von ihren italienischen Vorbildern ja keineswegs durch geringere Qualität, und außerdem kommen eine
ganze Reihe von Unterschieden gegenüber den italienischen Werken zusammen, so daß der oben ge-
zogene Schluß auf nationale Zugehörigkeit der Steinmetzen doch wohl berechtigt sein wird."
573
Quelle:
Erwin Kluckhohn: "Die Kapitellornamentik der Stiftskirche zu Königslutter. Studien über Herkunft, Form und Ausbreitung." Dissertation an der Universität Göttingen, veröffentlicht in Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft Bd. 11 S. 527-578; 138 Abbildungen auf Tafel 1-8
Abbildungen auf der Homepage wurden soweit verfügbar zur Verbesserung der Verständlichkeit des Textes teilweise durch neuzeitliche Fotos verbesserter Auflösung ersetzt und direkt in den Text eingefügt.
Weiterführende Informationen - Romanik als europäisches Projekt -
LINK: http://www.transromanica.com
VI.
Die Philosophie und die Philosophen des zwölften
und dreizehnten Jahrhunderts.
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Von Friedrich von Raumer.
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Es fehlt nicht an Werken, welche die Geschichte der neuern Philosophie, für größere Kreise der Liebhaber, oder kleinere Kreise der Eingeweihten darstellen. Die meisten derselben beginnen mit Kant, oder gehen höchstens bis Descartes, als dem vorgeblichen Anfangspunkt der neuern philosophischen Entwickelung zurück. Was zwischen der neuplatonischen Schule und ihm liegt, wird oft übergangen, oder auch wol obenein geschmäht; obgleich es selbst für manche Philosophen ein unbekanntes Land, eine terra incognita ist. Und doch unterliegt es für Jeden, der nur einmal in dieses Land hineingeblickt hat, gar keinem Zweifel: solch Ignoriren, oder von der Hand Weisen der Philosophie des Mittelalters, sei für unsere Zeit durchaus unzeitig, und sie verdiene vielmehr, daß man sie von Neuem ins Auge fasse, bearbeite und darstelle. Ungeachtet ihrer Einseitigkeiten, Lücken und Mängel, wird sich dann ergeben, wie großen Werth und Reichthum sie besitzt, und welche Einwirkung auf spätere Zeiten ihr beizulegen sei.
Das alte Vorurtheil: die Geschichte des Mittelalters zeige nichts als Barbarei, die Dichtkunst jener Zeit nichts als Monstruosität und Trivialität und dergl. mehr — ist längst ausgerottet. Aehnliche Berichtigungen bedürfen manche
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466 Die Philosophie und die Philosophen
Urtheile über die Scholastik, unb mit den vielen ungegründeten Anklagen werden dann auch einzelne übertriebene Lobeserhebungen dahinfallen.
Sowie die Begriffe von Staat und Kirche, Verfassung und Verwaltung, Steuern und Kriegswesen, häuslichem und öffentlichem Leben, Baukunst und Dichtkunst und dergl. mehr sich erläutern, aufklären und reinigen, wenn wir das Mittelalter nach seinen Licht- und Schattenseiten mit unserer Zeit zusammenstellen, so wird bei ähnlichem Verfahren auch der Gewinn für die Philosophie nicht ausbleiben.
Möchten Neander und H. Ritter (diese Meister in ihren Fächern) die damaligen Systeme bald nach ihrem vollen Umfange und tiefsinnigern Zusammenhange so darstellen, wie es der jetzige Zustand der Wissenschaft erfordert. Der Verfasser nachstehenden Aufsatzes ist sehr entfernt, sich ein so großes, weit über seine Kräfte hinausgehendes Ziel zu stecken. Als bloßer Liebhaber der Philosophie, bezweckt er nur anderen Liebhabern (welche zu dem mühsamen Erforschen der Quellen weder Zeit noch Lust haben) eine möglichst kurze und verständliche Uebersicht des Ansprechendsten aus jenem vernachlässigten Zeitraume und zugleich eine Gelegenheit und Veranlassung zu geben, die spätere Entwickelung der Philosophie mit jener früheren zu vergleichen.
Die folgende Darstellung zerfällt in zwei Hauptabtheilungen. In der ersten werde ich Allgemeineres über Beschaffenheit und Inhalt der Philosophie des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts beibringen, und in der zweiten einige der wichtigsten Philosophen jener Zeit näher zu schildern versuchen.
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467 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Kein einzelner, durch überwiegend große Anlagen und bewundernswürdige Werke hervorragender Mann bezeichnet den Anfang des thätigen und bewegten Zeitraumes, welchen die Geschichte der scholastischen Philosophie umfaßt. Der Name scholastisch weiset ganz richtig darauf hin, daß es eine Philosophie der Schule war, die von gemeinschaftlichem Lernen und Lehren ausging und in fremder Sprache betrieben ward, ohne daß man je ihre Ergebnisse in ansprechender Form zusammenstellte, um daraus eine Philosophie für das Volk zu bilden, oder dasselbe lebhaft anzuregen. Andererseits darf man nicht vergessen, daß sich die Schule über den Kreis des Lehrers und der unmittelbaren Schüler ebenso hinaus erstreckte, wie in unsern Tagen; obwol es damals mehr Arbeit und Ernst kostete einzudringen, als nach Erfindung der Buchdruckerkunst, der Journale, der Recensionen u. s. w.
Hingegen war das Latein im Mittelalter die Sprache der Wissenschaft überhaupt, und stellte sich anders als wenn Jemand in unsern Tagen ein philosophisches Buch lateinisch schreiben wollte. Das philosophische Latein des Mittelalters klingt allerdings höchst barbarisch, wenn man es mit dem ciceronianischen vergleicht; wiederum hat es sich eine Menge von Gedanken, nähern Bestimmungen, Wendungen und Unterscheidungen angeeignet und sich aneignen müssen *) , welche die alten Römer weder dachten, noch ausdrücken konnten. Zu dem neuen Inhalte gehörte also eine neue Form; aber freilich lernte man dieselbe nie
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*) Z. B. haecceitas , potentia actubilis, aliquitas und dergl. Schröckh, XXIV. S. 437. Und Beispiele überkünstelter Streitsätze Heary Hist of England VIII. S. 176.
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468 Die Philosophie und die Philosophen
vollständig ausbilden und künstlerisch beherrschen. Solch eine Vernachlässigung der Form straft sich an den Scholastikern durch eine bisweilen so weit gehende Vernachlässigung ihrer Werke, daß selbst Philosophen von Fach keinen Blick hineinthun und vom Inhalte gar keine Kenntniß nehmen.
Man hat gesagt *): „scholastisch sei diejenige Behandlung der Gegenstände a priori, wo nach Aufstellung der meisten für oder wider aufzutreibenden Gründe, in syllogistischer Form, die Entscheidung aus Aristoteles, den Kirchenvätern und dem herrschenden Lehrgebäude hergenommen wird." — Diese Erklärung deutet allerdings wichtige Punkte an, ohne jedoch das Wesentliche zu erschöpfen. So ist jene formale Behandlung zwar vorwaltend, aber keineswegs alleinherrschend. Anselm von Canterbury, Hugo von Rouen und Andere bedienten sich z. B. der dialogischen Form, Alanus von Ryssel schlägt (wie Spinoza) den Weg mathematischer Beweisführung ein; einige Mystiker verschmähen umgekehrt ganz diese Formen und Vorschriften u. s. w. — Ferner spielt Aristoteles in den merkwürdigen Schulen des 12. Jahrhunderts unmittelbar noch gar keine entscheidende Rolle, und wird selbst im 13. bekämpft, sobald seine Lehren mit den christlichen unverträglich erscheinen. Auch hatte Platon in Beziehung auf die Entwickelung des Inhalts der Philosophie kaum einen geringern Einfluß und Augustinus wol noch mehr Ansehen als beide zusammengenommen.
Ueberhaupt wirkte die Religion der Heiden niemals in dem Maße auf die Philosophie, wie die
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*) Tiedemann Geist der speculativen Philosophie IV. S. 338.
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469 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
christliche *); weshalb man vielleicht noch mehr von einer christlichen, als von scholastischer Philosophie sprechen sollte. Oder man könnte alle philosophischen Entwickelungen unter den neuern Völkern, so lange diese ihre wissenschaftliche Bildung an Christenthum und Kirchenthum anschlossen, der scholastischen Philosophie beizählen.
Zu der Gottes- und Geistesphilosophie, welche im Mittelalter vorherrschte, mußte sich allmälig die Naturphilosophie als zweiter Theil ausbilden. Sie ward oft wie ein feindlicher Gegensatz betrachtet, bis sich bei gründlicher Fortbildung weder die Verschiedenheit, noch die höhere Einigkeit dürfte ableugnen lassen.
Nachdem man sich während des 12. Jahrhunderts in verschiedenen einzelnen Richtungen versucht hatte, trat das Bedürfniß des Vollständigen, Systematischen immer mehr hervor. Sobald dasselbe im 13. Jahrhunderte befriedigt war, gerieth man in untergeordnete, aber darum nicht weniger heftige Streitigkeiten, bis das, was im 14. und 15. Jahrhunderte (tyrannischer noch als zuvor) eingewirkt und zusammengehalten hatte, durch die italienischen Philosophen und die Reformation auseinandergesprengt wurde. So ungemein verschieden Dichtkunst und Philosophie (besonders im Mittelalter) auch sind, zeigt sich doch ein gar merkwürdiger Parallelismus ihrer Entwickelung. Die Dichtkunst und die Dichter des 12. Jahrhunderts verhalten sich nämlich zu der Dichtkunst und den Dichtern des 13., genau wie die Philosophie und die Philosophen
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*) Ritter, Begriff und Verlauf der christlichen Philosophie, in Gieseler‘s Studien 1833, S. 258.
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470 Die Philosophie und die Philosophen
des ersten, zu denen des zweiten Zeitabschnittes. Dort das Rohere, aber auch Kräftigere, Einfachere und Natürliche *); hier das Ausgebildete, Gewandte, Glänzende, Scharfsinnige, daneben aber auch Willkürliches und Ueberkünsteltes.
Die drei großen Grundlagen oder Richtungen, welche bei jeder höheren philosophischen Entwickelung hervortreten und nothwendig zueinander und zur Bildung eines vollständigen Ganzen gehören, finden wir im 12. und 13., wie im 18. und 19. Jahrhunderte. Man geht aus vom Wissen und Erkennen, oder vom Fühlen und Glauben, oder vom Zweifeln und Leugnen, und so entstehen die großen Schulen der Dogmatiker, Mystiker, Skeptiker, mit mannichfachen Nebenrichtungen und Ausbeugungen. Nur treten dieselben im Mittelalter weniger scharf gesondert heraus, als in früheren und späteren Zeiten. Das Kirchliche wirkt überall ein, leitet mehr oder weniger das Dogmatische oder Mystische, und bezähmt das Skeptische. Uebrigens bahnen die Meister des 12. Jahrhunderts denen des 13. den Weg und stehen mit ihnen in wesentlicher Verbindung. So folgen den Dogmatikern des 12. Jahrhunderts (Anselm, Hildebert, Alanus u. A.) die des 13. (Wilhelm von Paris, Albert der Große, Thomas von Aquino). So bilden die Mystiker Bonaventura, Raymund und Andere das weiter, was Bernhard von Clairvaux, Hugo und Richard von S. Viktor begannen; so mußte auf Abälard, Duns Scotus folgen und Roger Bakon die spätere erperimentirende Naturphilosophie vorbereiten.
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*) Auch in Bezug auf die Baukunst ließe sich dies durchführen.
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471 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Wenn wir bedenken, daß den Philosophen jener Zeit der unermeßliche Reichthum fehlte, welchen Versuche und Erfahrungen geben, daß ihnen ferner die bedeutendsten literarischen Hülfsmittel und geschichtlichen Grundlagen nicht zu Gebote standen, so ist weniger Grund vorhanden Lücken und Mängel zu rügen, als über die außerordentliche Thätigteit, Tiefe und Kraft jener großen Geister zu erstaunen *).
Das übertriebene Vertrauen zu ihrer eigenen Geistestiefe hat aber (so wird oft geklagt) jene Männer vermocht den unnützesten, unlösbarsten, spitzfindigsten Fragen, thöricht eine große Wichtigkeit beizulegen und sie mit lächerlichem Ernste umständlich zu prüfen und zu beantworten. Unbegnügt z. B. mit der einfachen Unsterblichkeitslehre fragte man: werden die Fetten fett, die Magern mager, die Buckligen bucklig auferstehen? Werden die Auferstandenen alles Das wieder bekommen, was sie in diesem Leben verloren, z. B. Haare, Nägel und dergl. — Ist Christus mit seinen Kleidern gen Himmel gefahren? Ist er in der Hostie nackt, oder bekleidet u. s. w. **)? Ohne Zweifel bieten Fragen und Untersuchungen dieser Art in ihrer Vereinzelung Gelegenheit zu Spott und Scherz, ja sie lassen auf eine Ueberladung mit angeblich philosophischen Zierrathen, auf eine Ueberkünstelung im Ausbaue des Systems schließen. Hiermit ist aber die Beurtheilung noch gar nicht am Ziele.
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*) Ebenso urheilt Rixner in seiner scharfsinnigen Geschichte der Philosophie II. S. 63.
**) Histoire littéraire XVI. S. 64.
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472 Die Philosophie und die Philosophen
Wenn man die Feinheit der Aufgaben und Lösungen, — oder Nichtlösungen, in der Aristotelischen Metaphysik bewundert, darf man über Aehnliches in den Scholastikern nicht den Stab brechen, und Hegel, der dies thut, ist selbst nach Form und Inhalt mehr ein Scholastiker als irgend ein neuerer Philosoph.
Die wunderlichsten und auffallendsten Fragen und Untersuchungen jener Zeit stehen mit dem Wesentlichen der Systeme in unleugbarem Zusammenhange, und wachsen aus ihnen hervor. Sie haben Inhalt und Bedeutung für Jeden, welcher obigen Boden der Wissenschaft nicht von vorn herein verschmäht, oder Alles ausreutet, was er selbst anzubauen kein Behagen findet.
Wäre dies Entwickeln und Verfolgen vieler Fragen sogar nichts gewesen, als ein leeres Spiel, eine Art von nürnberger Tand; woher kommt es denn, daß keines der damaligen Systeme, keine Schule sie verschmähte *) oder verspottete und sich dadurch Waffen wider ihre Gegner bereitete. Die Antwort: es war eine allgemeine Krankheit, ein allgemeiner Schade, reicht um so weniger aus, da jede Schule diese Dinge eigenthümlich behandelte, und andere Wege, zu anderen Zwecken einschlug.
Jene, aus vielen andern beispielsweise herausgehobenen wunderlichen Fragen und Antworten, jene äußersten Blätter lassen bei genauerer Betrachtung leicht erkennen, auf welchem Baume der Speculation dieselben gewachsen sind. In späteren Zeiten pflückten klügere oder schlauere Gärtner diese Blätter zuweilen ab, um sich nicht dem Spotte
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*) Nur Einzelne, welche außerhalb aller Schulen standen, versuchten oder wagten dies, wie etwa Johannes von Salisbury.
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473 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
auszusetzen; die Scholastiker gingen ehrlicher vorwärts, plus ultra, bis an ein Aeußerstes; selbst auf die Gefahr kurzweg umkehren zu müssen. Zum Theil hing dies aber auch davon ab, daß sie die gesammte kirchliche Tradition ohne kritische Prüfung annahmen und auf den Boden der Philosophie verpflanzen, oder durch dieselbe bestätigen wollten. Wer z. B. gewisse Voraussetzungen oder Lehrsätze über Unsterblichkeit, Transsubstantiation und dergl. annimmt, wird nothwendig bis zu gewissen Endpunkten hingetrieben, oder er muß nach dem tel est notre bon plaisir einen willkürlichen Endpunkt setzen, ober er sieht sich genöthigt die Mangelhaftigkeit der Voraussetzungen und Lehrsätze anzuerkennen.
Was nun die Dogmatiker anbetrifft, so gingen sie mit Lust auf alle diese Dinge ein, in der Ueberzeugung, daß durch fortgesetzte, angestrengte Geistesarbeit das Auge immer schärfer werde, das Erkennen und Begründen sich immer weiter ausdehne, und Dinge oder objective Wahrheiten sich ergreifen und beherrschen ließen, deren Dasein die unphilosophische Menge nicht ahne, oder die sie mit flachem Spotte verhöhne.
Wo möglich mit noch mehr Schärfe und Künstlichkeit bewegten sich die Skeptiker in diesen Bahnen, jedoch nur, um die gefundenen Ergebnisse gegen einander aufzuheben und die Leerheit des dogmatischen Beweisens zu erweisen. Wo z. B. Thomas von Aquino mit einem dogmatischen Ueberschusse abschließt, läßt Duns Scotus gewöhnlich Null mit Null aufgehen.
Man sollte glauben, daß alle diese angeblichen Spitzfindigkeiten der Richtung der Mystiker ganz fremdartig, ja entgegengesetzt gewesen wären; und doch finden wir dieselben
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Fragen und Gegenstände der Forschung *). Nur was dort auf dem Wege des Verstandes, oder der speculativen Vernunft begründet oder zerstört werden sollte, steht hier in Verbindung mit Anschauung, Erleuchtung, Offenbarung, allegorischer und mystischer Deutung.
Nachdem ich so die Stellung und den Zusammenhang untergeordneter, scheinbar vereinzelter Fragen angedeutet habe, muß ich an einen andern Gegensatz erinnern, von welchem Manche behaupteten: er sei von den Scholastikern als der wichtigste betrachtet worden, habe aber ebenfalls keine Wichtigkeit, keinen echten Inhalt, sondern bleibe ein Streit mit Worten, um Worte. Ich rede von den Parteien der Nominalisten und Realisten **). Jene nahmen an: nur in den einzelnen Dingen ist Wahrheit; allgemeine Begriffe sind Erzeugnisse des abstrahirenden Verstandes, bloße Worte, ohne Wesenheit, ohne etwas Substantielles. — Die Realisten hingegen behaupteten: in den Universalien (den Ideen) ist allein wahre Wesenheit enthalten; in allem Einzelnen stellt sich nur ein und dasselbe Sein eine Wesenheit dar, und sie sind lediglich
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') Selbst beim heiligen Bonaventura (Comment. In libros Sententiarum H. Dist. 19, 20, 24) finden wir Fragen erörtert wie die folgenden: An humores et intestina resurgant? An im emissione seminum in statu innocentiae fuisset delectationis imtentio? An quoties fuissent conjuncti, taties prolem genuissent etc.?
**) Meiners de Nominal. Et Real. initiis. Tennemann VIII. 1, S. 159. Buhle Lehrbuch V. S. 191. Schmid Mysticismus S. 179. Baumgarten-Crusius de Realium et Nominalium discrimine. Consin Einleitung zu Abälard‘s Werken.
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durch Zufälligkeiten, Nebenbestimmungen, Accidenzen voneinander unterschieden.
Weil diese kurze Beschreibung oder Erklärung Manchem vielleicht nur Sophistik und leere Scholastik nachzuweisen scheint, sei es erlaubt noch etwas länger dabei zu verweilen. Roscelin, Stiftsherr zu Compiegne, welcher für den Gründer des Nominalismus gilt, forschte keineswegs über eine blos leere, fast lächerliche Schulfrage; sondern er (gleichwie seine Freunde und Gegner) brachten das, was früher und später die Philosophie wesentlich beschäftigte und erfüllte, nur in einer neuern Form und Färbung zur Sprache und zum Bewußtsein. Es handelt sich von der Möglichkeit der Einheit und Vielheit, dem Wesen der Persönlichkeit, dem Verhältnisse des Denkens zum Sein und des Einzelnen zum Ganzen und zu Gott. Es stehen hiermit in wesentlichem Zusammenhange die Lehren von Freiheit, Gnade, Zurechnung, Erbsünde, Auferstehung und ewigem Leben. Es war die Frage: ob diese Gegensätze in unlösbarer Feindschaft beharren, oder ineinander übergehen, und sich versöhnen könnten, ja müßten.
Wenn Roscelin sagte: nur die Individualitäten haben Wesenheit, und die Universalien sind blos Gedanken (Gattungsbegriffe), erschaffen durch den menschlichen Geist; so war dies nicht allein unvereinbar mit der christlichen Dogmatik, sondern auch mit der platonischen Ideenlehre; wie es denn überhaupt ungründlich ist, die Nominalisten kurzweg für Platoniker, und die Realisten für Aristoteliker auszugeben. Vielmehr stimmten die Realisten in Bezug auf ihre Lehre von den Universalien besser mit Platon,
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als mit Aristoteles *). Eher läßt sich im Nominalismus die Wurzel des Empirismus und der das Sichtbare ergreifenden Naturphilosophie nachweisen. Denn so hoch der menschliche Geist in jenem Systeme auch gestellt zu sein scheint, erhält er seinen Inhalt zuletzt doch nur durch Sinnlichkeit und Einbildungskraft; darüber hinaus ist lediglich Abstraction und Spiel der Sprache.
Dem Allen widersprechend lehrte Wilhelm von Champeaux: das Wesen der Persönlichkeit liegt in dem Allgemeinen, dem Universellen, und sofern Individualität vorhanden zu sein scheint, ist sie nur zufällig; sie beruht nur auf der Menge und Mannichfaltigkeit ihrer Zufälligkeiten oder Accidenzen.
Beide Systeme führen in ihrer Einseitigkeit und Getrenntheit nicht zum Ziele. Es gibt wahre und falsche Universalien und Individualitäten. In den Begriffen todter Abstraction liegt keine Wesenheit: sie sind das Gegentheil platonischer Ideen und christlicher Dogmatik; ebenso wenig kommt aber in der Atomistik vereinzelter Personen das Wesen und Geheimniß der Individualität zu Tage. Der Mensch ist nicht blos eine Person und Etwas durch seine Person, ohne Verbindung mit dem Ganzen und der Gottheit. Vom Standpunkte der alleinherrschenden, abgeschlossenen Persönlichkeit kommt man nie zu Gott, nie zu Staat und Kirche, sondern zu einem Kriege Aller gegen Alle, und einem anmaßenden und doch zuletzt hülflosen atomistischen Egoismus. Hobbes, Gassendi,
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*) Auf den Unterschied der Realisten, welche Universalien in rem (aristoletisch und ante rem (platonisch) annehmen, kann ich hier nicht näher eingehen.
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Condillac liegen in einer, damals freilich noch ungekannten, Richtung des einseitigen Nominalismus.
Auf dem andern, ausschließend verfolgten Wege, geht mit der wesenhaften, lebendigen Person , auch der lebendige Gott verloren; er verwandelt sich in das Gespenst einer bloßen Substanz. Mithin liegt die Wahrheit und das Wesentliche nicht blos in einer dieser Richtungen. Geht das Universale und Individuelle nicht durch Alles hindurch, von Gott bis zu der kleinsten Persönlichkeit, so ist die Kette zerrissen und ohne Haltung, Hülfe und Nutzen. So viel Besprochenes (z. B. Recht, allgemeine Sinnesart, vox populi, öffentliche Meinung) erhält erst Wahrheit, Sinn und Verstand durch jene Durchdringung des Allgemeinen und Besonderen, des Göttlichen und Menschlichen; sowie ebenfalls manche Kapitel der kirchlichen Dogmatik Licht auf diesen philosophischen Boden werfen.
Abälard suchte eine neue Vermittlung und lehrte: die Universalien sind weder Sachen, noch Worte; sondern Conceptionen und Erzeugnisse des Geistes *). Diese Lösung ist jedoch ebenfalls ungenügend, oder doch weit entfernt von der Wesenheit platonischer Ideen, und von der Möglichkeit die Trinitätslehre zu erklären, welche damals für den Mittelpunkt des glaubenden Christenthums galt. Die Gegner Abälard‘s fühlten diesen Fehler heraus; das heißt: Abälard war (nach unserer Redeweise) unabwendbar auf dem Wege zum bloßen Rationalismus. Seine Lösung ist nur logischer, nicht ontologischer und metaphysischer Art.
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*) Sofern Abälard in den einzelnen Dingen nur eine Mannichfaltigkeit der Accidenzen sah, nennt Bayle seine Lehre einen unentwickelten Spinozismus.
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Selbst Roscelin würde diesen Conceptualismus angenommen haben: denn hinter dem Worte liegt der Geist, und der Geist bildet das Wort. Hiemit ist aber getrennte Wesenheit noch gar nicht gegeben, oder die wichtige Frage beantwortet: woher stammt denn der individuelle Geist, dieser vorgeblich alleinige Schöpfer einer allgemeinen hindurchgehenden Wahrheit? In der That stand die kirchliche Dogmatik bereits höher als Abälard‘s Bemühungen; so nützlich dies auch (wie wir später sehen werden) in mancher andern Beziehung war. Obwohl im Allgemeinen Realist, traf Thomas von Aquino wohl am besten zum Ziele, wenn er sagte: das Wahre ist in den Dingen und in dem Geiste, und die Individualisirung widerspricht dem allgemein Geistigen und Universellen nicht *).
Ohne Bezug auf Christenthum wird der Realismus zum Pantheismus, und der Nominalismus wird empirischer Materialismus, und mit diesen auseinandergerissen Theorien steht eine gleich verdammliche Praxis in Verbindung. Dort nämlich erhebt sich kirchliche und weltliche Tyrannei, hier kommt man zur Atomisirung und Zerbröckelung von Staat und Kirche.
Noch wichtiger, allgemeiner, durchgreifender als der Gegensatz des Nominalismus und Realismus erscheint im 12. und 13. Jahrhunderte der Gegensatz der Religion und Philosophie. Man hielt es (und mit vollem Rechte) für eine unerläßliche Aufgabe: die Lehren der Philosophen durch das Christenthum zu widerlegen, oder mit demselben auszusöhnen; ihre Übereinstimmung, Brauchbarkeit und ihren Zusammenhang, oder umgekehrt, ihren Widerspruch
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*) Op. VIII. 440 fg. Summa theol. I, art. 2. 3.
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und ihre Unbrauchbarkeit nachzuweisen. Es hilft zu Nichts, wenn Philosophen und Theologen in diesen Beziehungen die Augen verschließen, oder den Kopf (wie der Vogel Strauß) in den Strauch stecken.
Die Scholastik suchte das Christliche als vernünftig und das wahrhaft Vernünftige als christlich zu erweisen *), wobei sich die Einwirkung der philosophischen Schulen des Alterthums, vorzüglich der peripatetischen gar nicht leugnen läßt. Umgekehrt wurden aber auch jene alten Schulen durch die christliche Philosophie wesentlich umgestaltet und verwandelt; wobei allerdings Spitzfindiges genug zum Vorschein kam. Oft aber nennt der Unglaube das spitzfindig, was ihm nicht zusagt; oder man vergißt, daß ohne rechtes Wissen und Erkennen, auch kein rechtes Wollen möglich ist, sondern Eines zum Andern gehört.
Daß hiebei weder die Kirche, und noch weniger Aristoteles unbedingt herrschten, oder tyrannisirten, geht einleuchtend schon aus dem Dasein der verschiedenen, oben angedeuteten Schulen hervor, und wird sich noch mehr bei der Schilderung einzelner Philosophen ergeben. Dogmatik, Skepsis und Mystik waren nothwendige Glieder und wesentliche Organe der gesammten Entwickelung. Ich wiederhole deshalb **): Ohne diejenigen, welche die Kirchenverfassung reinigen wollten, wäre sie noch schneller ausgeartet; ohne die Mystiker hätte sich die Religion in trocknes Floskelwesen der Schule aufgelöset; ohne die Bestrebungen der Dogmatiker und Skeptiker dürfte die kirchliche
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*) Möhler, über Anselm von Canterbury. Tübinger theol. Quartalschrift 1828.
**) Hohenstaufen , Band III. S. 269.
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Theologie in noch größere Widersprüche mit dem Verstande gerathen sein; ohne die allgemeine, rechtgläubige Kirche endlich, nach ihrer belehrenden, ordnenden und verwaltenden Richtung, hätte sich damals die ganze Christenheit aufgelöset; — und gar leicht wären dann die Philosophirenden in eitelem Bestreben, die Mystiker in abergläubigem Dünkel und die an der Verfassung Künstelnden durch unhaltbare Gleichmacherei oder weltliche Uebermacht zu Grunde gegangen.
Die unwandelbare Richtung der scholastischen Philosophie auf die höchsten Gegenstände, auf Gott und sein Verhältniß zu den Menschen und der Welt, ist ihre wesentlich vortreffliche, erhabenste Seite, und wir begreifen nicht, wie eine völlige Trennung der Theologie von der Philosophie jemals beruhigend und genügend zu Stande gebracht werden kann, da der menschliche Geist das Bedürfniß beider und die Fähigkeit für beide besitzt und die wichtigsten Fragen und Lehrstücke beider Wissenschaften dieselben sind, wenn sie auch unter verschiedenen Namen und von verschiedenen Standpunkten aus behandelt werden. So haben ja z. B. die philosophischen Lehren von der Freiheit, von dem Verhältnisse des Einzelnen zum Ganzen, dem Guten und Bösen u. s. w., ihre theologischen Gegenstücke in den Abschnitten von der Vorherbestimmung, Gnadenwahl, den beiden Naturen in Christus, der Sünde u. s. w.
Nur eine schlechthin gottleugnende Philosophie wird in ihrem folgerechten Irrthume alle Theologie, nur eine schlechthin abergläubige und tyrannisirende Theologie allen Vernunftgebrauch verwerfen. Auf jeder Stufe diesseit dieser äußersten Punkte kann man wechselseitige Berührungen und Einwirkungen nicht leugnen und entbehren; man
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darf die Frage nach dem Verhältnisse der theologischen und philosophischen Wahrheiten und Ergebnisse nicht von der Hand weisen. Wenn das Mittelalter beide Wissenschaften zu sehr vermischte und dadurch ihre natürliche und nothwendige Unabhängigkeit gefährdete, so hat die neuere Zeit auf einen unvermittelten, unbedingten Gegensatz derselben übertriebenen Nachdruck gelegt. Sofern jedoch im 12. und 13. Jahrhunderte das gesammte System der Kirchenlehre und Kirchenverwaltung von der mächtigsten Partei als unantastbare, höchste Wahrheit hingestellt wurde, geriethen besonders die Scholastiker, welche die arabische Philosophie ehrten, nicht selten in ein solches Gedränge, daß sie sich durch den Ausweg zu helfen suchten: Manches könne in der Philosophie wahr, in der Theologie aber falsch sein und umgekehrt; wogegen die Theologen (so Albert der Große und Thomas von Aquino) behaupteten: jener Gegensatz sei ein untergeordneter und es gebe nur eine und dieselbe Wahrheit. Wenn z. B. die Philosophie herausgrübele, es sei kein Gott, und die Theologie die entgegengesetzte Lehre an die Spitze stelle *): so müsse doch eins von beiden in höchster Stelle wahr und das andere falsch sein, und ohne Zweifel sei die göttliche Offenbarung diese höchste Stelle und die allen Irrthum hinwegnehmende Quelle der Wahrheit.
In der That kehren diese Fragen zu jeder Zeit wieder, und der Vorrang der Speculation vor der Offenbarung ist z. B. im 18. Jahrhunderte so laut behauptet, als in
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*) Ums Jahr 1220 ward zu großem Anstoße Mehrer gestritten: de qualitate et certitudine propositionis, Deus est. Wadding ann. I. 364.
Hist. Taschenbuch. Neue F. I. 21
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jenen Zeiten geleugnet worden; und doch fühlt der Laie, was die Tiefsinnigsten unter den Theologen und Philosophen erkannten: es sei nicht Zwiespalt oder Unterjochuchung, sondern Aussöhnung und Frieden das wesentliche Verhältniß und letzte Ziel beider Ansichten, und sowie die tiefere Philosophie sich des festen Bodens der Offenbarung erfreut, oder ohne Offenbarung den Schlußstein ihres Gewölbes entbehrt, so ist die Offenbarung etwas ganz sinn- und wesenloses, wenn sie nicht ihren Samen in dem mit Vernunft begabten, zum Gebrauche der Vernunft erschaffen Menschen aussäen kann.
Die Päpste, ob sie gleich in der Regel Begünstiger der Wissenschaften und namentlich der Philosophie waren *) wurden doch mehremale über die Vorliebe für diese letzte Richtung bange und Gregor IX. schrieb an die Lehrer der Theologie in Paris **): „Zieht nicht aus Eitelkeit die Philosophie einer Wissenschaft vor, welche der wahre Geist des Lebens ist und vor Irrthum bewahrt. Trachtet nicht danach Scheingelehrte statt Gottesgelehrte zu sein , und wendet euch nicht von den himmlischen zu den niedrigen und dürftigen Elementen der Welt und Natur, denen der Mensch nur in seiner Kindheit diente. Die, welche eure Schulweisheit über die natürlichen Dinge ergreifen, bieten den Schülern nur Blätter der Worte, nicht Früchte; ihr Geist,
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*) Urban IV. z. B. nahm Philosophen an seinen Tisch, gab ihnen Aufgaben zu gelehrten Gesprächen, veranlaßte mehre Uebersetzungen von Werken des Aristoteles: Tiraboschi Litt. IV, 155.
**) Regesta Gregor. IX., Jahr II, 105-109. - Aehnlich schreibt Stephanus Tornac. ep. 241: discipuli solis novitatibus applaudunt, et magistri gloriae potius invigilant, quam doctrinae.
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gleichsam nur mit Schalen genährt, bleibt leer und unfähig, sich an größerer Fülle zu ergötzen. Irrig glauben jene Alles ergründet zu haben, während man um so durstiger wird, jemehr man aus jener Quelle trinkt, die keine Quelle der Gnade ist. Nicht die mageren Kühe sollen die fetten verschlingen, nicht die Königin gezwungen werden ihren Mägden zu dienen, nicht die schönste aller Frauen durch Freche mit erlogenen Farben geschminkt, nicht die von ihrem Bräutigam herrlich Geschmückte mit dem schlechten zusammengeflickten Gewande der Philosophen bekleidet werden.“
Wie man auch hierüber denke, darin wirkten die Päpste gewiß heilsam, daß sie die Religion nicht wollten in eine unzugängliche Wissenschaft verwandeln lassen. Ohnedies trat die Bibel um der Kirchenväter willen in den Hintergrund, und selbst diese wurden vernachlässigt, seitdem dogmatische Handbücher fast ausschließlichen Beifall gewannen. Deshalb bemerkten etliche Philosophen, so Alanus von Ryssel *): gegen Juden und Muhamedaner bedürfe man anderer, aus der Vernunft hergenommener Beweise für die Wahrheit der christlichen Lehren, und die Speculation müsse hier der Dogmatik zu Hülfe kommen.
Diese metaphysische, theologisirende Seite der Speculation, sowie die Sittenlehre, wurden häufiger, umfassender und scharfsinniger bearbeitet als die Politik, obwol das Christenthum ohne Zweifel für diese auch einen neuen und ganz eigenthümlichen Standpunkt darbot. Was hätte sich z. B. nicht daraus folgern oder daran reihen lassen, wenn Albert der Große sich an Ambrosius und Augustinus
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*) Schröckh XXIV, 399.
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anschließend behauptete: Glaube, Liebe und Hoffnung sind die drei theologischen von Gott eingegebenen Tugenden, wogegen die vier erworbenen Cardinaltugenden nur die Gemüthsbewegungen regeln und ordnen.
Johann von Salisbury entwarf eine Art von Politik und Pflichtenlehre für die Fürsten mit vielen Beispielen aus dem Alterthume *). Sie dringt indeß nicht sehr tief ein und nur folgende Lehrsätze verdienen Erwähnung: Zwischen einem Tyrannen und einem Fürsten ist der Unterschied : daß dieser das Volk nach Gesetzen regiert, jener hingegen sich über dieselben hinaussetzt. Für die höchste und würdigste Art der Herrschaft muß die gelten, wo die Fürsten für Nutzen und Billigkeit wirken, obwol sie niedriger stehen als die Geistlichen und die Kirchenherrschaft. Nichts ist ruhmwürdiger als die Freiheit; die Tugend ausgenommen, wenn anders diese von der Freiheit getrennt werden kann. Ein guter Fürst ist ein Bild der Gottheit; ein böser ein Bild des Teufels und meist umzubringen (plerumque occidendus). Selbst nach der Bibel ist Tyrannenmord erlaubt und rühmlich, wenn nur der Thäter nicht zur Treue verpflichtet und sonst ein rechtlicher Mann ist.
Meist schloß man sich in jener Zeit genau der Politik des Aristoteles an, unbekümmert darum, daß Staat und Kirche geschichtlich etwas geworden waren, wovon das Alterthum gar keinen Begriff hatte. Von den Bemühungen des Thomas von Aquino auf diesem Boden wird weiter unten die Rede sein.
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*) Policrat. IV, 1, 2, 3; VII, 25; VIII, 17, 20.
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Die speculative Seite der Naturphilosophie fehlte im Mittelalter keineswegs in dem Maaße, wie man gewöhnlich annimmt. Ueber Zeit, Raum, Ort, Bewegung, Erzeugung, Ernährung, Auflösung u. s. w. finden sich überall scharfsinnige Untersuchungen, und wiederum war Aristoteles hier Führer oder Vermittler. So erläuterten Thomas von Aquino und Duns Scotus seine Physik, Meteorologie, seine Schrift vom Himmel u. s. w. — Weit seltener folgte man dem löblichen Beispiele des Aristoteles in Hinsicht auf Naturbeobachtung und Versuche. Um so mehr verdient deshalb Erwähnung das Werk Hugo‘s von S. Victor über Thiere und Steine *), wobei er indessen mystische Deutungen anbringt, und Albert‘s des Großen umfassendere Darstellung der Thier- und Pflanzenwelt. Als echte Beobachter und Entdecker kann man aber fast allein Kaiser Friedrich II. und Roger Bakon bezeichnen. Im Allgemeinen hielt man (mit Gregor IX.) die Natur und Naturbetrachtung für etwas ganz Untergeordnetes, hinter der Philosophie des Geistes wesentlich Zurückstehendes. Sagt doch selbst die Einleitung zum Schwabenspiegel **) : „Alle diese Welt, Sonne, Mond und Sterne, die Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erdreich, die Vögel in den Lüften, die Fische im Wasser, die Thiere in den Wäldern, die Würmer in der Erde, Gold und Edelsteine, der edlen Gewürze süßer Geschmack, der Blumen lichte Farben, der Bäume Früchte und alle Geschöpfe: das hast du Herr Alles dem Menschen zu dienen und zu nützen geschaffen,
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*) Opera II. 177.
**) Schwabenspiegel in Senkenberg Corp. Jur. German. Einleitung No. II.
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durch die Treue und durch die Liebe, die du zu den Menschen hegst.“ — Man sollte glauben, daß sich von diesem Standpunkte aus, durch leichte Wendung, ein Recht und eine Pflicht der Naturbetrachtung nachweisen und eine Neigung dafür entwickeln lasse; dennoch beharrte man fast ausschließlich bei der Philosophie des Geistes.
Auffallend ist es, daß sich zu einer Zeit, welche der Schönheit der Frauen so sehr huldigte und so ausgezeichnete Dichtungen hervorbrachte, gar keine Spur einer Kunstlehre oder Theorie des Schönen findet. Aber freilich standen die damaligen Philosophen ganz getrennt von dieser Welt, ja oft ihr feindlich gegenüber. Aus der großen Zahl von Männern, welche sich in dem von uns behandelten Zeitraume auszeichneten, können wir nur einige der vorzüglichsten näher schildern. Zur bequemeren Uebersicht möge hier ein Verzeichniß der Erwähnten oder noch zu Erwähnenden unter Angabe ihrer Todesjahre hier Platz finden.
Es starb
1109 Anselm von Canterbury.
1120 Roscelin.
1134 Hildebert von Tours.
1140 Hugo von S. Victor.
1142 Abälard.
1153 Bernhard von Clairvaux.
1164 Hugo von Rouen und Petrus Lombardus
1173 Richard von S. Victor.
1188 Guigo II.
1203 Alanus von Ryssel.
1249 Wilhelm von Paris.
1274 Bonaventura.
1274 Thomas von Aquino.
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1280 Albert der Große.
1294 Roger Bakon.
1295 Heinrich Goethals.
1308 Duns Scotus.
1315 Raymundus Lullus.
1) Anselm *),
geboren 1033 in Aosta, gestorben 1109 als Erzbischof von Canterbury, ein Schüler Lanfranc‘s, verdient ohne Zweifel an dieser Stelle zuerst Erwähnung. Man betrachtet ihn oft als Begründer einer natürlichen Theologie, im Gegensatze zur positiven. Dieser Gegensatz war ihm jedoch kein unbedingter; vielmehr war er überzeugt, daß, wer nichts glaube, nicht zur vollen Ausbildung seiner Vernünftigkeit gelangen könne, schon weil der Glaube das einzige Mittel sei, den Geist zu reinigen und das Gemüth für das Göttliche empfänglich zu machen. Umgekehrt bleibe aber auch der auf halbem Wege stehen, welcher vom Glauben nicht zum Wissen vordringe. Anselm lehrte indessen nicht, daß Glauben und Wissen auf diesem Wege zuletzt völlig dasselbe würden, vielmehr behalte jedes seine Eigenthümlichkeit und das Wissen finde Schranken. Oder um es mit seinen Worten auszudrüken **): Sowie die rechte Ordnung verlangt, daß wir das Tiefsinnige der christlichen Lehre glauben, bevor wir unternehmen, es nach der Vernunft zu erörtern (discutere); so scheint es mir andererseits als Nachlässigkeit, wenn wir nach gehöriger Befestigung im Glauben uns nicht bestreben, das einzusehen oder zu verstehen (intelligere),
*) Histoire littér. De la France IX, 398.
**) Cur Deus homo I, c. 26.
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488 Die Philosophie und die Philosophen
was wir glauben. — Und an einer anderen Stelle heißt es *): wer nicht glaubt, gelangt nicht zum Wissen. Denn wer nicht glaubt, wird keine Erfahrungen machen; und wer nicht erfährt, wird nicht wissen. Ohne Glauben und Gehorsam gegen die göttlichen Gebote bleibt der Geist nicht bloß verhindert sich zum Wissen der höheren Dinge emporzuschwingen, sondern die bereits gegebene Einsicht wild ihm ebenfalls entzogen, ja bei vernachlässigtem guten Gewissen geht selbst der Glaube zu Grunde: — Dieser und ähnlicher Aeußerungen halber behauptet Möhler **): Anselm‘s Argumentation über Gottes Dasein ist durchaus ein wissenschaftliches Orientiren, ein sich Zurechtfinden in der geglaubten Wahrheit, nicht aber ein Beweisen im untergeordneten Sinne.
Nach diesem unentbehrlichen Vorworte versuchen wir einen Auszug des Wesentlichen aus seinen verhältnißmäßig gutgeschriebenen Werten zu geben, insbesondere aus den Schriften über das Wesen der Wahrheit, den freien Willen, die Vorherbestimmung und das Dasein Gottes.
Eine Untersuchung über das Wesen der Wahrheit ist um so nothwendiger, da dies Wort in sehr verschiedenartiger Beziehung gebraucht und z. B. eine andere Wahrheit gefunden wird in den Worten, den Meinungen, dem Willen, den Handlungen, den Sinnen, in Gott ***). Die innere natürliche Wahrheit einer Rede beruht auf der richtigen Bezeichnung (so z. B. der Ausdruck: es ist Tag;
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*) De fide trinit. c. 2.
**) Ueber Anselm S. 99.
***) Anselmi op. 109.
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ohne Rücksicht ob Tag oder Nacht sei); die zweite Frage geht dahin, ob auch vermittelte Wahrheit, das heißt Uebereinstimmung mit dem Bezeichneten vorhanden sei. — Ohne zureichenden Grund nennt man die Sache trügerisch: denn sie bieten nichts Anderes dar, als es ihre Natur und die der äußern Dinge nach innerer Nothwendigkeit herbeiführt. Es ist nunmehr Sache des Verstandes, jene zweite Art der Wahrheit und Angemessenheit zu erzeugen und zu erkennen. Jede Angemessenheit bezieht sich nämlich auf ein anderes Höheres, dem etwas angemessen ist, die vielfachen Angemessenheiten müssen aus einer höhern Wurzel hervortreiben, und so kommen wir zu einer Wahrheit, die in allen Dingen ruht, zu einer Angemessenheit, welche sich nur auf niedern Standpunkten spaltet und in scheinbar unlöslichen Gegensätzen hervortritt.
Man darf nicht sagen *): die freie Wahl sei das Vermögen zu sündigen, oder nicht zu sündigen: denn das Vermögen zu sündigen ist nie die Freiheit, oder ein Theil der Freiheit. Diese erscheint vielmehr größer, wo von der Möglichkeit zu fehlen gar nicht mehr die Rede ist; und die Freiheit, oder die freie Wahl heißt richtiger: das Vermögen, den Willen schlechthin auf das Rechte zu richten. Nur der Wille beherrscht und bestimmt den Willen; wo er den Versuchungen unterliegt, ist seine Kraft nicht angewandt. Der rechte Wille ist gleich dem Willen Gottes unzerstörbar, unabänderlich; der verkehrte Wille stammt aus der eigenen Macht und ist unstät und wandelbar, bis Gott, durch den jeder alles Wollen hat, ihn aufs Neue
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*) De libero arbitrio 117. De concordia praescientiae Dei cum libero arbitrio 123.
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490 Die Philosophie und die Philosophen
richtet und befestigt. — Gott weiß alles Künftige vorher: aber er weiß auch, daß Manches nicht nothwendig, sondem aus freier Wahl eintritt. Der Ausdruck: das Vorhergewußte geschieht dereinst nothwendig, heißt nur: was geschieht, kann nicht zugleich auch nicht geschehen, und bezieht sich auf die Ewigkeit, wo Alles wahr, gegenwärtig und unabänderlich ist; nicht auf die Zeit, in welcher unsere Handlungen weder alle schon gegenwärtig, noch nothwendig sind. Unsere Freiheit zeigt sich nur in der Uebereinstimmung mit dem Willen Gottes: von der Freibeit Gottes, der nicht sündigen kann, müssen wir aber freilich einen andern Begriff, als von der menschlichen zu fassen suchen.
Nur dem Wahren, dem Rechten kommt das Dasein zu: das Unrechte hat weder eine Beschaffenheit, noch irgend etwas Wesenhaftes. Jegliches Sein, jegliches Recht ist schlechthin von Gott: wir werden also, um unsere freie Willkür festzuhalten, nicht Gottes Gnade entfernen dürfen; sondern jene ist erst durch diese gegeben, und wir dürfen nicht den Willen recht nennen, weil er das Recht, will, sondern weil er recht ist, will er das Rechte. Dieses Rechtsein kann nicht vom Wollen abhängig gemacht werden: denn ohne es schon zu haben, kann man es nicht wollen. Dies Ursprüngliche, diese Richtigkeit des Wollens, welche wir vom Schöpfer bekommen haben, kann erhalten werden durch freies Beharren. Schwer ist dies Beharren allerdings, jedoch nicht unmöglich, denn durch Gottes Gnade gestärkt ist der Wille unbesiegbar.
Ueber das Dasein Gottes sagt Anselm im Wesentlichen Folgendes *): Hätte Jemand von Allem, was wir durch den
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*) Monologium und Prologium.
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Glauben von Gott wissen, nichts erfahren; so müßte doch die eigene Kraft, wenn sie nur nicht ganz erschlafft ist, auf vielfache Weise zur richtigen Erkenntniß seines Wesens führen: — und welche Weise mir zur Klarheit geholfen hat, will ich euch nicht verhehlen. Ich sah um mich her Tausende von Geschöpfen, die mannichfachsten Erkenntnisse, die Zwecke verschieden wie die Wesen. Tiefer jedoch und dauernder als diese scheinbare Zerstreuung und Trennung, ergriff mich das Gemeinsame in allen, wodurch sie allein da, wodurch sie gut waren. Jede Güte, Größe, Ausdehnung u. a. mußte aus einer Wurzel entspringen; — kurz alles Dasein ist durch ein Einiges. Denn daß etwas aus und durch Nichts entstehe, kann als undenkbar bei Seite gesetzt werden, und es fragt sich nur: ob Alles sei durch Eines, oder durch Vielfaches. Dies Letzte wird entweder auf Eines bezogen, wodurch es ist; oder im Vielfachen sind mehre Einheiten für sich bestehend; oder die Einheiten sind durch sich selbst zur Vielheit geworden *). Im ersten Falle muß die höhere Einheit, durch welche das Vielfache erst geworden ist, an dessen Stelle gesetzt werden, und es verschwindet; im zweiten Falle erscheint die Kraft, welche das unabhängige Dasein begründet, wieder als das Höhere, Gemeinsame; der dritte Gedanke, daß Etwas dem Andern Dasein gebe und von diesem wiederum erst empfange, ist in sich unstatthaft: — es bleibt also die höchste Gewißheit, daß Allem ein Einiges zum Grunde liege, was sein Dasein durch sich hat, worauf sich alles abgeleitete Sein als auf das Höhere bezieht, in dem jede einzelne Bezeichnung einzelnen Daseins, z. B. Güte, Größe u. s. w. im höchsten
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*) Per se invicem sunt.
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Grade begriffen ist. So gelangen wir, von niedern Gedanken aufsteigend, endlich zu einem letzten höchsten Gedanken, der alle andern unter sich begreift und in sich schließt. Dieser höchste Gedanke kann nicht als undenkbar verworfen werden, ohne alles Denken mit zu verwerfen: dieser Gedanke ist der Gedanke Gottes; das Nichtsein Gottes ist also undenkbar.
Wir dürfen außer Gott keinen Stoff annehmen, der, wir wüßten nicht, woher entstanden sein und von ihm nur umgestaltet werden sollte. Sowie aber in unserm Geiste das Bild eines Menschen unendlich tiefer, lebendiger dasteht, als die Bezeichnung durch Name und Wort es ausdrückt; sowie jenes Bild für alle Menschen allgemein und nothwendig erscheint, ohne Willkür der Töne und Sprache: so ist, in unendlich höherem Grade, die innere Anschauung in Gott nichts Anderes, als das Dasein aller Dinge selbst. — Von Gott läßt sich nichts durch Beziehung auf ein Anderes aussagen: er ist nicht groß in Beziehung auf ein Ausgedehntes, gerecht in Beziehung auf ein Gerechtes u. s. f., sondern unbedingt die Größe, die Gerechtigkeit u. s. w. selbst, und dennoch nur ein Einiges, nicht eine Anhäufung aus den Beschaffenheiten, die wir ihm, unserer Erkenntniß nach, beilegen.
Die Schwierigkeit, sich von der endlichen Ansicht los zu machen, ist der Grund so vieler Fragen und Zweifel über die göttliche Natur, die sich, bei der wahren Ansicht, von selbst zerstören. Sonst würde z. B. bald klar werden, daß die Frage über Gottes Anfang und Ende keinen Sinn hat, daß die Frage über das, was er kann oder nicht kann, sich nur aufwerfen läßt, wenn man vergißt, wie bei ihm Macht und Wesen niemals Verschiedenes ausdrückt. Wie
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kann Gott, spricht ein Anderer, zum Theil an einem Orte sein, da er einig und untrennlich ist; wie kann er ganz dort sein, ohne für alle übrigen Orte abwesend genannt zu werden? Wie ist in ihm kein Wechsel, da der Fluß der Zeit als ewiger Wechsel erscheint? — Also ihr wollt ihn, der außer aller Zeit und allem Orte ist, durch Zeit und Ort beschränken und einschließen! Weil euer Dasein euch nur in Raum und Zeit verständlich erscheint, wollt ihr dem ein Maaß anlegen, der dem Maaße Entstehung gab! Euer Dasein, welches nur ein Hervorgehen aus dem Nichtsein, ein Hingehn zu dem Nichtsein ist und kaum ein Sein genannt werden kann, wollt ihr dem Ewigen, Unveränderlichen gleich stellen! — Das Wort Gottes, durch welches alle Dinge sind, ist nichts Anderes als sein Wesen selbst, sein Denken schließt nothwendig das Sein in sich. Wir erkennen nicht das Wesen, sondern nur die Bilder der Dinge. Je mehr indeß der Geist sich selbst und die Dinge zu erkennen strebt, um so mehr erkennt er von Gott; je mehr er Gott erkennt, desto seliger lebt er; je mehr er ihn liebt, desto fester wird die Ueberzeugung, daß dem Liebenden kein Untergang, kein Tod bereitet sein könne. So hat die Liebe ihren Lohn in sich, und das Streben nach Gott ist der wahre Glaube; ohne den Glauben ist kein Streben, ohne dies Streben kein Glaube. Wem dies Streben, Lieben, Glauben fehlt, dem ist bleibende Vereinzelung und Elend so gewiß, als dem Besitzenden die Seligkeit.
Gegen diese Schlußfolgen Anselm‘s machte ein Mönch Namens Gaunilo scharfsinnige Einwendungen, welche darauf hinausgehen: das Wesen Gottes sei zu verschieden von allen übrigen Gegenständen des Erkennens, als daß
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ein Uebergang möglich bleibe. Für die Ungläubigen habe der Gedanke Gottes keine Notwendigkeit, und aus dem Dasein im Verstande folge nicht das Dasein in der Wirklichkeit. Anselm hob in seiner Beantwortung dieser Einwendungen hervor: man könne bei dem höchsten Gedanken freilich nicht den ganzen Inhalt bei der Hand haben und auseinanderlegen, wie bei geringhaltigen Gegenständen: aber vom kleinsten Guten zum größten sei kein Sprung, sondem ein durchgehend Gleichartiges. Alles Einzelne lasse sich hinwegdenken, und vom Denken eines einzelnen Dinges lasse sich allerdings sein Dasein nicht folgern; wogegen das schlechthin alles Begreifende, Uranfängliche, Unendliche auf keine Weise hinweggedacht werden könne, und das Sein zweifelsohne das erste Erforderniß des höchsten Gedankens bleibe.
Gaunilo‘s (sowie später Kant‘s Einwendungen) haben großes Gewicht, sofern sie sich auf die logische Form beziehen; wogegen sich die tiefere Anschauung des Inhalts bei Anselm findet und bemerkt worden ist: er rede nicht von einem subjectiven Gedanken, sondern von einer ewigen und unwandelbaren Vernunftanschauung, die nothwendig aus sich Objectivität habe *).
2) Hildebert von Lavardin,
Erzbischof von Tours (geboren 1057, gestorben 1134), schrieb außer einem Handbuche der Theologie, auf dessen Inhalt wir nicht eingehen können, eine Moralphilosophie vom Sittlichen und Nützlichen **). Ob sie gleich weniger eigene und eigentlich wissenschaftliche Forschungen, als allgemein
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*) Hegel‘s Encyclopädie 97.
**) Moralis Philosophia de honesto et utili. Opera p. 962.
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verständliche Betrachtungen und Lehren enthält, gehört sie doch zu den ersten und deshalb doppelt merkwürdigen Versuchen, das Nachdenken auch auf diese damals meist vernachlässigte Seite der Philosophie zu richten.
Unter dem Sittlichen (honestum) begreift er die Tugend überhaupt mit ihren vier Haupttheilen: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Die erste berathet und geht den übrigen handelnden als eine Leuchte voran; sie erkennt Gutes und Böses und unterscheidet beides von einander. Es ist besser sich von wenigen, praktischen Hauptlehren der Weisheit zu durchdringen, als Vieles wissen, dasselbe aber nicht zur Hand haben und seinen Gebrauch nicht kennen. Die Gerechtigkeit, durch welche geselliges Leben erst möglich wird, ist strafend, oder austheilend und ausgleichend. In letzter Beziehung gehört auch Wohlwollen, Milde und Dankbarkeit hieher. — Nachdem Hildebert in dieser Weise alle Zweige der Tugend, sowie der gegenüber stehenden Laster erklärt und näher bestimmt hat, handelt er in einem zweiten Abschnitte vom Nützlichen, und in einem dritten vom Widerstreite und der Rangordnung des Nützlichen und Sittlichen, meist nach der Anordnung des Cicero.
3) Abälard *),
geboren im Jahre 1079 zu Palais in Niederbretagne, ein Mann von sehr großen Anlagen, aber auch von ungemäßigtem Ehrgeize und heftigen Leidenschaften, war der berühmteste Lehrer der Theologie in Paris, bis er wegen seiner Ansichten mit der Kirche und
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*) Bulaeus II, 168. Beck über Arnold von Brescia 56, 59. Schlosser‘s Abälard und Dulcin 122, 148, 173. Schmid Mysticismus 199.
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ihrem Vorfechter Bernhard von Clairvaux in Streit und durch sein Verhältniß zu Heloise in neues Unglück gerieth. Hierauf begab er sich in das Kloster zu Clugni, lebte (nach Peters des Ehrwürdigen Zeugnisse) demüthig und starb im Jahre 1142 eines milden und schönen Todes *).
Sein Hauptbestreben ging dahin, die Offenbarung und Kirchenlehre mit der Philosophie in Uebereinstimmung zu bringen und den Glauben (zur Abhaltung des Aberglaubens) auf Einsicht und Erkenntniß zu gründen. Wie sehr er aber hiebei von dem kirchlichen Systeme und auch von
den oben mitgetheilten Grundsätzen Anselm‘s von Canterbury abwich, geht daraus hervor, daß er die Behauptung an die Spitze seiner Untersuchungen stellte **): „man könne nichts glauben, wenn man es nicht vorher eingesehen habe.“ Und: „durch Zweifeln kommen wir zum Forschen, durch Forschen zur Wahrheit“ ***). — Ja das Wert, Ja und Nein betitelt, dem der letzte Satz entnommen ist, enthält das Für und Wider über alle Kirchenlehren ohne Entscheidung in einer Weise hingestellt, die ohne weitere Erläuterung rein skeptisch erscheinen mußte.
Bei dem Vorherrschen des Dogmatismus kann man das Einschlagen dieses Weges als ein erhebliches Verdienst betrachten; denn der Boden zu neuer geistiger Arbeit, zu löblichem Forschen und fördernden Kämpfen war damit
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*) Petri Venerab. Epist. IV, 21.
**) Nec credi posse aliquid, nisi primitus intellectum. Bayle, Artic. Abaelard. - Dubitando ad inquisitionem venimus, inquirendo veritatem adspicimus. Sic et non p. 16.
***) Doch wollte er hiermit der Reliosität ungelernter Laien nicht zu nahe treten.
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gegeben, oder doch bezeichnet. Natürlich ward aber sogleich, beim Anfange dieser Bahn, die wichtige Gegenfrage aufgeworfen: können denn die Zweifel (wollte man sie auch für Schlüssel zur Wahrheit gelten lassen) die Wahrheit selbst geben und in sich schließen? Wo ist der eine, hindurchgehende Geist ewiger Wahrheit und Gewißheit, und wo bleibt der Glaube, die fides, diese Lebensquelle der neuen christlichen Zeit?
Abälard schrieb unter dem Titel: „Kenne dich selbst“ *), eine Sittenlehre, welche die des Hildebert übertrifft, während umgekehrt die des Thomas von Aquino umfassender ist und tiefer eingeht. Die menschliche Natur (sagt Abälard) ist unvollkommen und wird dadurch zum Unsittlichen hingezogen. Dieses Sein, dieser Zustand ist jedoch an sich nicht Sünde, sondern gibt Gelegenheit zu Widerstand und Sieg. Das Laster beginnt mit der Neigung Böses zu thun, und die Zustimmung gegen Gottes Willen, die Verachtung desselben ist Sünde. Wir sollen unsern Willen dem göttlichen unterordnen, werden aber jenen nie ganz ausrotten, damit etwas übrig bleibe, wogegen wir zu kämpfen haben. Der Wunsch Böses zu thun, welcher oft aus der Naturbeschaffenheit herstammt, ist noch keine Sünde; auch wird durch die That selbst (operatio peccati) die Schuld und Verdammlichkeit vor Gott nicht gemehrt. Dieser erwägt nicht, was, sondern mit welcher Gesinnung (quo animo) etwas gethan wird. Nicht im Werke, sondern in der Absicht (in intentione) liegt das Verdienst, oder besteht das
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*) Scito te ipsum, in Pezii Thesauro III, 626.
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Lob *). Kleine Vergehen werden oft härter bestraft als größere, nicht sowohl in Bezug auf das, was vorherging, als in Hinsicht auf die übeln Folgen, welche bei einer gelinderen Bestrafung entstehen dürften. — Der Mensch kann in verschiedenen Zeiten dasselbe thun, die Handlungen aber dennoch (nach Maaßgabe seiner Absichten) gut oder schlecht sein. Nicht deßhalb sind diese gut zu nennen, weil sie so erscheinen, sondern weil sie wirklich das sind, wofür man sie hält, und weil sie Gott wohlgefallen. Sonst hätten die Ungläubigen gute Werkt gleichwie wir; denn sie glauben auch dadurch Gott zu gefallen und selig zu werden. Zuletzt ist aber allerdings nur das Sünde, was dem Gewissen zuwiderläuft; nach dem Spruche: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun. — Unwissenheit ist an sich keine Verachtung Gottes, also keine eigentliche Sünde, und ebenso wenig Unglaube (infidelitas), obgleich er von der Seligkeit ausschließt. Will man aber Alles Sünde nennen, was man Verkehrtes thut und was der Seligkeit schadet, so fällt Unwissenheit und Unglaube allerdings auch unter diesen Begriff. Die Lehre einiger Philosophen, daß alle Vergehen und Sünden gleich groß wären, ist offenbar verkehrt.
Man hat, und mit Recht, lobend den Nachdruck hervorgehoben, welchen Abälard auf Reinheit und Sittlichkeit der Gesinnung legt, sowie, daß er gesinnungslosen Werken Verdienst abspricht. Dennoch enthielt seine Ethik
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*) Cap. 3. Ebenso Epitome Theologiae p. 106: quemadmodum igitur omne peccatum in sola voluntate consistit, sic et meritum.
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auch allerhand bedenkliche und verführerische Punkte: so z. B. daß Gott nicht alle bösen Handlungen habe verbieten können, weil es unmöglich sei sich vor jeder zu hüten; und daß, sobald der Werth einer Handlung lediglich nach der Absicht zu beurtheilen sei, die Wahl der Mittel eigentlich gleichgültig erscheine. Wenn man ferner dem Gewissen eines jeden die höchste Entscheidung zuspreche, so werde sich oft Ungewisses, eigenliebiges Meinen und schlecht begründete Ueberzeugung für das rechte Gewissen ausgeben, es werde diese subjective Meinung eine jede tiefere objective Untersuchung und Erkenntniß , sowie alle höheren und allgemeineren Lehren, Vorschriften und Stützen mit anmaßlichem Ungehorsam verwerfen. Die Lehre endlich, welche die Strafe nach möglichen Folgen abmesse, und sie lediglich zur Abschreckung Anderer aussprechen und vollziehen wolle, verlasse in Wahrheit ganz den ethischen Boden und begebe sich auf ein davon wesentlich verschiedenes Gebiet des Beurtheilens und Handelns.
Gleichwie andere Schriftsteller des 12. und 13. Jahrhunderts, verwahrte sich Abälard in seinen theologischen Werken, daß er nichts gegen den katholischen Kirchenglauben sagen wolle. Sofern sich nun damals ergab, daß ein aufgestelltes System wirklich in allem Wesentlichen mit jenem Glauben übereinstimmte, so beruhigte man sich wol über einzelne Bedenken. In einer Zeit jedoch, wo der Supernaturalismus nicht bloß theoretisch vorherrschte, sondern auch in Geist und Blut übergegangen war und das Denken, Fühlen und Glauben bestimmte, mußte ein davon in sehr wesentlichen Punkten abweichender Rationalist wie Abälard natürlich das größte Aufsehen erregen und den lebhaftesten Widerspruch hervorrufen. Schon die
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bereits erwähnte Art, wie er in seinem „Ja und Nein“ das Für und Wider über alle Kirchenlehren aufstellte ohne aus der Skepsis herauszutreten und in einer Richtung dogmatisch zu entscheiden, gab Anstoß, sofern sie ein ungewohntes Gewicht auf den menschlichen Scharfsinn des Forschens und Entwickelns zu legen, und dagegen Inhalt und Ergebniß leichtsinnig und als das Unbedeutendere zu behandeln schien.
Der Form nach verfährt Abälard allerdings anders in seiner christlichen Theologie *), obgleich auch die hier aufgestellten Behauptungen damals unmöglich ohne Rüge durchgehen konnten. So z. B. daß er alle Geheimnisse der christlichen Lehre als begreiflich darstellte, oder so lange daran deutete, bis die Vernunft allein sie schon finden und fassen könne. Die Dreieinheit verglich er deshalb mit den drei Theilen des Syllogismus; oder er brachte sie auf die Begriffe von Macht, Weisheit und Güte herab; oder er stellte die platonische Lehre von Gott, dem Verstande (νοΰς) und der Weltseele ihr gleich. Ja, er lehrte gerade heraus: das Wesentliche der Gotteserkenntniß und des Glaubens habe auch den Heiden nicht gefehlt, und es sei kein genügender Grund, sie von der Seligkeit auszuschließen. Ferner lehrte Abälard: Nichts ist in Gott, was nicht Gott wäre, und Nichts ist vorhanden durch sich selbst. Er wirkt Alles in allen Dingen; wir sind, leben und bewegen uns in ihm und er bedient sich unser als Werkzeuge. Was Gott thut, muß er thun und zwar aus
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*) Theologia christiana in Martene Thes. Vol. V. Das Hauptwerk. Minder vollständig und eigenthümlich ist seine Introductio ad Theologiam (Opera 973), und Epitome Theologiae.
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Nothwendigkeit, so daß er weder mehr noch Besseres thun könnte, als er thut u. s. w. — Allerdings ließen sich diese Behauptungen so deuten, daß sie dem Christlichen nicht widersprachen; Abgeneigte hingegen konnten leicht pantheistische Lehren darin finden.
Durch nähere Erklärungen und Erläuterungen *) suchte Abälard den nahenden Sturm seiner Gegner abzulenken, und darzuthun: er stimme mit ihnen überein. Daß dies aber nicht der Fall war, ergibt wie das Obige, so auch das Folgende. Er sagt also: wenn wir Platon‘s Lehre von der Weltseele recht erforschen, so müssen wir erkennen, daß der heilige Geist darin aufs Vollständigste bezeichnet **) wird. Ueberhaupt ist die Lehre von der Dreieinheit durch Platon und die Platoniker großentheils angenommen und am sorgfältigsten beschrieben und entwickelt worden; obgleich sich Zeugnisse darüber auch bei andern Philosophen finden. — Das Gesetz der Natur und die Liebe des Ehrbaren hat nicht bloß alte Weltweise, sondern auch andere Heiden zu einer bewundernswerthen Höhe der Tugend erhoben. Ihr Leben und ihre Lehre drückt die evangelische Vollkommenheit aus, und sie weichen in dieser Beziehung wenig oder gar nicht vom Christenthume ab ***). Betrachten wir die Vorschriften des Evangeliums genau, so finden wir darin nur eine Reformation des von den Philosophen befolgten Naturgesetzes. In Erinnerung an
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*) Theologia 1257, 1258. Introductio 974.
**) Integerrime designatus. Theologia 1176, 1192, 1197, 1205.
***) A religione christiana eos nihil aut parum recedere S. 1210, 1211.
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Platon, Cicero, die Scipionen, die Decier und so viel bewundernswerthe Vorbilder aus alten Zeiten, sollten die Aebte und Kirchenhäupter unserer Zeit erröthen, durch jene aufgeregt erwachen, und nicht viele und auserlesene Gerichte verschlingen, während ihre Brüder elende Nahrung wiederkäuen *). — Auch in Hinsicht der Keuschheit haben die alten Philosophen Manches gelehrt, was die Juden nicht verstanden, und was auf die Schönheit der christlichen Ansicht hinweiset. — So finde ich in den Schriften alter Weisen Bestätigung unseres Glaubens und leugne, daß irgend eine Wissenschaft vom Uebel sei **).
Wie man auch über diese und andere Lehren Abälard‘s denke, gewiß waren sie von großer Wichtigkeit und Eigenthümlichkeit, und standen schon damals mit abweichenden Grundsätzen in Verbindung über Beichte und Bußwesen, Werkheiligkeit, Macht und Rechte der Priester, der Kirche u. s. w. Allerdings erscheint Abälard‘s Rationalismus von dem späterer Jahrhunderte noch sehr verschieden ***). Nachdem aber einmal die Bahn gebrochen, für Vernunft und Wissenschaft eine andere und höhere Stellung gefordert und das heidnische Alterthum, der christliche Zeit und Lehre gegenüber, in einem abweichenden und glänzenden Lichte dargestellt war; so mußte man in dieser nunmehr unvertilgbaren Richtung allmälig zu einer
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*) S. 1215, 1224.
**) Neque ullam scientiam malam esse concedimus. S. 1242.
***) DieDarstellung der Lehren Abälard‘s hat große Schwierigkeiten, weil innere Entwickelung und äußere Verhältnisse darauf wesentlich einwirkten, sie modificirten und das doppelte Element des Theologischen und Philosophischen gar eigenthümlich in einander greift, vielleicht wie in unseren Tagen bei Schleiermacher.
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durchgreifenden Prüfung aller Dogmen, der gesammten Offenbarung, der biblischen Schriften, kurz zu allem Dem kommen, was der Rationalismus und die Neologie bis auf den heutigen Tag Wahres und Rühmliches, oder Unwahres und Unrühmliches behauptet oder geleugnet, bestritten oder erwiesen hat.
4) Bernhard von Clairvaux
mochte Abälard gegenüber auch auf einem einseitigen Standpunkte stehen und leidenschaftlichen Eifer zeigen, gewiß aber ward mit Unrecht behauptet: er habe um Nichts und wieder Nichts Lärm erhoben und seinen Gegner angeklagt. Ganz richtig fühlte er, daß es sich um einen der größten Gegensatze handele, welcher die Welt seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden theilt und bewegt. Ihm sind die Bibel und der heilige Augustin Hauptquellen aller Lehren und Ueberzeugungen, und seine Vorzüge wie seine Mängel gehen hervor aus einem bis zum Mysticismus gesteigerten Gefühle, aus dem Nachdrucke, welchen er auf das Praktische legt und aus seiner Verehrung des christlich Offenbarten und kirchlich Gegebenen. Auf jenem Wege Abälard‘s (lehrte Bernhard) wird das Unendliche in das Endliche hinabgezogen und nach endlichem Maaßstabe beurtheilt. Die Wissenschaft soll auf Frömmigkeit beruhen und der praktischen Religion dienen, nicht aber sich eigenmächtige Zwecke vorstecken und in neugierige Speculationen über göttliche Geheimnisse versteigen. Das Wissen ward Ursache des Sündenfalles und noch jetzt gehen die größten Sünden daraus hervor. Nicht die Erkenntniß, sondern der Wille erzeugt den Glauben: dieser ist eine Erfahrung des Göttlichen, durch Heiligkeit des Lebens. Ohne Gnade und höheren Beistand vermag der Mensch
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504 Die Philosophie und die Philosophen
das Gute nicht zu vollbringen. Vermöge des freien Willens haben wir nur das Wollen frei, aber nicht das Können. Wenn aber der Wille von Gott stammt, dann auch das Verdienst; und so ist und bleibt die Gnade Anfang und Ende aller Besserung. Glauben ohne Werke, und Werke ohne Glauben sind Stückwerk; beide gehören zu einander, erzeugen und bewähren sich unter einander *).
5) Hugo von S. Victor
geboren 1097, gestorben 1140, stammte höchst wahrscheinlich aus dem Geschlechte der Herren von Blankenburg und lebte seit 1115 als Chorherr im Stifte zu S. Victor in Paris. Er erkannte so wie den Werth, so die Auswüchse und Gefahren der vereinzelten Dialektik und Mystik, und bezweckte deshalb eine Vermittlung und Durchdringung des Speculativen und Religiösen **). Diese wichtige und eigenthümliche Aufgabe, gleichwie die Art und Weise ihrer Lösung wird sich durch folgende Auszüge aus Hugo‘s Schriften näher erkennen und beurheilen lassen.
Gottes Werke sind zweifach ***): die der Erschaffung (conditionis) und die der Erlösung und Herstellung (restaurationis). Das erste Werk unterwarf den Menschen dem Dienste des Gesetzes; das zweite erhebt ihn aus seiner Schuld zum Heile. Jenes war in sechs Tagen, dieses wird in sechs Weltaltern vollbracht; von jenem handeln alle Bücher auf Erden, von diesem nur die heilige
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*) Schmid, Mysticismus des Mittelalters 187, 189.
**) Liebner's Hugo von S. Victor. Schmid, a. a. O. S. 281.
***) De scripturia et scriptoribus sacris. Opera Vol. I. 1.
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505 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Schrift. Es gibt drei Arten der Auslegung dieser heiligen Schriften: die erste ist die historisch-grammatische; die zweite ist die allegorische, wo das Unsichtbare durch das Sichtbare angedeutet wird; die dritte ist die anagogische, die aufwärts führende, wo das Unsichtbare durch das Sichtbare dargelegt und offenbart, ja zuletzt durch Anschauung eine unmittelbare Kenntniß des Religiösen gegeben wird *). Doch erlaubt nicht jede Stelle der heiligen Schrift eine solche Auslegung, auch muß wörtliches und geschichtliches Verständniß jeder anderen Auslegung vorhergehen und ihr zu Grunde liegen. Selbst die sieben freien Künste sind nützlich für das Verständniß der Bibel und ihre Auslegung.
Was weder Anfang noch Ende hat, heißt ewig **); was einen Anfang, aber kein Ende hat, heißt dauernd; was Anfang und Ende hat, heißt zeitlich. Nichts Wesentliches, Essentielles stirbt; die Veränderungen betreffen nur Gestalt, Zusammenhang u. s. w. Gott schafft aus Nichts; die Natur bringt Verborgenes zu Tage; die Kunst endlich verbindet Getrenntes und trennt Verbundenes. Die Natur zeigt bloß den seienden, die Gnade den wirkenden Gott. Alles Wissen begann mit dem bloßen Gebrauche, und erhob sich erst später zu Wissenschaft und Kunst: so sprach man vor Ausbildung der Grammatik, und dachte vor Ausbildung der Logik. Die Philosophie erforscht die Gründe aller göttlichen und menschlichen
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*) Noch diesen Grundsätzen erläuterte Hugo mehre biblische Schriften.
**) Libri septem de studio legendi. Opera III. 1.
Hist. Taschenbuch. Neue F. I.
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506 Die Philosophie und die Philosophen
Dinge; mithin hat sie gewissermaßen Theil an Jeglichem und bezieht sich auf Alles.
Glauben ist eine freiwillige (oder in der Richtung des Willens begründete) Gewißheit über abwesende Dinge, welche über das Meinen (opinio) hinausgeht, aber diesseit des Wissens steht. Es gibt eine Kennmiß (cognitio) des Glaubens, ohne allen Glauben, aber keinen Glauben ohne alle Kenntniß. Alle Erkenntniß beruht auf einem zweifachen Grunde: Vernunft und Offenbarung. Anfang und Grundlage aller Wissenschaft ist die Demuth und auf dem sittlichen Wege der Heiligung bereitet man sich am Besten zur Vereinigung mit Gott vor und wird ihrer würdig. Der Glaube ist an sich einer und derselbe, aber verschieden in den einzelnen Menschen nach Maaßgabe ihrer Kraft und Bildung. Er wächst durch fromme Beharrlichkeit und Kenntniß. Manche Christen wähnen: dem Glauben nicht widersprechen sei schon Glauben. Andere kommen aus dem Zweifel dahin, das vorzuziehen, was die katholische Kirche lehrt; noch Andere sind fest geworden in ihrem Glauben durch Wunder und innere Erleuchtung. Diese werden durch auferlegte Prüfungen nicht schwankend, sondem eingeübt.
Ein fünffaches sehr verschiedenes Joch (jugum) ist den Menschen auferlegt: das der Ungerechtigkeit, der Sterblichkeit, des Gesetzes, des eigenen Willens, der Liebe *). Dreierlei sind die Gaben Gottes : die der Natur, der Gnade und der Glorie. Es gibt drei Arten Hörer des Wortes Gottes: die Faulen hören und verachten das Gehörte; die Thätigen hören und gehorchen; die Betrachtenden
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*) S. 48, 114, 180.
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507 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
(contemplativi) ruhen im Genusse. Es gibt im Menschen ein dreifaches Leben: erstens lebt er das Leben der Natur, zweitens lebt die Sünde und drittens Christus in seinem Herzen. Es besteht ein dreifacher Weg des Lebens: aus Furcht nicht sündigen, wie die Sklaven; nicht sündigen wollen, wie gute Söhne; nicht sündigen können, wie die Seligen. Es gibt drei Grade des Stolzes: erstens zu wähnen das, was man sei, sei man durch sich selbst; zweitens, das Gute, was man besitzt, habe man durch eigene Verdienste erlangt; drittens, sich über alle Anderen zu erheben und diese zu verachten.
Die Offenbarung kommt von Innen, oder durch Lehre und That von Außen *). Der menschliche Geist, welcher sich selbst und seinen Anfang weiß und beides keineswegs Nichtwissen kann, erkennt auch Gott und die Welt durch bloße Vernunft. Das Gesetz des alten Bundes begründete den Glauben, sofern ein Messias und eine Erlösung versprochen ward; aber das Evangelium brachte erst die volle Offenbarung. In dem Glauben an Gott, den Schöpfer, Erlöser und Heiliger der Menschen liegt das gesammte Wesen des Christenthums, obgleich die Erkenntniß hiervon nicht bei Allen gleich entwickelt ist. — Es gibt nur einen Gott: denn gäbe es deren zwei, so würde jedem etwas fehlen; oder wenn Einer schon Alles in sich begreift, so ist der Andere überflüssig. Der freie Wille (liberum arbitrium) ist die Fähigkeit des vernünftigen Willens, das Gute zu erwählen unter Mitwirkung der Gnade, oder das Böse ohne dieselbe (ea deserente). Durch den freien Willen unterscheiden wir uns von den
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*) Summa Sententiarum. Opera III. 186.
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508 Die Philosophie und die Philosophen
Thieren. Er kann nie gezwungen werden: denn wo Zwang, da ist keine Freiheit, und wo keine Freiheit, da ist kein Verdienst.
Hugo‘s Werk von den Sakramenten umfaßt eigentlich die ganze Kirchenlehre und handelt in der ersten Hälfte von der Schöpfung bis zur Menschwerdung, in der zweiten von der Menschwerdung bis zum Weltende *). Gott (sagt Hugo) kann weder ganz, noch gar nicht gewußt werden. Der Mensch kommt zur Kenntniß Gottes durch sich, die Natur und die Offenbarung. Die natürlichen Wissenschaften dienen den göttlichen; die niedere Weisheit führt, wohlgeordnet zur höheren.
Eine andere Schrift Hugo‘s **) enthält eine Art von Encyclopädie, aus welcher ich einiges Eigenthümliche aushebe. Gott (heißt es gleich im Anfange) schuf den Menschen nach seinem Bilde zur Erkenntniß der Wahrheit und ihm ähnlich zur Liebe der Wahrheit. Diese Bildlichkeit, diese Aehnlichkeit und die ursprüngliche Unsterblichkeit des Leibes waren die drei dem Menschen verliehenen Hauptgüter. Die drei Hauptübel dagegen sind: Unwissenheit, Begier und Schwäche. Erkenntniß vertreibt die Unwissenheit, Tugend die Begier und Nothwendigkeit die Schwäche. Die theoretische Wissenschaft bezieht sich auf die Erkenntniß, die praktische auf die Tugend, die mechanische auf die Nothwendigkeit und die menschlichen Bedürfnisse; die logische endlich lehrt alle diese Wissenschaften schärfer, richtiger und in gebührender Form behandeln.
Die Theologie handelt von dem Wesen des Unsichtbaren,
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*) Opera III. 218.
**) Liber excerptionum. Opera II. 151.
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509 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
die Physik von den unsichtbaren Gründen der sichtbaren Dinge: sie erforscht die Wirkungen aus den Ursachen, und die Ursachen aus den Wirkungen. Die Mathematik beschäftigt sich mit den Quantitäten der sichtbaren Formen. Das Element der Arithmetik ist die Einheit, das Element der Musik der Einklang, der Geometrie ein Punkt, der Astronomie ein Augenblick (instans).
Ein Werk von der Seele legen Einige dem Hugo, Andere dem Mönche Alcher von Clairvaux bei *). Gewiß fällt es in diese Zeit und ist dem Geiste Hugo‘s nicht fremd; daher mag folgender Auszug hier Platz finden. Viele wissen Vieles, kennen sich aber selbst nicht, haben Acht auf Andere und vernachlässigen ihr Inneres. Jeder soll sich vom Aeußeren zum Inneren wenden, jeder vom Inneren zum Höheren aufsteigen und erkennen, woher er kömmt, was er ist, und wohin er geht. Selbsterkenntniß ist der Weg zur Gotteserkenntniß. Der menschliche Geist ist ein Bild Gottes und findet in sich Gedächtnis, Verstand (intelligentia) und Willen.
O Seele, bezeichnet mit Gottes Bilde, geschmückt mit seiner Ähnlichkeit, ihm verlobt durch Glauben, begabt mit Geist (spiritus), erlöset durch sein Blut, zugewiesen den Engeln, fähig der Seligkeit, Erbin der Güte, theilhaft der Vernunft; — was hast du zu schaffen mit dem Fleische? Warum leidest du dieses? Warum bist du hinabgestiegen in Sinnlichkeit, Eitelkeit und Verderbniß? Bedenke, was du warest vor deinem Aufgange, was du bist auf Erden bis zu deinem Niedergange, was du sein wirst nach demselben! Warum dient die Herrin der Magd?
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*) Opera II. 65. Liebner 493.
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510 Die Philosophie und die Philosophen
Die ganze Welt ist an Werth nicht einer Seele gleich; Gott hat sich nicht hingeben wollen für die Welt, wie er gethan hat für die menschliche Seele. — Sagst du: ich kann mein Fleisch nicht hassen und die Welt verachten; — so frage ich: wo sind die Freunde der Welt, die noch vor Kurzem unter uns lebten? Sie aßen, lachten, tranken, brachten ihre Tage hin guter Dinge, — und in einem Augenblicke stiegen sie hinab zur Hölle. Was half ihnen leerer Ruhm, kurze Freude, äußere Macht, Lust des Fleisches, falscher Reichthum, großer Anhang, üble Begierde? Wo ist Lachen, Scherz und Uebermuth geblieben? Welche Traurigkeit nach so großer Freude, wie schweres Elend nach so geringer Lust!
Prüfe täglich, was du seist, ob du Gott ähnlicher werdest, oder dich von ihm entfernest. Es ist besser und löblicher sich selbst erkennen , als den Lauf der Sterne, die Kräfte der Pflanzen, die Natur der Thiere, ja alle Wissenschaften inne zu haben, bei ungeordneter Seele und sündhaftem Wandel. Wer das Bild Gottes in sich auf sucht, findet es nächstdem auch in seinen Mitmenschen und erkennt es in ihnen. Siehest du dich, so siehest du zugleich auch mich, der ich nichts Anderes bin, als du. Liebst du Gott, so liebst du auch mich als Abbild Gottes, und in gleicher Weise liebe ich auch dich. So streben wir nach demselben Ziele und sind uns nahe durch Gott, in welchem wir uns lieben *). Immerwährend ist das menschliche Herz in Unruhe; wie eine Mühle mahlt, zerreibt, verarbeitet es Alles, was man auch aufschütte. Zur Ruhe und Einheit mit sich selbst kommt es nur durch Gott.
*) S. 68 - 70.
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511 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Mit Gott aber kann man sich nur vereinigen durch Liebe, ihm unterwerfen nur durch Demuth, zur Demuth endlich gelangen nur durch Wahrheit und Selbsterkenntniß.
Die Seele ward geschaffen von Gott aus Nichts, und fähig sich zum Guten oder Bösen zu wenden. Sie ist sterblich, sofern sie durch Wahl des letzten ihre Natur verderben und Gott verlassen; sie ist unsterblich, sofern sie ihr Bewußtsein nicht verlieren kann. Es ist unmöglich, daß der menschliche Körper ohne vernünftige Seele könne geboren werden, oder leben; doch beginnt sein Dasein vor dem Einflößen der Seele. Diese lebt auf doppelte Weise, nämlich im Körper und in Gott. Das Sichtbare erkennt sie durch die Sinne, das Unsichtbare durch sich selbst. Sie ist zwar örtlich, an einem Orte; aber nicht körperlich, oder theilbar. Auch ihre Vorstellungen sind nicht körperlich *).
Die Seele ist nicht entnommen aus der Substanz Gottes, sonst könnte sie nicht veränderlich, lasterhaft, elend sein; sie ist nicht den Elementen entnommen, sonst wäre sie ein Körper. Durch den Körper sieht die Seele das Körperliche, durch den Geist (spiritus) das, was mit den Körpern Aehnlichkeit hat. Die dritte Stufe der Erkenntniß ist die intellectuelle, welche sich weder auf die Körper, noch auf deren Formen und Aehnlichkeiten bezieht. Diese Erkenntniß trügt nie. Sie ist entweder wahr, oder gar nicht vorhanden; wol aber können jene ersten Arten der Auffassung und Betrachtung täuschen.
Durch die Zeugung pflanzt sich Fleisch vom Fleische fort, wogegen der Geist nicht im Stande ist andere Geister hervorzubringen.
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*) S. 72 - 75.
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512 Die Philosophie und die Philosophen
Eben so geht die Erbsünde nur über durch das Fleisch und nicht durch den Geist, verbreitet sich dann aber auch über die Seele. Die Seelen der Thiere sind nicht substantiell, sondern entstehen mit dem Leben ihres Körpers und sterben mit seinem Tode *).
Viele trachten nach der Wissenschaft (scientia), aber nicht nach dem Gewissen (conscientia); und doch ist das nur die wahre Weisheit, was zugleich das Gewissen ausbildet.
6) Richard von S. Victor,
gestorben 1173, suchte die Ansichten seines Lehrers Hugo mit noch größerer Kühnheit und Schärfe auszubilden. Die Scholastik, als das Niedere, sollte ein Mittel werden, die Mystik als das Höhere zu vervollkommnen, und wiederum ist der Glaube die Grundbedingung um zur Erkenntniß zu gelangen. Der Weg zur Weisheit geht durch die Tugend, und eben so leitet das Streben nach Weisheit zur Tugend. Nur durch Weisheit kann die Tugend zur Vollendung gelangen und umgekehrt. Selbst die Tugenden werden Laster, wenn man sie nicht mit Ueberlegung lenkt.
Durch Demuth und Selbstverachtung wächst die Selbsterkenntniß und Liebe Gottes, und die Erkenntniß des Ewigen durch Contemplation soll schon während dieses Lebens eintreten. In der Freiheit des Menschen, dem liberum arbitrium, ist uns das Bild nicht bloß der Ewigkeit, sondern auch der göttlichen Majestät gegeben **). Jene
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*) S. 80 - 84.
**) De statu interioris hominis I. c. 3, 13, 16, II. 2, 5.
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513 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Freiheit verursacht, daß wir nicht gezwungen sind dem Guten oder Bösen beizustimmen; aber diese neutrale Freiheit ist und gibt noch keine Kraft. Nicht die Freiheit, sondern die Kraft ging durch die Sünde verloren. Das Können entspringt nicht aus und durch den Menschen, wir verdanken es lediglich dem Beistande Gottes. Laster ist die Schwäche, welche aus der natürlichen Verderbniß hervorgeht; Sünde ist verdammliches Beistimmen zu den Versuchungen der Schwäche und Verderbniß. Die Sünde zeigt sich als Gedanke, That und Gewohnheit.
Alles Gute hat seinen Ursprung in der Vernunft und in der Liebe *) (ratio, affectio). Die Einbildungskraft dient der Vernunft, die Sinnlichkeit dient der Liebe. Beide haben ihre Licht- und Schattenseiten. Zur Betrachtung des Himmlischen eröffnet die Einbildungskraft den ersten Weg, bis man zum rein Geistigen vordringt. Der Mensch bedarf einer Zucht (disciplina) der Sinne, des Herzens und des Geistes. Zur rechten Gottesbetrachtung (contemplatio Dei) kommt der Mensch nicht durch eigenen Fleiß; sie ist kein Verdienst des Menschen, sondern eine Gabe Gottes. Zur Klarheit des göttlichen Lichtes dringt Niemand durch Schlußfolgen und menschliche Beweisführungen **). Man ahnet Gott anders im Glauben, erkennt ihn anders durch die Vernunft, und sieht ihn anders durch Contemplation. Die erste Stufe ist unter der Vernunft, die letzte über derselben und wird nur erreicht, in dem der Geist aus sich heraustritt und über seine eigene Natur erhoben wird. Handeln, Denken, Beten sind drei
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*) Benjamin minor c. 3, 5, 14, 32, 63.
**) Argumentando et humana ratiocinatione c. 74.
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514 Die Philosophie und die Philosophen
Hauptmittel des Fortschrittes *). Jede Offenbarung und Erleuchtung, welche nicht in der Schrift ihre Bestätigung findet, ist verdächtig. Manches, was die Contemplation darbietet, ist über der Vernunft, aber nicht wider dieselbe; Anderes scheint dieser gradehin zu widersprechen, so z. B die Lehre von der Dreieinheit.
Das Beschauen und Betrachten richtet sich hieher und dorthin, fast ohne Arbeit und ohne Frucht **); das Denken ist Arbeit mit Frucht ; das Schauen Frucht ohne Arbeit. Es erhebt sich im freien Fluge mit bewundernswürdiger Leichtigkeit, wohin die Begeisterung es treibt (fert impetus). Das Beschauen und Betrachten leitet hinüber zum Denken, und das Denken bereitet vor zum Schauen. Das Beschauen gründet und bezieht sich auf das Sinnliche, führt aber (verbunden mit dem Denken) zum Uebersinnlichen. Ueber das der Vernunft Erreichbare führt die Offenbarung hinaus, ohne mit ihr in Widerspruch zu stehen. Wo dieser sich zeigt, betreten wir den Boden des Glaubens und der höchsten Contemplation. Die niedrigen Stufen menschlicher Thätigkeit. beziehen sich auf Sinnliches und Erschaffenes, die höheren auf Geistigees und Unerschaffenes. Man beginnt mit Auffassung der Erscheinung, und kommt dann zur Betrachtung der Ursachen und Wirkungen, sowie des Zusammenhanges aller Erscheinungen. Die weltliche Philosophie beschäftigt sich fast allein mit Erforschung und Aufdeckung der verborgenen Ursachen und Beschaffenheiten der sichtbaren Dinge. Beim Fortschritte zum Unsichtbaren stützt man sich auf körperliche Aehnlichkeiten,
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*) Cap. 79, 81, 86.
**) Benjamin major I. 3, 6, 7, 10, 16.
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Analogien und den wunderbaren Zusammenhang von Leib und Seele.
Viele erheben sich niemals zu den höchsten Stufen der Contemplation, sondern bleiben (wie die Meisten zu meiner Zeit, sagt Richard) auf dem Boden des Schließens und Demonstrirens, und finden darin den höchsten Trost (maximam consolationem). Die Erforschung des eigenen Geistes steht höher, als die Erforschung der sichtbaren Außenwelt; und von da eröffnet sich erst Blick und Aussicht nach allen Seiten *). Der Geist ist der Sinn für die Erforschung anderer Geister und des Unsichtbaren; aber es gibt Aufgaben und Erkenntnisse, welche über die eigene Kraft des menschlichen Geistes hinausreichen und ohne Offenbarung Gottes selbst unerreichbar bleiben. Nur in dem Maaße, als in uns die Reinheit des Geistes und die Liebe wächst, werden wir der göttlichen Offenbarung und Gnade fähiger und zugänglicher.
7) Guigo.
Wenn bei Hugo und Richard von S. Victor die Mystik sich in Verbindung mit der Speculation zeigt, bei Bernhard von Clairvaux in Verbindung mit praktischen Zwecken und Kämpfen tritt, so offenbart sich bei Guigo, welcher im Jahre 1188 als Prior der Mutterkarthause zu Grenoble starb, das tiefe Gefühl und die edle Milde eines einfachen Gemüthes **).
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*) II. 6 fg.
**) Mit minderer Demuth trat der Pantheismus Amalrich‘s von Bena auf und gab Veranlassung zu unsittlichen Folgerungen. Der Raum erlaubt nicht hier näher darauf einzugehen.
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Es gibt vier Stufen der Erhebung, sagt er in seiner Leiter für Mönche; sie sind fast unzertrennlich in einander geschlungen *): Lesen, Nachdenken, Gebet und Contemplation. Suchet durch Lesen und ihr werdet im Nachdenken finden, klopfet an mit Gebet, und es wird euch in der beschaulichen Betrachtung aufgethan werden. Das Lesen bringt die Speisen gleichsam zum Munde, das Nachdenken kaut und zerbricht sie, das Gebet erzeugt den Geschmack, aber die Contemplation ist die wahre Süßigkeit, welche erfreut und erneut. Sowie bei gewissen körperlichen Genüssen Seele und Geist fast ganz verloren gehen, und der Mensch bloß Körper wird: so werden bei der höchsten Contemplation alle körperlichen Bewegungen und Beziehungen so völlig von der Seele aufgehoben und vernichtet, daß das Fleisch dem Geiste nirgends widerspricht, und der Mensch gleichsam ganz und durchaus geistig wird.
Die Wahrheit geht über Alles und verdient selbst am Kreuze Anbetung; dennoch ist sie den Menschen unlieb und unangenehm. Mache sie nicht bitterer, als sie äußerlich erscheint, indem du sie ohne Liebe sagst! Wer die Wahrheit nicht aus Liebe zu ihr sagt, sondern um Jemanden zu beleidigen, verdient keinen Lohn, sondern die Strafe eines Schmähers. Durch die Wahrheit gelangt man zum Frieden; wer nur irdischen Frieden will, wird ihn nie finden; wer den himmlischen in sich trägt, hat Alles. Der Weg zur Wahrheit ist das Misfallen an der Falschheit.
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*) Guigonia Scala claustralium und Meditationes. Tromby III, CXL.
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Der Weg zu Gott ist leicht, denn man schreitet in dem Maaße auf demselben fort, als man sich von allen Lasten erleichtert und sie wegwirft. Fliehe nur deine Laster, andere schaden dir nicht. Niemand wird beleidigt, als durch sich selbst. Willst du Jemanden hassen, so hasse dich: denn Niemand hat dir so viel geschadet, als du selbst. Das ist kein Verdienst, Frieden zu halten mit denen, die dir wohl wollen; sondern mit denen, welche keinen Frieden mit dir haben und haben wollen.
Sündigen und gestraft werden ist für den Gerechten nicht verschieden; mithin ist keine Sünde ohne ihre Strafe. Das Vergängliche, das am meisten reizt und ergötzt, ist am tödtlichsten. Nur weil du an innern Genüssen arm bist, suchst du die äußeren. Willst du dich an dem erfreuen, was den Thieren gefällt? Lieber möchte ich ihren Leib, als ihre Seele. Widerwärtigkeit und Unglück gibts nur für den, welcher die Geschöpfe statt des Schöpfers liebt; wer nichts Vergängliches liebt, ist dagegen unverwundbar, und kein christlich Gemüth irgendwo so sicher, als im Unglück. Ob ein Weib ihrem Manne treu sei, zeigt sich im Umgange mit andern Männern; bist du Gott treu, so werden irdische Güter dich nicht verführen. Wer da meint, er könne sich die Seligkeit selbst machen und geben, meint, er könne Gott machen; wer die Seligkeit leugnet, leugnet Gott.
Das ist die Weise der Könige und Fürsten, daß sie groß werden wollen nicht durch eigene Besserung, sondern durch Anderer Schaden und Erniedrigung. Und wenn nun Alles so erniedrigt und vernichtet wäre, daß Nichts übrig bliebe, was hättest du dadurch an Leib und Seele gewonnen? Du wünschest dir ein langes Leben, das heißt, eine lange Versuchung.
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Je länger deine Götzen dauern, desto länger und ärger bist du ihr Knecht. Was frommt überhaupt Liebe und Haß des Irdischen? War die Sonne und der Mond mehr, als man sie für Götter hielt? wären sie weniger, wenn man sie für Koth hielte?
Einige gehen nach Jerusalem; gehe du noch werter, bis zur Geduld und Demuth! Jenes liegt in, dieses außer der Welt. Deine Liebe richte sich auf alle Menschen. Wolltest du Einen allein lieben, du würdest Raub begehen an allen übrigen; aber die wahre Liebe richtet sich auf Gott. Wer also für sich Liebe und Ehre verlangt, stellt sich zwischen Gott und die Menschen. Welches Weib ist so unverschämt, daß sie zu ihrem Manne sagt: geh und suche mir einen andern, daß er bei mir liege! du gefällst mir nicht; und sprechen nicht die Menschen zu Gott: gib mir dies, erhalte mir das! — ihn selbst vernachlässigend und gegen ihn frevelnd?
Du willst deinen Bruder, dein Weib entlassen, um ihrer Fehler willen? Frage eine Mutter, ob sie ihr schwaches, gebrechliches Kind verlassen will? Spricht sie: nein, so gehe in dich und gesteh, du haßtest mit Unrecht. Die Engel leben mit Lasterhaften unverführt; aber das Höchste ist, nicht bloß unverführt bleiben, sondern zu heilen und herzustellen. Wenn du Liebe in dir trägst, das wird dich selig machen; aber du wirst nicht errettet, weil du von Menschen geliebt wirst. Liebst du nur, weil du geliebt wirst, oder weil du geliebt sein willst, so bist du nichts als ein Wechsler und hast deinen Lohn dahin.
8) Alanus von Ryssel.
Der höchste Gegensatz, besonders in Hinsicht auf die Form, zeigt sich bei einer Vergleichung der Werke des
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Alanus von Ryssel (geboren 1114, gestorben 1203) mit denen der Mystiker und auch der übrigen Philosophen. Damit keine Methode der Behandlung in jener Zeit reicher Entwickelung fehle, sucht Alanus in seinen fünf Büchern vom katholischen Glauben alle Lehrsätze desselben in strengster Form (wie später Spinoza auf seinem Boden) zu erweisen, und im Wege der Demonstration dasselbe zu finden, was der Glaube voraussetzt und offenbart.
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Nachdem so im 12. Jahrhunderte alle Formen und jede Hauptrichtung der philosophischen Entwicklung erschöpft zu sein schienen, würde man vielleicht alle Kräfte nur auf Nebenuntersuchungen gerichtet, ober sich in encyclopädischer Zusammenstellung und bequemer Zurechtlegung des Erworbenen gefallen haben. Da traten mehre Ereignisse ein, deren Wichtigkeit und Werth sehr verschieden beurheilt worden ist, die aber jeden Falls den größten Einfluß ausübten. Erstens hatte die Dogmatik durch die Lehrbücher mehrer ausgezeichneter Männer, und vor Allem Peter‘s des Lombarden, allmälig eine solche bestimmte Ordnung, Vollständigkeit, und einen solchen Zusammenhang erhalten, daß man sie für abgeschlossen und für eine Alles beherrschende Macht und den Frieden zwischen Theologie und Philosophie für vollzogen hielt. Aber gerade in dieser selbigen Zeit wuchsen, außerhalb der philosophischen Schulen und fast unabhängig von eigentlicher Wissenschaft, die als ketzerisch bezeichneten Lehren besonders der Waldenser und Albigenser hervor und riefen, im Augenblicke eines scheinbar vollständigen Sieges der rechtgläubigen Kirche, zu neuen Forschungen und Kämpfen auf.
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520 Die Philosophie und die Philosophen
Schon hierbei mußte die bisherige Philosophie irgend eine freundliche oder feindliche Stellung annehmen; noch weit mehr aber eröffnete die neue und erweiterte Kenntniß des Aristoteles und der Araber sehr eigenthümliche und oft ungeahnete Ansichten. Den Klagen über Tyrannei der Kirche, Willkür und Thorheit der Ketzer, Unchristlichkeit des Aristoteles und der Araber gegenüber, darf man behaupten: daß, wenn eines dieser großen, bewegenden Elemente gefehlt hätte, eine wesentliche Lücke entstanden und eine größere Einseitigkeit hervorgebrochen wäre. In so einseitigem Sinne untersagte die Kirche mehre Male den Gebrauch Aristotelischer, besonders seiner metaphysischen und physikalischen Schriften, ja sie befahl deren Verbrennung: und umgekehrt wollten übertriebene Verehrer des Aristoteles das Christliche, und übereifrige Ketzer das Kirchliche ganz unterjochen oder vernichten. Beides mislang glücklicherweise und auf den Reichthum der Aristotelischen, sowie der scholastischen Philosophie des 12. Jahrhunderts, sowie auf die christliche Dogmatik zugleich fußend, nahm der menschliche Geist einen neuen Aufschwung, begann nochmals die tiefsinnigsten Arbeiten und vollendete von Albert dem Großen bis Roger Bakon einen neuen Kreislauf philosophischer Entwickelung.
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9) Albert von Bollstädt,
geboren ums Ende des 12. Jahrhunderts zu Lauingen an der Donau, studirte in Padua, stieg im Dominikanerorden bis zum Landschaftsmeister von Deutschland, wurde 1260 Bischof von Regensburg, legte aber (nach tüchtiger Verwaltung) diese Würde aus Liebe zu den Wissenschaften nieder
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und starb im Jahre 1280 *). Von seinen dankbaren Zeitgenossen erhielt er nicht unverdient den Beinamen des Großen. Denn er umfaßte verschiedene Wissenschaften mit seltener Thätigkeit, brachte die zerstreuten Massen so mannichfacher Erkenntnisse zu einem Bewußtsein, ordnete, erläuterte, förderte nach allen Seiten und ward ein Mittelpunkt, von wo aus andere treffliche Männer weitere Bahnen ebneten und beherrschten. Blieben auch seine Kenntnisse in einigen Richtungen (z. B. der Geschichte der Philosophie) lückenhaft, war er auch nicht ein neuerfindender Geist ersten Ranges, so bleibt er doch der thätigste, wirksamste Polyhistor seiner Zeit und könnte (unter den angegebenen Beschränkungen) der Aristoteles oder Leibnitz jenes Jahrhunderts genannt werden.
Die Zahl seiner wissenschaftlichen Werke ist ungemein groß. Geistliche Reden, Erläuterungen der biblischen Schriften und des Petrus Lombardus, ein eigenes System der Dogmatik u. s. w. bilden nur die eine große Seite. Dann folgen Commentare zu Aristotelischen Schriften, welchen keineswegs eine eigene Form und Inhalt fehlt. Vielmehr fügen sie in lesbarem, klarem Latein Anziehendes genug hinzu und beschränken sich nicht (wie es nur zu oft geschah) darauf, des hochverehrten Meisters Worte phraseologisch zu wiederholen.
Auffallend ist es, daß weder Albert, noch andere Philosophen sich nicht gedrungen fühlten, der Aristotelischen gegenüber, eine christliche oder kirchlich wissenschaftliche aufzustellen und zu begründen,
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*) Ueber seine Verdienste in Regensburg, Gemeiner Chronik S. 383. Tiraboschi IV. 45.
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sondern an jener festhielten, obgleich für die wichtigsten Hauptstücke, z. B. der Sklaverei, ihr alter Boden verloren war. Was sich geschichtlich entwickelt hatte und dastand, schien keiner weitern Begründung zu bedürfen, und den praktischen Streitigkeiten und Streitschriften jener Tage (etwa über das Verhältniß von Staat und Kirche) tritt kein eigentlicher wissenschaftlicher Kampf zur Seite, welcher auf die ersten Grundsätze zurückginge und darauf stützte.
In seiner Psychologie und Ethik zeigt sich Albert freier, eigenthümlicher und selbständiger als viele Andere, welche eine Mosaik aus Aristoteles und den Kirckenvätern geben. Mancherlei Bemerkungen über die Sinne, hören und sehen, tönende und nicht tönende, durchsichtige und nicht durchsichtige Körper und dergl. erweisen Aufmerksamkeit und Scharfsinn. — Der Geist, sagt Albert an einer Stelle, ist vielleicht an sich etwas Göttliches und nicht des Leidens Fähiges, was vom Körper getrennt wird und dann zu einem Erkennen anderer Art und andern Freuden übergeht *). — Die Unsterblichkeit der Seele gründet sich darauf, daß Gott sie unmittelbar nach seinem Bilde schuf und zur ewigen Seligkeit bestimmte. Weil Gottes Dasein der Grund aller Gewißheit ist, kann man es nicht direct erweisen, wol aber die Widersprüche darthun, welche aus dem Leugnen desselben nothwendig hervorgehen. Albert‘s Ethik handelt über Begriff, Werth, Form und Methode
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*) Intellectus autemsecundum se forsitan est divinum aliquid et impossible quod separatur a corpore, et tunc habebit alteriumodi intelligere et alias delectationes. Opera III. S. 31.
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dieser Wissenschaft, über das Wesen des höchsten Gutes und der Glückseligkeit, vom Verhältnisse des Glückes und der Tugend, von Handeln und Leiden, Freiheit und äußerer Bestimmbarkeit, von den einzelnen Tugenden und Lastern, von der rein geistigen Tugend und dem speculativen Geiste, von Wissenschaft und Kunst, theoretischer und praktischer Entwickelung, vom Verhältnisse geistiger und sittlicher Eigenschaften und Vollkommenheiten, vom Verhältnisse der Gesetze zur Entwickelung von innen heraus u. s. w.
Zu dem Allen tritt nun auf eine, in jener Zeit höchst seltene Weise hinzu, eine Reihe naturgeschichtlicher und naturphilosophischer Werke. Sie handeln vom Menschen und seiner Physiologie und Psychologie, Leben und Tod, Bewegung, Athem und Ernährung, von der Natur und dem Ursprunge der Seele. Von den Thieren, ihrem Bau und ihren Organen, von der Anatomie derselben und von der Thierarzneikunde. Eintheilung und Beschreibung der Thiergattungen, Lebensweise, Instinkt, Gewohnheiten, geistige Eigenschaften u. s. w. Geschlechter, Anatomie und Fortpflanzung der Pflanzen, Samen, Blätter, Blüthen, Vergleich mit den Thieren. Die Erde, ihre Beschaffenheit und Bewohnbarkeit, Länge und Breite, Erdbeschreibung, Sternkunde, und Verhältniß der Erde und der Menschen zum gesammten Weltall.
10) Wilhelm von Auvergne,
von 1228 bis 1249 Bischof von Paris, hinterließ eine große Sammlung mannichfacher und lehrreicher Schriften, welche theils Früheres darstellen und prüfen, theils in eigenthümlicher Weise darüber hinausgehen.
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So enthält das Werk vom Universum *) Vieles, was man heutiges Tages, ungeachtet seines umfassenden Titels, darin nicht suchen würde. Es gibt, sagt Wilhelm, nur einen Gott, und die Lehre der Manichäer von einem guten und einem bösen Urwesen ist irrig und verdammlich. Ebenso gibt es nur eine Welt, geschaffen von dem einen Gotte. Hierbei Widerlegung mancher Aristotelischen Lehren. — Erläuterung und Erklärung der Schöpfungsgeschichte. Von Sonnen, Planeten und den verschiedenen Himmeln. Von den Elementen, dem Paradiese, dem Fegefeuer, der Hölle, wo und wie sie sei. Von Zeit und Ewigkeit. Die Zeit ist schlechthin beweglich, fließend, theilbar, werdend, vergehend: die Ewigkeit hingegen unbeweglich, seiend, unvergänglich, untheilbar, zugleich, ohne Folge, ohne Anfang und Ende. Gegen Aristoteles wird erwiesen, daß die Welt nicht ewig sei; es wird das platonische Weltjahr, und, gegen Origenes, die Vernichtung der Körper geleugnet. Von der Auferstehung der Tobten und dem künftigen Leben, den Leibern der Seligen, und der Harmonie der Sphären. Ob es in jener Welt Zeit und Bewegung geben werde? Ueber die Sprache und Vollkommenheit der Stimme im künftigen Leben. Die Harmonie wird eine vollkommene sein; gewöhnliche Singerei und Tänze fallen weg. Vom jüngsten Gerichte und einer neuen Schöpfung. Von der Vorsehung und dem Vorherwissen (providentia, praescientia) Gottes. Jene erstreckt sich auch auf das Geringste. Vom Nutzen der Leiden und Schmerzen, der Armuth und des Todes. Gegen die Lehre von der Nothwendigkeit und dem Fatum.
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*) Opera I. S. 593.
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Von der Wahrheit und den verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes. Vom Sündenfalle und der Erbsünde. Ueber die Platonischen Ideen, die Weltseele und die Ansicht des Aristoteles vom Himmel. Von den Seelen, Geistern und Teufeln, von der Gabe der Weissagung und der Magie.
In der Schrift vom Glauben sagt Wilhelm: Die Religion ist die Grundlage aller anderen Erkenntnisse, und der Glaube die Grundlage der Religion. Der menschliche Geist ist beim Glauben zum Gehorsam verbunden; Glauben aus Beweisen verdient weder diesen Namen, noch schließt er Gehorsam in sich. Auf sich selbst ruhend, ist der menschliche Geist schwach und geräth in Zweifel, das heißt in wandelbare Beweglichkeit. Diese treibt ihn zu Erörterungen, Schlußfolgen und Beweisen, als Stützen seiner Schwäche. Die Demonstration ist gleichsam der Stab, auf welchem gestützt er weiter wandert oder vorwärts springt, ohne jemals unbedingte Festigkeit zu erreichen. Hingegen bedarf der Geist, welcher durch eigene Tüchtigkeit glaubt, jener Stützen nicht, und hat am unmittelbaren Glauben mehr, als an vermitteltem Beweise. Ein Mensch, welcher zweifelt und Beweise fordert, gleicht einem Verkäufer, der sich nach Pfand und Bürgschaft umsieht, weil ihm andere und bessere Sicherheiten fehlen; auch sind alle die aufgehäuften Pfänder nur Zeichen des Zweifels, der Schwäche und der Armuth. So wie zwei Krücken noch mehr den elenden Zustand der Beine erweisen, als eine Krücke, so wächst die Festigkeit des Geistes nicht, wenn er sich viele Krücken anschafft und abwechselnd darauf stützt. Leichtgläubigkeit solcher Art hilft nicht gegen Unglauben, und Beweise der Krankheit sind, oder erzeugen keine Gesundheit.
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526 Die Philosophie und die Philosophen
Diejenigen, welche durch Erörterungen und Beweise zu Gott gelangen wollen, mögen in dieser philosophischen Art der Erkenntniß fortschreiten, aber sie beschimpfen Gott durch ihren Unglauben, kommen ab von der Religion und bleiben von der höheren Erkenntniß ausgeschlossen. Das größere, innigere Licht steigt von oben herab, nicht aufwärts von der Kreatur. Nur jenes gibt die höchste Gewißheit. Nichts nämlich ist gewisser, als der unmittelbare Glaube: er ist Gabe Gottes, ist Gnade.
Der erste Grund des Irrthums und der Gottlosigkeit ist die Unwissenheit über das Maaß und die Fähigkeit des menschlichen Geistes *). Wer nämlich meint: sein Geist begreife Alles, wird nothwendig ungläubig gegen Alles, was er in demselben nicht vorfindet. Höchstens sucht er in Beweisen eine Leiter, um aufwärts zu steigen; aber für Gegenstände des Glaubens gibt es eben keine Leiter durch Beweise **). Wilhelm‘s Schrift von den Tugenden beginnt mit Untersuchungen über die Natur und die Kräfte des Menschen, die Einheit oder Theilbarkeit der Tugend, Entwickelung von innen und Entwickelung von außen, über das Thun und Leiden der menschlichen Seele. Das Leben des Menschen (heißt es weiter) soll gereichen zur Ehre Gottes, würdig sein in Hinsicht auf ihn selbst, sowie nützlich und wohlthätig in Hinsicht auf seinen Nächsten. Laut Aristoteles ist die Tugend die Mitte zwischen zwei Aeußersten. Sie soll aber nicht etwa bloß so bezeichnet werden, sofern man die Extreme vermeidet,
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*) Ignorantia mensurac et capacitatis mentis humanae.
**) De fide S. 8.
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sondern weil die Mitte erwirbt und besitzt, was diesen fehlt. Eie hat also einen bessern, wesentlichen, positiven Inhalt, wodurch sie ihren Werth erhält, und an sich als das Gute selbst erscheint *).
Jedes Gut, nach dessen Erreichung wir noch weiter streben müssen, noch andere Zwecke vor uns erblicken, kann nicht das höchste sein. Die letzte Bestimmung des Menschen ist die ewige Seligkeit. Auf der niedrigsten Stufe erscheint das Gute als Nützliches, wo der Zweck außerhalb des ersten liegt; auf der zweiten Stufe zeigt sich Aehnlichkeit mit dem höchsten Gute; auf der dritten, wahre Theilnahme an demselben. Wer jedoch lediglich um sein Selbst willen, aus Eigenliebe und ohne Beziehung auf Gott, den Geber alles Guten, darnach strebt, wird dieses Guten nie theilhaftig. Des Menschen Wille ist vergleichbar einem Feldherrn; die Kenntnisse und Wissenschaften sind Rathgeber; die Sinne endlich Späher, Botschafter, Berichterstatter.
Natürliche Anlagen reichen nicht aus, das höchste Ziel der Menschheit zu erreichen; Gottes Gnade muß wirkend hinzutreten.
In einer andern Schrift von den Sitten **) werden die einzelnen Tugenden redend eingeführt und rühmen ihre Eigenschaften und ihre Trefflichkeit. Zum Theil unerwartet ist es, daß auch die Furcht, der Eifer (zelus), die Armuth das Wort nehmen, die vier Cardinaltugenden an dieser Stelle aber nicht hervortreten. — Betrachtungen
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*) De virtutibus S. 110.
**) De moribus S. 119.
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über Laster und Sünden *) werden von Wilhelm mehr aus theologischem, als philosophischem Standpunkte angestellt. Seine göttliche Rhetorik **) handelt vom Gebete, sowie von der Natur und Anwendung der Rede in Beziehung auf Gott und göttliche Dinge; Alles in eigenthümlicher Weise.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen Wilhelm‘s Schriften von der Seele und der Unsterblichkeit. Er sagt daselbst: Aristoteles behauptet: die Seele sei die Vollkommenheit eines physischen organischen Körpers, der Kraft des Lebens habe ***). Die letzten Worte lassen sich füglich nur von dem Körper verstehen, welcher nach dem Tode des lebenden Geschöpfes übrig bleibt: denn das Leben beruht nicht auf dem Körper, kommt zum Lebendigen nicht als eine Kraft, oder Fähigkeit, sondern gehört unabtrennlich zu seinem Wesen. Eine unkörperliche, lebendige Substanz ist als Königin des Körpers in demselben: er kann nur als Werkzeug für den beliebigen Gebrauch des Werkmeisters betrachtet werden. Ginge der Geist lediglich aus dem Körper hervor, so müßte er sich in jedem Körper befinden, und würde dann doch nur höchstens das Körperliche begreifen. Es ist unmöglich, daß der Mensch denke, seine Seele sei nicht vorhanden. Keine vernünftige Seele, keine denkende Substanz kann denken, glauben, oder zweifelnd meinen: sie sei nicht. Und diese Gewißheit von dem eigenen Sein ist die gewisseste
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*) De vitiis et peccatia S. 260.
**) Rhetorica divina S. 356.
***) Perfectio corporis physici organici, potentia vitam habentis.
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Gewißheit, über welche hinaus es gar keine größere gibt *).
Hierauf widerlegt oder berichtigt Wilhelm die Ansichten und Lehren des Plato, Pythagoras, Philolaos und Heraklit über die Seelen, zeigt, daß sie nicht Ausflüsse himmlischer Körper sind, und erweiset nachmals ihre Unkörperlichkeit und Untheilbarkeit. Denken und Wissen sind durchaus keine körperlichen Handlungen oder Tätigkeiten, sondern geistige, und müssen deshalb aus geistigen Substanzen hervorgehen **). Sofern Aristoteles dies bestreitet, muß ihm die Seele ohne Körper unwissend und höchst elend, und ihre Fortdauer nach der Trennung von dem Körper überflüssig, ja unmöglich erscheinen.
Wenn man der Seele verschiedene Kräfte und Fähigkeiten beilegt, so hebt dies die Einheit ihrer Substanz nicht auf. Die Sinne geben unmittelbare Eindrücke, welche aber oft irrig sind, sobald man sie nicht einer geistigen Berichtigung unterwirft, woraus die Nothwendigkeit des Geistes ebenfalls hervorgeht ***).
Man muß sich verwundern, daß Aristoteles, sowie seine griechischen und arabischen Anhänger, ihre Untersuchungen fast nur auf die erkennende, aber nicht auf die
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*) Non est possibile homini intelligere animam suam non esse. - Patefactum est nullam animam rationabilem vel aliam substantiam intelligentem intelligere posse vel credere, vel etiam dubitare se non esse. Unicuique animali rationali notum est suum esse, et nota ipsi sibi notitia certissima, qua certitudine nulla major. De anima, Opera II. 68, 72.
**) S. 81 f.
***) S. 93
Hist. Taschenbuch. Neue F. I.
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wollende und handelnde Seite der Seele gerichtet haben. Die Lehre von der Freiheit des Menschen gehört aber allerdings nicht bloß zur natürlichen, sondern auch zur göttlichen Wissenschaft. Jene erkennende Seite ist die untergeordnete, Hülfe leistende, und die Vollkommenheit des Willens steht der Vollkommenheit des Wissens voran, wie schon der Teufel mit seiner ganzen Schar beweiset, die im Wissen so hoch und im Wollen so niedrig stehen. Beides gehört indeß zusammen, und es gibt keinen Willen ohne alle Erkenntniß, und keine Erkenntniß ohne allen Willen. Man kann die Seele nicht einen Theil des Menschen nennen, aber ebenso wenig bei einer Definition des Menschen den Körper ganz übergehen.
Die Seelen werden nicht erzeugt durch die Seelen, auch nicht durch die Leiber, auch nicht durch die Wirkung beider zusammengenommen, auch nicht durch die Elemente, oder eine besondere schaffende Kraft, — sondern Gott schafft die Seelen und geußt sie ein *). Von Natur liebt die Seele mehr die geistigen und unsinnlichen, als die körperlichen und sinnlichen Dinge; denn das bloß Körperliche hemmt und schwächt sie und hält sie in Gefangenschaft. Doch bietet auch das Sinnliche Weg und Stoff zur Erkenntniß und Ehre Gottes. In dem Zustande ihrer Reinheit, Klarheit und Gesundheit erkennt die Seele deutlich ihre Unsterblichkeit, und daß ihr Leben nicht von dem des Leibes abhängt; daß das Werkzeug nicht das Erste ist, sondern das Auge sieht und das Ohr hört durch die lebendige Seele **). Darum kann auch diese
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*) Infunditur anima S. 112.
**) S. 136 – 154.
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nicht erdrückt werden, oder zu Grunde gehen durch das Werkzeug. Wohl aber kann Gott, sowie er die Seele erschaffen hat, so auch sie wieder vernichten. Sofern die Seele eines unendlichen Fortschrittes fähig ist und Sinn hat für das Göttliche und Ewige, ist sie auch einer unendlichen Dauer fähig, und sofern sie von Natur Gott liebt, wird sie einer solchen Dauer würdig. Die Güte, Gerechtigkeit, Gnade und Ehre Gottes erfordern, die Unsterblichkeit der Seele anzunehmen und daraus abzuleiten.
Die einleuchtendste und unmittelbare Erkenntniß des Schöpfers ist das wichtigste und edelste Geschäft des Geistes *). Könnte der Geist den Schöpfer nicht erreichen (apprehendere), so wäre er weder der Vervollkommnung noch der Seligkeit fähig. Die Wissenschaft von Gott ist die höchste Vollkommenheit der geistigen Kraft.
So kurz und unvollständig auch diese Auszüge sind, geben sie doch hinreichendes Zeugniß für die großen Anlagen Wilhelm‘s, und daß er scharfsinnig, ich möchte sagen mehre Aufgaben, Themata ausgesprochen hat, welche nachmals zu ganzen Systemen erweitert und ausgebildet worden sind. So bildet seine Aeußerung über die allerhöchste Gewißheit des denkenden Bewußtseins später den Mittelpunkt des Cartesischen Systems; die Lehre von dem Schauen oder Ergreifen Gottes erinnert an Malebranche; die Behauptungen über die Gewißheit des Glaubens und sein Verhältniß zur Demonstration stimmen ganz mit der Grundlage des Jacobischen Systems; die Lehre endlich, daß die Unwissenheit über das Maaß und die Fähigkeit des
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*) Apprehensio creatoris videlicet lucidissima et immediata, praecipua est ac nobilissima operatio intellectus. S. 203.
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menschlichen Geistes Hauptquelle alles Irrthums sei, führt zu dem kritischen Systeme Kant‘s.
11) Thomas von Aquino, *)
geboren im Jahre 1224, besuchte die Schule von Montecassino, studirte in Neapel, Paris und in Köln unter Albert dem Großen, wurde gegen den Willen seiner Verwandten schon im 19. Jahre Predigermönch, 1257 Lehrer in Paris, 1260 Lehrer in Rom und starb im J. 1274. Allmälig erlangte er den höchsten Ruhm und bildete eine große Schule, welche in der katholischen Welt fast noch jetzt als die herrschende bezeichnet werden kann. Auch hat Keiner in jenen Zeiten mit solchem Fleiße und solchem Scharfsinne das Theologische und Philosophische so erforscht, verarbeitet und zu einem dogmatischen Ganzen ausgebildet. Nicht minder übertrifft seine Sittenlehre an Scharfsinn, Zusammenhang und Reichthum nicht allein die des Hildebert und Abälard, sondern die meisten ähnlichen Werke späterer Zeiten **). Fremde Lehren und Ansichten geben ihm allerdings den meisten Stoff her und er ist weit entfernt, sich selbst eitel in den Vordergrund zu drängen, obwol die Kraft und Tätigkeit seines eigenen Geistes nirgends zu verkennen ist. Wenngleich das Theoretische bei ihm so vorwaltet, daß sich die ganze Sittenlehre daran reiht, hat er doch keine Vorliebe für blos
spitzfindige Speculationen. Vielmehr sucht er durch
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*) Acta Sanct. 7. März S. 653. Tirab. IV. S. 120. Paolo Pansa I. Gattula II. S. 480. Eberstein, Theologie der Scholastiker S. 230 und 243
**) Baumgarten-Crusius, de Theologia morali Scholasticorum S. 13.
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Wegschneiden aller unnützen Beiwerke und durch eine wesentlich verbesserte, wissenschaftliche Anordnung das Studium der Theologie und Philosophie zu erleichtern und zu versöhnen. Er nahm an, Sünde und Unwissenheit gehe Hand in Hand, zwischen Erkenntniß und Sittlichkeit finde ein wechselseitiges Verhältniß statt, und sowie der Verstand nach dem Wahren strebe, so der Wille nach dem Guten. Ueberhaupt könne das dem Menschen inwohnende Verlangen nach Wissenschaft unmöglich etwas Leeres und Grundloses sein, und die Metaphysik, welche sich mit der höheren Erkenntniß abgebe, müsse die sicherste Wissenschaft sein. Dennoch stehen ihm die Geheimnisse der geoffenbarten Religion obenan, und die stete Beziehung auf Gott gibt den einzelnen Theilen seiner Lehre Zusammenhang und Haltung. Dies Alles ergibt sich näher durch folgende Auszüge aus seinem systematisch geordneten Hauptwerke, der „Summa der Theologie“.
Außer den philosophischen Wissenschaften (welche von den durch die Vernunft erkennbaren Dingen handeln) gibt es eine Wissenschaft des von Gott Offenbarten, eine Theologie. Sie bietet theils eine Erkenntniß dar, welche über die gewöhnliche Vernunft hinausreicht, theils stellt sie das durch die Vernunft Erkennbare in ein neues Licht und betrachtet es von einem verschiedenen Standpunkte. Ihre Grundlage ist der Glaube, ohne daß sie dadurch den Charakter einer praktischen oder theoretischen Wissenschaft einbüßte. Sie übertrifft an Gewißheit und Würdigkeit des Gegenstandes alle anderen Wissenschaften, kann jedoch von diesen, als von geringeren, Hülfe annehmen und sich ihrer bedienen. Gott ist ihr Gegenstand, sowie alles Andere, sofern es von ihm ausgeht und sich auf ihn bezieht.
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Zum Beweise ihrer Grundlagen bedarf sie keiner Schlüsse und Argumentationen, bedient sich jedoch derselben gegen die Leugnenden und behufs größerer Verdeutlichung *).
Das Dasein Gottes läßt sich zwar nicht a priori (propter quid) erweisen, wol aber aus seinen uns bekannten Wirkungen. Hier bietet sich ein fünffaches Verfahren dar. Erstens muß alle Bewegung in der Welt ausgehen von einem ersten Bewegen; zweitens führen alle abgeleiteten Ursachen und Wirkungen nothwendig auf eine erste Ursache zurück; drittens gehört zu allem Zufälligen und Möglichen ein höchstes Nothwendiges; viertens weiset jeder niedere Grad, jede niedere Stufe, auf ein höchstes schlechthin Vollkommenes hin; fünftens erweiset die Zweckmäßigkeit der Welt ein höchstes liebendes Wesen: das heißt Gott.
Gott ist weder ein Körper, noch aus Form und Materie zusammengesetzt. Sein Wesen und sein Sein (essentia et esse) ist dasselbe und fällt zusammen. Er ist weder eine bloße Weltseele, noch das bloß formale Princip, noch die erste Materie der Dinge. Er kann nie Theil eines zusammengesetzten Dinges sein, wol aber ist er die erste, einfache, überall wirkende Ursache, der alle Vollkommenheiten in sich vereint, und von dem alle ausgehen. Er ist das Urseiende, Urgute und Urschöne zugleich. Die Geschöpfe sind Gott ähnlich nicht dem Wesen nach, sondern nur nach einer gewissen Analogie; hingegen
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*) Pars I. Quaestio 1.
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kann man nicht sagen, daß Gott den Geschöpfen ähnlich sei *).
Jedes Wesen (eus), sofern es wirklich ein Wesen ist, ist gut **). Das Gute läßt sich eintheilen in Ehrbares, Nützliches und Ergötzliches (delectabile). Da Gott allein die höchste Vollkommenheit besitzt, so ist er, seinem eigentlichsten Wesen nach, gut. Alles Gute geht von ihm aus, er ist dessen erster, wahrer Quell; obwol sich in abgeleiteter Weise in den einzelnen Dingen vielfaches Gute (multae bonitates) vorfindet. Gott ist seinem Wesm nach unendlich, alles Uebrige dagegen endlich und nur unendlich in gewisser Beziehung (secundum quid). Obgleich Gott, vermöge der Vollkommenheit seiner Natur, über Alles erhaben ist, ist er doch in Allem als Ursache, einwirkend und wissend. Er allein bleibt unveränderlich und ewig im höchsten Sinne. Das Wesen der Ewigkeit besteht in dem Zugleich auf einmal (tota simul); das der Zeit, in der Aufeinanderfolge. Eine Zeit ohne Anfang und Ende wäre noch keine Ewigkeit ***). Daß Gott ein einiger sei, fügt seinem Wesen nichts hinzu, sondern leugnet nur die Theilung. Die Seligkeit des Menschen besteht in seiner höchsten Wirksamkeit, und dies ist die des Geistes. Könnte er nun Gott nie erkennen, so würde er von der Seligkeit ausgeschlossen, oder diese anderswo als in Gott zu finden sein, was dem Glauben widerspricht. Da Gott unkörperlich ist, kann man nicht auf sinnliche Weise zu
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*) Quaestio 2 – 4.
**) Dies erinnert an Hegel.
***) Quaest. 5 – 11.
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536 Die Philosophie und die Philosophen
seiner Erkenntniß gelangen, auch nicht durch die bloße Kraft des Verstandes, sondern im Wege der Gnade, jedoch mit Hülfe und Zuthun des dem Menschen anerschaffenen Lichtes. Die Erkenntniß Gottes ist nicht in Allen gleich, und in Keinem ganz vollkommen. Während dieses sterblichen Lebens kann der bloße Mensch (homo purus) Gott nicht schauen. Da alle Dinge von Gott erschaffen sind, so kann der Mensch durch seine Natur, seine Sinne und das Sichtbare überhaupt zu Gott hingeführt werden, sein Dasein und sein Verhältniß zu den Geschöpfen begreifen, aber nicht sein Wesen erkennen. Jenes erreichen durch natürliches Licht sowol die Bösen als die Guten; dieses nur die Guten mit Hülfe der Gnade. Kein Gotte von Menschen beigelegter Name kann sein Wesen ganz ausdrücken und erschöpfen. Doch sind die Namen weder ganz gleichbedeutend, noch gleich würdig. Sie drücken meist nur analogisch das Verhältniß der Geschöpfe zu ihm aus. Gott erkennt und begreift sich und alles Andere vollkommen durch sich selbst. Da in Gott das Sein und Erkennen dasselbe ist, so verwirklicht er die Dinge durch sein Erkennen, unter dem Hinzutreten seines Willens. Sein Wissen erstreckt sich auf Alles und ist unveränderlich. In ihm sind alle Ideen im voraus vorhanden , nach deren Aehnlichkeit Alles gebildet ward *).
Vorzugsweise ist alle Wahrhnt im Geiste, nächstdem (secundarie) aber auch in den Dingen, sofern sie einen Bezug haben (aliquem ordinem) auf den Geist. Dies ist der Fall, entweder weil ihr Dasein vom Geiste abhängt, und sie nach göttlichen Ideen erschaffen sind, oder weil
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*) Quaest. 12 - 15.
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537 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
sie von einem Geiste erkannt werden. Zuletzt aber wurzelt alle Wahrheit in der Bezugnahme und dem Verhältnisse zu Gott.
Ferner liegt die Wahrheit in der Uebereinstimmung des Geistes und der Sache. Diese Uebereinstimmung und Erkenntniß geben keineswegs die Sinne für sich, sondern der Geist muß verbinden, trennen, urtheilen, mit einem Wothe thätig sein. Das Seiende und das Wahre ist im Geiste und in den Dingen, doch scheint diesen vorzugsweise das Sein, jenem das Erkennen zuzugehören. Das Nichtseiende hat nichts in sich, wodurch es erkannt würde; wol aber wird es erkennbar, sobald der Geist es erkennbar macht. Das Wesen des Nichtseienden gründet sich darauf, daß es ein Wesen der Vernunft ist und aufgefaßt durch die Vernunft. Das Wahre, welches sich auf das bloße Sein bezieht, ist es vor dem Guten, sofern dies eine besondere Beschaffenheit und einen Trieb nach dieser Beschaffenheit ausdrückt. Das Wahre ist Gegenstand des Erkennens, das Gute hingegen zugleich Gegenstand des Triebes, welcher jenem folgt. Doch ist zu bemerken: daß Wollen und Erkennen (vuluntas et intellectus) sich gegenseitig einschließen *); denn das Erkennen versteht den Willen und der Wille sucht die Erkenntniß zu begreifen. Die Gegenstände des Wollens und Erkennens sind dieselben, nur steht dort das Gute, hier das Wahre in der Reihe voran **).
Gottes Sein und Erkennen ist dasselbe, und sein Erkennen
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*) Dies erinnert an Spinoza.
**) Quaest. 16.
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538 Die Philosophie und die Philosophen
und Sein ist Maaß und Ursache alles anderen Seins und Erkennens: daher ist er die erste, höchste und unveränderliche Wahrheit. In den erschaffenen Geistern wechselt, steigt und sinkt dagegen das Maß der Erkenntniß und Wahrheit. Gott wirkt nach seinem Willen, nicht getrieben durch eine äußere Nothwendigkeit. Er will zunächst sich, dann behufs der Mittheilung des Guten auch Anderes; indessen läßt sich nicht sagen, daß sein Wille eine Ursache habe. Sowie er auf einmal (uno actu) Alles erkennt, so will er auch auf einmal. Sein Wille ist unveränderlich und geht immer in Erfüllung. Sein Wille legt indessen nur einigen, nicht allen Dingen eine Nothwendigkeit auf. Was nach Gottes Willen geschehen soll, geschieht: er will aber entweder unbedingt, woran sich die Nothwendigkeit knüpft, oder bedingt, wo dann Freiheit und Zufall (contingentia) hervortreten. Gott will weder, daß das Böse geschehe (etwa um angeblich dadurch Gutes zu bewirken), noch daß es nicht geschehe, sondern er will erlauben, daß das Böse geschehe *). Man kann Gott (und auch dem Menschen) nur in sofern einen freien Willen beilegen, als er etwas nicht nothwendig will **). Gott liebt das Gute in anderer Weise als der
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*) Es kann hier nicht untersucht werden, ob Thomas bei strengem Fortschreiten auf dialektischem Wege nicht zu einem Leugnen der menschlichen Freiheit gekommen wäre, wenn ihn nicht sein unmittelbares und religiöses Bewußtsein davon zurückgehalten hätte. Man vergleiche z. B. summa theol. Quaest. XIX, artic. 8; XLVIII, 2, und CXVI, 1, wo er sagt: Ordinatio humanorum actuum, quorum principium est voluntas, soli Deo attribui debet.
**) Quaest. 19 – 20.
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des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Mensch; nämlich dasselbe erschaffend und mittheilend. Da in Gott keine Leiden und Leidenschaften sind, können ihm auch gewisse Tugenden in menschlichem Sinne nicht beigelegt werden (z. B. empfangende Gerechtigkeit, Mitleiden). Seine Vorsehung ist nicht bloß eine allgemeine, sondern auch eine besondere; obwol dadurch nicht allen Dingen eine Nothwendigkeit auferlegt wird. Die Vorherbestimmung, welche von Ewigkeit her in Gottes Rathschluß stattfindet, hat ihren Grund nicht in den Handlungen des Erwählten oder Verworfenen. Sie erreicht gewiß und unfehlbar ihren Zweck, hat ihre Wirkung, legt aber doch keine Nothwendigkeit auf, so daß die Wirkung aus dieser hervorginge. Gott ist allmächtig in Bezug auf Thun, nicht auf Leiden, und seine Allmacht erstreckt sich auf alles Mögliche, nicht aber auf Unmögliches, in sich Widersprechendes. In ihm ist die höchste Seligkeit *).
Nachdem hierauf die Lehre von den drei Personen in der Gottheit, dann die Lehre von den Engeln, den Teufeln und der Schöpfung in bekannter Weise entwickelt worden, heißt es weiter: Gott erschafft aus Nichts. Die Ewigkeit der Welt ist möglich, aber nicht nothwendig. Ihr Anfang ist nicht zu erweisen, wol aber zu glauben **).
Die Seele ist kein Körper. Denn zu dem Wesen des Körpers gehört keineswegs das Leben, sonst müßte jeder Körper lebendig sein. Hätte der Geist etwas Körperliches an sich, so könnte er nicht alle Körper erkennen; doch besteht der Mensch aus Leib und Seele. — Man hat behauptet: so wie die Seele einen Anfang hat, hat sie,
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*) Quaest. 20 – 26.
**) Quaest. 46.
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540 Die Philosophie und die Philosophen
als vergänglich, auch ein Ende, und ihre Tätigkeit muß aufhören, sobald der Körper (dies unentbehrliche Werkzeug) zu Grunde geht. Zur Antwort: die Seele, dies intelligibele Princip des Menschen, kann als Kraft mit Thätigkeit durch sich selbst nicht zerstört werden. Zerstörung kann nur eintreten , wo ein Gegensatz (contrarietas) stattfindet, der feindlich aufeinanderwirkt; in der Seele gibt es aber keinen solchen, und was etwa so erscheint, ist nur ein Wissen und Erkennen von Gegensätzen. Hierzu kommt, daß jede Seele natürlich ihre stete Dauer wünscht, und ein solcher natürlicher Wunsch kann nicht leer sein. Die Seele entsteht keineswegs durch Zeugung, wie der Körper, unterliegt also nicht denselben Gesetzen, und von diesem getrennt, bleibt ihr eine andere Art der Erkenntnißweise. Durch die Seele überkommt der Körper das Leben, sie ist seine Form und die Wurzel seiner Thätigkeit *). Man muß also behaupten: die Seele sei nothwendig unzerstörbar **).
Es wird gesagt: die Zahl der Seelen vermehrt sich nicht nach Maaßgabe der Zahl der Körper; sonst würde auch eine gegenseitige Verminderung stattfinden; vielmehr gibt es nur einen Geist für alle Menschen, worauf zuletzt alle geistige Mittheilung und die Möglichkeit alles geistigen Verständnisses beruht. — Zur Antwort: ist die
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*) Quaest. 65 - 66.
**) Dicendum, quod necesse est omnino animam incorruptibilem esse. Opera XIV, S. 443. Und Anselm lehrte: Omnem animam sic creatam, ut possit et amare et contemnere summum bonum, immortalem esse oportet. Monol. Cap. 72.
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des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Seele die Form des Menschen, so kann sie nicht Allen gemein sein, ohne die Persönlichkeit zu vernichten, oder dieselbe auf ganz äußerliche Nebendinge hinabzubringen. Eben so wenig läßt sich die Sinnlichkeit als ein ganz gleichartiges, gemeinsames Geschäft bezeichnen. Die Seele ist die Form der Materie, und da diese theilbar ist, so gibt es viele Seelen derselben Art, welche nach Zerstörung der Körper in ihrem Wesen verharren. Das Gemeinsame der Erkenntniß und die Möglichkeit einer gemeinsamen Erkenntniß wird durch die Vielheit der Seelen einer Art nicht aufgehoben. Mag es aber auch einen oder viele Geister geben, so bleibt doch das zu Erkennende dasselbe.
Wäre die Seele mit dem Körper nur vereint als dessen Beweger, wäre sie nicht Form und bestimmte sie nicht das ganze Sein desselben, so könnte es neben der erkennenden noch eine sinnliche und vegetative geben. In Wahrheit übt eine Seele alle diese Tätigkeiten.
Man hat gefragt: ob die Verbindung der unverderblichen Seele mit dem verderblichen Körper nicht unpassend sei. Zur Antwort: die Seele gewinnt hierdurch die Organe sinnlicher Kenntniß, und durch Gottes Gnade ist gegen den Tod des Körpers ein Mittel gegeben.
Da keine einzelne Wirksamkeit der Seele ihre Substanz ausmacht und sie nicht immerwährend wirkt, so muß ihre Kraft (potentia) von ihrem Wesen und ihrer Substanz verschieden sein *). Oder vielmehr, es liegen in ihr verschiedene Kräfte, nach Maaßgabe der Gegenstände und Wirkungsarten. Sie sind nicht gleich an Würdigkeit, und die, welche allein in der Seele wurzeln, verbleiben
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*) Quaest. 67.
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542 Die Philosophie und die Philosophen
ihr auch nach der Trennung von dem Körper; diejenigen, welche aus der Verbindung mit dem Körper hervorgehen bleiben hingegen nach dem Untergange desselben, nur der Fähigkeit und Möglichkeit nach.
Es gibt eine natürliche, unbedingte Nothwendigkeit (so z. B. daß die drei Winkel eines Dreiecks zweien rechten gleich sind); ferner eine Notwendigkeit des Mittels, um einen Zweck zu erreichen (was bisweilen auch Nutzen genannt wird), welche mit dem Willen zusammentrifft. Ferner eine Nothwendigkeit des Zwanges, im Widerspruche mit dem Willen. Von Natur will der Mensch vor Allem seine Seligkeit. Das, was nicht mit diesem Hauptzwecke zusammenfällt, oder doch wesentlich zusammenhängt, will der Mensch nicht aus Nothwendigkeit. Betrachtet man Erkennen und Wollen, an und für sich, so steht jenes seinem Gegenstande nach voran; doch kann auch dem letzten der Vorrang gebühren, sofern es sich insbesondere auf etwas Höheres richtet *).
Der freie Wille gehört nothwendig zum Wesen eines vernünftigen Menschen; es ist eine natürliche Kraft des Geistes vorhanden, vermöge welcher man sich zum Guten wie zum Bösen wenden kann.
Thomas gibt hierauf eine vollständige Theorie der menschlichen Erkenntniß, welche zugleich eine Prüfung der Platonischen Ideenlehre in sich schließt. Er leugnet, daß wir durch die Erfahrung und Kenntniß der körperlichen Dinge jemals zu einer vollkommenen Erkennniß der unkörperlichen Gegenstände gelangen können. Auch sei das Unkörperliche, oder Gott, nicht das Erste, was der
*) Quaest. 82 - 83.
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543 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Mensch erkennt. — Die Seele ist von Gott erschaffen, gehört aber nicht zu seiner Substanz. Sie wird nicht früher erschaffen, als der Körper. Das Bild Gottes ist in jedem Menschen, sofern er sein Geschöpf ist; das Bild der Wiedergeburt aber nur in den Gerechten, und der Glorie in den Seligen *).
Alle Handlungen des vernünftigen, wollenden Menschen haben irgend einen Zweck, und alle Zwecke beziehen sich auf einen letzten und höchsten, nämlich Gott und die ewige Seligkeit. Die Menschen suchen diesen Zweck auf verschiedenen Wegen zu erreichen, oder halten Verschiedenes für den höchsten Zweck. Die Seligkeit des Menschen besteht nicht in Reichthum, Ehre, Macht oder körperlichen Genüssen. Um zur Seligkeit zu gelangen, ist der Seele die Vollkommenheit nöthig; diese vereint sich mit ihr und inhärirt ihr; aber das, worin die Seligkeit besteht und was beseligt, ist etwas außerhalb derselben. Die Ursache der Seligkeit ist unerschaffen, zur Seligkeit gehört aber auch Erschaffenes. Durch die bloßen Sinne kann der Mensch nicht zum unerschaffenen Guten gelangen, auch nicht durch ein bloßes Wollen, dessen Zweck außerhalb des Wollens liegt; mithin bezieht sich die Seligkeit vorzugsweise auf die erkennende Thätigkeit des Geistes, oder sie wurzelt vorzugsweise in der speculativen und nächstdem in der praktischen Thätigkeit. Doch gibt die Speculation, welche sich nicht über die Erkenntniß des Sinnlichen hinaus erstreckt, nie die volle Seligkeit. — Ohne rechten Willen kommt Niemand zur Seligkeit. Die höchste Seligkeit, welche im Schauen Gottes besteht, erlangt kein
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*) Quaest. 90 – 93.
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544 Die Philosophie und die Philosophen
Mensch durch natürliche Kräfte; sie wird von Gott verliehen. Durch seine eigene Natur ist nur Gott selig *). — Die leblosen Wesen bewegen sich nach einem nicht wahrgenommenen, die Thiere nach einem wahrgenommenen Zwecke; nur der vernünftige Mensch kann selbstthälig wegen eines Zweckes handeln **). In jedem Wesen kann nur so viel des Guten sein, als des Seins in ihm ist ***), deshalb ist nur in Gott, wie die Fülle (plenitudo) des Seins, so auch der Güte. Jedes Ueble oder Böse offenbart also auch einen Mangel des Seins, doch kann aus einer bösen Handlung mittelbar etwas Positives, Seiendes und Gutes hervorgehen. Die erste natürliche Güte entspringt aus der Form, dem Sein: die erste sittliche Güte aus der Materie, dem Gegenstande. Umstände und Verhältnisse (circumstantiae) gehören nun zwar nicht zum Wesen der Handlungen, doch bestimmt sich der Werth der letzten auch nach denselben und nicht bloß nach dem Gegenstande. Weiter kommt neben der natürlichen Güte, dem Gegenstande und den Verhältnissen auch der Zweck (finis) in Betrachtung, oder vielmehr die Absicht, als eigentlicher Gegenstand des innern Willens. Handlungen, welche gar Nichts in sich schließen, was sich auf die Vernunft bezieht, kann man gleichgültige nennen ****). Die Güte des Willens hängt ab von der Vernunft und von dem Gegenstände, und in der höchsten
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*) Pars II. Sectio 1, Quaest. 1 – 5.
**) Stäudlin, Geschichte der Moralphilosophie S. 495 – 537.
***) Quaest. 18.
****) Quaest. 19.
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545 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Stelle von dem ewigen Gesetze, das in Gott ist. Jedes Wollen, welches der richtigen oder irrenden Vernunft widerstreitet, ist böse; aber auch das mit der irrenden Vernunft zusammentreffende Wollen ist vom Uebel, sobald der Irrthum konnte und sollte vermieden werden. Güte des Willens, die sich auf einen Zweck bezieht, beruht auf der Absicht (intentio). Der Wille kann nie gut heißen, wenn die Absicht nichts taugt. Das Maaß der Güte folgt nicht immer der Quantität der guten Absicht; wol aber folgt das Maaß des Uebels der Quantität böser Absichten. Zuletzt hängt alle Güte des menschlichen Willens von seiner Uebereinstimmung mit dem göttlichen Willen ab, und eine Handlung ist gut, sofern sie mit den ewigen Gesetzen übereinstimmt. Gute und schlechte Handlungen sind nicht bloß in Bezug auf die Menschen, sondern auch vor Gott verdienstlich oder nicht verdienstlich (meritorii, vel demeritorii).
Sofern die Leidenschaften der Vernunft und dem Willen unterworfen sind, kann man sie in moralischer Beziehung gut oder schlecht nennen. Nur diejenigen Leidenschaften sind unmoralisch, welche der Vernunft widersprechen. Freude und Traurigkeit, Hoffnung und Furcht sind die vier Hauptleidenschaften der Seele *).
Da jede Tugend eine Uebung oder Angewöhnung (habitus) ist, wodurch der Mensch zum gut Handeln angetrieben und geschickt wird, so ist jede entweder intellectueller Art und bezieht sich auf den Geist und die Erkenntniß, ober moralischer Art und bezieht sich auf den
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*) Quaest. 21 - 25.
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546 Die Philosophie und die Philosophen
Trieb und die Neigungen (appetitus) *). Die moralische Tugend kann stattfinden ohne einige der geistigen Tugenden (z. B. ohne Weisheit, Wissenschaft und Kunst), aber nicht ohne Klugheit und ohne alle Einsicht. Umgekehrt können sich alle geistigen Vorzüge (mit Ausnahme der Klugheit) ohne moralische Tugenden vorfinden. Die moralische Tugend ist keine Leidenschaft, verträgt sich auch nicht mit den von der Vernunft gelöseten Leidenschaften; sie bezieht sich nicht ausschließlich auf die letzten. Es gibt vier Haupttugenden: Gerechtigkeit, Mäßigung, Klugheit (prudentia) und Tapferkeit. Außer diesen moralischen Tugenden für natürliche Zwecke sind dem Menschen nothwendig noch andere Tugenden eingeflößt (infusae), um einen übernatürlichen Zweck zu erreichen, welcher die menschliche Vernunft übersteigt. Diese theologischen Tugenden sind Glaube, Hoffnung und Liebe. In Bezug auf die Entstehung und Erzeugung, geht Glaube der Hoffnung und Hoffnung der Liebe voran; in Bezug auf Vollkommenheit ist die Liebe Wurzel und Form aller Tugenden. Die Natur gibt uns die Fähigkeit zur moralischen Tugend, aber damit nicht sogleich deren Vollendung. In noch höherem und unmittelbarerem Sinne wirkt Gott in uns durch die Gabe der theologischen Tugenden. Mit Recht sagt man, daß die moralische Tugend in einem Mittleren zwischen zwei Aeußersten, zweien Uebertreibungen bestehe. Betrachten wir unsere persönlichen Kräfte und Eigenschaften, so finden wir, daß zufällig (per accidens) auch die theologischen Tugenden in dieser Beziehung ein Maaß haben; an sich aber übersteigen sie alles Maaß. Der
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*) Quaest. 58.
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Glaube bezieht sich auf die Wahrheit Gottes und regelt sich nach derselben, die Liebe auf seine Güte, die Hoffnung auf seine Macht und Milde. Niemand kann zu viel Gott lieben, zu viel glauben ober hoffen, von einem Uebermaaße also auf diesem Boden nicht die Rede sein. Die moralischen Tugenden sind, in ihrer Vollkommenheit gedacht, von einander unzertrennlich. Mit der Liebe werden dem Menschen auch die übrigen moralischen Tugenden eingeflößt; ebenfalls kann, ohne jene, Glaube und Hoffnung nicht zur Vollkommenheit gelangen. Wiederum kann die Liebe ohne Glauben und Hoffnung nicht Wurzel fassen.
An sich ist keine Tugend größer als die andere; wol aber kann in dem einzelnen Menschen eine mehr oder weniger hervortreten. Die Tugenden des Geistes (intellectuales) stehen nicht hinter den moralischen zurück; ja in Hinsicht auf den Gegenstand (dort die Vernunft, hier der Trieb) haben jene sogar den Vorrang. Die Weisheit, welche sich auf die Erkenntniß Gottes bezieht, ist die erste der geistigen Tugenden, und aus gleichem Grunde steht die Liebe den übrigen theologischen Tugenden voran, weil sie Gotte näher ist als Glaube und Hoffnung *).
Dem Wesen nach werden die moralischen und geistigen Tugenden dem Menschen auch in jener Welt verbleiben. Glaube und Hoffnung müssen sich alsdann umgestalten und in vieler Beziehung verschwinden, nur die Liebe bleibt (sofern sie nichts Unvollkommenes in sich trägt) auch den Seligen.
Die Tugenden, bei welchen der Mensch dem Gebote
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*) Quaest. 61 - 66.
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548 Die Philosophie und die Philosophen
und Antriebe seiner Vernunft folgt, sind verschieden von den Gaben (dona) des heiligen Geistes, welche den Menschen in anderer Weise bestimmen *). Bei den Tugend geht man immer von der Mehrheit zur Einheit, bei den Lastern von der Einheit zur Mehrheit. Unüberwindliche Unwissenheit ist keine Sünde, wol aber Unwissenheit dessen, was man wissen könnte und sollte. Gott ist niemals Urheber der Sünde, doch beharrt der Mensch in der Verblendung, sofern ihm Gott seine Gnade vorenthält. Der Teufel zwingt Niemanden zum Sündigen. Durch Adam‘s Sünde ist die menschliche Natur angesteckt worden. Nur wegen derjenigen Sünden, welche der Liebe zuwiderlaufen (caritati), tritt eine ewige Strafe ein. Jede Strafe bezieht sich auf eine Schuld. Das Gesetz ist Sache der Vernunft **).
Jedes Gesetz muß sich auf das allgemeine Beste beziehen, deshalb kann kein Einzelner es geben, sondern das ganze Volk, oder derjenige, oder diejenigen, welche dessen Stelle vertreten. Das ewige, weltregierende Gesetz ist in Gott; es gibt aber für die Menschen auch ein natürliches Gesetz, welches an dem göttlichen Theil hat und wornach jene Gutes und Böses unterscheiden. Durch menschliche Gesetze wird nach dem Gesetze der Natur das Einzelne angeordnet. Außer den natürlichen und menschlichen Gesetzen war endlich ein göttliches nothwendig, wodurch des Menschen übernatürliche Bestimmung, die ewige Seligkeit, geordnet und unfehlbar erreicht wird. Alle
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*) Quaest. 68.
**) Quaest. 76 - 87.
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549 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
natürlichen Gesetze beziehen sich zuletzt darauf, das Böse zu meiden und das Gute zu erreichen; sie erlauben jedoch Abänderungen und Verschiedenheiten, nach Maaßgabe der Zeiten und Völker. Nur sollen jene nicht leichtsinnig und nur dann vorgenommen werden, wenn wahrer und allgemeiner Gewinn daraus hervorgeht *).
Nachdem Thomas hierauf eine Entwickelung und Beurtheilung der gesammten alttestamentarischen Gesetzgebung gegeben hat, fahrt er fort:
Das Gesetz des neuen Bundes ist hauptsächlich die Gnade des heiligen Geistes, eingeschrieben in die Herzen der Gläubigen; nächstdem (secundarie) aber das geschriebene Gesetz, welches das enthält, was zur Gnade vorbereitet und sich auf ihren Gebrauch bezieht. Nicht was geschrieben stehet, rechtfertigt den Menschen, sondern dies thut die Gnade des heiligen Geistes. Das neue Gesetz des heiligen Geistes konnte erst eintreten, nachdem Christus die Sünde hinweggenommen hatte; es wird, als vollkommen, dauern bis ans Ende der Welt **). Im alten Bunde sind die Gesetze des neuen Bundes bildlich, verdeckt vorhanden, etwa wie der Baum im Samen. Das alte Gesetz ist härter als das neue durch die Menge äußerer Vorschriften; das neue strenger durch die Forderung der Beherrschung aller Gemüthsbewegungen. Das neue Gesetz ist das der wahren Freiheit und führt am sichersten und schnellsten zur ewigen Seligkeit. Durch natürliche Kräfte kann der Mensch natürliche Wahrheiten erkennen,
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*) Quaest. 90 - 96.
**) Quaest. 106 - 107.
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550 Die Philosophie und die Philosophen
Gutes erkennen und vollbringen; aber es fehlt ihm die höchste Triebfeder alles Handelns in höchster Verklärung, das heißt die Liebe; auch kann er ohne Gottes Gnade das ewige Leben nicht verdienen, oder erwerben, oder den durch die Sünde erlittenen Verlust ersetzen *).
In der zweiten Hälfte des zweiten Theiles handelt Thomas von den drei theologischen und den vier Cardinaltugenden, ihren Gegensätzen, den außerordentlichen Gaben Gottes, den Lebensarten und den Pflichten der Menschen (status et officia). Der formale Gegenstand des Glaubens ist die Wahrheit selbst, den materiellen Inhalt bildet das, was (der göttlichen Offenbarung halber) geglaubt wird. Die Erklärung und Feststellung der Glaubenslehren gegen einbrechende Irrthümer ist nothwendig, und vorzugsweise ein Geschäft des Papstes. Ihm sieht es auch zu Kirchenversammlungen zu berufen und deren Schlüsse zu bestätigen. Der Glaube entsteht durch die Gnade Gottes und nicht aus uns selbst. Da der Mensch mittelst seines natürlichen Lichtes gewisse Dinge nicht erkennen und durchdringen kann, so bedurfte er einer übernatürlichen Erleuchtung, welche man die Gabe des Geistes (donum intellectus) nennt. Sie ist vorzugsweise speculativ, richtet sich auf das Erkennen, und steht in Verbindung mit der Gnade und dem Glauben. Wissenschaft bezieht sich vorzugsweise auf menschliche, Weisheit auf göttliche Dinge.
Unglaube, negativ betrachtet, ist mehr eine Strafe als eine Sünde; positiv als Widerstand gegen den Glauben und als Trennung von Gott betrachtet, hingegen die
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*) Quaest. 108, 109.
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551 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
schwerste Sünde. Obgleich der Irrthum der Juden geringer ist, als der der Heiden, und das Irren der Ketzer minder umfassend als das der Juden, so sind die Juden als Misdeuter der eingehüllten Wahrheit schlimmer als die Heiden, und die Ketzer als Verderber der vollen Wahrheit sträflicher als die Juden. Heiden und Juden sollen nicht zum Glauben gezwungen weiden; Ketzer und Abtrünnige aber zur Erfüllung dessen, was sie versprochen haben. Auch Kinder der Ungläubigen sollen nicht wider Willen der Aeltern getauft werden; denn dies widerspricht der natürlichen Gerechtigkeit und könnte den Glauben in Gefahr bringen *). Ketzer, welche nach der zweiten Aufforderung nicht zum wahren Glauben zurückkehren, sind zu bannen und der weltlichen Gewalt zur Bestrafung, selbst mit dem Tode, zu übergeben; denn es ist ein viel größeres Verbrechen, den Glauben zu verfälschen, wovon das Leben der Seele abhängt, als falsche Münze zu schlagen, was blos den zeitlichen Verkehr stört. Abfall des Herrschers vom christlichen Glauben löset die Pflichten der Unterthanen **).
Seine Ansichten über Staat und Politik hat Thomas in zwei Schriften niedergelegt: von der Herrschaft und von der Erziehung der Fürsten. Doch bleibt es sehr zweifelhaft, ob und in wie weit die erste von ihm herrührt, denn Thomas starb 1274 und Buch III, C. 19 ist vom Tode Adolfs von Nassau die Rede, der 1298 umkam. Doch bleibt der Inhalt beider Schriften lehrreich, weßhalb ich folgende Auszüge mittheile: Weil nicht jeder einzelne Mensch
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*) Pars II. Quaest. 1 – 12.
**) Quaest. 12, 57. 182.
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552 Die Philosophie und die Philosophen
(wie etwa das Thier) Alles selbst erreichen, lernen, ausüben kann, was in den Kreis menschlicher Thätigkeit und Bestimmung fällt, so muß Einer dem Andern helfen, jeder aber eine besondere angemessene Bahn einschlagen *). Damit aber dies Zerstreute, Auseinandergehende sich nicht ganz auflöse und verflüchtige, ist eine zusammenhaltende, das Gemeinsame hervorhebende Kraft und Leitung nothwendig. Dies erkennen wir an dem Baue und dem Zusammenhange des Weltalls, den verschiedenen Gliedern des Leibes und den Kräften der Seele. Der Einzelne gedenkt vorzugsweise seines eigenen Vortheils; die unentbehrliche heilsame Regierung bedenkt hingegen und bezweckt gleichmäßig den Vortheil Aller. Geschieht dies nicht, so wirkt sie tyrannisch und unheilbringend, mag nun die Gewalt in der Hand eines Menschen, oder Etlicher, oder Aller ruhen.
Der Hauptzweck aller geselligen Verbindung, nämlich Friede und Eintracht, läßt sich besser durch die Herrschaft eines, als vieler Menschen erreichen. So herrscht ein Herz über die Glieder des Leibes, eine Vernunft über die Kräfte des Geistes, ein Gott über die Welt. Wenn aber die Herrschaft eines Einzelnen, sobald sie trefflich ist, als die beste Regierungsform erscheint; so ist umgekehrt die Tyrannei eines Einzelnen, aus ähnlichen Gründen, die schlechteste und schädlichste. Daher verjagten die Römer ihre Könige und bewirkten im Gefühl für das Gemeinsame und durch Thätigkeit für das Oeffentliche erstaunenswürdige Dinge. Jede Mehrherrschaft ist aber der
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*) De regimine principum opera, edit. Rom. Vol. XVII. S. 160. Lib. I.
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553 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Ausartung ebenfalls ausgesetzt und endet fast immer in Tyrannei.
Man soll Mittel auffinden, wie man die Ausartung der Monarchie in Tyrannei verhindere, ober diese zur Gerechtigkeit zurückbringe; wobei man aber nicht leichtsinnig verfahren, und lieber Manches ertragen, als sich der Gefahr aussetzen muß, durch unpassende Gegenmittel, oder übertriebenen Argwohn, den Tyrannen noch mehr aufzureizen, in ärgeres Verfahren hineinzudrängen, oder ihm einen noch abscheulicheren Nachfolger zu geben. Jedenfalls sind gottlose Mittel gegen Tyrannen, z. B. Mord, durch Christi Lehre verboten; man soll lieber Unrecht leiden, als Unrecht thun, wie die Beispiele echter Märtyrer lehren.
In der Regel taugen die Einzelnen, welche sich mit Tyrannenmord befassen, selbst nichts, und ohne Zweifel ist es besser gesetzliche, formale Mittel dagegen aufzustellen und anzuwenden. Nicht Anmaßung der Einzelnen, sondern eine öffentliche Autorität soll dafür wirksam werden.
Hat das Volk hierbei ein gesetzliches Anrecht der Wahl oder Einsetzung, so braucht es dem Tyrannen, der seine Pflichten nicht erfüllt, auch die Gegenversprechungen nicht zu halten, sondern kann ihn absetzen. So geschah es dem Tarquinius, dem Domitian. Findet sich gar kein menschliches Mittel gegen einen Tyrannen, so muß man Gott vertrauen und zunächst die eigene Schuld und Sünde vertilgen, damit die Plage und Strafe der Tyrannei durch Gott aufgehoben werde.
Ruhm und Ehre ist weder der alleinige Lohn, noch der ausschließlich angemessene Zweck des Herrschers; vielmehr müssen die Könige ihren wahren und höchsten Lohn von Gott erwarten. Je größer Thätigkeit, Tugend und
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Hist. Taschenbuch. Neue F. I.
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554 Die Philosophie und die Philosophen
Verdienst, desto größer der Lohn und die künftige Seligkeit. Eine Tyrannei, welche der Menge verhaßt ist, kann nicht lange dauern; denn Furcht gewährt nur einen sehr schwachen Schutz, ja sie führt oft zur rücksichtslosen Verzweiflung. Gute Könige finden schon auf Erden reichlichen irdischen, sowie inneren Lohn, Tyrannen hingegen die verdiente Strafe. Der König soll seinem Reiche vorstehen, wie die Seele dem Körper und Gott der Welt.
Die geistliche Leitung, die Führung zum Himmel und zur Seligkeit ist nicht den Königen, sondern den Priestern und insbesondere dem Papste anvertraut, welchem also die weltlichen Herrscher untergeben sind. Umgekehrt war das heidnische Priesterthum dem Staate unterthan, weil es nur Irdisches und Zeitliches bezweckte.
Bei Gründung eines Staats ist wesentlich zu berücksichtigen *): gemäßigtes und gesundes Klima, Sicherheit, Fruchtbarkeit, Tauglichkeit zum Handel u. f. w. Kaufleute kann man aus einem Staate nicht ganz ausschließen, da es kein Land gibt, welches alle Gegenstände des Bedarfs und Verbrauchs selbst erzeugte, oder entbehrliche Dinge nicht zur Ausfuhr darböte. Der Herrscher bedarf zum guten Regieren eines bedeutenden eigenen Reichthums, damit nicht alles Erforderliche von den Unterthanen genommen werden müsse; eben so bedarf er eines Schatzes für ungewöhnliche Ausgaben.
Eine despotische Regierung, welche nur das Verhältniß von Herren und Knechten übrig läßt, ist verwerflich. In jedem Staate sind Beamte nothwendig, welche wie Glieder zum Haupte passen müssen. Bloß für Geld an
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*) Lib. II.
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555 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
angenommenen Beamten (mercenarii) liegt selten das allgemeine Wohl genügend am Herzen; für Lebenszeit, oder selbst für ihre Nachkommen verpflichtete Beamte (Grafen, Barone, Lehnsleute) sind davon verschieden. Festungen, gute Straßen, richtige Münzen, Maaß und Gewicht, Armenwesen, Gottesdienst u. s. w. sind Gegenstände der Sorgfalt und Aufmerksamkeit einer jeden Regierung.
So wie alle Dinge von einer ersten Ursache abhängen, so Regierung und Herrschaft zuletzt von Gott *). Es gibt viele Abstufungen der Herrschaft, von der über Thiere und natürliche Dinge aufwärts, bis zu der des Papstes, welche zugleich eine königliche und priesterliche ist, und jeder anderen weltlichen und geistlichen Herrschaft voransteht. Alle Herrscher sollen dem göttlichen Geiste nachfolgen, welcher erhält und beglückt. Wer hiervon abweicht, ist ein Tyrann, und sorgt schlecht zugleich für sich und seine Völker.
Weil die griechischen Kaiser die Kirche nicht gebührend schützten, übertrug der Papst seinem Rechte gemäß jene Würde auf die deutschen, und diese Einrichtung wird dauern, so lange sie der römischen Kirche für das Wohl der Christenheit nützlich erscheint.
In der zweiten Schrift von der Erziehung oder Belehrung der Fürsten **) heißt es: Ursprünglich waren die Menschen gleich und auf die Herrschaft über Fische, Vögel und andere Thiere angewiesen. Herrschaft der Menschen über Menschen ist nicht eine Sache der Natur, sondern
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*) Lib. III.
**) De erudione principum, ed. Rom. XVII. S. 226.
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556 Die Philosophie und die Philosophen
eine Folge der Schuld. Sie soll mehr gefürchtet als begehrt werden; obgleich man sie bisweilen nach Gottes anordnung und zum Nutze des Volkes übernehmen mag. Sie ist oft von kurzer Dauer, mehr ein Dienst als eine Oberleitung, gefahrvoll und lästig. Ein Herrscher erscheint zuletzt weniger frei, als seine Unterthanen: denn er soll Vielen, diese nur Einem dienen. Vor Allem thut ihm die Weisheit noth, da bloße Macht nicht zum Ziele führt, ja ohne löblichen Gebrauch zerstörend wirkt.
Ueber den Adel sind viele Irrthümer im Schwange. Niemand ist adelig um der Trefflichkeit seines Körpers willen, wenn sein Geist unadelig erscheint. Niemand ist adelig durch einen Andern, sowenig als er durch einen Andern weise sein kann. Niemand ist adelig durch Abkunft, denn von Adam her sind alle Menschen gleich adelig oder unadelig. Wir lesen nicht, daß Gott einen Menschen aus Silber erschaffen habe, von dem die Adeligen abstammten; und einen zweiten aus Koth, von dem die Unadeligen abstammten; alle Abkommen adams sind Brüder. Wol aber können von demselben Stamme gute und schlechte Früchte kommen; jene mögen dann adelig, diese unadelig heißen. Wäre Alles adelig, was von einem Adeligen ausgeht, so müßten auch Läuse und andere Ueberflüssigkeiten, die von ihnen ausgehen, adelig heißen. Nur der ist adeliger als ein Anderer, dessen Geist sich tüchtiger und zu allem Guten geeigneter erweiset. Wer seinem Leibe, seinen Lüsten und Leidenschaften dient, ist in Wahrheit ein Leibeigener, der echte Adelige dient Gott und seinen Nebenmenschen, ist fromm und milde, herablassend und freigebig, und gedenkt mehr des Geistigen und Himmlischen, als des Leiblichen und Irdischen.
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557 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Es ist merkwürdig, daß in diesen politischen Schriften die Verschiedenheit des heidnischen und christlichen Priesterthums zwar nachgewiesen und das umfassende Recht des Papstes anerkannt ist, die übrigen Abstufungen und Organisationen der hierarchischen Welt aber mit Stillschweigen übergangen werden. Man könnte hierin vielleicht, neben dem Vorwalten des Monarchismus in jener Zeit, auch schon eine Hinneigung der Bettelmönchsorden zum Demokratischen erkennen. Unverkennbar spricht sich dieselbe wenigstens in der Betrachtung der Adelsverhältnisse aus. So reich sich dieselben im 12. und 13. Jahrhunderte auch ausgebildet hatten, so mächtig sie sich auch in vielen Abstufungen geltend machten, wird doch der Geburtsadel und seine politische Stellung verworfen, und nur dem Adel des Verdienstes Werth und Wahrheit beigelegt. Ein Beweis, daß diese Ansichten nicht erst (wie Manche wähnen) durch die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts in die Welt gekommen sind.
12) Johann Bonaventura.
Er war 1221 geboren zu Bagnarea im Florentinischen, stieg im Franciskanerorden bis zum General, ward Carbinalbischof und starb 1274 *). So wie Thomas von Aquino in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Haupt der Dogmatiker war, so Bonaventura Haupt der ihnen oft entgegentretenden Mystiker. Ihm ist das theoretische Wissen dem Zwecke sittlicher Bildung untergeordnet, und er betrachtet die Liebe Gottes als das höchste Ziel aller vernünftigen Wesen. Die Seligkeit (so heißt es in seinem Wegweiser zu Gott)
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*) Tirab. IV, 125. Ueber seine Verdienste im Orten s. Geschichte der Hohenst. III, 620.
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558 Die Philosophie und die Philosophen
ist nichts Anderes als der Genuß des höchsten Gutes *). Da aber das höchste Gut über jedem ist, so kann er nur selig werden, wenn er auf geistige Weise über sich selbst hinaufsteigt. Niemand aber kann sich über sich selbst erheben, ohne eine höhere Kraft, ohne Beistand Gottes. Das Gebet ist die Vorbereitung zur Erhebung durch Gott, das Mittel um auf den rechten Weg zu kommen. Dann folgen drei Stufen der Erhebung: die erste ist die Betrachtung des Einzelnen, Aeußerlichen, Körperlichen und der sich hier offenbarenden Spuren der Gottheit; die zweite ist die Betrachtung unseres, nach dem Bilde Gottes erschaffenen Geistes; die dritte ist die Betrachtung der göttlichen Natur selbst. Aehnliches gibt die Betrachtung des Körperlichen, Geistigen und Göttlichen in Christus; ähnlich ist die dreifache Ansicht der Theologie. Die sinnbildliche bezieht sich auf das Sinnliche; die eigenthümliche (propria) auf die Erkenntniß (recte intelligibilia); die mystische erhebt zu dem Uebermenschlichen. So zeigt die erste Betrachtung der Dinge nur Maaß, Gewicht, Zahl; eine höhere bedenkt Anfang, Fortschritt und Ende; nach der dritten scheint Einiges nur zu sein, Anderes zu sein und zu leben, noch Höheres zu sein, zu leben und zu erkennen. — Alle Erinnerung und Gedächtniß ist nur ein zerstückter Abschein aus dem ewigen Sein, alles Erkennen nur möglich durch das Beziehen auf die ewige Wahrheit, alle Freiheit und Wahl begründet in dem Urguten und nur möglich in Beziehung auf dasselbe. Erkenntniß ist die Tochter des Gedächtnisses, und aus beiden entspringt die Liebe. — Das Licht der Natur und erlernter
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*) Opera VII, 125.
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Wissenschaft gab die erste Leitung: allein das eigene Innere mit Licht zu durchdringen , sich selbst zu durchschauen und zu verklären, das ist erst möglich durch Glaube, Liebe und Hoffnung, durch Christus, der da ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer die Spuren der Gottheit in der Welt erkennt, steht in der Vorhalle; wer ihr Ebenbild in sich erkennt, steht im Tempel; wer durch höhere Erleuchtung Gott erkennt, steht im Allerheiligsten. Das Sein in Gott erkennen ist der niedere Grad, die Güte in ihm erkennen, der höhere; deshalb heißt es bei Moses: ich bin der ich bin; Christus aber sagt: Niemand ist gut, als der alleinige Gott.
Die menschliche Seele ist von Gott mit Unsterblichkeit begabt *); unvernünftige Seelen waren von Anfang an sterblich. Vernunft und Wille, oder Geist und Begier (affectus) sind verschiedene, aber nicht ihrem Wesen nach verschiedene Kräfte. Der freie Wille bezieht sich auf beides.
Auch eine Art speculativer Naturphilosophie findet sich bei Bonaventura: z. B. über die Natur des Lichtes, ob es körperlich und ein Ausfließen desselben anzunehmen sei **)? Ueber die Gestalt des Himmels, die Bestandtheile der thierischen Körper, die Gleichheit oder Verschiedenheit der Seele. Ueber Physiologie und Psychologie u. s. w.
13. Raymundus Lullus,
geboren 1234 auf der Insel Majorka, ward nach einem wilden Leben plötzlich belehrt und ein Schwärmer, besonders für die Bekehrung
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*) Comment. in libr. Sentent. II, Diss. 19, 24.
**) Lib. II, Diss. 13 - 15.
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560 Die Philosophie und die Philosophen
der Ungläubigen. Auffallend ist es, daß ein, freilich im ganzen unwissender, Schwärmer auf das äußerlichste und bloß mechanische Mittel verfiel, Kenntnisse zu erzeugen und zu mehren. Unter allen Werken Raimunds ist nämlich keines berühmter geworden, hat mehr Erklärer und Verehrer gefunden, als die nach ihm benannte große lullianische Kunst. Sie war ihrem Erfinder die Wurzel, der Grund, der Inbegriff alles Wissens; mit ihr sollten alle nur möglichen Gedanken, Ansichten, Ideenverbindungen vollkommen verzeichnet und auf dem Wege der Form an die Hand gegeben sein. Die Grundlage der lullianischen Kunst ist das nebenstehende Alphabet, wobei Raimund voraussetzt: daß die in der Tafel aufgestellten Fragen , Tugenden u. s. w. den Kreis des Einfachen erschöpfen und durch die mannichfachsten Verbindungen derselben, jede Idee u. s. w. zur Sprache gebracht werden müsse. Außer den Verbindungen, welche die Tafel selbst durch das Anreihen nach verschiedenen Richtungen ergibt, werden die meisten dadurch herbeigeführt, daß man die Buchstaben als Zeichen der Subjekte, Prädikate u. s. w. betrachtet. Dann verknüpft z. B. eine Tafel zwei und zwei Buchstaben BC, CD u. s. w., eine andere drei Buchstaben und so fort. Endlich wurden die Buchstaben auf dem Umfange eines unbeweglichen Kreises verzeichnet; innerhalb desselben bewegte sich ein zweiter auf gleiche Weise bezeichneter, wodurch die Buchstaben in die verschiedenartigste Verbindung kamen. Diese Verbindung , nach dem ausgedrückt, was die Buchstaben bezeichnen, gab Sätze wie die folgenden: die Güte ist groß, die Güte ist verschieden, die Güte ist übereinstimmend, oder: was ist große Güte, wo ist große Güte u. s. w. — Allerdings bringt dies
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561 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
A |
B |
C |
D |
E |
F |
G |
H |
I |
K |
Prädikate Absolute |
Güte |
Größe |
Ewigkeit (Dauer) |
Macht |
Weisheit |
Wille |
Tugend |
Wahr- |
Ruhm |
Prädikate |
Verschie-denheit |
Ueber-einstim-mung |
Ent- |
Ursprung |
Mitte |
Ende |
Größe |
Gleich- |
Kleinheit |
Q Fragen |
Ob |
Was |
Woher |
Warum |
Wieviel |
Wie |
Wann |
Wo |
Auf welche |
S Subjekte |
Gott |
Engel |
Himmel |
Mensch |
Vorstel-lung |
Empfin- |
Princip |
Das Ele- |
Das Vermit- |
V Tugenden |
Gerech-tigkeit |
Klugheit |
Tapfer- |
Mäßig- |
Glaube |
Hoff- |
Liebe |
Geduld |
Frömmigkeit |
W Laster |
Geiz |
Gefrä-ßigkeit |
Wollust |
Stolz |
Verzagt-heit |
Neid |
Zorn |
Lüge |
Unbeständigkeit |
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562 Die Philosophie und die Philosophen
Verfahren eine erstaunliche Menge Sätze zum Vorschein, allein diese ohne Urtheil übereinandergestapelte, mechanisch erzeugte Menge erscheint um so unbrauchbarer und verwirrender, da die Bestandtheile des Alphabets mit loser Willkür nebeneinander gestellt sind, keineswegs das wahrhaft Einfache oder die höchsten Grundsätze enthalten, oder mit sinnvoller Kunst in eine ihrer Natur angemessene Wechselwirkung gebracht werden.
Raimund schrieb eine Rhetorik, welche nicht bloß Regeln für bestimmte Arten der Reden, sondern (weil über Alles geredet werden könne und solle) zum größern Theil eine Art von tabellischer Encyklopädie enthielt. Wie oberflächlich und unzureichend diese aber ist, zeigen folgende Beispiele. Die Tugend des Mannes, so heißt es daselbst, ist, in seinen Geschäften fleißig zu sein und Vorsicht zu gebrauchen; die Tugend der Frau, die häuslichen Angelegenheiten zu besorgen; die des Knaben, bescheiden zu sein und gute Anlagen zu zeigen; des Alten, im Rache durch guten Rath zu gelten. — Die bürgerliche Philosophie begreift drei Theile, sowie drei richtige und drei verderbte Arten. Der erste Theil bezieht sich auf die Vernunft, daher entstehen Philosophen; der zweite auf den Zorn, daher Soldaten; der dritte auf die Begierde (cupiditas), daher Handwerker. Die drei richtigen Arten sind: Monarchie, Aristokratie, Republik; die drei ausgearteten: Tyrannei, Oligarchie, Demokratie. Aus den Philosophen durch die Vernunft werden Bürgermeister, Rathsherrn, Magistratspersonen, Priester und Richter. Die Wissenschaft der letzten theilt sich in sieben Theile: Herkommen, Gerichte, Sachen, Hypotheken, Testamente, Besitz, Verträge. — Am Schlusse seiner Rhetorik gibt Raimund eine
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563 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Rede, welche ihm nach Form und Inhalt für ein Muster gilt und zwar über den Satz: die Accidenzen machen aus einen großen Theil von dem, was etwas ist! Anziehender als Proben aus derselben dürfte es sein, das Wesentliche seiner Schrift: die Principien der Philosophie, mitzutheilen *).
Auf grüner Wiese , unter einem dichtbelaubten Baume, der von tausend Stimmen der Vögel ertönte, fand ich die Philosophie mit ihren zwölf Begleiterinnen, durch welche sie besteht, ohne welche sie nicht ist. Sie klagte, daß falscher Wahn sie für eine Feindin der Theologie ausgebe, und forderte ihre Begleiterinnen auf, nach der Reihe zu sprechen. Da hub die erste an: ich bin Forma, die Gestaltende, ursprünglich, ohne Bedingung und Schranke. Ich gebe den Dingen das Sein und bilde mit der Materie die eine, allgemeine Substanz des Universums. In mir ruht, durch mich besteht jedes Einzelne. Die Güte, Größe, Dauer, Macht, Wahrheit u. s. w. sind einzelne Strahlen, in denen sich mein Wesen abspiegelt. Nichts ist vergänglich an mir; was so erscheint, ist Wechsel und neue Bildung im Einzelnen durch neue Erzeugung. Ich bin die Gottähnliche, denn Gott ist das Gestaltende, Wirkende, nicht das Leidende. — Ich bin das Leidende, sprach Materia, die zweite Begleiterin. Unbedingt unterwerfe ich mich dem Urquelle alles Bildens, dem Gotte, dessen Werk ich schlechthin bin. Dadurch werde ich überall theilhaft der Größe, der Güte, der Vollkommenheit. Mein
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*) In unserer Darstellung haben wir nur den Umfang verkürzt, und die Form zu verbessern gesucht; nicht aber am wesentlichen Inhalte etwas geändert.
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564 Die Philosophie und die Philosophen
Wesen vereinigt sich mit dem Gestaltenden zu einer Substanz, die unvergänglich und ewig ist. — Die drirtte hub an: ich heiße die Zeugende. Aus dem Ursprünglichen, Einen, erscheint durch mich alles einzelne Dasein auf dreifache Weise. Zuerst bin ich der Kraft nach vorhanden in der Substanz; dann trete ich durch die Kraft hervor in die Wirklichkeit; dann erhalte, nähre und vermehre ich das Wirkliche. Der Zeugenden stehe ich entgegen, sprach die vierte, die Zerstörende: denn durch mich ist der Uebergang von allem Dasein zum Nichtsein, und dreifach bin auch ich vorhanden. Ruhend der Kraft nach schon im Samen, hervortretend bei Abnahme jeglicher Lebenskraft, siegreich beim Dahinsterben. Und wie die Zeugende neu belebt und hinwegführt zu einzelnem Dasein, so führe ich zurück zu dem großen Einen. Wechselnd erscheint Leben und Tod, feindlich wider einander gestellt: wer aber unsere Herrin recht erkennt, wird einsehen, wie wir beide ihre Begleiterinnen sein können und müssen. — Ich bin die Elementarische, sagte die fünfte: vierfach ist meine Gestalt, aber tausendfach wechseln und verknüpfen sich diese Grundbildungen. Das Feuer dringt zum Wasser, es erwärmt, es verdampft, in Wolken trägt es die Luft, auf die Erde stürzt es hinab zu neuem Vereine. — Durch mich, die Pflanzenbelebende, wird den Pflanzen die Seele eingehaucht; beim stillen Hinscheiden der einen trage ich sie freundlich zur andern. Wie möchte eine auch nur ganz vergehen, da aller Leben in mir ruht, und ich sie liebe und durch ihr Dasein wiederum nur selbst bin. Eines allein vermag ich anzunehmen von den unendlich reichen, ältern Schwestern, eines zu bilden, zu leiten: aber ich weiß in stillem Frieden, daß in der Wurzel alles Seins,
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565 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
aus der auch ich entspringe, daß in Gott gleich groß ist das unendliche Dasein, das unendliche Denken *). —
Sensitiva bin ich, sprach die siebente, durch mich entsteht alles Empfinden, aber es spaltet sich aus einem Mittelpunkte in viele Strahlen, damit man sehe, höre, rieche, schmecke, fühle. Leiden und Thätigkeit sind immer in mir zu einer ruhigen Wirkung vereint. — Ich gehe aus von der Schwester Sensitiva, sprach die achte, und kann mich nie ganz von ihr trennen: Imaginativa ist mein Name. Auch in mir wohnen ursprüngliche Kräfte, ja ich stehe höher als Sensitiva: denn ohne Bande und Einschränkung gestalte ich das von ihr Gegebene, verknüpfe Getrenntes, löse Vereintes und bin so der Schwester Forma, sie der Materia ähnlich. — Ich bin die Bewegende, die neunte der Begleiterinnen, überall verbreitet und wenn auch nicht immer erscheinend, doch der Kraft nach vorhanden. Jede einzelne Bewegung gehört zu mir, bezieht sich auf mein einiges Wesen, sie sei im Elemente, der Pflanze, im Empfinden, in der Phantasie. Ich erscheine bewegend und bewegt: das Schiff wird vom Winde durch die Fluthen getrieben, es scheint selbst ruhig, im Schiffe bewegt sich die Mannschaft, der Steuermann gedenkt, wie er lenken möge, er fürchtet Gefahr, er hofft Rettung. Ueberall bin ich, unter vielfacher Gestalt. — Wenn ich mich, sprach die zehnte, zu den Schwestern geselle, welche im Menschen als körperliche Kräfte wirken, so geht erst ein höheres Ganzes hervor: denn ich bin die Geistige, Wissende, Verstehende, unmittelbar entsprossen aus
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*) Est in tanto magnus per suum intelligere, quantum est magnus per suum existere. Vergleiche Spinozas Lehre.
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566 Die Philosophie und die Philosophen
göttlichem Wesen. Alles Geistige, Wissende, gehört zu einem einzigen Geistigen, Allwissenden: die Spaltungen entstehen scheinbar durch Vereinigung des einzelnen Geistigen mit einzelnen Körpern, damit so die tiefere Wurzel in mannichfachen Zweigen desto herrlicher erkannt werde. Meinem Wesen nach würde ich ohne Fehl erkennen: da ich aber nur ein Theil des Menschen, nicht seine unbedingte Herrscherin bin, so werde ich von ihm gelenkt und getrieben. Wo ich nicht zum Erkennen hindurchdringen, die Zweifel nicht ganz zu lösen vermag, da wähle ich den Glauben; doch ist dieser nur zufällig in mir, das Wissen hingegen meine eigenste Natur. Richte ich meine Kraft und Thätigkeit auf Gegenstände, die Sensitiva oder Imaginativa mir bieten, so entsteht nur niederes Wissen von mechanischem und künstlerischem Bemühen, von sittlichem und unsittlichem Thun: das wahre höchste Wissen ist aber die Erkenntniß Gottes, und obgleich ich ihn nicht ganz zu erkennen vermag, da er unendlich ist und Alles in sich faßt, so kann und will ich doch ihm immer mehr angehören, da ich von ihm bin und nur durch ihn. — Sowie meine Schwester zweifaches Wissen bildete, so ich, die Wollende, zweifaches Wollen: einmal geleitet durch Sinn und Einbildungskraft, zum Frommen oder auch zum Schaden des Körpers, dem ich inwohne; dann gerichtet zum höchsten Zwecke, zur himmlischen Liebe. Bald beherrsche ich die Erkennende, daß sie den gewünschten Gegenstand mir darstelle; bald bin ich wiederum durch sie bestimmt. Wenn wir beide in Eintracht dem höchsten Gute nachstreben, ist es schon offenbart. Die Erkennende kann in Trägheit versinken, nicht aber gleich mir sich zum Bösen wenden, wozu ich als Dienerin des Menschen oft
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567 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
gezwungen bin, weil dessen freie Wahl der göttlichen Gerechtigkeit erst den Weg zur Beseligung oder zur Strafe eröffnet. — Zu der Erkennenden und Wollenden gesellt ich, die zwölfte der Begleiterinnen, mich als die Erinnernde. Voran geht die Erkennende Neues erschaffend, begreifend; in der Mitte steht die Wollende bald nachdem Neuen, bald zurück nach mir gewendet: denn ich sammele die Schätze und halte sie bereit zu jeglichem Gebrauche. Wenn wir drei im innigsten Verhältnisse stehen, ist nicht nur der Augenblick der Gegenwart und der Fortschritt in die Zukunft aufs trefflichste begründet; sondern auch das Vergangene reihet sich als Gutes an, Alles ein Einiges in steter Beziehung auf das unendliche Gute. — So sprachen die Begleiterinnen der Philosophie, und ich will das Gehörte verkünden, und wie zwischen ihr und der Theologie nie kann Friede und Eintracht sein, wenn jene nur eine Magd heißen soll, wohl aber dann, wenn beide als Schwestern zu einander kommen: denn Gott ist das Ziel der einen, und der Gegenstand der andern.
14) Heinrich Goethals
aus Muda bei Gent, gestorben 1295, zeigte sich als ein Mann von entschiedenen philosophischen Anlagen und großem Scharfsinne, welcher sich besonders in seinen Quodlibeten offenbart, wo Fragen sehr mannichfaltiger Art, von den verschiedensten Seiten erörtert werden. Neben wichtigern Untersuchungen kommen auch die folgenden zum Vorscheine: Ob Paulus habe können vor seiner Bekehrung getödtet werden? Ob Jemand etwas höher verkaufen dürfe, als zum laufenden Preise? Ob man durch Wucher erworbenes Geld für Unterricht nehmen dürfe? Ob es einen Menschen geben könne, der gar nicht lächerlich (risibilis) sei.
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568 Die Philosophie und die Philosophen
Ob ein Kind, geboren mit zwei Köpfen, bei der Taufe zwei Namen erhalten müsse? Ob Gott die Eva, ohne Zuthun anderen Stoffes, habe aus einer Rippe Adams schaffen können? Ob die Hölle im Mittelpunkte der Erde sei? Ob sich aus der Hostie Würmer erzeugen könnten? Ob Gott machen könne, daß ein leerer Raum sei? Ob man immerwährende Renten kaufen dürfe *)? u. s. w.
In manchen von diesen Aufgaben zeigt sich daw, was ich übertriebenen und geschmacklosen Schmuck allzukühner Scholastik nannte, der am wenigsten Bedeutung hat, wenn er im Einzelnen und getrennt von dem Zusammenhange mit irgend einem Ganzen vorgelegt wird.
So wie es aber einen zu blühenden Styl der Baukunst des Mittelalters gibt, unbeschadet der Grundformen und der Totalität des gesammten Gebäudes, so finden wir im Duns Scotus den untrennbaren Zusammenhang eines ganzen Systems, verbunden mit den künstlichsten Linien, Ausbeugungen, Arabesken und Verschnörkelungen, so daß sich mit ihm die scholastische Philosophie des 13. Jahrhunderts, nach Beendigung ihres Kreislaufes, wiederum abschließt.
15) Duns Scotus,
dessen Geburtsort, trotz seiner Berühmtheit, unbekannt ist, trat in den Franziskanerorden, lehrte am länsten zu Oxford und starb 1308. Sein außerordentlicher Scharfsinn, vielleicht mit einiger Eitelkeit vermischt, versenkte ihn in die größten Tiefen der Speculation, suchte zu alten Antworten neue Bestimmungen hinzuzufügen, und fand in
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*) Utrum licerat emere redditus perpetuos?
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569 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
den allerfeinsten Unterscheidungen und Gegensätzen noch Inhalt und Stoff für die höchste Wissenschaft. Einige Andeutungen über den Inhalt seiner Werke und die darin behandelten Gegenstände werden dies verdeutlichen.
In seinen, mit Bezug auf Aristoteles und Porphyrius angestellten logischen Untersuchungen *), sagt er: die Logik ist eine Wissenschaft, weil das, was sie lehrt, durch Demonstration erschlossen wird. Die Demonstration ist nämlich ein Syllogismus, der zum Wissen führt. Hieran reihen sich Fragen folgender Art: Was ist das Allgemeine, Universelle? Ist es ein Ding (ens) und für sich selbst erkennbar? Hat es Eigenschaften? Ruht es im Geiste, oder in den Dingen? (in re). Ist es die allgemein verbreitete, überall wirkende göttliche Macht? Wie unterscheidet sich Geschlecht von Art? Inwiefern sind viele Menschen ein Mensch? Was ist Verschiedenheit? Wie unterscheidet sich Eigenthümlichkeit von Zufälligkeit? Muß das Eigenthümliche immer vorhanden sein? Kann ein Accidens zu den Universalien gehören? Kann man von demselben Dinge Eigenthümliches und Zufälliges aussagen ? Gibt es Substanzen und Theile der Substanzen? Ist an dem Menschen etwas Substantielles? Kann Entgegengesetztes an demselben Dinge vorhanden sein? Bezeichnet ein Wort gleichmäßig ein Ding, dies mag vorhanden sein oder nicht? — Im Allgemeinen anerkennt Scotus, daß die Vernunft vermöge ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit Vieles aufnehmen und sich aneignen könne, was sie aus eigenen Kräften hervorzubringen nicht im Stande
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*) Quaestiones in universam Logicam. Opera edit. Lugdun. Vol. I.
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570 Die Philosophie und die Philosophen
sei. In der Schrift: über den Ursprung oder das Princip aller Dinge, ward geprüft *): ob dies Princip nur ein Einiges sei, und die Mehrheit aus ihm ohne Veränderung hervorgehe? Ob Gott nothwendig erschaffe, und auch ein Geschöpf etwas erschaffen könne? Ob zu allem Geistigen ein Materielles gehöre? Ob die Seele von Gott, oder dem erzeugenden Menschen herstamme? Ueber den Sitz der Seele. Ueber Zeit und Bewegung. Ob die Zeil etwas sei, außerhalb der Seele des Menschen **).
In den meteorologischen Fragen und dem Commentar zur Physik des Aristoteles ***) kommt viel Naturphilosophisches zur Sprache, über Natur, Kunst, Bewegung, Raum, Zeit, Leere, Theilbarkeit und Untheilbarkeir, Ewigkeit u. s. w. — Ist die Bewegung oder das Licht Ursache der Wärme? Stehen die vier Elemente in einem stets gleichen Verhältnisse zu einander? Ueber die Nanur der Kometen, den Ursprung der Quellen und Flüsse, die Bewegung des Meeres, Blitz, Donner, Erdbeben. Ueber Sehen, Widerschein, Ursprung und Wesen der Farben, Regenbogen, Verdauung, Fäulniß u. s. w.
Ein Mann, der, wie Scotus, so große Anlage und Neigung zu den feinsten Entwicklungen der Metaphysik hatte, mußte dieser Wissenschaft den höchsten Werth zugestehen. Indem er jedoch dieselbe eigentlich nur Gott beilegte, blieb für die Menschen nur insofern ein Antheil übrig, als Gott sie damit begnadigte. Die Metaphysik beginnt mit Fragen und Zweifeln, bezweckt das Austreiben
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*) Vol. 3.
**) vergl. Kant.
***) Vol. 2, 3.
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571 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
der Unwissenheit und Verwunderung (admiratio) und sucht an deren Stelle die Gewißheit zu setzen*).
Des Scotus Commentar zu den Büchern der Sentenzen **) beginnt mit der skeptischen Untersuchung: ob der Mensch zur Erreichung seiner Bestimmung einer außerordentlichen Offenbarung bedürfe, die über seine Kräfte hinausgeht. Es wird gezeigt, daß sich die Ansichten der Philosophen und Theologen in dieser Hinsicht widersprechen. Jene sucht Scotus nicht sowol im Wege des Glaubens und Gefühls, oder nach Weise der Mystiker, als durch dialektische Schlußfolgen zu widerlegen; wobei er unter andern darauf aufmerksam macht: daß zufolge bloß natürlicher Erkenntniß, nicht immer Lohn dem Verdienste folge.
Nach beiden Seiten hin werden zwar verschiedene und entgegengesetzte Gründe aufgeführt und (wie es damals nicht anders erlaubt und möglich war) die Theologie mit hoher Achtung behandelt. Indem aber die gesammte Form der Untersuchung rein philosophisch gehalten, und der theologische Inhalt eigentlich nur auf dem philosophischen Boden gleichsam suppletorisch hingestellt wird, ist der Totaleindruck, daß das dialektisch Speculative durchaus das Uebergewicht habe: während bei S. Victor und Bonaventura der religiöse Glaube vorherrscht, und bei Thomas von Aquino das skeptische Element nur dazu dient, das Dogmatische zu Tage zu fördern. Ja in andern Schriften des Scotus ***) tritt eine höchst merkwürdige, durchgreifende
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*) Commentar zur Metaphysik des Aristoteles IV. 17.
**) Vol. 5.
***) Theoremata, Collationes, Miscellanea, Vol. 3.
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572 Die Philosophie und die Philosophen
Skepsis noch mehr hervor, und seine Lehre von der unbestimmten und unbestimmbaren Freiheit, sowie das Vorwalten eines subjectiven Moralprincips mußten ebenfalls dazu hindrängen *). So schien nur der Weg zur Annahme des kirchlichen Glaubens, — oder auch zur Verwerfung desselben offen und vorbereitet. Denn wenn man gleich den Scotus nicht einen Skeptiker in dem Sinne nennen kann, daß das Verneinen überall vorherrsche **), führt doch die Kühnheit und Freiheit seiner Untersuchung oft zum Zersprengen der dogmatischen Bande. Ich stelle, als näher bezeichnende Proben, Einiges aus den Schriften des Scotus über Gott und Unsterblichkeit zusammen ***) : Wir können Geistiges nicht anders erkennen, als durch Aehnlichkeit mit dem Körperlichen, was uns bekannt ist; — in welchem Satze sich schon ein Uebergang zum Empirismus und Materialismus ausspricht. — Durch natürliche Forschung können wir das Wesen Gottes nicht erkennen oder ergründen; immer gelangen wir zur Substanz nur durch das Accidens der Kreatur. Man trachtet nach einer einfachen Erkenntniß des einfachen Wesens, kommt aber nicht über Zusammengesetztes und Verwirrtes hinaus. Eine nähere Kenntniß von Gott haben wir nur durch Unwissenheit und Verneinung ****).
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') Weil die Abstraction zum Allgemeinsten, Unbestimmtesten fortgehen kann, hält man das Absolut-Unbestimmte für das wahrhaft Unbedingte, für den Freiheitsbegriff selbst. F. H. Jacobi‘s Werke II. 81.
**) Baumgarten-Crusius. De Theologia Scoti, vortrefflich, wie alle Schriften des Verfassers über die Scholastiker.
***) Miscellanea III. 456.
****) Per ignorantum et negationem. Collationes III. 378.
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Gott allein ist unveränderlich, deshalb kann man ihm allein Unsterblichkeit beilegen *); die Unsterblichkeit der vernünftigen Seele läßt sich nicht beweisen. Es gibt dafür wahrscheinliche Gründe, aber keine demonstrirende, ja nicht einmal nothwendige **). Die Unsterblichkeit ist uns nicht natürlicher, sondem nur wahrscheinlicher Weise bekannt. Die Auferstehung läßt sich weder a priori, noch aus einem dem Menschen inwohnenden Principe, noch a posteriori durch natürliche Einsicht darthun; — man kann nur durch den Glauben daran festhalten ***).
Allerdings baute Scotus sein System in solcher Weise auf, daß er dessen Rechtgläubigkeit vertheidigen konnte; er hielt es auch wol selbst für rechtgläubig, wie dies neuere und neueste Philosophen mit ihren Systemen ebenfalls gethan haben. Sobald aber die unantastbare Heiligkeit jedes Dogmas nicht mehr anerkannt wird, oder die Furcht vor der Kirche verschwindet, müssen aus der Schule und in der Richtung des Scotus ganz andere Ergebnisse hervorwachsen, als aus den Schulen der oben genannten Meister. Daher erhub die katholische Kirche den Thomas und Bonaventura, nicht aber den Scotus unter ihre Heiligen, daher entstanden ganz natürlich zwischen den Thomisten (Dominikanern) und Scotisten (Franziskanern) gar viele wissenschaftliche, durch Ordenshaß leidenschaftlich erhöhte Streitigkeiten. Hätte zur Zeit des Scotus ein Mann gelebt von der Kraft und dem Einflüsse Bernhards von
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*) Comment. Ad lib. I. Sentent. Diss. 8. S. 706. lib. II. Diss. 17, quaest. 1. Theoremata III. 286.
**) Opera X. 28; XII. 839, 840.
***) Non tenetur nisi per fidem Opera X. 35.
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574 Die Philosophie und die Philosophen
Clairvaux; schwerlich wäre jener dem Schicksale Abälards entgangen.
Bei mancher Ähnlichkeit bleibt Scotus dessenungeachtet von Abälard wesentlich verschieden. Die angeblichen Ketzereien des Letzten gingen meist hervor aus einem lebendigen Gefühle, aus begeisterter Verehrung des Alterthums, aus Abneigung gegen unbedingte Vorschriften. Scotus hingegen ward auf diese Weise wenig oder gar nicht angeregt. Sein dialektischer Scharfsinn, der ihn da noch Verschiedenheiten und Gegenstände wichtiger Untersuchungen, sowie erheblichen Zweifels sehen ließ, wo den Meisten Hören und Sehen verging, diente allerdings bisweilen zum scheinbar wissenschaftlichen Erhärten des Dogmatischen, was Andere lediglich als Wunder und Offenbarung bezeichneten. Der wichtige Lehrsatz: „nichts Geglaubtes widerspricht den Schlußfolgen, welche sich aus richtigen Grundsätzen ergeben“ *), forderte aber (in Uebereinstimmung mit den ausgesprochenen Grundsätzen über Syllogistik und Dialektik) für den Vernunftgebrauch so große Rechte, daß kaum ein Kampf gegen Manches ausbleiben konnte, was die Kirche als zu Glaubendes hinstellte. Ueberhaupt mußte des Scotus anatomisches, zersetzendes, mikroskopisches Verfahren die natürliche und offenbarte Erkenntniß fast gleich sehen und die organische Totalität des Kirchenglaubens aufheben. Sein oder Nichtsein desselben schien wesentlich von dem Willen und der Macht des dialektischen Meisters abzuhängen. Freilich ist dies sehr verschieden von dem flachen Unglauben der Unwissenheit, oder dem frechen
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*) Nullum vero creditum repugnat conclusioni sequenti e veris principiis. Ad Sent. I. Diss. 3, quaest. 8.
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575 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
Leugnen der Gottlosigkeit, natürlich aber kam man im Ablaufe der Zeit, von den Untersuchungen des Für und Wider in Hinsicht einzelner Kirchenlehren, allmälig zu einer strengen Kritik der biblischen Bücher und aller Dogmen, — ja zuletzt zu einem Leugnen der Persönlichkeit Christi. Dies und Aehnliches wurzelt zum wenigsten schon im Mittelalter, so sehr sich dieses auch entsetzt haben würde, wenn es Jemand zum Bewußtsein gebracht und ausgesprochen hätte. Ist aber das Kind erzeugt, so muß es zuletzt auch geboren werden, und nicht Bücherverbote, oder gar die Flammen der Scheiterhaufen, sondern das Licht der Wissenschaft und die Wärme des Glaubens bieten die rechte Erziehung und führen zur Wahrheit.
Die Schärfe der Kritik des Duns Scotus und sein Leugnen eines demonstrativen Wissens unsinnlicher und übersinnlicher Dinge mußte zum Sinnlichen und zur Empirie hindrängen. Doch blieb er, wie es ihm seine Virtuosität vorschrieb, meist bei dem Allgemeinen und Abstracten stehen, und hatte keine Wahlverwandtschaft zu eigentlichen Versuchen und Erfahrungen. Hierfür brach neue Bahnen sein Zeitgenosse
16) Roger Bakon,
geboren 1214 zu Ilchester in Somersetshire, Mitglied des Flanziskanerordens, gestorben 1292 oder 1294. In seinem wichtigsten Werke, dem Opus major lehrt er: Das Hauptmittel gegen Irrthum und Unwissenheit aller Art ist, sich nicht mit dem zu begnügen und dabei zu beruhigen, was hergebracht, angewöhnt und anerkannt ist. Wir müssen vielmehr selbst aufs Genaueste (obwol mit Bescheidenheit) forschen, damit wir Lücken ausfüllen und
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576 Die Philosophie und die Philosophen
Mangelhaftes verbessern. Dies ist der einzige Weg, Wahrheit und Vollkommenheit.
Wir sind so entfernt diese Wahrheit bereits in allen Dingen zu erkennen, daß auch der Weiseste nicht die Natur und Eigenschaften einer Fliege begreift, oder die Gründe anzugeben wüßte, warum sie diese Farbe und Gestalt, diese und nicht mehr, oder weniger Glieder hat u. s. w. — Weil nun der Mensch weit das Meiste, Größte und Schönste nicht weiß, ist es doppelter Unsinn, auf seine Weisheit stolz zu sein. Die Liebe zur Weisheit, die Philosophie, ist aber der göttlichen Weisheit keineswegs fremd, sondern in ihr eingeschlossen. Auch besteht die gesammte Entwickelung der Philosophie darin, daß der Schöpfer durch die Kenntniß der Geschöpfe besser erkannt werde, woraus hervorgeht, daß sie für Theologen und Christen nothwendig sei. Wir müssen in der Theologie philosophiren, und in der Philosophie vieles Theologische annehmen (assumere) , damit klar werde, wie in beiden dieselbe Weisheit hervorleuchte. Die christliche Philosophie kann und soll mehr von den göttlichen Dingen wissen, als die heidnische, ja das ganze Gebäude gewissermaßen neu begründen und aufführen.
Es gibt zwei Wege, zur Kenntniß zu gelangen: das Argument und das Experiment, der Schluß, und die Erfahrung. Auf jenem Wege erreichen wir wol ein Ziel, oder kommen zu einem Ende; aber nicht zu einer unzweifelhaften, beruhigenden Gewißheit, bevor die Erfahrung bestätigend hinzutritt. Leider ist aber der letzte Weg, die Erfahrungswissenschaft, den meisten Studirenden völlig unbekannt. Durch die Kraft der Wissenschaft (so schließt das Werk), welches Aristoteles dem Alexander einflößte, war
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577 des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.
diesem die Welt übergeben. Das sollte die Kirche bedenken, um gegen Ungläubige und Aufrührer Christenblut zu ersparen, vor Allem aber wegen der künftigen Gefahren in den Zeiten des Antichrists. Mit Gottes Gnade könnte man leicht diesen Gefahren entgegentreten, sobald Prälaten und Fürsten die Wissenschaft beförderten, und die Geheimnisse der Kunst und Natur erforschten.
Daß Bakon die Nothwendigkeit und Nützlichkeit einer grammatischen und geschichtlichen Prüfung der heiligen Schriften anerkannte, versteht sich von selbst; ja ihm blieb (bei aller Begeisterung für die Natur) die höchste Sittlichkeit so Zweck alles Strebens, daß er jede theoretische Wissenschaft, welche damit in gar keine Verbindung trete, für nutzlos erklärte. Unbegnügt mit einer Entwickelung blos allgemeiner Begriffe von Natur, Kraft Wesen, Zeugung, Geschlecht, Art, Thun, Leiden, Wirken, Einheit, Vielheit, Dichtigkeit, Leere, Raum, Körper, Geist u. s. w. studirte er Mathematik, Physik, Optik, Physiologie mit rastlosem Fleiße, und ward zugleich einer der größten Erfinder in seinem Fache. Denn was er z. B. über Brillen, Ferngläser, Brenngläser und Schießpulver sagt, ist so bestimmt und deutlich, daß im Gedanken das Schwierigste durch ihn überwunden erscheint *).
In Wahrheit wollte Bakon dem ganzen Studiren
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*) Jebb, Vorrede zum Opus majus. Henry, History of England, VIII. 199, 216, 288. Daß man um 1138 Brenngläser kannte, ergibt ein Inventarium des Klosters Weihenstephan, wo es heißt: unus christallus, cum qua ignis acquirendus est a sole in parasceve. v. Hormayr, Taschenbuch für 1836. S. 317.
Hist. Taschenbuch. Neue F. I.
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578 Die Philosophie und die Philosophen.
eine andere und inhaltsreichere Richtung geben, und das veranlaßte wol den meisten Anstoß. Gerade das, worin Bakon irrte, sein Glaube an Astrologie und den Stein der Weisen, ward in jener mitirrenden Zeit nicht gerügt; die Andeutungen und Erfindungen, womit er der Entwickelung der Wissenschaften vorausgriff, aber unbeachtet gelassen, oder misverstanden. — Betrachten wir Roger Bakon im Verhältnisse zu seiner Zeit, sehen wir, welch Märtyrerthum ihm (sowie später dem Galilei) um der Wissenschaft willen bereitet ward, so dürfen wir ihn für einen ebenso großen Geist und für einen reineren Charakter halten, als seinen Namensgenossen Franz Baton.
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Quelle:
Historisches Taschenbuch Band N.F.1.1840, S. 463 – 578; Erscheinungsdatum 1840; Herausgegeben von Friedrich von Raumer. Leipzig: F. A. Brockhaus. Signatur in SLUB Dresden Eph.hist.408-1.1840
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Brockhaus. Reise-Bibliothek. Eisenbahnen und Dampfschiffe.
Prospect.
Eisenbahnen und Dampfschiffe haben auf das Leben der Völker den unermeßlichsten Einfluß geübt und üben ihn fortwährend in immer gesteigertem Grade. Der Verkehr hat sich zu staunenswerther, früher kaum geahnter Höhe entwickelt. Jedermann reist jetzt zehn mal häufiger und weiter als sonst, Jeder erlebt weit mehr als früher in gleicher Zeit. Die Zeit hat dadurch erhöhten Werth erhalten: sie ist um so kostbarer geworden, je mehr sich in ihr erreichen läßt. Und doch, während bei der jetzigen raschen Art zu reisen so viel Zeit erspart und gewonnen wird, geht gerade dabei wiederum viel Zeit verloren! Auf den frühern langsamern und gemüthlichern Reisen wollte und konnte man von Beginn derselben an alles sich Darbietende ruhig genießen. Jetzt eilt man oft hunderte von Meilen durch wenig interessante oder oft gesehene Gegenden, um erst dann eine genußreiche Reise zu beginnen. Früher unterhielt sich die Reisegesellschaft viel mit einander, man schloß sich bald näher an seine Mitreisenden an. Jetzt ist ein längeres Gespräch auf der Eisenbahn bei dem Rasseln der Wagen fast unmöglich. Und wenn wir uns dann stumm gegenübersitzen, wenn die Reisegesellschaft uns nicht anregt, wenn schlechtes Wetter uns stundenlang in die Kajüte eines Dampfschiffs verbannt, werden wir da nicht von tödtlicher Langeweile geplagt, von Aerger erfüllt über den Verlust der kostbaren Zeit?
Aber es gibt ein Mittel gegen diese „kleinen Leiden“ des menschlichen Lebens und Reisens, die uns oft den ganzen Reisegenuß verleiden, und dies ist: interessante Reise-Lectüre.
Allerdings fehlte es bisher an Büchern, die den Geist während der Reise leicht und angenehm beschäftigen. Die wenigen aber, die dazu dienen könnten, empfehlen sich nicht durch angemessene äußere Ausstattung, handliches Format und deutlichen Druck.
In den Ländern, wo der durch den Dampf vermittelte Verkehr sich noch rascher als in Deutschland entwickelte: in England und Amerika, ja selbst in Frankreich, Belgien und Italien gibt es schon seit längerer Zeit besondere Reise-Bibliotheken, die alle den glänzendsten Erfolg haben. Fast Niemand reist dort ohne sich ein solches Buch mitzunehmen. In England wurden diese Reise-Bibliotheken zuerst durch den Scharfblick eines Macaulay angeregt und besonders von zweien der angesehensten Verleger, Longman und Murray, in verschiedener Weise ausgeführt. Sollte man nun nicht voraussetzen dürfen, daß das deutsche Publicum, das sich mit Recht vorzugsweise seiner literarischen Bildung rühmt, ein für Deutschland berechnetes, von den besten deutschen Schriftstellern unterstütztes derartiges Unternehmen mit lebhafter Theilnahme begrüßen und fördern werde? Die unterzeichnete Verlagshandlung ist dieser Ueberzeugung und hat deshalb ein Unternehmen begonnen, das dem reisenden Publicum Deutschlands geeignete Reise-Lectüre darbieten wird.
Was zunächst den Inhalt dieser Reise-Bibliothek betrifft, so wird besonders darauf gesehen werden, daß die zur Aufnahme in dieselbe bestimmten Schriften speciell zur Lectüre für Reisende geeignet, zugleich aber von so dauerndem Werthe sind, daß sie ein Aufbewahren auch nach der Reise verdienen. Ferner wird auf die sehr verschiedenen Bedürfnisse der Reisenden Rücksicht genommen werden: es wird ebensowol für Unterhaltung als für Belehrung, für Ernstes wie für Erheiterndes gesorgt sein.
Aus diesen Rücksichten wird die Reise-Bibliothek in zwei Hauptabtheilungen zerfallen, wovon die erstere Reisebücher in speciellerm Sinne, die zweite Schriften belehrenden und unterhaltenden Charakters umfaßt.
Was wird jeden Reisenden zunächst interessiren? Doch wol das Land, das er eben durchreist. An eigentlichen Reisehandbüchern ist auch in Deutschland kein Mangel und diese werden daher zunächst wenigstens von dem Plan des Unternehmens ausgeschlossen sein. Allein der gebildete Reisende verlangt gewiß mehr, als derartige „Führer“ ihm bieten können. Er möchte das Land, das er besucht, näher kennen lernen, über seine Geschichte, seinen Charakter etwas hören. Deshalb sollen in unsern Reisebüchern vor allem Schilderungen und Charakteristiken der von den verschiedenen Routen durchschnittenen oder berührten Gegenden und Ortschaften Deutschlands, ihrer Bevölkerungen, Sehenswürdigkeiten und historischen Erinnerungen gegeben werden. Solche topographisch-ethnographische Schilderungen können, ohne in eine bloße trockene Aneinanderreihung von Notizen zu verfallen, dem Publicum während der Reise in vielen Fällen gleichzeitig den Dienst von Reisehandbüchern leisten oder als Vorbereitung zu einer Reise benutzt werden; und auch nach derselben sollen sie als Erinnerung an das Gesehene und Erlebte Werth behalten. Durch Karten und Pläne soll, wo es nöthig ist, der Inhalt dieser Reisebücher erläutert werden.
Die zweite Hauptabtheilung der Reise-Bibliothek wird Schriften belehrenden und unterhaltenden Charakters umfassen, also solche, die, ohne specielle „Reisebücher“ zu sein, nur im Allgemeinen zur Unterhaltung der Reisenden dienen sollen. Diese Schriften werden, nach den verschiedenen Neigungen und Ansprüchen der Reisenden, theils belehrende, theils blos angenehm unterhaltende sein. Dahin gehören zunächst Novellen und Erzählungen aller Art, selbst einzelne poetische Werke. Dann aber auch populär -wissenschaftliche, namentlich naturwissenschaftliche, ferner biographische, historische, culturhistorische, criminalgeschichtliche, kriegs- und zeitgeschichtliche Schriften, kurz solche, deren Gegenstände in ethnographischer, sittengeschichtlicher oder psychologischer Hinsicht von Bedeutung sind und mit dem wirklichen Leben, besonders mit dem Leben des Tages, im Zusammenhang stehen. Die Schriften werden in der Regel speciell für die Reise-Bibliothek verfaßt; doch soll die Mittheilung älterer gediegener Schriften dieses Gebiets nicht ausgeschlossen sein.
Besonders glaubt die Verlagshandlung noch hervorheben zu müssen, daß das deutsche Publicum in beiden Hauptabtheilungen der Reise-Bibliothek wesentlich nur Originalschriften ausgezeichneter deutscher Schriftsteller von wirklichem literarischen Werthe zu erwarten hat. Die Auffoderung der Verlagshandlung, sich bei ihrer Reise-Bibliothek durch Beiträge zu betheiligen, ist zu ihrer Freude von einer Reihe der ausgezeichnetsten Schriftsteller Deutschlands sehr beifällig aufgenommen worden. Die am Schlusse dieses Bändchens verzeichneten Namen der Schriftsteller, welche Schriften für die Reise-Bibliothek zugesagt oder dieselben zum Theil schon ausgearbeitet haben, sind dem deutschen Publicum eine Gewähr, daß es Tüchtiges von dem Unternehmen zu erwarten hat.
Die bereits erschienenen oder zunächst rasch hintereinander erscheinenden Bändchen der Reise-Bibliothek sind am Schluß dieses Bändchens verzeichnet.
Neben dem Inhalt ist bei Schriften, die zum Gebrauch auf der Reise bestimmt sind, die Form, das Aeußere, von besonderer Wichtigkeit. Die Verlagshandlung hat deshalb bei ihrer Reise-Bibliothek zunächst für ein handliches Format Sorge getragen, dann für deutlichen, die Augen nicht anstrengenden Druck und für weißes Papier; endlich auch dafür, das die Bücher mit festem Umschlag (in gelbem Papier) versehen und bereits beschnitten sind. Der Umfang wird in der Regel 8–12 Bogen betragen und der Preis ist für jedes solches Bändchen auf 10 Silbergroschen festgesetzt.
Für den Vertrieb der Reise-Bibliothek sind von der Verlagshandlung die zweckmäßigsten Einrichtungen getroffen oder angebahnt worden: sie hofft, daß die Directionen der Eisenbahn- und Dampfschifffahrtsgesellschaften ihr sowie den betreffenden Sortimentshandlungen freundlich entgegenkommen werden, damit das Publicum die Reise-Bibliothek gleich auf den Bahnhöfen und an den Hauptstationen kaufen kann, wie dies bereits in andern Ländern stattfindet.
Schließlich macht die Verlagshandlung noch darauf aufmerksam, daß sie sich auch mit der Herausgabe von mehren für das reisende Publicum bestimmten kartographischen Werken beschäftigt, namentlich mit Städteplänen, Eisenbahnkarten für alle Eisenbahnrouten Deutschlands, Flußkarten etc., nebst Angabe der Abfahrtsstunden, Gasthöfe u. s. w., woraus sich zuletzt ein praktischer Reise-Atlas für ganz Deutschland gestalten wird. Diese kartographischen Werke werden eine wesentliche Ergänzung der Reise-Bibliothek bilden.
Leipzig.
F. A. Brockhaus.
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Briefe aus Südrußland während eines Aufenthalts in Podolien, Volhynien und der Ukraine.
Von Marie Förster.
Leipzig: F. A. Brockhaus. 1856.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
1. Allgemeine Bemerkungen über Natur- und Menschenleben in Volhynien, Podolien und der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1
2. Reise durch Volhynien nach Podolien . . . . . . . . . . . . . . .77
Kordelowka in Podolien, Anfang Juni . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Landleben in Podolien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
1. Kordelowka in Podolien, Mitte Juni. . . . . . . . . . . . . .
2. Kordelowka in Podolien, Ende August. . . . . . . . . . . . . 96
3. Kordelowka in Podolien, Ende September. . . . . . . . . . 101
4. Kordelowka in Podolien, Anfang November. . . . . . . . . 103
5. Kordelowka in Podolien, Mitte December . . . . . . . . . . 117
4. Aufenthalt in Volhynien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
1. Zytomierz, Mitte December . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Zytomierz, Anfang Januar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
3. Zytomierz, Ende Februar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130
4. Zytomierz, Anfang Mai. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
5. Zytomierz, vom Mai bis Juli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
6. Zytomierz, Ende August . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148
7. Zytomierz, vom September bis Anfang November . . . 150
5. Die Ukraine. Kiew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
1. Kiew, Anfang März . . . . . . . . .
2. Kiew, Ende April . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175
3. Kiew, Anfang Mai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .186
4. Kiew, Ende Mai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
5. Kiew, Mitte Juni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
6. Kiew, Ende Juni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
1.
Allgemeine Bemerkungen über Natur- und Menschenleben in Volhynien, Podolien und der Ukraine.
Die Gegenden, aus denen die folgenden Briefe geschrieben wurden, sind die großen von Hügel- und Bergketten durchzogenen frucht- und waldreichen Ebenen, die sich im Süden des europäischen Rußland ausbreiten und vom Schwarzen Meere, dem ihre Ströme, Dniestr und Dniepr zueilen, nur durch die Steppen Neurußlands getrennt sind. Ihre Lage zwischen Altrußland, dem Königreich Polen, Galizien und den walachisch-moldauischen Staaten veranlaßt eine interessante Mischung und Begegnung des Charakteristischen im Natur- und Menschenleben jener Grenzländer und macht den Reisenden mit verschiedenen Auszweigungen des Slawenthums bekannt.
Diese Bemerkungen, die das in den Briefen Erzählte anschaulicher machen sollen, beziehen sich meist auf die Ukraine, Volhynien und Podolien zugleich. Wie diese Länder aber auch im Allgemeinen sich gleichen, ziemlich dieselben Bewohner, dasselbe Klima, dieselbe Fülle und Art der Producte haben, so hat dennoch die Naturphysiognomie jedes einzelnen ihre besondern Züge, und so begegnet das Auge in jedem
Förster, Südrusland.
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2 Natur - und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
eigenthümlichen Landschaftsbildern. Im Hauptsächlichen sei diese Verschiedenheit hier angedeutet:
Podolien ist ein idyllisches Land – das Land der Hirten und Ackerbauer, der stilllieblichen Gegenden. Große blaue Seen, frischgrüne Eichen- und Birkenwälder, Dörfer und heitere Landsitze, von reichen Getreidefeldern und Obstwaldungen umgeben, kleine Wiesenthäler zwischen grünen Hügeln – dies sind die Bestandtheile der reizenden Landschaften.
In Volhynien sieht man nicht blos solche liebliche idyllische, sondern auch ernste, düstere Gegenden mit schwarzen Tannenhügeln, dunkeln Felsengründen und manche vom Zauber der Sage oder der Geschichte umschlungene Burg- oder Klosterruinen. Nicht blos Laubwälder wie in Podolien schmücken das Land, auch die dunkle Tanne und die schlanke Fichte, denen man dort selten begegnet, vermischen sich mit ihnen. Es gibt Bäche hier und viel schnelle kleine Flüsse, die aus Bergen kommen, durch Thäler rauschen und sich lieblich durch Wälder und Fluren winden; Podolien aber hat wenig solche reizende, lebendige, klangvolle Gewässer; die Ströme Bug und Dniestr, die ernst und langsam einen Theil des Landes durchziehen, haben nichts von der frischen jugendlichen Schönheit der volhynischen Flüsse, und die vielen großen Seen, die in jeder Landschaft als ihr schöner Spiegel ruhen und an denen fast alle Dörfer und Herrenhäuser liegen, können, wie lieblich sie sind, den Mangel nicht ersetzen; sie sind einer dem andern so gleich, daß sie am Ende den Gegenden eine große Einförmigkeit geben. Auch sind es nicht eigentliche Seen, sondern meist Arme des Bug, durch lange Dämme, über welche die Straßen führen, abgeschlossen und zerstückelt; ihr Grund ist schlammig und im heißen Sommer erfrischen sie nicht die Luft, sondern hauchen ungesunde Dünste aus. Obgleich man auch in Podolien, besonders am Ufer des Dniestr, manche wildschöne Berg- und
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3 Naturleben. Landschaftlicher Charakter der Provinzen.
Felsengegend findet (wie die Hauptstadt Kaminiec z. B. herrlich in solch einer Gegend gelegen ist), so ist Volhynien doch im Ganzen weit malerischer und romantischer; die Wellenlinie herrscht in der Landschaft vor; man sieht mehr Zufälligkeit, reichere Abwechselung, hat mehr Ueberraschungen als in Podolien, wo das eine Landschaftsbild meist die Copie von hundert andern ist, wo die Ebenen sich weiter ausbreiten, die Hügel und Wälder in geraden Linien am Horizonte liegen und die Seen in einer gleichen Regelmäßigkeit wiederkehren. Diese größere Fülle des Malerischen sieht der auf den Nutzen Bedachte freilich von dem weit größern Getreide- und Früchtereichthum Podoliens aufgewogen; denn während man in Volhynien häufigen Sandboden findet, ist die Erde dort schwarz, locker, fett, sodas die Ländereien Podoliens einen weit höhern Ertrag geben als die Volhyniens und sich dort weit mehr Leute finden, die nur to make money Güter kaufen und bebauen, als in Volhynien, wo mehr als dort der höhere Adel lebt, der die Scholle schätzt und festhält, nicht wegen des hundertfachen Ertrags, sondern wegen des hundertjährigen Besitzes.
In der Gegend der Ukraine (der alte Name für die Gouvernements von Kiew, Pultawa und Charkow) findet man den Charakter jener beiden Provinzen vermischt und abwechselnd: liebliches, reichbebautes, mit Laub- und Tannenwald geschmücktes Hügelland, große Ebenen mit fruchtbaren Feldern oder großen dichten Wäldern, wilde kahle Berge, sandige, zerrissene Höhenzüge, Felsenklippen besonders am Dniepr, öde Steppengegenden, stille Seen und schnelle Flüsse, die alle zum Dniepr gehören, der seine mächtigen Wogen durch das Land rollt. Diese Länder sind die fruchtbarsten Rußlands; Podolien besonders und einige Theile der Ukraine bilden die Kornkammer des Reichs, deren goldene Schätze aus Odessas Hafen in
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4 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
ferne ärmere Länder geführt werden. Ohne große Anstrengung gewinnt der Landmann die Fülle des Getreides, und man erinnert sich nur wenig schlechter Erntejahre. Groß ist besonders die Pracht der Weizenfelder, die sich wie ein Meer mit goldenen Wogen über das Land breiten. In der Nähe aller Güter sieht man im Spätsommer goldene Städte in der Sonne funkeln; denn da die Scheunen nur einen kleinen Theil des Ernteguts fassen können, so erheben sich bald ringsum phantastisch gestaltete Gebäude, aus den übereinandergeschichteten Garben aufgeführt – ein Anblick prächtiger als der manches stolzen Fürstenpalastes.
Aber nicht blos die Vornehmen haben ihren Theil am Segen des Jahres; auch neben der kleinsten Hütte erhebt sich in jener Zeit ein goldener Thurm von Getreide. Dann ist es eine Lust durch die Dörfer zu fahren: man fühlt die milde Hand des Herrn für Alle aufgethan und mit Wohlgefallen sättigen Alle, die leben! Zwischen den Getreidefeldern breitet der Flachs seinen blauen Blütenteppich aus; auch die Kartoffel- und Runkelrübenfelder nehmen weite Strecken ein, besonders im betriebsamen Podolien, wo eine Passion für die Fabrikation von Runkelrübenzucker herrscht.
Alles Land wird zum Acker-, keines zum Wiesenbau verwendet; das nöthige Gras findet man in den Wäldern, welche meist mit einer reichen Vegetation von Gras, Kräutern und Blumen bedeckt sind, sodas es entzückend ist, im Frühling oder zur Zeit der Heuernte in ihrem Duft und Schatten zu wandern.
Die Wälder sind die gewöhnlichen Weideplätze der Heerden, die den ganzen Sommer im Freien verleben. Die Dorfbewohner schicken ihre Thiere meist zusammen unter der Führung eines oder einiger Hirtenbuben hinaus; dichte Staubwolken zeigen am Abend von weitem die Rückkehr der Heerde
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5 Ackerbau. Verschiedene Producte des Landes.
an; es ist ein unabsehbarer Zug, und man bewundert die Macht, welche der Mensch über die Thiere ausübt, wenn man den kleinen Hirten sieht und hinter ihm diese gewaltigen Ochsen, die dem Heere vorausziehen. Auch Pferde weiden in den Wäldern, und es ist herrlich, die edeln Thiere in ihrer Freiheit zu sehen, miteinander spielend, kämpfend, oder scheu mit fliegenden Mähnen davoneilend, wenn sich Menschen nahen. Wie groß der Reichthum an Pferden ist, sieht man im täglichen Leben. Alle irgend Vermögenden fahren vier- bis sechsspännig, wo man dann immer vier Pferde nebeneinanderspannt. Die Bauern haben viel einspännige Fuhrwerke, Telegas genannt, bei denen das Pferd unter einen von der Deichsel ausgehenden hölzernen Bogen eingespannt ist, was die Stetigkeit des Laufes befördert. Noch eigenthümlicher sieht das russische Dreigespann aus, dessen drei Pferde nach drei verschiedenen Richtungen zu gehen scheinen.
Die russischen Pferde sind kleiner, dennoch unermüdeter als die unsern. Man fährt mit Blitzesschnelle, keine Hindernisse achtend, durch unwegsame Strecken, was in den hölzernen federlosen Britschkas und Telegas sehr empfindlich ist. Auf weiten Reisen bedient man sich gewöhnlich der Tarantasset große unbehülfliche, aber leichte und tüchtige Wagen, deren Kasten auf zwei langen elastischen Stangen ruht, welche durch die Achsen verbunden sind. Die dienstreisenden Offiziere, Feldjäger u. s. w. fahren meist in den hölzernen Posttelegen, in denen sie trotz des unbequemen Sitzes auf einer harten Bank gerade über den Rädern im Fluge die weitesten Strecken durcheilen. Diese einfachen Fuhrwerke contrastiren mit dem gewöhnlichen stattlichen Attelage russe – den vier bis acht Pferden von gleicher ausgewählter Farbe und Größe vor eleganer Equipage, auf deren hohem Kutschersitz der Wagenleiter thront, im langen Kaftan, mit rother Schärpe, oder
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6 Natur - und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
einem Silbergürtel, mit hoher pelzverbrämter Mütze, majestätisch anzusehen, besonders wenn er stehend die Pferde regiert, wobei ihm ein kleiner Vorreiter hilft, der in ähnlichem Costüm auf einem der Vorderpferde sitzt.
Die Kutscher und Bauern haben einen unendlichen Wörtervorrath für die Gespräche mit ihren Pferden. Sie reden unaufhörlich mit ihnen, haben tausend Scheltworte und noch mehr zärtliche, liebkosende Ausdrücke für sie; sie verwandeln jeden Augenblick die Stimme und gehen schnell von den weichsten, süßesten Schmeicheltönen zu den rauhesten Lauten des Zornes über. Die Bauern sind meist muthige Reiter, schwingen sich auf die wildesten Pferde, die den Sommer im Walde zugebracht haben, halten sich an den Mähnen fest und jagen ohne Sattel und Zeug davon. Die grünen, baumlosen Hügel, die Haidestrecken und die abgemähten Felder sind die Weideplätze der Schafe, von denen mehre Tausend Stück zu den meisten Gütern gehören. Vor allen aber sind diese Provinzen „the nursery of pigs“, würde Boz sagen, der so oft mit humoristischer Anschaulichkeit das Treiben jener verachteten Thiere beschreibt und der ein reiches Feld für seine Beobachtungen in diesen Dörfern voll niedlicher Ferkel finden würde, die zu Hunderten und in allen Farben überall laufen, um ihre häßlichen Mütter tanzen, zusammen spielen und sich in den Pfützen rollen, und die nicht blos eine charakteristische Staffage dieser Dörfer, sondern oft eine Quelle des Reichthums für deren Bewohner sind. Die Jagdlust findet weiten Spielraum in diesen Wäldern, wo nicht blos die Wölfe hausen und die Bären in fernen Verstecken wohnen, sondern wo der Hirsch mit stolzem Geweih durch die Eichen rauscht, wo das Reh neugierig hinter den Stämmen lauscht und die Fährte des wilden Ebers sich tief im Dickicht verliert, ja wo sogar der Auerochse, der Urbewohner
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7 Jagd; Vegetation; Producte der Wälder.
unserer alten deutschen Wälder, noch eine letzte Heimat gefunden hat.
Honig und Wachs gehören zu den Hauptproducten dieser und der umliegenden Provinzen. Die Bienengärten mit ihren Linden und schirmartigen Bienenstöcken liegen in der Mitte der blumenreichen Wälder, zu deren Reiz dieses liebliche Summen der Bienen gehört. Auch wilde Bienen gibt es in Menge und die Bauern suchen sich wohl verhüllt oft ihren Honigvorrath in den hohlen Stämmen. Zwei andere diesen Wäldern eigenthümliche Producte sind die Trüffeln und der Birkenwein, den man durch Anbohren der besonders kräftigen Stämme im Frühjahr gewinnt.
Das Holz wird in den Wäldern ohne Ordnung und Regel geschlagen; eine Forstcultur wie bei uns existirt nicht für diese umfangreichen Wälder. So sieht man alte abgelebte Stämme oder von Blitz niedergeworfene herrliche Bäume wie Riesenleichen mitten im frischen Leben des Waldes liegen, sieht köstliche Wälder auf einmal niedersinken, wie es eben die Laune oder das Geldbedürfnis des Besitzers gebietet. Häufig und besonders in der Sommerhitze, wo das Holz ausgetrocknet ist, entstehen Waldbrände, die mit großer schnelligkeit Verwüstung verbreiten.
In den Nadelwäldern Volhyniens gewinnt man den Theer, der zu den Hauptproducten Südrußlands gehört und so viel bereitet und benutzt wird, daß der eigenthümliche Geruch, sobald man über die Grenze kommt, unangenehm auffällt. Auf allen Straßen begegnet man Zügen von Wagen, welche die hochaufgepackten Theer-, Pech- und Rußtonnen fortführen; überall sieht und riecht man den Dampf aus den gewölbten Theeröfen oder den großen offenen Pechkesseln, die über freiem Feuer stehen, oder aus den hölzernen langen Schornsteinen, unter denen man die übriggebliebene Pechkohle zu Ruß verbrennt,
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8 Natur - und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
emporsteigen. Die Kleider und Hütten der Bauern sind von dem Geruch durchdrungen, und kommt man ihnen nahe, so trägt man ihn selbst auf lange mit sich fort.
Groß ist die Fülle des Obstes hier wie im übrigen Südrußland. Es gibt ganze Waldungen verschiedener Fruchtbäume; Aprikosen, Pfirsichen reifen an Spalieren, die Ananascultur wird von vielen Gutsbesitzern in großer Ausdehnung getrieben; die mächtigen alten Nußbäume geben reichlichen Ertrag. Die Wälder bieten im Sommer einen unerschöpflichen Reichthum an duftenden Erdbeeren, an Himbeeren, Heidelbeeren und den bei uns wenig gekannten Moosbeeren, Klukwa genannt, welche unter dem Schnee reifen und aus denen man ein liebliches Getränk bereitet. Eine diesen Pro inzen eigene Frucht ist die Wassermelone, eine Lieblingserfrischung Aller, auch der Armen, da man sie in großer Menge zieht; ebenso allgemein beliebt ist der türkische Weizen – Kukuruz –, die Gurke, Zwiebel, der Kohl, aus dem man die russische Lieblingssuppe –Tschi– bereitet, endlich der Grütze, der als Kascha tagtäglich auf der Vornehmen und Geringen Tische steht. Die Trauben reifen am Dniestr, aber auch die Tataren aus der Krim bringen sie in Menge herbei. Die Nähe jener glücklichen Halbinsel, wo die Mandel und die süße Kastanie gedeihen, und die Nähe Odessas, das Depot für die Producte Asiens, führt eine Fülle von Südfrüchten ins Land. Die Güte der eingemachten Früchte ist der Stolz jeder Gospodinja (Hausfrau); am berühmtesten sind die von Kiew und der Umgegend, wo sie einen vorzüglichen Industrie- und Handelszweig bilden.
Nicht blos den einheimischen Bäumen ist wohl in ihrem mütterlichen Boden; auch die ausländischen gedeihen. Unter den Kastanien und Linden ragt die italienische Pappel stolz empor, die Akazie erhebt ihr blütenweißes Haupt, die silbergrauen
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9 Die Bäume des Landes; Früchte und Blumen.
Stämme der Platanen und das hellgrüne Laub der Maulbeerbäume leuchtet aus dem Dunkel und die Trauerweide taucht ihre Zweige in stille Gewässer.
Wie die Gärten und Wälder reich sind an Bäumen, so sind sie es auch an Blumen. Keine unserer Wiesenblumen fehlt in den Wäldern; selbst Blumen aus unsern Gärten wachsen unter den wilden Kindern des Waldes; es ist ein entzückender Anblick: hier ein Teppich aus Millionen bunter Sterne, Punkte und Glöckchen gestickt, dort die farbigen Decken nebeneinander ausgebreitet, blaue, goldige, purpurne Streifen, wie eben die Blumen von gleicher Art und Farbe in Massen nebeneinander aufgewachsen sind. Jeder Monat verändert die Schönheit: auf die goldenen Himmelsschlüssel, auf die Menge der Veilchen und Maiblumen, die im Frühling die Wälder durchduften, folgen die blauen Glocken, die im hohen Grase der Birkenwälder dicht gedrängt unter den schlanken silberweißen Säulen stehen wie Kinder, die im Tempel beten und mit blauen Augen gen Himmel sehen. Alle prächtigsten Blumen blühen in den Gärten und Parks der Reichen, von den Hyacinthen an, die der erste Frühlingshauch entfaltet, bis zu den Georginen, deren strahlende Schönheit noch die letzten Herbsttage schmückt.
Die Rosen scheinen hier zu Hause wie in den Rosenhainen von Damascus; nicht blos in den Gärten glühen und duften sie; auch in den Wäldern wohnen Kinder aus dem Stamme der königlichen Familie, und lieblich lächelt das Dornröschen unterm Schatten der Eichen und Birken. Selbst die Gewässer haben ihre schwimmenden Blumenteppiche: auf der Fläche des Sees ruht die breitblätterige Nymphaea und öffnet ihre weißen und goldigen Blüten dem Lichte, dem sie aus dunkler Wassertiefe so lange entgegenstrebte, bis sie ihre Wurzel dem Grunde entriß und nun haltlos, aber geküßt
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10 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
vom Sonnenstrahle, auf den Wellen schwimmt. Auch die Ufer schmückt eine eigene üppige Vegetation: ganze Wälder von Schilf und Kalmus ragen da empor, zwischen denen wie ein Freundesgruß das Vergißmeinnicht lächelt, und über denen weiße Schmetterlinge und Libellen flattern.
Zahllos sind die gefiederten Bewohner dieser Seeufer und der weiten Wälder: wilde Enten schwimmen mit ihren Jungen auf der stillen Flut und schießen pfeilschnell in die Büsche zurück, wenn ein Nachen sich nähert; Wasservögel nisten im Ufergrün; wilde Schwäne rudern sorglos majestätisch in den einsamsten Seewinkeln; am Strande spaziert die Rohrdommel und der langbeinige Kranich, und im Frühjahr kommen als Gäste die Seeschwalben vom schwarzen Meere; mit ihnen kommen die Störche und ruhen von ihrer Reise in den Nestern hoch auf den Wipfeln der Eichen am Rande der Wälder.
Tausend Singvögel beleben im Frühling das Land, und es gibt dem Dichter Genüge und hat wie Rosen auch Nachtigallen im Ueberfluß. Sie singen nicht blos die Nächte lang, sondern den ganzen Tag, nicht blos an den einsamsten Stellen der Wälder, sondern an Wegen und Straßen mitten im Geräusch des Tages.
Die im Grunde der Erde verborgenen Schätze dieser Provinzen sind noch wenig bekannt; zu den bekanntesten gehört das Salz, das man häufig aus Seen gewinnt und in großen schwärzlich grauen Steinen zum Verkauf bringt. Es gibt Schiefer- und Kalkberge, viel Lehm- und Thonerde; man brennt sehr haltbare Ziegel, besonders in der Gegend von Kiew; Granitstein ragt häufig aus dem Boden hervor, bildet an den Flüssen oft hohe Felsenufer und in den höhern Gegenden romantische Felsenthäler.
Dunkelfarbigen Marmor bricht man in einigen Gegenden der Karpaten, deren Zweige von Galizien aus über die Grenze
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11 Wälder und Seen; Producte des Mineralreichs; Klima.
streichen. Die kleinen Flüsse haben häufig Eisengehalt und sind stärkend beim Baden; auch warme eisenhaltige Quellen entspringen hier und da, unbenutzt und unbeachtet.
Die reiche Natur dieser Länder gibt einen Begriff von der Schönheit ihres Klimas; es gleicht einigermaßen dem des südlichen Mitteldeutschland; doch ist es beständiger und die Verschiedenheit der Jahreszeiten schärfer bezeichnet. Der Winter ist kälter und anhaltender als in unsern deutschen Gegenden gleicher Breite. Die Flüsse bleiben länger gefroren, der Schnee liegt tiefer und fester als bei uns zu Freude und Nutzen der Bewohner, für die er alle Fernen verbindet und mit Wunderschnelle die Reize der Eisenbahnen schafft. Wochenlang liegen die Fluren in fleckenloser Reinheit unter dem tiefblauen Himmel und glänzen die Wälder wie krystallene Zauberhallen. Leichte und schwere Schlitten, mit Menschen oder Waaren belastet, streichen in allen Richtungen durch das Land. Dennoch fürchtet man die Kälte mehr als bei uns und verwahrt sich gegen sie wie gegen einen schlimmen Feind; selbst die unverwöhnten Bauern tragen vom Herbst bis in den Frühling hinein ihre hohen Pelzstiefeln und ihre warmen Kaninchen- oder Schafpelze.
Schon im März sieht man wieder schwarze Erde, die sich bald grün färbt und mit Schneeglöckchen und Veilchen schmückt. Doch nicht in mildem Sonnenschein, sondern unter Sturm und Regen wird das schöne Frühlingskind geboren, und ein Chaos von Windesbrausen, aufgethauten Eismassen, Regengüssen, ausgetretenen Flüssen und Seen, zerstörten Dämmen und Straßen geht meist den sonnigen stillen Maitagen voraus. In jenen Monaten März und April ist das Reisen beschwerlich, oft fast unmöglich; denn da die Erde meist fett oder schlammig und lehmig ist, wird sie schnell und so gründlich erweicht, daß Wagen und Pferde mit ihren Passagieren oft
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tagelang im Schmuze stecken bleiben. Erst mehre Wochen voll Trockenheit und Sonnenwärme bringen Alles wieder ins Gleiche. Unterdessen haben sich die Wälder geschmückt: am frühesten schimmert das zarte Laub der Birke, am längsten steht die Eiche mit kahlem Haupt inmitten des Frühlingsgrüns. Noch unter der Schneedecke waren die Felder grün; nun stehen schon hohe Saaten. Die Lerche sang schon in den ersten Märztagen und rief Staar und Amsel auf, ihrem Beispiele zu folgen; nun in den kaum belaubten Büschen tönt schon das süße Lied der Nachtigall. Die Fülle der Blumen leuchtet in Wäldern und Gärten; die Luft ist mild und immer klar. Diese Monate – Mai und Juni – sind die schönsten, genußreichsten. In dem frischen reichen Boden wächst, knospet, blüht und verblüht Alles wunderbar schnell. Wenige Tage nach dem ersten Frühlingssprossen ist die Erde mit einer hohen üppigen Vegetation bedeckt; in rascher Folge geht Alles vorüber: der Blütenschnee der Obstwaldungen, die duftende Schönheit des Flieders und Jasmins, die Pracht der Rosen, und mit der welkenden Blüte der Linde, Anfang Juli, ist Alles vorbei und der Becher der Frühlingsfreuden ausgetrunken. Auch die Nachtigall hat ihre letzten Liebestöne gesungen und die Wälder verstummen.
Nun kommen die heißen Monate, die angreifendsten des Jahres, während welcher die Saaten golden werden und die Arbeit der Ernte beginnt. Das schöne Wetter ist beständig und selten von einem flüchtigen Gewitter unterbrochen; keine vorübergehende Wolke mildert auf Momente den blendenden Schein des tiefblauen Himmels; die Nächte sind heiß wie die Tage; kein kühler Hauch erfrischt die Luft; das Gras wird gelblich, das Laub der Bäume grau; die obern Erdschichten trocknen zu Staub aus, der bald die Luft erfüllt und vermehrt und verdichtet wird durch den Staub der Steppe, den
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13 Klima; Charakter der Jahreszeiten.
heiße Winde herbeiführen; das Wasser der Flüsse verringert sich, man sieht ihren sandigen Grund; die Seen verschlammen, ihr niedriges getrübtes Wasser haucht ungesunde Dünste aus und erzeugt Insekten aller Art, darunter die Mosquitos, die alles Ausgehen verleiden und selbst in die Häuser dringen, eine Qual der Tage und Nächte; auch Taranteln gibt es, die jedes Ausruhen auf dem Erdboden gefährlich machen. Als Erquickung in dieser heißen Zeit reifen die mannichfachsten Früchte, unter ihnen die erfrischenden Wassermelonen.
Endlich, Anfang September, ziehen sich die angesammelten Dünste in schweren Wolken zusammen; auf einige heftige Gewitter folgen kühle stürmische Regentage, die oft wochenlang anhalten und schon jetzt einen Begriff vom November geben. Wenn sie vorüber sind ist die Erde wie verwandelt und lächelt erfrischt den klaren Herbsttagen entgegen. Die Blätter sind schon bunt gefärbt, aber neues Grün bedeckt den Boden, neue, der Jahreszeit eigene Blumen sprießen auf. Bald werden die letzten Früchte gepflückt, bald ziehen die Traubenwagen der Tataren in südlichere Gegenden zurück, und bald beginnen Störche und Schwalben ihre Reise. Der Himmel ist schöner als je, tiefblau oder mit Wolken von herrlichen Formen und Farben geziert. Das schönste in dieser Zeit aber sind die Mondnächte an den Ufern der Seen, in denen sich das sanfte Gestirn als zitternde Lichtsäule spiegelt, während rings die Wälder in duftigem Silberglanze schimmern. Schön ist's auch, im Mittagssonnenglanz durch die Gegend zu fahren und die goldenen Wälder und neubegrünten Felder zu sehen – Jugend- und Alter in schönem Verein.
Diesen sanften Tagen folgen die Novemberstürme, welche die letzten Blumen entblättern, die Wälder durchtosen, Aeste und Zweige niederschlagen, das welke Laub abschütteln und es hoch auf den Boden häufen; schon kommen die Wölfe aus
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ihren fernen Schlupfwinkeln hervor und schleichen in der Abenddämmerung hier und da am Wege zwischen den dunkeln Stämmen. Endlich legt sich die weiche weiße Schneedecke über alle Unordnung und Verwüstung und verhüllt sie bis zu den Tagen, wo Leben und Schönheit auferstehen.
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Doch nicht blos das Naturleben dieser Länder, auch das Menschenleben, das sich in dessen Mitte bewegt, ist reich und würde dem aufmerksamen geistreichen Beobachter tausendfachen Stoff zu ergreifenden Schilderungen geben. Nicht allein die Frage: wer bewohnt jene Länder, sondern auch die: wer hat sie bewohnt, würde einen solchen Beobachter beschäftigen. Hier sei die Antwort nur in ihren Hauptpunkten angedeutet: Wir suchen in der Weltgeschichte die Geschichte dieser den großen Schauplätzen der Begebenheiten ferner liegenden Gegenden und finden im Dunkel der alten Zeit nur den Namen der Scythen, der sie in die Reihe der von Menschen bewohnten Länder einführt. An diese Hauptbenennung der zahllosen Nomadenhorden, die wie alle Menschenstämme aus dem völkererzeugenden Asien kamen und im Norden des schwarzen Meeres zwischen Donau, Don, Dniepr und Dniestr wohnten, knüpft sich der Name der Sarmaten und endlich der der Slawen (Volk des Ruhms – slawa =Ruhm), welche in frühen Zeiten schon im nordöstlichen Europa umherzogen. Das Alterthum sendete ihnen keinen Strahl seiner Civilisation, und die griechischen Colonien, die im Norden des schwarzen Meeres und in den Gegenden des Dniestr entstanden, waren wie Lichtpunkte in der Nacht der Barbarei verstreut, ohne sie zu erhellen. Die zu den Tauriern verschlagene und unter ihnen lebende Iphigenia ist wol das einzige Moment im griechischen
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15 Menschenleben. Geschichte der Bewohner.
Alterthum, wo scythischer Barbarismus und hellenische Civilisation in Berührung miteinander erscheinen. Aber auch die Römer gaben, als sie Herren der pontischen Länder wurden, weder ihnen noch ihren Nachbarländern einen Theil ihrer Bildung, und Ovid's Klagelieder, die von dorther ertönten, drückten das ganze Gefühl des Contrastes zwischen dem rauhen Naturzustande der östlichen und der hohen Civilisation der westlichen Völker aus. Uebrigens drang die Römerherrschaft nie bis jenseit des Dniestr, und die Anten, der slawische Stamm, der in jenem Theile Südrußlands zwischen Dniestr und Dniepr hauste, blieben frei, selbst als seit Trajan das südliche Grenzland Dacien römische Provinz geworden war. Einer andern Herrschaft aber mußten sie sich dennoch später unterwerfen, jener der Gothen, welche vom Baltischen zum Schwarzen Meere kamen, und als Ostgothen vom Don bis zum Dniepr, als Westgothen vom Dniepr bis zur Donau herrschten. Slawisches und gothisches Element mußte sich vielfach vermischen, die Slawen durch Theilnahme an den Kriegen ihrer Herren mit Rom und Byzanz, in Berührung mit der ihnen bis jetzt so fremden übrigen europäischen Welt kommen. Das Gothenreich wurde zerstört durch die Ankunft der Hunnen, und auch von deren Herrschaft befreite sie bald Attila's Tod. Von nun an aber wurden diese Länder das Bett für den großen Völkerstrom, der seine ewig sich erneuenden Wellen unaufhörlich von Osten nach Westen trieb. Das Gedränge der wandernden, weidenden, verheerenden Horden dauerte jahrhundertelang, bis die aus der vorübergezogenen Völkerströmung in den Heimatländern frei zurückgebliebenen Slawen am Dniepr den Grund zum russischen und zwischen Weichsel und Dniestr den Grund zum polnischen Reich legten. Beide Reiche entstanden ziemlich zu derselben Zeit, erhielten beinahe zu derselben Zeit Civilisation und Christenthum, aber das erste erhielt
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16 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
sie aus Byzanz, das zweite aus Rom, jenem Punkte der Verschiedenheit, der die meisten Abweichungen, Unähnlichkeiten in der Entwickelungsgeschichte beider stammverwandten Völker erklärt.
Die folgenden Geschicke beider könnten nur insofern hier erwähnt werden, als sie die hier besprochenen Provinzen berühren, welche beide Völker abwechselnd beherrschten und um deren Besitz sie häufig kämpften. So besteht denn die Geschichte dieser Provinzen in der Geschichte dieser Kriege und der häufigen Kämpfe mit den Tataren, Kosacken, Türken, die abwechselnd hier einfielen, eroberten, siegten und besiegt wurden und den Boden mit Blut düngten. – Noch erinnern die Todtengebeine, die tatarischen Münzen und Waffen, die man hier und da beim Graben in der Erde findet, auch die hohen Grabhügel, die sich zerstreut auf der Ebene erheben, an jene rauhen Zeiten, die noch einmal wiederzukehren schienen, als das Waffengetöse der Napoleonischen Zeit sich bis hierher verbreitete und ein Theil der Armee des Welteroberers durch diese Provinzen seinem tragischen Geschick entgegenzog.
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Gleich der Vergangenheit bietet die Gegenwart ein buntes Bild, zusammengesetzt aus den verschiedenen Classen und Nationalitäten, welche die Bevölkerung bilden.
Die Bauern, die slawischen Urbewohner des Landes, sind der Grundstoff dieser Bevölkerung. Sie wiederum sind großentheils Kleinrussen, ein kecker begabter Menschenschlag, in dem sich wol griechische und tatarische Elemente mit einander mischten; man findet, besonders unter den Frauen, schlanke Gestalten, liebliche ovale Gesichter mit dunkelm Auge und Haar, regelmäßigen weichen Zügen, und auch unter den Männern manche Erinnerung an den Typus der Schönheit des
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17 Das Landvolk und dessen Verschiedenheit in Aussehen u. s. w.
classischen Landes; daneben aber hundert andere Gesichter mit niedriger Stirn, kleinen funkelnden Augen, breiten Backenknochen. Mannichfache Nuancen schon im äußern Ansehen dieser Bevölkerung werden durch die Nähe und Vermischung mit den Nachbarvölkern hervorgebracht. so erinnern die Bauern in Podolien an die ungarischen, walachischen Bauern, auch an die sogenannten Slowaken, die als Kesselflicker alle Länder durchziehen; sie haben wie diese einen halb wilden, halb melancholischen Ausdruck im Gesicht, wie diese träumerische Augen, durch die nur zuweilen ein Blitz von kindlicher Lust, von Intelligenz oder auch von List zuckt, und wie diese sind sie meist schmuzig und tragen die langen Haare und Bärte verworren und ungekämmt. Reinlicher, aufgeweckter, verständiger sehen meist die volhynischen Bauern aus, die mehr den polnischen und lithauischen gleichen. Den eigentlichen kleinrussischen Typus aber sieht man erst in der Ukraine, und Die, welche deren Bewohner genauer kennen, rühmen ihre geistige Begabung und körperliche Gewandtheit; sie sind geschickt für Alles – für Militärwesen, Handel, Gewerbe und finden sich in jedes Verhältnis. Talent für Musik, auch für plastische Kunst (besonders Holzschnitzerei) soll unter ihnen häufig sein. Sie haben die slawische Geschmeidigkeit, Elasticität, Fügsamkeit im vollen Maße, dabei aber auch als Contrast ein schnelleres Aufbrausen, einen heftigern Trotz als die Bewohner anderer Landestheile, und einen ihnen ganz eigenen Hang zur Unabhängigkeit, wie sich denn auch unter ihnen besonders mehre der Sekten, die im Schoose der griechischen Kirche entstanden sind, gebildet haben.
Auch findet man unter ihnen, als Zeugnis eines lebendigern Nationalgefühls, mehr Volkslieder als im übrigen Rusland; diese Lieder und ihre Melodien sind originell durch
Förster, Südrußland.
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18 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
ein gewisses Gemisch von Keckheit und Melancholie: die Liebe und der Krieg, das Mädchen und der Feind (dieser ist meist der Kosack), auch das Pferd – das liebe, kleine, sanfte, muthige u. s. w. Pferd, haben die Hauptrolle in den Liedern –; auch das Land, die weite grüne Ebene, in der das kleine weiße Häuschen der Geliebten am Waldrand schimmert, oder die sonnige Steppe, durch die das schnelle Roß des Kosacken fliegt, wird in kurzen Worten geschildert, und ein bewustloses kindliches Gefühl für Naturschönheit, für Analogie zwischen Natur- und Seelenstimmung tritt oft in lieblich poetischen Bildern und Vergleichen hervor. Der Mond und der Stern, die Quelle und die Nachtigall, die Rosenwolke des Frühlings und die Silberflocke des Winters – alle die Edelsteine aus der allgemeinen Schatzkammer der Poesie, welche alle Völker in ihre Lieder streuen, schmücken auch diese einfachen Gesänge. Größer aber als die Verschiedenheit, die dem oberflächlichen Beobachter kaum sichtbar sein kann, ist die Aehnlichkeit im Leben, Charakter und in der Sitte des Landvolks dieser Länder. Man kann alle diese Bauern als große Kinder betrachten; ihre guten und schlimmen Eigenschaften besitzen sie meist unbewußt, es gehen diese gerade aus ihrer Natur hervor, durch keine Art von Erziehung geweckt oder gehemmt, und die ursprüngliche Güte dieser Natur wird dadurch bezeugt, daß trotz des Mangels der Erziehung, selbst des ausführlichen Religionsunterrichts, selten Verbrechen und meist nur im Affect – in Trunkenheit oder Zorn geschehen. In diesen Provinzen existiren noch keine schulen *) und man findet nur wenige
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*) In den Dörfern des innern Rußland sind hier und da Schulen gegründet worden, auch ist der Sacristan in allen Dörfern verpflichtet, alle Die im Lesen und Schreiben zu unterrichten, die es zu lernen wünschen, und mehr und mehr solcher Lernbegierige sollen sich zeigen, mehr und mehr der Durst nach Kenntnissen erwachen.
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19 Charakteristik der Kleinrussen; Zustand der Bauern.
Dorfbewohner, die durch Zufall, beim Herren- oder Kirchendienst, etwas lesen und schreiben gelernt haben. Auch die Popen bekümmern sich weniger um die religiöse Erziehung des Volks als um die strenge Einhaltung der Feste, des Fastens und Beichtens. So besteht Das, was an geistiger Ueberlieferung dem Volke zukommt und sein Eigenthum wird, außer in jenen Volksliedern, in einer Anzahl von Gebeten, welche die Kinder von den Aeltern lernen und welche Jeder auswendig wissen muß, um an den kirchlichen Mysterien theilnehmen zu können. Es zeugt aber für die ursprüngliche Begabung dieses Volks, daß es trotz der geringen äußern Anregung so geistig lebendig ist. Wenn auch bei Manchen alle Religion fast nur im regelmäßig wiederkehrenden meist gedankenlosen Hersagen dieser Gebete, in der Theilnahme an kirchlichen Ceremonien und im Einhalten der vorgeschriebenen Fasten besteht, wenn sich auch viele abergläubische Ideen mit den religiösen Begriffen mischen (wie man z. B. keine Taube tödtet und ißt, weil man sie nicht blos als Symbol des Heiligen Geistes verehrt, sondern denselben dann und wann in einer solchen verborgen glaubt), so findet man doch Unzählige, denen jene äußern Formen ein Ausdruck für tiefes inniges Gefühl sind, die ohne Anleitung über religiöse Dinge nachdenken und solch Denken oft in lieblichen wahren Aussprüchen offenbaren. Die Gewissenhaftigkeit, mit der sie früh und Abend die langen Gebete stehend nach Osten gewendet hersagen, ohne sich je von Müdigkeit oder Zerstreuungen verhindern zu lassen; der Eifer, mit dem sie diese Gebete ihren Kindern lehren, die man früh ins kirchliche Leben einweiht und schon in den ersten Jahren am Heiligen Abendmahl theilnehmen läßt; die Strenge, mit welcher selbst Kinder und junge Dienstmädchen, vor denen sonst keine Näscherei sicher ist, während der langen Fasten nur Brot und Gemüse mit Oel genießen; der
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20 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Eifer, mit welchem sie sich während des Gottesdienstes bekreuzigen und vor jeder Kirche, jedem Crucifix am Wege die selben Zeichen der Verehrung wiederholen – Alles bezeugt, daß religiöse Gefühle tief im Herzen dieses Volks wurzeln. Ja man erkennt bei längerm Aufenthalte unter ihnen, daß diese Frömmigkeit leicht glühenden Enthusiasmus und religiösen Heldenmuth erzeugen kann und daß kein Volk so wie das russische bereit ist, für seinen Glauben Blut und Leben zu wagen. Jeder russische Bauer sieht sich als einen geborenen Soldaten des Herrn an. „Gott und der Zar!“ ist sein Feldgeschrei und jeder Krieg mit Fremden gilt ihm als heiliger Kampf für beide – für seine Religion und seinen Kaiser.
Das „heilige Rußland“ – so nennen die Russen ihr weites Vaterland, und es führt den Namen nicht mit Unrecht: der Gottgedanke heiligt rings die Erde; an allen Straßen und Feldwegen erheben sich Kreuze, die jeder Wanderer ehrerbietig grüßt; überall steigen die kleinen weiß und grünen Kirchen empor; ihre Glöckchen klingen zu allen Tagesabschnitten; Pilgerscharen durchziehen das Land und wandern aus weitester Ferne zu den heiligen Städten und Klöstern, besonders nach Kiew, dem slawischen Rom; Heiligenbilder sind der einzige Schmuck der armen Wohnungen, und eines derselben wenigstens leuchtet mit seinen grellen Farben und Goldverzierungen auch in der kleinsten Hütte aus einer Ecke des dunkeln Gemachs hervor. Tag und Nacht brennt eine Lampe vor diesem armen Bilde, daß jeder Eintretende mit dem Zeichen des Kreuzes und tiefem Verneigen begrüßt. Die Kirchen in Städten und Dörfern sind immer gefüllt, obgleich man während des stundenlangen Gottesdienstes stehen muß. Die Heiligenbilder und Crucifixe tragen die Spuren der glühenden Küsse, die ihnen die Andächtigen aufdrücken. Die großen
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21 Kirchliches Leben; religiöse Feste.
Feste, alle durch lange Fasten vorbereitet, werden mit Andacht und Fröhlichkeit begangen und manche weltliche Freude mischt sich mit der kirchlichen Feier. Zu Ostern und Weihnachten findet ein mitternächtlicher Gottesdienst statt, an dem jeder Stand und jedes Alter theilnimmt und der in den Hauptstädten mit großer Pracht gefeiert wird. Ostern ist das höchste Fest und wirft einen Freudenglanz auf die ganze Bevölkerung. Mit dem Ausrufe: „Cristos woskräs!“ („Christus ist erstanden!“) begrüßt, beglückwünscht, küßt man sich in den Straßen und Häusern, nicht blos unter Verwandten und Freunden, auch unter Herren und Dienern, Vorgesetzten und Untergebenen; mit demselben Ausrufe beschenkt man sich gegenseitig mit buntgefärbten, oft kunstreich bemalten und verzierten Eiern. In jedem Hause ist ein reiches Ostermahl bereitet, das aus verschiedenen nationalen Gerichten und hohen Kuchen mit kleinen Osterlämmchen besteht und vom Priester gesegnet ist, und jeder Glückwünschende, auch die Diener und die Armen müssen davon genießen. Zu Pfingsten schmückt man Kirchen und Häuser mit jungen Birken, pflanzt sie auch im Freien um die Kirchen. In den Städten finden in der Oster- und Pfingstwoche Volksbelustigungen auf freien Plätzen statt, wo sich die Menge um die Schaukeln, Carrousels und Musikanten drängt. Zu Pfingsten errichtet man die beliebten Schaukeln auch auf dem Lande. Man sieht sie in den Birkenwäldern schwanken, einfach aus den Stämmen junger Bäume oder aus schlanken Aesten gebildet. Die jungen Mädchen schweben in den lauen Sommernächten darin auf und nieder; ihre weißen Oberkleider und die hellen elastischen Birkenäste, um die sie die Arme schlingen, schimmern im Mondlicht zwischen dem dunkeln Waldgrün. Die jungen Burschen setzen die Schaukel in Schwung; Kinder und Erwachsene stehen ringsum und warten, daß auch an sie die Reihe komme. Der
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22 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Schlag der fernen Nachtigall mischt sich in das Lachen und Jauchzen, das die Frühlingsnacht durchtönt.
Auch im Sommer, im August, wird das Hauptfest der Jungfrau Maria durch große Fasten, viele Processionen, Pilgerfahrten und Gottesdienst feierlich begangen. Mitten im Winter aber glänzt ein anderes Hauptfest: der Tag der Taufe Christi, an welchem die Priester jedes Dorfes, die Geistlichkeit jeder Stadt in feierlichster Procession, von der ganzen Bevölkerung begleitet, zum nächsten Flusse ziehen, um das Wasser zu weihen. Unter einer aus Tannenreisern auf dem Eise errichteten Kapelle wird der Segen gesprochen und ein kolossales Kreuz in den starren Boden geschnitten, aus welchem sogleich das Wasser emporquillt, das die Menge mit Eifer schöpft und das ganze Jahr bewahrt und heilig hält.
Doch nicht blos religiöse Gefühle, auch warme treue Gefühle für Menschen leben im Herzen dieses unerzogenen Volks; Kinder- und Aelternliebe, Mitleid für Arme, Treue für ihre Herren. Nicht blos die Frauen, auch bärtige, rauh aussehende Männer pflegen, tragen, liebkosen die kleinen Kinder, ihre eigenen wie die fremden. Ueber die großen Kinder herrschen die Aeltern mit Strenge und erfahren den unterwürfigsten Gehorsam. Die Liebe innerhalb der Familie ist groß und bei Trennungen fließen heiße Thränen; beim Wiedersehen aber gibt es Umarmungen und Küsse ohne Ende. Abwesende Diener und Soldaten verwenden oft den größten Theil ihrer kleinen Einnahmen, um den Ihrigen Geschenke zu schicken, und tagelange Fußreisen macht man in Kälte oder Hitze, um die Seinigen für kurze Zeit wiederzusehen.
Jede Heirath, jeder Todes- oder Krankheitsfall, jede Ankunft oder Abreise u. s. w. erregt das allgemeine Interesse und wird in jeder Hütte besprochen. Die äußern Zeichen der Freundschaft sind weit lebhafter als bei uns; bei hohen Festen,
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23 Besondere Eigenschaften der Bauern; Familiensinn.
Trennungen, Wiedersehen, umarmt und küßt sich Alles, und auch die Mädchen bieten offen und unbefangen den jungen Burschen ihre Wangen dar und küssen sich mit ihnen ernst und feierlich rechts und links wie nach einer vorgeschriebenen Regel.
Eine große Weichheit ist im Charakter dieser Bauern; der geringste Anlaß, eine traurige Erzählung, ein Abschied u. s. w. entlockt ihnen Thränen, und man kann bei einer solchen Gelegenheit selbst rauhe Männer von herculischer Gestalt mit langen wilden Haaren und Bärten wie Kinder weinen sehen. Neben dieser großen Erregbarkeit findet sich ein Zug von Resignation. Nicht blos bei einem von Gott verhängten Geschick, bei Krankheiten, Todesfällen u. s. w. verstummt die heftigste Klage bald und macht ruhiger Fassung Platz; auch im täglichen Leben, im Benehmen der Diener und Bauern gegen ihre Herren, kann man solche rasche Ergebung in einen stärkern Willen bemerken. Einen Augenblick vielleicht kämpft die innere freigeborene Natur mit dem Zwange der Verhältnisse, aber schnell legt sich dieser plötzliche Wellenschlag des Gemüths – man vergist was nicht zu ändern ist, fügt sich in das Unvermeidliche und erträgt es nach kurzem Klagen oder Murren mit Lachen und Scherzen. Der Gleichmuth und die Klaglosigkeit, mit welcher russische Bauern schwere Körperstrafen erleiden, ist von Andern viel erwähnt worden. Den selben Gleichmuth bewahren sie gegenüber der größten Gefahr, und am Rande des Todes selbst können sie noch ein philosophisches „Nitschevo“ („Es ist nichts!“) sich und ihren Unglücksgefährten zurufen. Der zum Soldaten bestimmte Bauer, der heute noch mit den seinen klagt, sieht morgen schon, wenn er einmal den Soldatenrock anhat, ganz zufrieden darin aus und lacht schon übermorgen mit den Kameraden.
Mit dieser Ergebung hängt das schnelle Vergessen einer
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empfangenen Beleidigung oder Strafe zusammen. Beispiele von Rache sind höchst selten. Nach härtester Züchtigung begegnen die Diener ihrem Herrn, als sei nichts vorgefallen, sind freundlich, dienstwillig, liebkosen seine Kinder wie früher. Hundert Fälle könnte man zum Beweise eines so schönen christlichen Vergebens anführen.
Wie groß bei ihnen das Organ der Ehrfurcht sein muß, zeigt sich nicht blos bei ihren religiösen Uebungen und in ihrem Benehmen gegen Höhere, sondern auch in dem gegen alle alten Leute, welche im Dorfe ein fast patriarchalisches Ansehen haben. Eine Art von verehrender Scheu zeigen sie auch gegen Geisteskranke und Blödsinnige, die sie pflegen und versorgen und ansehen wie von der Hand Gottes besonders gezeichnet.
Zu den schönen menschlichen Gefühlen, die so ursprünglich im Herzen dieses Volks leben, gehört vor allem die schon erwähnte große Heimatsliebe. Wenn sie in der Ferne von ihrem Dorfe sprechen, dann leuchten ihre Augen und man fühlt, daß sie es für den schönsten Ort der Welt halten. Den Militär und Herrendienst scheuen sie besonders darum, weil er sie ihrer Hütte, vielleicht auch weil er sie dem dolce far niente darin entführt. Wohin dieser Dienst sie auch versetze – in schönere Gegenden, große Städte – immer gehen ihre Gedanken in die Heimat zurück, und der Tag, der sie wieder zu ihr bringt, ist ihr Glückstag und macht sie schnell wieder zu Dem, was sie waren, ehe sie die Hütte verließen. Wie sich der Soldat im bunten Militärleben gefallen mochte, wie der Diener eitel auf eine glänzende Livrée war und alle Feinheiten der Toilette und des täglichen Lebens seiner Herren kennen und nachahmen gelernt und sich an manche Zerstreuung großer Hauptstädte gewöhnt hat – alle diese neuen Gewohnheiten weichen vor den alten, die ihn in seiner Hütte
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25 Zufriedenheit; Frohsinn.
empfangen, in deren Rauch und Schmuz er sich wohlfühlt wie vordem.
So findet man auch unter den niedern Classen der Russen seltener als unter den unserigen jenes Beneiden der Güter und Bequemlichkeiten der Reichen; ja selbst jenes neugierige und verlangende Staunen, mit dem unsere Landbewohner häufig die Luxusgegenstände vornehmer Häuser betrachten, bemerkt man bei ihnen fast nie; sie bewundern mit verlangenden Blicken nur die bunten Bänder, die Ketten, Kreuze, rothen Schuhe, den bestickten Kaftan und andere solche Dinge, die in ihren eigenen kleinen Lebenskreis gehören.
Dieses Volk kennt noch nicht die Krankheit des übrigen Europa: das ewige Ringen nach mehr und mehr von den materiellen Gütern des Lebens, das heftige Drängen nach Vorwärts auf der Stufenleiter der Gesellschaft, die Eifersucht und Ungeduld – alle die bittern Früchte der Civilisation, die neben ihren heilsamen Früchten reifen und deren Genuß seit Adam Tausende aus dem Paradiese der Freude und des Friedens getrieben hat. Ruhig genießen diese Bauern Das, was ihnen das Leben schenkte und machen sich ihre Hütte nicht enger noch dunkler durch den Gedanken an den Palast des Reichen. Während bei uns die Leute aus untern Classen auf die Frage, wie es ihnen gehe, oft mit einer Klage, einem Wunsche des Besserwerdens antworten, erwidern die russischen Bauern meist bei solcher Gelegenheit fröhlichen Gesichts: „Slawa Bogu“ („Gesegnet sei Gott“), „Es geht gut“, „Ich bin wohl“ u. s. w.
Das Kind der Zufriedenheit ist die Fröhlichkeit; diese Bauern sind das vergnügteste Volk der Welt, immer bereit zum Lachen, Gesang und Tanz. Nichts quält sie lange, der Zorn legt sich bald, die Thränen trocknen schnell; aus jeder Arbeit machen sie eine Unterhaltung und thun sie con amore,
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26 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
unter Lachen und Scherz, gar nicht wie man sich Leibeigene arbeiten denkt. Ein freundliches Wort, eine kleine Gabe macht ihre Gesichter vor Lust glänzen. Auch eine Ader von Humor findet man unter ihnen und hört sie zuweilen in kurzen Worten sehr witzige treffende Bemerkungen aussprechen. Mit dieser zufriedenen Sinnesart hängt freilich auch der Hang zur Bequemlichkeit und zum Müßiggang zusammen. Nur wenige treibt der Wunsch, ihre Lage zu verbessern, zu irgendeiner Anstrengung. Das Nothwendige und von Kindheit an Bekannte genügt nicht; und wenn sie sich das verschafft haben, dann denken sie nicht mehr an Arbeit, nur an Genuß.
Ihre Genüsse freilich sind sehr einfacher Art, und wenn man die Stufe der Civilisation, auf der ein Volk steht, eher nach seinen Vergnügungen, die eine freie Bethätigung seines Willens, ein ungezwungener Ausdruck seiner innersten Neigungen sind, als nach seinen Beschäftigungen ermessen wollte, welche mehr oder weniger von Zwang und Nothwendigkeit geboten werden - dann sehen wir diese Bevölkerung ziemlich niedrig auf jener Stufenleiter stehen: ihre liebste Erholung ist der Schlaf; ihm wird der größte Theil der Feiertage gewidmet; auch an Werktagen, wenn die nötigste Arbeit gethan ist, werfen sie sich in seine Arme, die sich überall für sie öffnen und denen kein Lärm sie entreißt, sodaß geräuschvolle Corridore und belebte Straßen ihnen angenehme Ruhestätten bieten können. Diese süße Selbstvergessenheit, oder auch diese dumpfe Gedankenlosigkeit, die sie im Schlafe finden, schöpfen sie aber auch aus andern Quellen, besonders aus der des Branntweins. Der Trunk bildet einen andern ihrer Lieblingsgenüsse, sodaß man nicht blos Männer, sondern häufig auch Frauen im traurigsten Zustande der Welt sieht und daß die Boutschniks (die Straßenaufseher in den Städten) viel beschäftigt sind, Betrunkene in ihre kleinen Wachthäuser am
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27 Erholungen und Vergnügungen der Bauern.
Wege aufzunehmen. Obgleich fast alle Verbrechen durch die Trunkenheit veranlaßt werden, obgleich diese die Bauern häufig tagelang unbrauchbar zur Arbeit macht, thun die Gutsherren doch nichts gegen das Uebel, durch das ihre großen Branntweinbrennereien, welche die jüdischen Wirthe der Kartschmas versorgen, so gewinnreich sind.
Eine immer neugefüllte Branntweinflasche, die von Einem zum Andern geht und aus der Männer wie Frauen volle Züge thun, und eine elende Violine, das sind die Hebel der Fröhlichkeit bei allen Festen. Musik darf niemals fehlen – aber welche Musik! kaum kann man den schönen Namen den schrillenden Tönen geben, die dem uneingeweihten Hörer wie Jammerlaute klingen, den eingeweihten aber zum Tanze beleben, der freilich ebenso roh und regellos ist wie diese oft fast rhythmuslosen Klänge, und meist nur in einem wilden Hin- und Herspringen besteht, das je wilder wird, je länger die Branntweinflasche umhergeht. Dennoch fehlt ihnen der Sinn für gute Musik nicht und sie können einer solchen stundenlang begierig und entzückt lauschen; auch gibt es schöne Stimmen; man hört die Volkslieder mit Ausdruck singen, und diese Lieder selbst haben originelle Melodien, besonders im eigentlichen Kleinrußland und in den an Polen grenzenden Landstrichen, wo sie meist in der aus süßer Melancholie und feuriger Keckheit gemischten Cracoviennemelodie ertönen.
Tiefer im innern Rußland erklingen die schwermüthigen weichen Töne der zitherartigen Balalaika zur Begleitung anderer eigenthümlicher Volkslieder. Wie groß das Talent für Musik überhaupt unter den Russen ist, sieht man aus den Orchestern und kleinen Kapellen, die sich die reichen Gutsbesitzer aus ihren Bauern und Dienern bilden und die sogar oft classische Musikstücke gut und correct vortragen, und an der trefflichen Militär-, besonders der weltberühmten Hörnermusik,
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28 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
welche von Soldaten, die nur kurze Zeit in der Behandlung ihres einen Instruments unterrichtet wurden, mit einer Präcision und Uebereinstimmung ausgeführt wird, wie man sie sonst nur an langgelehrten Musikern findet. Freilich ist der Prügelstock oft der Zauberstab, der die verborgenen Talente so schnell zutage fördert und einen ungelehrten Bauerknaben in wenig Monaten in ein brauchbares Orchestermitglied verwandelt, das keine Note und keinen Taktstrich versteht.
Doch jener Zauberstab, ja blos der Gedanke an ihn thut noch andere Wunder: er hilft die angeborene Trägheit überwinden, und wenn der Russe einmal die Arbeit angegriffen hat, thut er sie schnell und vortrefflich. Ueberhaupt ist dieses Volk, hat es einmal die ihm natürliche Bequemlichkeit besiegt und gelernt ein wenig über seinen Zustand hinaus zu denken, zu Allem tüchtig. Mit größter Schnelligkeit lernt es die Handgriffe der verschiedenen Handwerke; ein in ihm schlummernder Speculationsgeist, einmal geweckt, bahnt schnell die Wege zu reichem Erwerb, und es gibt hundert Fälle, wo Bauern durch glückliches Handeltreiben Millionäre geworden sind und sich durch Verheirathungen u. s. w. den vornehmsten Familien des Landes zugesellt haben. Doch auch in anderer Weise haben sich Unzählige von den niedrigsten Stufen der Gesellschaft emporgearbeitet und mancher General, mit Orden und Ehren geschmückt, erblickte das Tageslicht in der Hütte des Leibeigenen. Selbst die Poesie tritt dann und wann durch die dunkle Pforte und erweckt hohe Gedanken und stolze Träume in den Herzen der Niedriggeborenen und führt sie bis auf die Sonnenhöhen des Lebens, wo sie ihre Stirnen mit Lorber krönt. Manche russische Dichter, wie Lomonossow, der Sohn eines Fischers am Weißen Meere, Koslow, der Sohn eines Hirten, wurden unter niederm Binsendach geboren.
So ist der Leibeigene kein Paria; sein Stand trennt ihn
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29 Verhältnis der Bauern zu ihren Herren.
nicht für ewig von einem andern; nicht unauflöslich ist er an seinen Herrn, seine Scholle gefesselt; er kann frei werden, er kann die Wege finden und gehen, auf denen man Das, was man die Schätze des Lebens nennt – Rang, Reichthum, Ruhm – gewinnt. Der Gedanke, daß alle diese Millionen Bauern Leibeigene sind, ist so traurig und quälend für den Menschenfreund, daß man es ihm verzeihen muß, wenn er sich selbst zum Troste die freundlichern Seiten dieses Zustandes aufsucht, den man mit Unrecht oft dem der Sklaven im so genannten Lande der Freiheit vergleicht, welche kein Gesetz vor der Willkür ihrer Herren schützt, welche außer der Gesellschaft stehen, keine Heimat haben und wie Waaren verkauft werden.
Die russischen Leibeigenen nennen ihren Herrn „Vater“; er nennt sie „Kinder“; das schon zeigt, in welcher Weise das Verhältnis, wenigstens großentheils besteht. Leider gibt es Ausnahmen genug; aber neben den Beispielen von übertriebener Strenge und Härte sieht man häufig ein patriarchalisches Verhältnis zwischen den Bauern und Herren und besonders zwischen diesen und ihren leibeigenen Dienern bestehen. sie nehmen theil am Glück oder Unglück der Familie, als deren Glieder sie sich betrachten, wie sie denn auch die Kinder des Hauses meist „Unser Kind“, „Unser Dimitri“, „Unser Nicola“ u. s. w. nennen. Ihre an solche Theilnahme gewöhnte Herrschaft macht sie meist mit allem Wohl und Wehe des Hauses bekannt und verbirgt ihre Freude und ihre Thränen nicht vor ihnen. Aber auch für ihre eigenen Kümmernisse, ihre Krankheit, ihre Verluste, für ihre Vergnügungen und ihren Putz interessirt man sich und bezeigt ihnen die Theilnahme, die man allerwärts für treue Diener hat. Der Herr weiß, daß sie ihm und seinem Hause gehören und darin bleiben werden; darum hat er für sie natürlich ein größeres Interesse
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als für gemiethete Diener; darum auch erträgt er weit geduldiger ihre Fehler, sucht sie zu bessern, zu erziehen, für den Dienst tauglich zu machen; in der Krankheit läßt er sie sorgsam pflegen und erhält sie bis zum Tode, auch wenn sie das Alter unbrauchbar macht. Sie ebenfalls wurzeln fest in dem Hause, in dem sie aufgewachsen sind und aus dem sie keine Gebrechlichkeit entfernt. Sie leben sorgloser, fröhlicher in den Tag hinein als unsere Diener, die nicht wie sie ihres Unterhaltes bis ans Ende sicher sind. Ihr Lachen, Schwatzen, Singen durchtönt das ganze Haus und die große und unnöthige Zahl der Diener macht die Arbeit jedes einzelnen sehr gering und läßt ihnen nur zu viel Zeit zum Müßiggehen, Vergnügen und Schlafen. Dem letztern Genusse besonders geben sie sich am meisten und auf jeder beliebigen Stelle hin. Auch in der Nacht ruhen sie so nomadenhaft, da sie keine Betten (ein Luxus, den kein Bauer dieser Gegend kennt), ja selten einen bestimmten Wohnraum haben.
Das Verhältnis zwischen den Herren und Bauern bekommt auch dadurch einen patriarchalischen Anstrich, daß die Letztern jene nur mit ihren Vornamen, dem der des Vaters beigefügt ist, benennen: z. B. Alexander Iwanowitsch –Alexander, Sohn des Iwan; Maria Petrowna – Maria, Tochter des Peter u. s. w., und daß sie jeden Titel weglassen.
Dieses Verhältnis, das die Bauern selbst nicht als drückend, sondern als natürlich ansehen (Gott, dem Zar und ihrem Herrn dienen, erkennen sie als Inbegriff ihrer Pflichten und ihre Bestimmung auf Erden), haben mehre neuere Gesetze noch günstiger für die Unterthanen gestaltet, welche durch dieselben für eine künftige Freiheit vorbereitet werden sollen. Solche Gesetze sind z. B. folgende: Jeder, der eine gewisse Zahl Jahre Soldat war, ist frei; ebenso seine Frau. Kein Herr kann Dem die Freiheit verweigern, der sich loskaufen will, oder vielmehr,
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31 Pflichten der Herren gegen ihre Unterthanen.
der das Land, das er vom Herrn erhält und für dessen Besitz er ihm dient, diesem abkaufen kann. Den Preis also, den er zu zahlen hat, zahlt er nicht für sich selbst, nicht für den Menschen, sondern für den Grund und Boden, der ein Theil von seines Herrn Gut ist. Der Bauer gehört zum Gute und kann nicht ohne dasselbe, nicht einzeln als eine Art von Waare verkauft werden; ebenso kann man das Gut nicht ohne ihn verkaufen. Niemand kann ihn aus seiner Hütte treiben, ihm sein Feld nehmen; er und seine Nachkommen sind für immer des Besitzes sicher.
In theurer Zeit ist der Gutsherr verpflichtet, nicht nur Getreide und Kartoffeln, sondern auch Korn zur nächsten Aussaat zu vertheilen. Eine Vernachlässigung dieser Pflicht wird streng, ja ist ein Todesfall durch Hunger bewiesen, mit sibirischem Exil bestraft. So müssen auch die Abgaben, die in jeder Provinz verschieden sind und sich nach dem Ertrag des Bodens und der Arbeit, die außerdem geleistet wird, richten, zur Zeit des Mangels erlassen werden, ganz verschieden von dem Verfahren in Irland z. B., wo man die Landleute, wenn sie in theurer Zeit unvermögend zur Bezahlung der Abgaben sind, von Haus und Hof vertreiben und dem Elende preisgeben kann. Auch die Strafen werden von der Regierung überwacht. Wegen einer ungerechten oder zu harten Strafe darf der Bauer den Herrn verklagen und dieser wird zu strenger Rechenschaft gezogen, ja hat in solchem Falle oft monatelang eine Gerichtscommission zu unterhalten, welche die Behandlung seiner Unterthanen beaufsichtigen soll, und muß, ist sein Unrecht erwiesen, die Direction seiner Güter der Regierung überlassen. Die Zahl der Wochentage, an denen der Leibeigene für seinen Herrn arbeiten muß, ist fest bestimmt und alle Arbeit, die außerdem geschieht, muß bezahlt werden.
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32 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Als das Traurigste der Leibeigenschaft erscheint uns übrigen kosmopolitischen Europäern, die gern das Weltall als ihr Reich betrachten und nur zu rastlos umherschweifen, dieses Gebundensein an die Scholle, diese Unmöglichkeit, die Heimat zu verlassen, das Eigenthum mit einem fremden zu vertauschen; sie ist aber für dieses Volk, das fester als irgend ein anderes an seiner Scholle hängt und selten den Wunsch hat, sie zu verlassen, nichts Trauriges, sondern seiner Natur gemäß. Selten blicken diese Bauern über ihre Hütte, ihr Dorf, noch seltener über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus; sie halten dasselbe für das schönste, glücklichste Land der Welt und erwähnen fremde Länder nur, um sich zu erzählen, daß Gott deren Bewohner nicht liebe wie sie, sondern ihnen hohe Berge hingesetzt habe, sodaß sie mit großer Mühe und spärlich nur ihre Nahrung gewinnen könnten, während er für sie die schöne Ebene, wo das Getreide so lustig wachse und sich so leicht säen und ernten lasse, ausgebreitet habe. Doch suchen und erhalten auch sie häufig die Erlaubnis ihrer Herren, in der Ferne zu dienen, oder Handel und Handwerke zu treiben, und in den großen Hauptstädten sieht man leibeigene Bauern aus allen Gegenden des Reichs, die als Lohnkutscher, Diener, Handwerker, Kaufleute da leben und oft Reichthum und neben bei großstädtische Bildung erwerben. Ebenso bezeugen die zahllosen Pilger, die oft von einem Ende des Reichs bis zum andern ziehen, ja die zuweilen Reisen nach Jerusalem unternehmen und mit denen jeder Wallfahrtsort und besonders die heilige Stadt Kiew überfüllt ist, daß diese Bauern nicht so unlösbar wie man glaubt an ihre Scholle gefesselt sind.
Alles was zum Leben, zur Nahrung, Kleidung u. s. w. dieses Volks gehört ist einfach, primitiv gleich ihm selber. Die Hütten, aus Lehm gebaut, sind niedrig und klein, haben hohe, weit hervorstehende Strohdächer, enge Fensteröffnungen
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33 Leben der Bauern. Die Hütten und deren Umgebung.
mit trüben Glasscheiben, sodaß es im Innern dunkel und oft ziemlich schmuzig ist, da in dem einen kleinen Raume große Familien (zuweilen auch das Federvieh und junge vierfüßige Thiere) wohnen und schlafen, wozu sie ihre Pelze auf dem hockerigen Fußboden, den Bänken oder auf dem großen Ofen ausbreiten, der Sommer und Winter eine dem Fremden unerträgliche Hitze ausströmt. Das Fenster sieht man auch im Sommer niemals offen; nur durch die Thür dringt frische Luft in den Raum, den am Abend angezündete Kienspäne oder Eichenäste erhellen, welche den Dampf und Dunst im Gemach erhöhen. Von außen sehen die Hütten blendend rein aus, da sie jede Woche von neuem weiß angestrichen werden, was meist die Frauen besorgen, die überhaupt den größten Theil der häuslichen Arbeit statt ihrer so gern schlafenden und trinkenden Männer verrichten. *) Einige Kühe, Schafe, Schweine, Ziegen gehören auch zu der ärmsten Dorfwirthschaft und die Ställe für diese Thiere liegen dicht neben der Hütte, sind roh zusammengezimmert und so klein und niedrig als möglich, und neben ihnen erhebt sich der schon erwähnte Getreidethurm. Der poetische Blumen- und Rebenschmuck unserer Bauernhäuser fehlt ganz, obgleich die Bauermädchen sich so gern das Haar mit Blumen zieren; einige derselben schimmern hier und da in den Gärten wie verirrt zwischen den breiten Kürbis- und Arebusenblättern, dem hochstieligen Mais und den saftiggrünen Kohlköpfen, unter denen sich nur die buntglühenden Mohnkelche in Masse wie heimisch erheben. Reich an jenen Vegetabilien und an verschiedenen Obstbäumen sind die ziemlich großen Gärten, die sich an jede
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*) Außerdem spinnen sie viel, außer für den eigenen Bedarf auch bestimmte Quantitäten Garn und Zwirn für die Herrschaft. In manchen Dörfern werden Decken und allerhand Zeuge gewebt.
Förster, Südrußland.
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Hütte schließen und von einem Zaun umgeben sind, der sehr ordentlich und tüchtig aus Birken- oder Weidenruthen zusammengeflochten ist. Ebenso rein und ordentlich sieht es meist auf dem Raum vor den Hütten und in den breiten Dorfstraßen aus *), und der Schmuz und die Unordnung, die man sich häufig als unzertrennlich von slawischen Ortschaften denkt, ist eigentlich nur in den von Juden bewohnten kleinen Städtchen sichtbar.
So wäre eine Wanderung durch diese oft sehr großen und weit über die Ebene oder die Hügel oder an der Länge eines schönen Sees hingebreiteten Dörfer mit ihren weißen Hütten und grünen baumreichen Gärten sehr angenehm, wenn man nicht unaufhörlich in Gefahr wäre von den bösen wolfsartigen Hunden, deren einer jede Hütte bewacht, angefallen zu werden. Nur mit Stöcken bewaffnet kann man sich in ihre Nähe wagen. Wenig sieht man in den Dörfern von dem Kinderjubel, den Kinderspielen, welche die unsern beleben; die kleinen Kinder sitzen und hocken in ihren groben Hemdchen in Haufen beisammen und scheinen wenig Erfindungsgeist für Spiele zu haben; die größern arbeiten schon, hüten das Vieh u. s. w., und benutzen wie die Erwachsenen die übrige Zeit gern zum Schlafen.
Jedes Dorf hat seine Kartschma, sein Wirthshaus, meist freigelegen und oft ein ganz hübsches, freundliches, vom Gutsherrn angelegtes Gebäude, dessen Vorderseite ein Gemach für die vornehmern Gäste, die übernachten wollen, und eins für die sonntäglichen oder hochzeitlichen Lustbarkeiten der Bauern enthält, und in dessen langen Seitengebäuden die zur Aufnahme der Pferde, Fuhrleute und Bauern bestimmten Räume sich
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*) Außer zu der Regenzeit, wo sie fast ungehbar und unfahrbar sind.
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35 Die Kartschmas. Kirchen; Begräbnis u. s. w.
befinden. Außer dem Futter für die Pferde kann man hier eigentlich nur Brot und Branntwein (in den ganz russischen Dörfern wol auch den bierähnlichen Kwas) erhalten; der Schenkwirth ist meist ein Jude und nimmt den Branntwein aus der Brennerei des Gutsbesitzers, der ihm die Kartschma verpachtete, und Beiden gereicht die schlimmste Leidenschaft des Volks zum Gewinn. Ein buntes Gewimmel ist oft in solcher Kartschma. Neben den vornehmen Reisenden: polnischen Gutsbesitzern, russischen Generalen, sieht man theerdurchduftete Bauern oder Fuhrleute, Handelsjuden, die Waaren oder Pferde zum Verkauf umherführen, durchmarschirende Soldaten, die zu kurzer Rast eingekehrt sind und oft eine Zahl Gefangene mit sich führen, wilde Gestalten, welche draußen unter strenger Bewachung sich gelagert haben. Fast in jedem Dorfe ist ein Haus zur Aufnahme kranker, bei der Cantonnirung oder dem Durchmarsch zurückgebliebener Soldaten bestimmt. Außerhalb des Dorfes oder in seiner Mitte auf einem Hügel oder freien Platze erhebt sich die meist hölzerne weiß angestrichene Kirche mit ihren drei grünen Kuppeln, daneben steht der Glockenthurm mit ähnlicher Kuppel und nahebei liegt der Kirchhof mit seinen buntbemalten Kreuzen; gleich diesen Kreuzen haben auch die Begräbnisse einen weniger düstern Charakter als bei uns; der meist offene Sarg ist bunt bemalt, oft von buntem Baldachin überragt, und die Priester folgen in farbigen Gewändern mit bunten Standarten und Heiligenbildern; oft liegt auf dem Sarge ein Brot und Salz, auch wol eine Münze – ein Rest uralter heidnischer Gewohnheiten.
In den Hütten der Bauern finden sich wenig Geräthe; der ungeheure, auch im Sommer geheizte Ofen nimmt den meisten Raum ein; ein hölzerner Tisch und einige Bänke stehen daneben. Ein paar hölzerne Löffel, einige irdene Schüsseln, Töpfe, einige Krüge von ganz classischer Form, pompejanischen
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Krügen ähnlich, bilden die Küchengeräthe; die Sauerkohlsuppe, der grobe Grütze, der Kwas, aus gegohrenen Brotrinden bereitet, und ganz schwarzes grobes Brot, das oft mit Zwiebeln genossen wird, sind die vorzüglichsten Nahrungsmittel. Ebenso einfach ist die Kleidung: die Männer tragen im Sommer Kaftane von grauem oder braunem groben Friestuch mit langen weiten Aermeln und einer Kapuze, die sie bei Regen über den Kopf ziehen und so das Ansehen von Mönchen haben; im Winter ziehen sie über diesen oft buntausgenähten Rock noch einen dicken Schafpelz an, dem ein breitübergeschlagener wolliger Kragen ein noch wärmeres Ansehen gibt; um den Leib schlingen sie eine rothe wollene Schnur oder Schärpe, und eine hohe Pelzmütze und große Pelzstiefeln vervollständigen den Winteranzug. Auch die Frauen, deren Anzug dem der Männer fast ganz ähnlich ist, tragen im Winter solche Männerstiefeln; außerdem ist die Fußbekleidung sehr primitiv: Frauen und Männer umwickeln sich die Füße mit alten Stücken Zeug oder tragen Sandalen aus Holz oder Bastgeflecht, die mit Bindfaden an die Füße gebunden sind und denen gleichen mögen, welche der göttliche Sauhirt Homer's trug. Nur an sehr festlichen Tagen tragen die Mädchen ein Mieder und einen bunten Rock mit Band oder Goldborden verziert unter dem Kaftan. Auch an den polnischen Bauer- und Bürgermädchen sieht man solche farbige Oberkleider aus Kattun oder Wollenzeug. Unter einem groben grauen oder weißen Leinentuch verbergen die Frauen ihr Haar und dürfen es nie unverhüllt zeigen; die Mädchen aber tragen es frei und in Zöpfen, welche um den Kopf gelegt und mit Bändern durchflochten, auch im Sommer mit vielen Blumen besteckt sind. Den Hauptschmuck aber bilden die bunten Bänder, deren sie eine Menge hinten am Haar befestigen und lang über den Rücken herabhängen lassen. Auch Ketten von
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37 Kleidung der Bauern; ihr Putz, Brautanzug u. s. w.
Glasperlen, an denen oft Kreuze oder kleine Heiligenbilder befestigt sind, tragen sie gern um den Hals geschlungen. Die festlichsten Kleider, Blumen, Bänder legt vor allem ein Brautpaar an, wenn es der Landessitte gemäß einige Tage vor der Hochzeit zu dem Herrn und zu allen Verwandten und Bekannten im Dorfe geht, um sie um Erlaubnis und Segen zur Heirath zu bitten. Es sieht hübsch aus, wenn sie an der spitze eines langen Zuges Hand in Hand herankommen, Beide in den faltigen offenen Kaftanen, die Braut mit den langen flatternden Bändern im aufgelösten fliegenden Haar, der Bräutigam mit einem großen Blumenstrauß, der am Kaftan befestigt ist. In feierlich demüthiger Weise drücken sie ihre Bitte um Segen aus, indem sie sich nicht blos vor dem Herrn und jedem Gliede seiner Familie, sondern auch vor den Dienstleuten und allen den Dorfbewohnern, die sie besuchen, drei mal auf die Knie werfen und wiederholt die Gewänder Derer küssen, denen sie solche Ehre erweisen.
Dabei werden symbolische Gaben vertheilt: kleine viereckige Stücken Leinenzeug oder weiße Tücher, Brot, Salz und grüne Zweige. Diesem Umgange des Brautpaars, der sich am Hochzeittag, gleich nach der Trauung, wiederholt, schließen sich außer den Dorfbewohnern einige Musikanten an und vor jeder Hütte erklingt die Geige und tanzt man in lustigen Sprüngen, am längsten im Hofe des Herrenhauses, wo die Vertheilung von Kwas oder Branntwein die Fröhlichkeit erhöht, die endlich ihre lebhafte Fortsetzung in der Kartschma findet.
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Auch Bauern aus dem innern Rußland sieht man viel in diesen Provinzen, wo sie als Fuhrleute, als Maurer, Zimmerleute sich ihr Brot verdienen oder verschiedenen Handel treiben. Von den einheimischen Bewohnern unterscheiden sie sich
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38 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
in ihrem Aeußern ebenso wie die nördlichen Einwohner an derer Länder von den südlichen. Ihre Haare, ihr Bart, beides kürzer geschnitten als bei den Kleinrussen, sind hell, ihre Augen blau, die Gesichtsfarbe roth und frisch, der Ausdruck offen, fröhlich, verständig. Sie sehen weit civilisirter als die südlichen Bewohner aus und machen einen weit gemüthlichern heimatlichern Eindruck als jene fremdartigern Erscheinungen mit den verwilderten dunkeln Bärten und Haaren, den bräunlichen oder bleichen Gesichtern, dunkeln blitzenden, oder blassen träumerischen Augen. Der Fleiß jener nördlichen Bauern soll größer, ihre Leidenschaft für Schlaf und Trunk kleiner sein als die der südlichen Bevölkerung. Sie sind immer fröhlich und man wird heiter durch den Blick auf ihre frischen, muntern, guten Gesichter. Sie singen bei jeder Arbeit mit heller Stimme und auch ihre Lieder klingen fröhlicher als die der südlichen Bewohner. Man fühlt, daß ihre Vorfahren nicht in dem Maße wie die der Südrussen von der Despotenherrschaft der mongolischen Eroberer berührt wurden und daß sie in den Jahrhunderten, wo jene vom Joche niedergebeugt waren, fröhlich, unvermischt mit Fremden in ihren weiten Wäldern lebten. Sie zeigen in jedem Gespräch einen natürlichen gesunden Verstand. Unter den Kaufleuten in den Städten, deren große Redlichkeit allgemein bekannt ist und die sich untereinander die größten Summen ohne Schein anvertrauen, gibt es viele Bauern aus dem Innern. In ihren Gewölben ist Alles sauber, ihre Waaren sind gut, sie selbst höchst beweglich bei ihrem Handel und gefällig und gesprächig mit ihren Käufern. Oft springen sie aus ihren Läden, um die Vorübergehenden anzuhalten und zum Kaufen zu laden. Ihre Tracht und die der reichern Bauern gleicht dem Sonntagsstaat unserer Landleute; ebenso rein und nett ist der Anzug ihrer Frauen, dessen Haupttheil in einer Art Kassawaika,
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39 Großrussische Bauern; ihr Aeußeres; ihr Charakter u. s. w.
einer buntseidenen Jacke mit langen weiten Schößen und breitem übergelegten Kragen besteht; dazu kommt eine runde glatte Haube von buntem Zeug und ein weiter faltiger, meist seidener Rock. Die Fuhrleute – Yämtschiki – tragen rothe leinene Hemden, über welche zierliche schwarze Sammetwesten gezogen sind, schwarze weite Pantalons und kleine schwarze aufgekrämpte Hütchen mit einer Feder oder einem Blumenstrauß geschmückt; sie singen und pfeifen den ganzen Tag und sprechen zärtlich mit ihren Pferden. Sehr malerisch ist die eigentliche Tracht der russischen Bäuerinnen aus dem Innern, welche die von dort kommenden Herrschaften als Dienerinnen, Kinderwärterinnen begleiten. Sie tragen weite bunte, mit breitem Sammet- oder Goldband besetzte Röcke, bunte oder schwarze Mieder und ein Unterhemd mit weißen weiten Aermeln; das Haar hängt in zwei langen, mit buntem Band durchflochtenen Zöpfen über die Schultern herab und um die Stirn tragen sie den nationell-russischen Kopfputz – Kakoschnik oder Pawownik, eine Art von Krone oder Diadem mit buntem Seidenstoff überzogen und mit Gold- oder Silberborde verziert. Diese Großrussen sprechen ein reines Russisch, während die Kleinrussen und die Volhynier und Podolier eine aus Russisch und Polnisch gemischte Sprache reden, die besonders im Munde der Frauen und Mädchen sehr weich und lieblich klingt.
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Fast ebenso zahlreich wie die bäuerische Bevölkerung ist das eingewanderte Volk der Juden, das seit Jahrhunderten in diesen Südprovinzen heimisch ist, doch deren Grenzen nicht überschreiten darf. Diese russisch-polnischen Länder aber haben sie fast wie Eroberer eingenommen: alle Dörfer, Städte sind von ihnen erfüllt, ja es gibt zahllose, nur von ihnen bewohnte Ortschaften: auf allen Wegen gehen und fahren sie
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40 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
und sind die Hauptstaffage der Straßen. Das heimatlose Volk scheint hier sein Vaterland wiedergefunden zu haben und kann durch die Toleranz der Regierung in völliger Freiheit seiner Religion, seinen uralten Gebräuchen leben, die man vielleicht nirgends in ihrer ursprünglichen Gestalt so kennen lernt wie hier. Sie leben unter der übrigen Bevölkerung durch Handel und Wandel in steter Berührung mit ihr und sind doch aufs äußerste von ihr geschieden und halten mit eiserner Consequenz an ihren Gesetzen und Gewohnheiten fest. Sie allein im ganzen Reich haben einen dem russischen verschiedenen Kalender und feiern z. B. ihr Ostern, Passah, ihren Neujahrstag u. s. w. einige Wochen früher als die christliche Bevölkerung. Alle ihre vielen Feste halten sie streng mit allen uralten Gebräuchen, bauen sich am Laubhüttenfest in ihren kleinen schmuzigen Höfen Lauben aus Weidenzweigen und anderm Blätterwerk, die sie mit Lampen erleuchten und in denen sie während sieben Tagen ihre heiligen Opfermahlzeiten halten, bestreichen am Passahfest Thürpfosten und Schwellen mit dem Blute des Osterlammes und essen es des Nachts, um die Lenden gegürtet, mit Stäben in der Hand, wie zur Reise gerüstet nach Moses' Gebot. Während der vieltägigen Dauer ihrer Feste enthalten sie sich jeder Arbeit, jedes Geschäfts; ebenso streng begehen sie den Sabbath, und nichts in der Welt würde sie, die sonst so Erwerbbegierigen, vermögen, während seiner Dauer irgend Handel und Gewerbe zu treiben. *) Von Freitag Abend bis zum Sonnabend Abend sind ihre Läden geschlossen und die Straßen, sonst durch ihr Treiben so lärmend und schmuzig, rein und still. An diesen Sabbathvorabenden ist jede, auch die ärmste Judenwohnung gesäubert und geordnet
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*) Der christliche Sonntag im Gegentheil wird durch ihr dann von neuem beginnendes Handelstreiben wahrhaft entheiligt.
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41 Das Leben der Juden in diesen Provinzen.
und mit vielen Kerzen erleuchtet, bei deren Schein man die bestimmten Gebete hersagt und die bestimmten geweihten Speisen genießt. Man glaubt, wenn man an dem Abend durch ein solches Städtchen fährt, eine allgemeine Illumination zu sehen.
Ihre Trauungs- und Begräbnisceremonien, die Einrichtung ihrer Synagogen, ihr Ritus, ihre Kirchhöfe mit den ordnungslos durcheinandergeworfenen Grabsteinen, Alles soll hier nach den strengsten Vorschriften des Gesetzes ganz wie in den uralten Zeiten des Judenthums bestehen. Ebenso streng werden alle Satzungen, die in das häusliche tägliche Leben eingreifen und aus demselben gleichsam eine fortgesetzte Erneuerung des Bundes mit dem Herrn machen, erfüllt; die täglichen Waschungen und Reinigungen, die Gebete und Anrufungen, die der Lehrer vom Sinai den seinen vorschrieb, findet man hier noch täglich ganz in der alten Weise wiederholt. Die patriarchalische Herrschaft der Aeltern über ihre Kinder, der ehrfurchtsvolle Gehorsam derselben gegen ihre Aeltern findet sich hier noch wie zu den Zeiten der alttestamentarischen Urväter. Die Heiligkeit der Ehen ist wie in jener alten Zeit aufrechtgehalten; ebenso werden diese früh geschlossen wie damals und nur durch den Willen der Aeltern, der sich selten um die Neigung der zu Verlobenden kümmert, welche häufig noch halbe Kinder sind und sich oft erst bei oder kurz vor der Trauungsceremonie kennen lernen. Aber nicht blos für die Wahl der jungen Leute, sondern für ihre Verheirathung selbst sorgen die Aeltern oder Gemeindevorsteher, und der ehelose Stand wird ungern geduldet. Diese Vorsteher überhaupt üben altpatriarchalische Autorität über die Gemeinden aus, überwachen die Erfüllung der religiösen und moralischen Vorschriften und die Sorge für die Armen. Wirkliche Armuth soll es daher in diesen Gemeinden selten geben, trotz
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42 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
des Schmuzes und anscheinenden Elends der meisten Judenwohnungen, das, wie man sagt, oft zur Schau gestellt wird, um den Gedanken an den Besitz von Reichthümern fernzuhalten.
Auch die Tracht der Vorväter, den weiten stattlichen Kaftan und den würdevollen langen Bart haben sie großentheils bewahrt und oft durch bedeutende Geldopfer sich erhalten, da ihnen von der Regierung die gewöhnliche bürgerliche Tracht und vor allem das Abschneiden des Bartes geboten ist; so modernisirt sieht man denn auch häufig die jüngern Leute. Das altjüdische Costüm der Frauen, zu dem Schleier, Stirnbinde u. s. w. gehören, kann man nur bei besondern Festlichkeiten, Trauungen u. s. w. sehen. (Hier besteht auch noch die alte Sitte, den Bräuten vor der Trauung die Haare zu rasiren und ihnen das Haupt, das sie fortan kahl erhalten müssen, mit einer falschen Haartour zu verunstalten.) Dennoch erkennt man die jüdischen Frauen leicht an den besonders bunten Farben ihrer Kleider und Tücher, bei denen häufig brennendes Roth und Gelb nebeneinander leuchten, und an den Sabbathtagen an ihren Goldhauben, ihren Ketten, Ringen und Steinen, mit denen sie sich oft in großer Ueberladung schmücken. An solchen Tagen kommen auch die verborgenen Schätze ans Licht; denn neben dem falschen Schmuck glänzen oft wirkliche Diamanten und echte Perlen am Hals und im Haar von Judenfrauen, welche die Woche lang in einem engen schmuzigen Laden Stecknadeln und Band verkauften; ebenso sieht man an den Sabbathvorabenden oft in ganz elenden halbverfallenen Hütten Kronleuchter und Lampen von gediegenem Gold und Silber schimmern, seit Jahrhunderten vielleicht Eigenthum der Familie und heilig von allen Generationen bewahrt.
Die den Israeliten in Moses' Gesetz verbotenen Lebensmittel
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43 Mäßigkeit der Juden; ihr Handeltreiben.
sind ihnen jetzt noch ungenießbar; auch Branntwein und andere geistige Getränke vermeiden sie nach dem alten Verbot. In diesem Lande, wo das Laster der Trunkenheit soviel verbreitet ist, sieht man nie einen berauschten Juden; darum sind sie die sichersten Kutscher, Boten u. s. w. Ihre Mäßigkeit und Enthaltsamkeit sollen überhaupt groß sein und einige Zwiebeln einem Israeliten oft zur Nahrung für den ganzen Tag hinreichen. Für ihre großen Feste bereiten sie ganz besondere Gerichte, von denen sie dann häufig ihren christlichen Handelsfreunden schicken, wie sie es auch mit den ungesäuerten Broten ihres Osterfestes thun. sie selbst würden um nichts in der Welt von Christen zubereitete Speisen genießen.
Doch nicht blos in ihrem religiösen und häuslichen Leben ist den Israeliten die größtmöglichste Freiheit gelassen, auch in ihrem Erwerb sind sie durch keine Gesetze wie in andern christlichen Staaten beschränkt; ungehindert können sie Gewerbe und Handel ausüben, den Gastwirthschaften, ja auch den Posthaltereien vorstehen, können Land und Häuser besitzen und sind in den Städten nicht wie häufig im übrigen Europa in bestimmten Bezirken und Straßen eingeschlossen. Diese große Freiheit im Handel und Gewerbe haben die Juden, hier wie überall thätig, klug, geschmeidig, zähe, sich reich zunutze gemacht; sie sind den übrigen Bewohnern unentbehrlich, ja beherrschen sie fast; der Handel ist fast allein in ihren Händen; der Bauer wie der reiche Edelmann kauft, was er bedarf, vom Juden, und er ist es, der ihnen die Erzeugnisse ihres Bodens, ihrer Fabriken in Geld verwandeln hilft. Der Handel nach auswärts, besonders der großartige Getreidehandel dieser Südprovinzen wird nur durch die Juden geleitet. Aller Geldumsatz wird durch sie besorgt; die Geschäfte jeder Art – Tausch, Borg, Kauf und Verkauf (auch von Gütern, Häusern u. s. w.), Wohnungsmiethung – gehen durch ihre
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44 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Hände. Ohne sie, ohne ihren Rath, ihre Hülfe unternimmt man nichts. Vom reichen Edelmann, dem sie Wechselbriefe von vielen Tausenden schreiben, bis zu dem Bauer, dem sie den Taback und Branntwein verkaufen, sind alle Glieder der verschiedenen Gesellschaftsstufen ihrer bedürftig und haben sie gewöhnt, sich in Alles zu mischen, mit Auge und Ohr überall zu sein. Ueber das ganze Land verbreitet, in der Hütte wie im Herrenhause gleich bekannt, ewig hin- und herwandernd und doch untereinander zusammenhängend wie die Fäden eines großen Netzes, sind sie lebendige Zeitungen und Telegraphen, die schnell alle Nachrichten verbreiten. Durch sie erfährt man nicht blos die politischen, sondern auch alle möglichen Familienneuigkeiten. Todes- und Krankenfälle, Heiraths- und Geburtsnachrichten, Berichte über verlorene, gefundene und gestohlene Sachen, kurz Alles, was die Intelligenzblätter sonst füllt, machen sie bekannt und ersetzen so deren Mangel. Doch nicht blos die der Oeffentlichkeit bestimmten Dinge wissen und erzählen sie, sondern auch alle Geheimnisse der Familien. Schon dieser reiche Vorrath an Neuigkeiten thut ihnen alle Thüren auf und vermehrt so jenen Schatz, der sie oft mehr als ihre Waaren und übrigen Dienste (zu denen auch die des Schneiderns und Barbierens gehören) willkommen und unentbehrlich in diesen Gegenden macht. Daher kommt es, daß der jüdische Handelsmann nicht blos bis in die Schreibstube der Herren, sondern bis in das Boudoir der Damen dringt, und daher fahren diese Letztern so gern in die schmuzigsten, elendesten kleinen Städte und besorgen selbst ihre Einkäufe in den engen dunkeln Buden unter dem sinnverwirrenden Bieten, Feilschen und Lärmen dieses orientalischen Volks. Obgleich man den Juden eine Art Theil an der Civilisation der Bauern zuschreiben könnte, die sie mit allerlei Erfindungen der Neuzeit, mit allerlei Hausgeräth, Spiegel, Leuchter, Gläsern,
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45 Verkehr der Juden mit der christlichen Bevölkerung.
Feuerzeug u. s. w. bekannt gemacht haben, obgleich sie den Verkehr, den Geldumschwung, die Mittheilung befördernd, der Bevölkerung sich tausendfach nützlich machen, so sind sie ihr doch auch in mancher Weise nachtheilig. Denn sie verleiten nicht nur die Bauern zu verschiedenen unnützen Ausgaben, bieten ihnen Gelegenheit, ihrer Neigung zum Trunke nachzuhängen, sondern verhindern auch, indem sie ihren Mangel an Speculationsgeist und Erwerbslust sich selbst zunutze machen, deren Erwachen. Das dunkle Gefühl dieses Nachtheils und nicht religiöser Fanatismus allein veranlaßt wol auch die Ausbrüche von Verachtung oder Spott, die sich hin und wieder Leute aus den niedern Classen gegen die Juden erlauben und die jene meist mit bewundernswürdiger Ruhe, ohne Erwiderung oder Zornesausdruck ertragen, obwol sie im Stillen mit ähnlicher Verachtung bezahlen mögen, zu der sie schon durch die vom Gesetz gebotene Vermeidung aller Gemeinschaft mit den Christen geleitet werden.
Aber nicht blos die Bauern, auch die Güterbesitzer würden, wie ihnen auch die Nähe der Juden und ihre Bereitwilligkeit und Fähigkeit zu den verschiedensten Diensten bequem ist, sich besser ohne sie befinden, denn eben die Leichtigkeit, mit welcher sie von ihnen Geld zu den höchsten Zinsen borgen können, ist der Hauptgrund der so häufigen Verschuldung und Vermögenszerrüttung des Adels, der von seinen Landproducten, weil er sie meist durch den Juden verkauft, nicht den Gewinn hat, den ihm ein unmittelbarer Vertrieb gewähren würde. Trotz dieses, sich mit Klugheit aller Vortheile bemächtigenden Speculationsgeistes, den man den russisch-polnischen Juden zugestehen muß, kann man sie doch einer Neigung zum Betrug nicht beschuldigen, könnte im Gegentheil mannichfache Beispiele von ihrer Ehrlichkeit in Handels-
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46 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
und Geldgeschäften, ihrer Zuverlässigkeit bei einmal eingegangenen Contracten (als Lohnkutscher u. s. w.) anführen, ja Züge von Aufopferung und Hingebung bei diesen oder jenen übernommenen Verpflichtungen erzählen.
Es ist merkwürdig und ein neuer Beweis vom israelitischen Conservatismus, daß alle hier lebenden und wie ihre Aeltern und Vorältern hier geborenen Juden untereinander nicht Russisch oder Polnisch, sondern die Sprache ihrer vor Jahrhunderten aus deutschen Ländern eingewanderten Ahnen reden; ihr Deutsch freilich ist wie eine Caricatur des echten und klingt deutschen Ohren fast unverständlich und wie eine Profanation ihrer schönen Sprache.
Nichts sieht trauriger aus als die nur von Juden bewohnten Städte und Dörfer. In den letztern stehen kleine stallartige Hütten, nicht weiß und rein wie die der Bauern, weit voneinander, keinen Baum, keinen Strauch erblickt man und statt des Gartens ist jede von einem See von Schlamm und Unreinigkeit umgeben. Malerisch zwar beim ersten Anblick erscheinen die jüdischen Städte durch die bunt durcheinandergestreuten unregelmäsig gebauten, oft halb zerfallenen Häuser und Hütten mit theilweise zerbrochenen Außentreppen, gesenkten Balconen und Thüren, losen Dächern, schiefen Galerien, fragmentarischen Schornsteinen und Fenstern, an denen schmuzige Wäsche hängt und zerbrochene Geschirre stehen; im Ganzen aber sind sie wenig annehmlicher als die Dörfer, meist ungepflastert, im Sommer voll Staub, im Frühling voll grenzenlosen Schmuzes und nur im Winter, wenn die Schneedecke Unordnung und Unrath umhüllt, erträglich. Auch die kleinste Stadt belebt etwas Handeltreiben und bietet den ländlichen Bewohnern der Umgegend in vielen schmuzigen, von den verschiedensten und heterogensten Waaren erfüllten Kaufläden die Befriedigung ihrer meisten Bedürfnisse. Trotz dieser äußern
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47 Geistige Begabung der Juden. Der polnische Adel.
Unordnung soll in den Familien selbst häusliche Ordnung herrschen; die Frauen und sogar die kleinen Mädchen sieht man fast immer beschäftigt und, den müßigen Gewohnheiten der übrigen Bevölkerung entgegen, strickend oder nähend vor ihren Wohnungen sitzen.
Fast in jeder Stadt befindet sich eine Synagoge und jüdische Schule; auch lernen viele jüdische Knaben in den christlichen Gymnasien. Man kann das Talent und den Fleiß dieser in so elenden Umgebungen aufgewachsenen Kinder nicht genug loben, kann überhaupt nicht leugnen, daß, wie auch Armuth, Verachtung, Unwissenheit und Erwerbsucht das Aeußere und Innere dieses Volks entstellen, seine ursprüngliche geistige Begabung ebenso wenig gänzlich verloren ist wie der Typus seiner orientalischen Urschönheit, der hier und da in jugendlichen Frauen- oder ehrwürdigen Greisengesichtern von neuem erscheint.
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Zu diesem Leben der Bauern und Juden bietet die Existenz des polnischen Adels, dem fast alle Güter dieser Provinzen gehören, den höchsten Contrast, nicht blos weil sich diese Existenz meist im Schooße des Reichthums und Luxus bewegt, sondern weil sich überhaupt die Polen durch geistige Bildung, feine gesellige Sitte, äußere Eleganz unter jeder andern Bevölkerung auszuzeichnen wissen.
Ihr Geschick hat die Polen gleich jenem heimatlosen orientalischen Volke über alle Länder zerstreut und man kann ihren Charakter in Paris, London, in Neuyork und Konstantinopel ebenso gut studiren wie in ihrem eigentlichen Vaterlande. Wol wird man in diesem Charakter die Hauptursache ihres Geschickes finden und doch wieder durch die Theilnahme, welche dieses Geschick erregt, geneigt werden, alle Nationalcharakterschwächen
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48 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
zu idealisiren und zu vergessen. Nicht auf ihnen, sondern auf der ideellen Seite des Polencharakters mag zuerst unsere Betrachtung weilen.
Die Liebe für das Vaterland, jedem Polen angeboren, ein Theil seines innern Wesens, ist das idealste Gefühl in ihm, denn das Vaterland, dem die Polen ihre Liebe weihen, hat keinen irdischen Boden und ist von geistigen Elementen allein, von Religion, Literatur, Sprache gebildet. In dieser geistigen Welt nur kann der Pole das Vaterland wiederfinden und lieben, das er hier verlor. Dort nur kann er dessen Gegenwart und Zukunft suchen, dort auch lebt die Vergangenheit mit allen großen Erinnerungen, die sich in den Schriften und Gesängen der Polen spiegeln. Gleich dem Epheu, der die Ruine umrankt und mit seinem Blättergrün die Trümmer freundlich umhüllt, so umschlingt der Pole mit den tausend Ranken seiner Liebe und Verehrung die graue Vergangenheit und verhüllt seinem eigenen Blicke, was in ihr blutig und traurig war, bis sie als helles frisches Bild, schöner als sie in der Wirklichkeit erschien, in seinem Geiste lebt.
Die Religion, das vorzüglichste Element jenes idealen Vaterlandes, ist den Polen ein heiliges Gut. Unter ihnen erscheint der Katholicismus in einer reinen schönen Gestalt. Die Armuth der Kirchen und Klöster, der Kleidung der Geistlichen, die einfache Ausschmückung der Altäre, die Abwesenheit aller blendenden Pracht beim Gottesdienste, wodurch die Bedeutung der Ceremonien deutlicher hervortritt, das fromme, oft streng ascetische Leben und Aussehen der Priester – Alles erinnert an die ersten Zeiten der christlichen Kirche. Unter den Priestern selbst sieht man Gestalten und Gesichter, so tiefsinnig ernst, so edel erhaben und sanft resignirt, als seien sie aus der Leinwand eines Fiesole, Giotto, Fra Bartolommeo oder Francia hervorgetreten; man fühlt, daß dieser oder jener
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49 Polnische Geistlichkeit.
unter ihnen nicht blos dem Maler als Modell irgendeines heiligen Märtyrers dienen, sondern daß er in der Wirklichkeit wie ein solcher zu leben und zu sterben vermöchte. Wenn man aus dem Lärm und Schmuz einer mit Juden erfüllten russisch-polnischen Stadt in eine der ruh- und dämmervollen katholischen Kirchen tritt und im scheine der Altarkerzen die weißgekleideten Priester und Chorknaben die heiligen Ceremonien ausüben sieht, dann meint man wirklich eines der Bilder jener altitalienischen Meister zu sehen, wo in hundert verschiedenen Jünglings- und Greisenangesichtern die gleiche innige demüthige Frömmigkeit und schwärmerische Andacht glänzt und wir hinblicken wie in eine aus verschiedenen Strahlen gebildete Lichtglorie, und unsere Seele erwärmt und emporgetragen fühlen in die Welt der Reinheit und Klarheit.
Das Leben der meisten Geistlichen in diesen Provinzen ist ein Leben der Aufopferung, Entbehrung, der gänzlichen Hingebung an die Pflichten ihres heiligen Berufs. Viele der Priester sind aus vornehmem Stande und haben Reichthum und Bequemlichkeit einer mühseligen arbeitsvollen Existenz geopfert. Die meisten haben nicht blos religiöse, sondern auch hohe wissenschaftliche, viele eine feine gesellige Bildung und daher einen doppelt bedeutenden Einfluß in allen Kreisen der Gesellschaft. Man findet unter ihnen Erscheinungen, in denen sich der Charakter des liebenswürdigen Weltmannes mit dem des Priesters vereint, die jeden geselligen Kreis durch Geist und Bildung schmücken und ebenso an ihrer Stelle sind in der Hütte des Armen, als Tröster an Kranken- und Sterbebetten und in ihrer eigenen Zelle, wo sie oft ein streng ascetisches Leben führen. Es gibt ausgezeichnete Talente, Schriftsteller, Redner unter ihnen. Nicht blos auf der Kanzel, im Beichtstuhl, sondern bei jeder Gelegenheit sind sie bereit, das heilige Feuer, das in ihrer Seele glüht, andern
Förster, Südrußland.
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50 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
mitzutheilen. Die Zahl der Kirchen und Klöster, sonst sehr groß, ist bedeutend verringert; eine Menge derselben stehen leer, verfallen, oder sind zu andern Zwecken verwendet. Auch der Schmuck der Wände und Altäre ist ziemlich dürftig, obgleich die Pietät der Reichen Das, was in der Zeit der Unruhen verlorenging, durch Geschenke von Bildern, Altargeräth, Teppichen und Decken von schönen Händen gestickt zu ersetzen sucht. In den Klöstern, deren Zahl verringert ist und die sich meist nur von milden Spenden erhalten, sieht man nichts von dem mönchischen Wohlleben anderer Länder, und nicht blos das Gelübde, sondern die Nothwendigkeit gebietet die Armuth; trotz derselben aber oder vielmehr wegen derselben, wegen der Freudigkeit und Demuth, mit der man sie erträgt, machen diese Klöster einen erhebenden Eindruck.
Da die Bauern fast durchgängig der griechischen Religion angehören, gibt es blos in den Städten katholische Kirchen; nur auf manchen Gütern ist das Bestehen einer Kapelle und der regelmäßige Gottesdienst in derselben gestattet, sodaß die polnischen Landbewohner oft viele Meilen weit reisen, um einem solchen beizuwohnen, was ihnen bei ihrer Beweglichkeit kein Opfer ist. Vornehme wie Niedere sind eifrige Kirchgänger; beide Geschlechter lassen häufig der geistlichen Anleitung eines Priesters Raum in ihrem Leben und füllen einen Theil desselben mit religiösen Uebungen aus. Die aus der Kindheit mitgebrachten schönen Gewohnheiten des kniend gesprochenen Morgen- und Abendgebets, des Bezeichnens mit dem heiligen Kreuz beim Beginne und Schlusse der Mahlzeiten, beim Abreisen und Ankommen u. s. w., werden von Allen durch das ganze Leben bewahrt. Die kleinen Kreuze und Medaillons mit dem Bilde der heiligen Jungfrau, welche Vater- und Mutterhände um den Hals des Kindes in der Wiege hängen, findet man noch auf der Brust des Greises.
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51 Katholische Kirchen, Klöster. Religiöse Uebungen u. s. w.
Die Fasten, besonders die, welche der Osterzeit vorangehen, werden streng gehalten, und groß ist der Contrast zwischen dem geräuschvollen Carneval und der feierlich stillen Fastenzeit.
Den Priestern bezeugt man hohe Ehrfurcht, begrüßt sie mit dem Kusse der Hand oder des Gewandes und betrachtet ihren Besuch als segenbringend für die Familie. Gleich den Russen bezieht man keine Wohnung, ohne sie durch Priestersegen weihen zu lassen, und gleich ihnen vereint man sich vor dem Beginn jeder Reise, jeder besondern Unternehmung zu einem gemeinschaftlichen stillen Gebet; gleich den Russen segnet man seine Kinder vor dem Schlafengehen oder Abschiednehmen durch das heilige Kreuzzeichen oder die Berührung mit einem Crucifix.
Jede Handlung – heilige wie profane – thun die Polen mit größter Lebhaftigkeit, und mit derselben leidenschaftlichen Erregung, mit der sie gestern die Mazurka tanzten, sieht man sie heute vor dem Altar sich niederwerfen, sich während des Betens – oft unter Seufzen und Thränen – an die Brust schlagen. Vornehme verwöhnte Damen, deren Füße sonst nur die Parquets der Salons und Ballsäle betreten, unterbrechen zuweilen ihre Weltfreuden und suchen sie abzubüßen durch tagelange Wallfahrten, die sie zu Fuß, ja barfuß machen. Oft thun Frauen in Krankheit oder Gefahr das Gelübde, ihre Kinder immer in eine gleiche Farbe –weiß oder blau u. s. w. – oder in Klostertracht zu kleiden, welche Gelübde streng gehalten werden zum Unbehagen der armen Kleinen, die als Miniaturmönche und -Nonnen sehr sonderbare Figuren auf Schaukel und Steckenpferd abgeben.
Neben diesen und ähnlichen Uebertreibungen sieht man die wahre Frömmigkeit sich tausendfach in verschiedensten Lebenskreisen bethätigen: sie lenkt die Schritte edler Frauen in niedere Hütten und läßt sie Hülfe den Armen, Trost den Kranken
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und Sterbenden bringen; sie läßt sie mit Mutterliebe für verlassene Waisen sorgen und mit heiligem Eifer arme Kinder unterrichten. Man kann nicht großartiger und dabei anspruchloser wohlthätig sein wie hier. Die Mittel zur Wohlthätigkeit sind groß; aber auch rasch erregt ist die Lust, sie zu benutzen. Der reiche Menschenfreund braucht wenig Ueberlegung, um Tausende für einen guten Zweck hinzugeben. Viele streuen ihre Wohlthaten fast so bewußtlos in die Welt, wie der Baum seine Blüten in den Wind streut. Kein ausposaunendes Journal mit einer Liste von Gebern und Gaben ist hier wie oft in andern Ländern der Sporn zur Mildthätigkeit. Es gibt fast keine nur einigermaßen bemittelte Familie, in der nicht einige Pflegekinder wie die eigenen erzogen werden; in reichen Häusern findet man oft bis zwölf und mehr solcher in jeder Weise wohlversorgter Zöglinge; ja es gibt manche edle Frau, die, ihre Zeit und ihr Vermögen den heiligsten Zwecken weihend, auf ihrem Landsitze ein großartiges Erziehungsinstitut angelegt, ihr eigenes Haus in ein Pensionat verwandelt hat, in welchem oft 40 – 50 Töchter armer gebildeter Familien eine sorgfältige Erziehung erhalten, nach deren Vollendung sie als Lehrerinnen, Erzieherinnen untergebracht oder im Falle der Verheirathung reichlich ausgestattet werden.
Als in der Cholerazeit so viele Kinder älternlos geworden waren, entstand ein wahrer Wettstreit unter den Vielen, die den Kindern die verlorenen Väter und Mütter ersetzen wollten. Häufiger als irgendwo werden den Wohl habenden neugeborene Kinder von armen namenlosen Aeltern zugesendet, und solcher Geschenke sucht man sich nie zu entledigen, sondern betrachtet sie als eine Schickung Gottes und als eine Verheißung seines besondern Segens und erzieht so ein fremdes Kind liebevoll wie die eigenen. Auch durch das Pathenamt verpflichtet man sich, für das Kind, von dessen
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53 Romantisch-ritterliches Element im Charakter der Polen.
Taufe man Zeuge war, gleich den nächsten Verwandten zu sorgen, ja beim Tode der Aeltern deren Stelle zu vertreten.
Die Krankensäle der wenigen Klöster, die noch existiren, werden viel von edeln Frauen besucht und ihre Gegenwart erhellt manches leidende Antlitz.
Die Frömmigkeit, die sich in so vielfacher Thätigkeit offenbart, muß und darf sich auch in Worten aussprechen. Ein Gespräch über Gegenstände der Religion offenbart bei den Meisten den tief verborgenen innern Lebensquell. Die Saite einmal berührt und das bis dahin vielleicht stumme Instrument erklingt in vollen Tönen. Man sieht ein Antlitz, das bisher nur der Spiegel heitern Weltsinns war, plötzlich vom Strahle heiliger Begeisterung erleuchtet; man ahnt, wie diese das Verschiedenste umfassenden, so leicht entzündlichen Menschen nur eines Schrittes aus dem bunten Irrgarten der Welt in die stille Klosterzelle bedürfen, ja wie sie unaufhörlich unter der Oberfläche ihres Wesens, auf welcher Weltsinn, Leidenschaft, kleinliche Tagesinteressen wie flüchtige Regenbogenfarben widerstrahlen, ein reges Gefühl für das Erhabene, Geheimnisvolle, Wunderbare bewahren und sich schnell von jener Welt losreißen und in diese tief-innere versenken können. Den Typus der Kreuzritter, der enthusiastisch thatenlustigen Helden könnte man hier finden. Ueberall treten uns Gestalten aus dem Mittelalter entgegen, wo man das Irdische so leicht mit dem Himmlischen verband, wo der Mönch und Priester dann und wann das Kreuz mit dem Schwerte vertauschte, wo der Ritter auf den Waffenrock das Kreuz heftete, wo man nicht blos irdischen Wesen liebende Verehrung erwies und dem Minnedienst, den man den Frauen weihte, die letzte Verherrlichung im Cultus der Maria gab; wo der Dichter heute das heitere Lied von Liebe, Wein und Frühling sang und sich morgen in die Welt der Sage und Symbolik versenkte und
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54 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
tiefsinnige Gesänge zurückbrachte, und wo mitten im tönenden Dichterwald der Minnesänger und Troubadours die Scholastik über unlösbaren Geheimnissen brütete und sich in den Irrgängen der Mystik verlor.
Dieses ganze Wesen des Mittelalters mit seinen hellen flüchtigen Lichtern und tiefen Schatten findet sich theilweis im Wesen der Polen wieder, die in ihrem Charakter wie in ihrer äußern Erscheinung wol das ritterlichste Volk der jetzigen Zeit genannt werden können. Auch durch ihre Literatur geht dieser mittelalterliche Geist: eine Neigung zu religiöser Schwärmerei, zu Mysticismus und Symbolik findet sich in fast allen polnischen Dichtern und bildet neben dem überall durchklingenden Schmerz um das verlorene Vaterland ihre nationelle Eigenthümlichkeit.
Vor allem offenbart sie Mickiewicz, der Hauptrepräsentant der polnischen Literatur, in dessen Dichtungen *) etwas vom erhabenen, mystisch-schwärmerischen Geiste Dante's und Wolfram von Eschenbach's weht, und mehr oder weniger sind die Schöpfungen aller frühern und spätern Dichter demselben Ouell von Gefühlen und innern Anschauungen entsprungen. Aus der Vergangenheit bis in die neueste Gegenwart zieht sich mitten durch verworrene blutige Zeiten, wie ein goldener Faden durch ein dunkles Gewebe, diese Dichterreihe. Auf Kochanowski, den polnischen Pindar, auf die gefühlvollen Lyriker Zimorowicz und Grochowski folgten gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die edeln melodien- und empfindungsreichen
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*) „Konrad Wallenrod“ (episches Gedicht, eine Episode aus dem Kriege zwischen den Deutschen Rittern und Lithauern behandelnd), „Die Ahnen“ (ein religiös-mystisches, legendenartiges Gedicht), „Herr Thaddaeus“, das häusliche Leben der Lithauer schildernd, ferner Sonette, Lieder, Psalmen u. s. w.
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55 Polnische Dichter. Allgemeine Liebe für Poesie.
Dichter: Trembecki und Karpinski, der geniale Krasicki, der mit Naruszewicz das polnische Epos schuf, die feurigen Kozmian und Brodzinski, die Lyriker Morawski, Felinski und Kropinski, der kühne, erhabene Woronicz, die Satiriker Korsak und Gorecki. An diese und zahllose andere aus der Ferne noch leuchtende Sterne reihen sich als neue glänzende: Bohdan Zalewski, wol einer der größten unter den jetzt lebenden europäischen Dichtern, der, wie ein französischer Kritiker sagt, „seine Feder in die Strahlen der Morgenröthe zu tauchen und beim Klange von Aeolsharfen zu schreiben scheint“ – der Dichter der Ukraine, der die Scenerie und die Seele der Natur seiner Heimat in lieblicher tiefpoetischer Weise schildert. Ferner Gaszynski, voll Phantasie und Farbenreichthum (so in seinem „Schlos Kaniow“), der Balladendichter Odyniec, der philosophische Garcynski, der kräftige ernste Slowacki; Malczewski mit seinem lieblichen beschreibenden Gedicht „Marie“; Krasinski vor allem, der tiefsinnige hochpoetische Dichter von „Irydion“, und viele Andere“), sodaß die Polen sich vor allen Völkern großer lebender Dichter rühmen können. Und sie rühmen sich ihrer und fühlen, daß sie in ihren Schöpfungen besonders als Nation weiterleben; ihre schönsten Stellen sind im Mund und Herzen eines Jeden und werden bei jeder Gelegenheit recitirt. Aber auch im eigenen Dichten erfreut man sich. Jeder, „dem Gesang gegeben“, singt, und fast Allen ist er gegeben. In Deutschland selbst ist die Sangeslust nicht größer als hier, wo sie sich in ihrem eigenen schönsten Element: Religion und Liebe, bewegt und bezeugt, daß die stete Richtung dieses Volks auf ein ideales, immer mehr sich vergeistigendes
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*) Unter den in Volhynien lebenden Dichtern sind Graf Olizar, Verfasser vieler frommer, inniger Lieder, Jesierski, Kraszewski, der Sänger von „Witoloranda“, und der Dramatiker Korzeniowski zu nennen.
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Vaterland ihm zur Aegide wider den erkältenden blasirenden Geist der Zeit geworden ist. *)
Eines der Elemente, die jenes ideale Vaterland bilden, ist außer der Religion und Literatur – die Sprache, die wohltönendste unter den slawischen Sprachen, zwar nicht ganz so orignell, urkräftig, so wie Wald, Wind und Meer klingend wie die russische, aber weicher, melodischer als diese und neben eigenthümlichen Reizen doch auch geschmückt mit Worten und Lauten aus mancher fremden, besonders der lateinischen und italienischen, Sprache, sodaß sie uns nicht ganz so fremdartig wie jene erscheint. Wol erkennen die Polen ihren Werth und ihre Schönheit und halten sie heilig als das Erbe ihrer Väter, und obwol auf Universitäten und Schulen im Russischen gelehrt und in allen amtlichen Verhältnissen Russisch gesprochen wird, und obgleich man in der Gesellschaft, besonders weil diese häufig auch aus Russen und Deutschen besteht, die Unterhaltung meist französisch führt, so ist das Polnische doch die Sprache der Familie, des Gebets und der Poesie.
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Alles vorher Gesagte bezieht sich mehr auf die ideale Seite des Charakters der Polen, die man erst durch reiferes Eindringen in edlere Naturen kennen lernt. Ein ganz Anderer
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*) Noch ein Hauptzug findet sich außer jenem Religiös-Romantischen in der polnischen Literatur, ein Zug, der an eine ähnliche Richtung in der englischen Literatur erinnert: es ist die Liebe und Bewunderung für die Natur, das Gefühl ihrer äußern Schönheit und ihres seelisch-Charakteristischen, das sich dort wie hier in frischen Schilderungen ausspricht und nur aus dem häufigen Aufenthalte auf dem Lande und einem fortgesetzten Leben in und mit der Natur hervorgehen kann. Fast alle polnischen Dichter leben auf dem Lande, oder sind da geboren und erzogen.
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57 Widersprüche und Gegensätze im Charakter der Polen.
erscheint oft der Pole bei flüchtiger Bekanntschaft. Nicht blos scheinen seine Eigenschaften dann häufig mit jenen ideellen höhern im Widerspruch, sondern bilden auch unter sich oft auffallende Contraste, aus denen freilich die Menschennatur überhaupt, aber die slawische insbesondere besteht; aus ihnen entsteht jene ihr so eigene Elasticität, die sich allen Verhältnissen anpaßt, alle Einflüsse aufnimmt, allen Eindrücken nachgibt und keinem unterliegt. Alle die sich untereinander widersprechenden Eigenschaften – Trotz und Unterwerfung, Eifer und Nachlässigkeit, Nachgeben und Widerstand, Begeisterung für die Freiheit und Beschützung der Sklaverei, die in der Geschichte der Polen hervortreten, ja diese Geschichte zum Theil gemacht haben, zeigen sich mit vielen ähnlichen noch immer im Leben der Gegenwart. Nachlässig heiter dahinleben und dann plötzlich alle Kräfte für irgendeinen Zweck zusammen nehmen und für Momente energisch handeln – gleichgültig obenhin Menschen, Gegenstände betrachten und auf einmal in Haß oder Liebe emporflammen – jetzt einen Fasttag voll Gebet und Betrachtung, morgen einen rauschenden Carneval voll Lust und Taumel feiernd – heute sorglos über eine Kränkung, ein Versehen hinweggleiten und morgen über Geringes in Zorn entbrannt – heute begeistert für Freiheit und Menschenrechte sprechend und morgen vielleicht sie selber unbedacht in der Behandlung der Diener und Unterthanen verletzend – jetzt wie für die Ewigkeit in einer Häuslichkeit, einer regelmäßigen Thätigkeit eingerichtet, dann auf einmal von Wanderlust ergriffen, Alles aufgebend und rastlos umher schweifend: so in ewigen Contrasten bewegt sich das Leben der Polen. Man hat sie häufig les Français du Nord genannt, sollte sie aber eher mit den Italienern vergleichen; bei ihnen findet man dieselbe Neigung zum dolce far niente, dasselbe nachlässige Lebensgenießen bis zu dem Augenblicke, wo
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58 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
ein plötzlicher Impuls oder eine äußere Anregung die schlummernden Kräfte oder Leidenschaften weckt und den ganzen Menschen verwandelt; bei diesen wie bei jenen ist mit jenem sorglosen passiven Dahinleben die große Lebhaftigkeit im Gespräch, die häufige Uebertreibung irgendeines Gefühlsausdrucks verbunden. Rasch wie jene werden diese durch irgendeine Schöpfung oder Darstellung der Kunst zum Enthusiasmus entzündet, und kein Volk wol drückt seine Bewunderung für den Künstler mit stürmischerm Applaus als diese beiden aus. Beide lassen schöne Kräfte ungenützt liegen oder setzen sie an kleinliche Dinge und haben eine gleich große Abneigung gegen eine regelmäßige, andauernde Thätigkeit. Bei diesen wie bei jenen verbindet sich die Richtung auf Weltlust und Lebensgenuß mit der Neigung zu religiöser Schwärmerei und übertriebenen Andachtsübungen. Diese wie jene haben etwas Kindliches in ihrer Natur eben in der Sorglosigkeit, mit der sie für den Moment allein leben können, in der Genußfähigkeit, dem schnellen Ergriffensein vom Angenehmen und Unangenehmen und dem schnellen Vergessen beider. Dieser leichte Sinn, oft auch Leichtsinn, der sich über Alles hinwegsetzt, den Hauch der trüben Eindrücke schnell von der Seele streift, nicht vor dem künftigen Augenblick bangt und den vergangenen nicht bedauert, die Kränkung – oft auch die Wohlthat – schnell vergißt, das Unbequeme und Unangenehme lächelnd erträgt, leicht bonne mine au mauvais jeu macht und sich in verschiedenste Lagen und Umgebungen schickt – ist das besondere Erbtheil der Polen und macht das tägliche Leben mit ihnen leicht und angenehm. Die Verwöhntesten unter ihnen ertragen die Unbequemlichkeiten einer Reise, die Mängel einer schlechten temporären Wohnung, die Versehen ihrer Diener, die Zudringlichkeit jüdischer Händler und Wirthe und tausend Dinge mehr, welche die Bewohner anderer Länder zur Verzweiflung
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59 Geselliges Leben der Polen; ihre Beweglichkeit u. s. w.
bringen würden, mit der liebenswürdigsten Laune; sie amusiren sich an Dem, was jene ärgern würde und machen sich das Beschwerliche zum Scherz. In ihren eigenen Häusern mit allem möglichen Luxus umgeben, meist weitgereist, mit den raffinirtesten Genüssen und Bequemlichkeiten Europas bekannt, spazieren sie recht con amore in den kleinen elenden Judenstädtchen, kaufen in den engen schmuzigen Buden, wohnen in den unsaubern comfortlosen jüdischen Wirthshäusern oder übernachten in den ärmlichen öden Kartschmas der Dörfer, fahren tageweit in harten unelastischen Britschken auf schlechten Straßen, amusiren sich in den dunkeln Theatern, die man hier und da in den größern Städten findet, an den tragikomischen Aufführungen irgendeiner herumziehenden Truppe oder am ohrenzerreißenden Spiel irgendeines ambulanten Virtuosen hundertster Classe – Alles mit so viel Natürlichkeit, Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, als kennten sie das Bessere nicht, oder vielmehr als verständen sie Blumen auch da zu pflücken, wo Andere nur eine dürre Oede sehen.
Mit dieser der slawischen Natur vor allem eigenen Elasticität hängt auch die Rastlosigkeit zusammen, die man bei den meisten Polen findet, die sie nie lange an einer Stelle bleiben läßt, sie von der Stadt aufs Land, von einem Orte zum andern führt, ihnen eine ewige Reiselust gibt, ja sie sogar im Innern ihres Hauses häufig die Bestimmung der Zimmer, die Stellung der Möbel verändern läßt und so ewig an die ursprüngliche Nomadennatur der Slawen erinnert. Auch gehört zu den Folgen jenes leichten Sinnes die große Offenheit im Reden, mit welcher sie so schnell ihre innersten Gedanken aussprechen, und die Leichtigkeit, mit welcher sie ihr Geld ausgeben, die Großmuth, mit der sie, plötzlichen Impulsen folgend, sorglos große Summen für Anderer Freude oder Unterstützung opfern, aber auch für eigene Luxuslaunen verschwenden,
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und die Unbesonnenheit, mit der sie im Spiele wagen und verlieren.
Diese Leidenschaft für das Spiel und die dann und wann wol auch zum Uebermaß gesteigerte Leidenschaft für Wein und Champagnerfreuden bilden die Schattenseiten im Charakter der Polen wie der meisten slawischen Völker. *) Das geschäfts- und interesselose Leben in der Provinz und auf dem Lande weckt und erhöht die Leidenschaft für das Spiel, die nicht nur oft das Vermögen und häusliche Glück der Familien zerstört, sondern auch den bessern Freuden der Geselligkeit, der allgemeinen Unterhaltung, der Musik u. s. w. in den Weg tritt. Oft sogar unterdrückt sie eine andere weit poetischere Leidenschaft, die für den Tanz, die den Polen angeboren scheint, die er aus der Jugend in das Alter mitnimmt, und die lebensmüde Füße noch beflügeln kann für den rauschenden Wirbel der Mazurka, die so recht der volle Ausdruck der erregbaren stürmischen Polennatur ist.
Die Grazie, welche die Polen im Tanze mit der feurigen Lebhaftigkeit verbinden, findet sich mehr oder minder in all ihrem Bewegen und Thun; sie ist vor allem das Eigenthum der polnischen Frauen, die im Ganzen höher als die Männer stehen und mit äußerer Liebenswürdigkeit meist eine tiefere Bildung, größere Willensstärke und Festigkeit verbinden, so das ein französischer Schriftsteller wol nicht ganz ohne Grund meint: der Ruf Finis Polonia! würde nie getönt haben, wären die polnischen Männer ihren Frauen gleich gewesen. Im Aeußern aber sieht man diese wie jene gleich bevorzugt; etwas Edles, Elegantes, Ritterliches findet man an den meisten
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*) Nicht blos die Herren im Salon, auch die Diener im Vorsaal, die Soldaten auf der Straße vor ihren Kasernen und Wachthäusern lagernd, sieht man mit Karte und Würfel spielen.
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61 Leidenschaften. Classification der polnischen Aristokratie.
Persönlichkeiten, ja meist an denen selbst, die sich nie in höhern Gesellschaftskreisen bewegten; bei fast Allen findet man einen Ausdruck von Unabhängigkeit und Selbständigkeit, der an die Zeit erinnert, wo selbst der ärmste Edelmann im Lande auf die Krone hoffen konnte. Gewiß trägt zu diesem äußern frischen freien Wesen und Bewegen das häufige Landleben und Walten auf großen Gütern unter vielen Unterthanen, die Vorliebe für Reiten, Jagen und das viele Reisen bei. Auch der bekannte persönliche Muth der Polen, den sie in den alten Kriegszeiten so oft glänzend offenbarten, ist ihnen geblieben und braucht um sich zu zeigen nur die Gelegenheit, deren häufigste und traurigste durch das Duell gegeben wird.
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Alle in diesen Provinzen wohnenden Polen rechnen sich zu dem Adelstande; doch bestehen in diesem die verschiedensten Abstufungen, und es ist eine weite Entfernung von den Höhen der Aristokratie bis zu den Niederungen der Schlachtitzen, denen viele der Gewerb-, ja der Landleute angehören, sodaß man hier und da auf den Gütern nicht blos Inspectoren, Schreiber u. s. w., sondern Stallgehülfen, Brauer, Jäger antrifft, die sich ihrer adeligen Abkunft rühmen. Ueberhaupt liebt man so hoch - und gutgeboren als möglich zu erscheinen *); wol nirgends gibt es soviel Grafen und Prinzen wie hier, und Viele mögen solche Titel mehr aus Liebhaberei als aus Recht führen.
Der besitzende Adel wohnt meist auf dem Lande zerstreut auf den großen und kleinen Gütern, die oft ganze kleine Reiche bilden, oft auch unter mehre Besitzer getheilt sind. Diese Güter,
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*) Ossolinski schrieb einst, bei Unterzeichnung eines Vertrags, seinen Namen unter die vielen Prinzen und Grafen des Römischen Reichs und darunter: Nobilis Polonus, his omnibus par.
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62 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
zu denen weite Felder, Wälder, Fluren, Dörfer, die sich oft stundenlang ausdehnen, oder kleine Judenstädte gehören, haben zum Mittelpunkt häufig ein ganz unscheinbares weißes Landhaus mit niedern Fenstern, dessen Inneres freilich dem Aeußern nicht immer entspricht, sondern mit allen Erzeugnissen des Luxus und Comfort, mit Büchern, Kunstwerken u. s. w. ausgestattet ist. Feste, für Jahrhunderte gebaute Schlösser wie in Deutschland, England, Frankreich sieht man fast nirgends, und auch dies wieder zeigt die Nomadennatur des Volks, die sich nicht wie für die Ewigkeit an eine Scholle binden will; fast alle großartigern Gutsgebäude sind in Palast- oder Villenstil gebaut. In diesen größern Etablissements findet man oft reiche Bibliotheken und Kunstsammlungen; Gewächshäuser und herrliche Parks, Alles was ein Landleben angenehm und großartig machen kann, gehört dazu. Die meisten Besitzer haben auf ihren Gütern außer den Brennereien, Brauereien, Schäfereien auch verschiedene Fabriken (Tuch-, Zucker-, Papier-, Glasfabriken) angelegt, die oft eine Quelle des Gewinns, öfter des Verlustes sind. Die meisten Dirigenten und Aufseher aller solcher industriellen Geschäfte sind Fremde, häufig Deutsche, sodaß mit dem unmittelbar an die Familie sich schließenden Personal von Erziehern und Lehrern, mit den Schreibern und Verwaltern und der meist übertrieben zahlreichen Dienerschaft ein solches Gut eine ganze eigene Welt umfaßt.
Manche dieser Landedelleute sind bloße Landwirthe, nur beschäftigt mit der Cultur ihres Bodens, dem Betrieb ihrer Fabriken, dem Verkaufe ihres Getreides u. s. w., selten hinausblickend über den Kreis ihrer Thätigkeit oder Ruhe, unbekannt oder entwöhnt der Eleganz und feinen Sitte der großen Welt, im Besuchen und Besuchempfangen einiger Nachbarn, im vielen Rauchen und Kartenspielen und im Genusse der Bequemlichkeit und Alleinherrschaft in ihrem Gebiete alle
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63 Landleben des Adels.
Lebensfreuden findend. Andere Landbewohner im Gegentheil repräsentiren vollständig die polnische Liebenswürdigkeit, Grazie und Bildung, kennen halb Europa, seine verschiedenen Sprachen und Literaturen, leben mit seinen Interessen fort und bilden – in welcher ländlichen Abgeschiedenheit sie auch leben mögen, einen Theil seiner hohen Gesellschaft. In der Frauenwelt besteht dieselbe Verschiedenheit, und es wäre eine Galerie mannichfachster Charakterbilder aufzustellen von der Dame an, die nichts als eine gute Gospodinja (Hauswirthin) ist und sein will, die Haus und Hof durchwandert, mit dem Schlüsselbund am Gürtel und der langen Pfeife im Mund, zuweilen auch dem Gebetbuch in der Hand, aus dem sie mitten unter dem Anordnen und Schelten die Tagesgebete liest – bis zu jenen edeln Frauen, welche reich an Liebenswürdigkeit und hoher Bildung in jedem Kreise, mag er der großen Welt oder dem stillländlichen Leben angehören, wie helle Sterne glänzen. Die meisten Edelleute bewohnen ihre Güter mit vielen Unterbrechungen und suchen, da die Pässe in das Ausland theuer und schwer zu erlangen sind, die verschiedensten Zerstreuungen im Lande selbst, bringen den Januar in Kiew zu, wo die Contracte – d. h. die Güterverkäufe, Vertauschungen und andere Verhandlungen den Vorwand zu einer Reihe von Lustbarkeiten geben; suchen Carnevalsfreuden in Zytomir, Kaminiec, Krzemienice und selbst in Warschau, finden später bei den Electionen in den Haupt- und Districtstädten neue Gelegenheit zum Amusiren, verleben die letzten Sommermonate in Odessa, um neben Seebädern und Seeluft Opern-, Ball und Salonfreuden zu genießen und haben zwischen all diesen Hauptvergnügungsepochen noch Zeit genug, ihre Freunde auf den verschiedenen Gütern zu besuchen, oder allerhand Geschäfte, mit denen sich immer allerhand Amusements verbinden, in den jüdischen Städten, besonders der Haupthandelsstadt Berditschew
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64 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
abzumachen. Die jungen unverheiratheten Männer vor allem sind ewig unterwegs, immer bereit wie ein Kometenschweif irgendeiner reichen Erbin nachzuziehen, die jenem flüchtigen Meteore gleich, meist nur kurz am Himmel der Gesellschaft glänzt und bald von irgendeinem Glücklichen auf einen fernen Landsitz als Gattin entführt wird.
Um die bekannte Gastfreundschaft dieser Provinzen zu rühmen, braucht man nicht von der großartigen Weise zu sprechen, in welcher sie die reichsten Familien des Landes ausüben, welche wochenlang Scharen vornehmer Gäste mit ihren Dienerschaften beherbergen und durch Bälle, tableaux vivants, durch Jagden, Pferderennen, Regattas und durch Alles, was ihre Schlösser und Parks an Luxus und Comfort bieten, unterhalten, sondern man braucht von der nur zu erzählen, die überall im Palast wie im bescheidenen Landhaus herrscht. Da wie dort ist man immer bereit, ganze Familien mit ihrem Train von Dienern und Pferden aufzunehmen, die eigene gewohnte Bequemlichkeit aufzugeben, um selbst den überzähligen Gästen Raum zu schaffen und mit der gewöhnlichen polnischen Liebenswürdigkeit und Leichtigkeit Alles einzurichten, wo auf jedem Mittagstisch Couverts für unerwartete Gäste liegen und man selbst dem halbfremden Durchreisenden gern das beschwerliche Rasten in der Kartschma erspart. So ist durch diese Gastfreundschaft, durch die Menge der Güter, die in meist geringen Entfernungen voneinanderliegen und nur Besitzern Eines Standes gehören, durch die Leichtigkeit, mit welcher bei den vielen Pferden und schnellem Fahren die weitesten Wege zurückgelegt werden, das Landleben in jenen Gegenden belebter vielleicht als in unsern deutschen Ländern.
Jene Gastfreundschaft verlangt auch, daß die Tagesordnung auf dem Lande fast überall dieselbe sei, sodaß Jeder sicher ist, um 8 oder 9 Uhr die Familie beim Frühstück, um 12
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65 Stadtleben des Adels.
beim Diner, um 5 beim Thee und um 8 oder 9 Uhr beim Souper versammelt zu finden. In den Städten lebt man anders und rückt die Diner- und Theezeit um mehre Stunden vor. Selten verlebt man den ganzen Winter, noch seltener das ganze Jahr in der Stadt; daher hat man auch hier meist nur gemiethete Wohnungen und in ihnen wenig von der Bequemlichkeit und dem Luxus der Landhäuser, denen jene bessern weißen Häuser der Stadt gleichen mit den hellgrauen oder grünen Dächern, dem oft mit Blumen geschmückten Perron, dem Frontispice, von hölzernen Säulen getragen, durch welche man in das Rez-de-chaussée mit den fensterreichen, meist nur weißangestrichenen kleinen Zimmern tritt, über dem sich selten noch ein Stockwerk befindet. Das sommerliche Aussehen dieser Häuser wird durch die Baumgruppen und Gärten erhöht, die sie umgeben und voneinander trennen, und an denen seitwärts die ebenso netten weißen Gebäude für Stallung und Diener stehen. so liegen diese heitern Etablissements wie Oasen mitten in der Wüste der kleinen lärmerfüllten Judenstädte, zu deren Treiben das elegante, reiche Leben, das sie umschließen, einen eigenen Contrast bieten. Denselben Contrast zeigt Alles, was von diesem Leben hinaus in die schmuzigen Straßen und deren bärtige Bevölkerung tritt: die eleganten Reiter auf schönen Pferden, die vier- und sechsspännigen Equipagen mit Dienern und Vorreitern, die leichten Droschken, die glänzenden Cavalcaden, auch hier und da einige, von den jüdischen ärmlichen Kaufläden abstechende reiche Magazine, in denen sich alle Luxusgegenstände vom kostbarsten Flügel bis zu den kleinsten Toilettengegenständen (Alles zu übertriebenen Preisen) findet. *) Zwischen den Judenhütten und diesen weißen kleinen Cottages der neuern
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*) In den größern Städten, wie Kiew, Odessa, ist natürlich Alles anders: die Straßen sind reinlich, die Häuser mehrstöckig und eleganter und meist in italienischer Weise mit niedern oder flachen Dächern, auch mit Balkonen und Jalousien versehen.
Förster, Südrußland.
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66 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Zeit sieht man hier und da in den altpolnischen Städtchen Reste der Vergangenheit, zerstörte Paläste, Klosterruinen, verfallene Kirchen.
Nur schwer entschließen sich die polnischen jungen Männer in den Staatsdienst zu treten, obgleich ihnen alle Wege und Gelegenheiten dazu offenstehen. Höchstens dienen sie einige Jahre, um irgendeinen Civil- oder Militärgrad zu erlangen, der ihnen eine Autorität gegenüber den niedern Beamten in der Provinz verleihe, und verlassen dann die angefangene Carrière, um zu jenem unsteten Leben des Vergnügens und der Phantasie zurückzukehren, in dem so viele edlere Naturen untergehen.
Ganz verschieden in dieser Hinsicht ist der Geist in der russischen Gesellschaft, welche die amt- und zwecklos Lebenden kaum als ihr angehörend betrachtet und selbst die durch Geburt und Reichthum Unabhängigen, die durch poetisches oder künstlerisches Talent individuell Ausgezeichneten, zwingt, sich einer bestimmten öffentlichen Civil- oder Militärthätigkeit zu widmen und die von der höhern oder niedern Geburt ganz unabhängige Stufenleiter des Ranges zu ersteigen, und welche Jeden fühlen läßt, daß er als Einzelner nur groß sein kann durch das Aufgehen in einem großen Ganzen. Die dem dauernden abhängigen Geschäftsleben so abholden Polen streben dennoch eifrig nach gewissen Ehrenämtern, zu denen die Wahl ihrer Standesgenossen sie berufen kann. Wie nämlich jede Bauerngemeinde im russischen Reiche das Recht und die Verpflichtung hat, sich seine Häupter (golowa), seine Aeltesten aus eigener Mitte durch Stimmenmehrheit zu wählen, so ist dasselbe Recht auch dem Adelstande im ganzen Lande gegeben und jede Provinz hat ihre durch Abstimmung
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67 Die Polen im Staatsdienst. Wahl der Marschälle u. s. w.
für eine gewisse Zeit gewählten Gouvernements- und Districtsmarschälle und Vicemarschälle; ebenso erwählt sie Präsidenten und Beisitzer dieser und jener Deputirten- und Gerichtskammer, welche alle die innern (nicht polizeilichen oder rein gouvernementalen) Angelegenheiten des Adels der Provinz – Processe, Vergleiche, Ehescheidungsfälle und andere Rechtssachen, Bittstellungen an die Regierung u. s. w. – überwachen und leiten. Die Erwählung zu einem solchen Amte ist als Beweis des allgemeinen Vertrauens natürlich eine Ehrensache, aber auch der damit verbundene Titel ist Manchem anziehend und man entsagt ihm nicht, wenn die Zeit des Amtführens längst vorüber ist, sodaß die Provinzen an diesen Marschällen reich sind. Diese Wahlen, die alle drei oder vier Jahre in den Gouvernements- und Districtsstädten stattfinden, setzen den ganzen Adel der Provinz in Bewegung und man kann sich an den Electionstagen selbst einen Begriff von dem Ungestüm und der brausenden Heftigkeit machen, durch welche die Königswahlen einst so stürmisch wurden. Diese Electionen beginnen durch einen feierlichen Actus in der Kirche, wo alle adeligen Grundbesitzer der Provinz in ihren Uniformen erscheinen und vor dem kaiserlichen Generalgouverneur den Schwur einer gewissenhaften und loyalen Wahl ablegen und wo das Gebet des Priesters sie für ihr Vorhaben segnet. Dieses selbst wird durch eine Rede des Generalgouverneurs im Wahlsaale eingeleitet; meist kommt man erst nach zehn bis zwölf Tagen zum Ziele und unterbricht die Wahlgeschäfte durch zahlreiche Diners und Soupers, bei denen die Weinbegeisterung oft schneller als alle Berathung auf die Entscheidung wirkt, welche durch Ballotirung herbeigeführt wird. Diesen wichtigsten Tagen folgt meist eine Reihe von Lustbarkeiten. Der Generalgouverneur, der abgehende und der neuerwählte Marschall und wer irgend Local, Vermögen und Verbindlichkeit
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68 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
hat, gibt Bälle, die mit Concerten, Cavalcaden, Festen im Freien u. s. w. abwechseln. Aus der Nähe und Ferne sind die vornehmen Familien herbeigekommen; die Stadt ist überfüllt; für die kleinste Wohnung zahlt man die höchsten Preise; man entfaltet soviel Luxus und Reichthum als möglich an Toilette, Pferden, Wagen, Dienern; junge Mädchen mit ihren Aeltern, aus ferner Landeinsamkeit gekommen, erscheinen zum ersten male mit hoffnungsglänzendem Blicke in der größern Welt, alte Damen, die sie seit Jahren verlassen haben, betrachten sie noch einmal mit erinnerungsschwerem Auge. Liebesahnungen regen sich, Leidenschaften erglühen; auch die Intrigue spinnt ihre Netze und die Verleumdung regt ihre giftige Zunge. Rosenknospen entfalten sich froh im Sonnenlicht und ahnen den giftigen Hauch nicht, der ihre schöne Blüte verderben möchte. Junge Schönheiten werden bewundert und bekrittelt; alte Freundschaften werden erneuert, neue werden geschlossen; manches Geschäft wird begonnen oder beendigt, mancher Streit geschlichtet; Wiedersehen werden gefeiert; lange sich suchende Herzen finden sich hier; für ganz andere Wahlen, als die officiellen der Marschälle, sind Viele gekommen. Manches Lebensschicksal entscheidet sich hier; aber nicht blos vor dem Throne der Schönheit und der Güte und des Geistes neigt man sich bewunderungsvoll, sondern wendet öfter noch den begehrenden Blick zum Throne des Mammons und läßt die Rosenknospe ungepflückt, weil sie nichts als ihren Duft und ihre Lieblichkeit bieten kann. Alle Interessen, alle Leidenschaften, die auf den großen Schauplätzen der Geselligkeit unter der glänzenden Oberfläche allgemeiner Fröhlichkeit durcheinanderwogen, finden sich auch in dieser kleinen Welt. Die stille Stadt scheint ganz verwandelt; es ist als habe sich ein Strom mit glänzenden Wogen plötzlich über sie ergossen und ihr früheres Leben überschwemmt; aber schnell, wie er
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69 Die großrussischen Bewohner der Provinzen.
gekommen, verschwindet er und nach wenig Tagen ist der Ort öde, ja in Erinnerung des Vergangenen noch öder als zuvor. Die eleganten Equipagen und Reiter sind verschwunden und wieder weilt das Auge allein auf den müßig auf- und abschleichenden Juden, den bärtigen Bauern und grauröckigen Soldaten, den Kühen und andern vierfüßigen Spaziergängern, die ungestört in den Straßen wandern. Reisewagen ziehen in allen Richtungen den fernen Landsitzen zu und manche Seufzer der Hoffnung oder Enttäuschung fliehen zurück zum Schauplatze der vergangenen Freuden.
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Die wenigen nichtpolnischen Gutsbesitzer in diesen Provinzen sind meist Kleinrussen, deren Charakteristisches schon besprochen ist. Von den verschiedenen gebildeten Classen des nördlichen Rußland finden sich allein Vertreter in der Beamten- und Militärwelt. Wenn man die Polen in vieler Hinsicht mit den Italienern und die Kleinrussen mit den Neugriechen vergleichen könnte, so dürfte man im Charakter und Wesen der gebildeten Classen des Nordens manche Aehnlichkeit mit den Engländern finden und oft daran erinnert werden, daß sich dort von Rurik's Zeit her normannisches Element mit dem slawischen mischte. Im Vergleiche zu den südlichen Bewohnern des Reichs besonders fällt die größere körperliche und geistige Solidität und Kraft auf, der größere Ernst, die größere Ruhe, Mäßigung, Ordnung, das Reellere, Positivere in Erscheinung und Wesen. Auch die Neigung und Fähigkeit für das active Leben, für öffentliche regelmäßige Thätigkeit, die Strenge und Genauigkeit, mit der auch die äußern Formen der Religion beobachtet werden, kurz eine Menge nur dem aufmerksamen Beobachter bekannte Eigenschaften haben die Nordrussen mit den Engländern gemein.
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70 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Mit all Diesem verbindet sich die slawische Impressionabilität und Elasticität, und obgleich die französische Erziehung noch fast durchgängig herrschend, auch die Gesellschaftssprache eine Mischung von Französisch und Russisch ist, dennoch haftet der esprit français nur an der Oberfläche, durchdringt nur die Form und nicht das innere Wesen der Gesellschaft, die ihren eigentlichen Beruf: den Nationalgeist veredelt und in seiner höchsten Bedeutung darzustellen, immer mehr begreift. *)
Daß alle genannten Eigenschaften sich oft nur in schwachen Anklängen und oft gar nicht unter der in den Provinzen verstreuten Welt der Beamten (Tschinowniks) findet, die man wol häufig mit Recht des Eigennutzes und der Bestechlichkeit beschuldigt, das läßt sich denken, kann aber die Ansicht über die gebildeten Classen nicht bestimmen; es muß sich diese nach dem bessern und besten Theile der Gesellschaft, nach ihren edelsten und besten Gliedern richten.
Unter den Offizieren der in allen Provinzen des russischen Reichs vertheilten Regimenter der Armee, besonders unter denen der Cavalerie, die meist reichen, vornehmen Familien angehören **), findet man viele feingebildete Männer, die sich wissenschaftliches Interesse und manches künstlerische Talent erhalten mitten im Nomadenleben der Armee, die wie ein groses Meer
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*) Wie denn auch die neuern russischen Dichter: Puschkin, Schoukowski, Lermontow, Koslow, Baratynski, Maikow, Gogol, Solohoupe, Pawlow, Benedictow u. A. in ihren Poesien den Nationalgeist offenbaren, ganz anders als die ältern Dichter, die mehr oder weniger unter französischem Einflusse standen.
**) Die „Armee“, so nennt man alles im Innern des Reichs vertheilte Militär zum Unterschiede von den in Petersburg und den nächstliegenden Orten stationirenden Regimentern der Garde, in der meist nur sehr Vermögende oder durch persönliche Vorzüge Ausgezeichnete dienen.
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71 Leben der Offiziere in den Provinzen.
über das grüne Rußland hin- und herwogt und dessen Regimenter in wechselnder, durch die politischen Bewegungen im übrigen Europa oft veränderter Bestimmung unaufhörlich die Standquartiere vertauschen, vom Osten nach Westen, vom Innern an die Grenzen rücken, im Winter in den Städten und den ihnen benachbarten Dörfern einquartiert sind, im Sommer aber zu den großen Revuen und Exercitien (denen häufig der Kaiser beiwohnt) auf dem Lande campiren und cantonniren. Die verheiratheten Offiziere führen ihre Frauen, Kinder und Dienerschaft mit sich und man kann sich die Unbequemlichkeiten eines solchen militärischen Familienlebens denken, das seinen Schauplatz vielleicht jetzt in Tiflis, dann in Kiew, in Zytomierz, jetzt in Woronesch an den Ufern des Don, dann in irgendeiner polnischen Stadt am Weichselstrande hat. Die Decoration des Schauplatzes wechselt gleich ihm. Man quartiert die Offiziere und ihre Familien in die gerade leer stehenden Häuser (gegen Bezahlung) ein und die, welche in der einen Stadt elegante herrschaftliche Räume bewohnten, müssen sich in der andern mit einer ärmlichen düstern Bürgerwohnung begnügen. Doch lebt man da wie dort fast in derselben Weise, sucht soviel Vergnügen als möglich und ist bemüht, sich à tout prix zu amusiren. Man macht Bekanntschaft mit den vornehmern Einwohnern, arrangirt Bälle, spielt Komödie, verliebt, verlobt sich. Die Herren haben als Hauptressource die Karten; die Damen beschäftigen sich mit ihrer Toilette und machen oder empfangen Besuche, um diese zu zeigen; man gefällt sich, lebt sich ein, macht immer neue Vergnügungsprojecte: da plötzlich kommt die Marschordre; nach wenigen Tagen ertönen die Hörner, und mit klingendem Spiel zieht das Regiment aus den Thoren. Bald folgen die schwerfälligen Familienequipagen, die Wagen mit Dienerschaft, Matratzen, Küchengeräth beladen. Das kaum angefangene
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72 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Gewebe zufälliger Freuden ist plötzlich zerrissen; doch nicht entmuthigt, beginnt man an einem andern Orte von neuem die losen Fäden anzuknüpfen. – Gleich der Geselligkeit wird auch das äußere Ansehen einer Stadt durch die militärische Einquartierung bunt belebt, denn die Offiziere dürfen ihre Uniform niemals ablegen, und so sieht man letztere überall unter den Civiltrachten schimmern und überall die Gold- und Silberhelme funkeln. Die gemeinen Soldaten tragen in der Provinz gewöhnlich lange Oberröcke von grobem grauen Wollenzeug und kleine plattgedrückte Mützen auf dem kurzgeschnittenen Haar. Auch die Volontärs oder Junker in der Armee tragen diese unscheinbare Kleidung, mit welcher helle Glacéhandschuhe und parfümirte Battisttücher oft sonderbar contrastiren.
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Unter den Offizieren, den Beamten, den Lehrern der Gymnasien und Professoren der Universität (deren es in diesen Provinzen nur eine, die von Kiew, gibt) befinden sich viele Deutsche aus den Ostseeprovinzen, deren deutsche Gemüthlichkeit, Einfachheit, Bedächtigkeit, Sparsamkeit, ernste Solidität inmitten der slawischen Flüchtigkeit, Sorglosigkeit und Verschwendungssucht doppelt hervortreten. Auch gibt es hier viele aus Deutschland selbst Eingewanderte: Lehrer (die Musiklehrer sind großentheils Böhmen; auch findet man viel herumziehende böhmische und deutsche Musikanten), Aerzte, Apotheker, Architekten, Kaufleute, Uhrmacher u. s. w. – besonders viele Handwerker, welche, wie sie auch über das Leben in diesem Lande klagen, über den Mangel an ihren gewohnten sonntäglichen Vergnügungen, über die hochmüthige Behandlung ihrer vornehmen Kunden (welche die Niedern meist mit „Du“ anreden), dennoch gern in dem Lande bleiben, wo sich ihre Rubel so schnell vermehren und wo sie übertriebene Preise
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73 Die Deutschen in Südrußland und die Ausländer überhaupt.
für ihre Arbeit fodern können, da hier wie anderwärts die Neigung herrscht, daß Fremde dem ebenso brauchbaren und viel billigern Einheimischen vorzuziehen.
Fast in allen diesen Provinzen gibt es deutsche Colonien, deren Bewohner sich von Acker- und Gemüsebau, Viehzucht u. s. w. nähren und in Dörfern wohnen, die durch ihre Häuser mit buntbemaltem Gebälk, mit Blumen vor den Fenstern und kleinen freundlichen Gärten nach Deutschland versetzen. Diese Colonisten verheirathen sich fast immer untereinander und sprechen, ob sie auch alle meist schon im Lande geboren sind, die deutsche Sprache, ja den Dialekt jener deutschen Provinzen, aus denen ihre Groß- oder Urgroßältern kamen.
Fast alle diese Deutschen sind Lutheraner und können, wenigstens in den Hauptstädten der Provinzen, einen Gottesdienst in ihrer Confession finden, der aber meist in Bethäusern oder Privatwohnungen gehalten wird, jedoch von einem von der Regierung besoldeten Prediger, welcher Seelsorger der ganzen Provinz ist und daher häufig von jener Hauptstadt durch Berufsreisen entfernt wird.
Noch muß man zu den temporären Bewohnern dieser Gegenden die Menge der fremden Lehrer, Bonnen, Gouvernanten und Gouverneurs zählen, welche alle Provinzen des großen Reichs überfluten. Die meisten derselben kommen aus Frankreich und der Schweiz und sind wol nur selten ihren gewählten Beschäftigungen gewachsen: meist geneigter und befähigter, sich selbst Silberrubel zu sammeln, als für Andere die Goldkörner des Wissens und der Bildung auszustreuen. Es ist unbegreiflich, daß die russischen und polnischen Familien zu Erziehern ihrer Kinder meist diese Fremden wählen, von deren Herkunft, Erziehung, früherer Lebensart sie wenig oder nichts wissen, die so oft ohne Bildung und Beruf für ihre heiligen Pflichten sind und diese nur als Nebensache
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74 Natur- und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
und die Sammlung eines Capitals als Hauptsache ihres Aufenthalts in Rußland betrachten, und die, sollten sie auch im glücklichen Falle die moralische Reinheit ihrer Zöglinge nicht gefährden, sie doch häufig dem eigenen Lande entfremden und sie mit ihm und ihrer Umgebung unzufrieden machen. Doppelt thöricht erscheint diese Passion für das Fremde, da man nicht blos treffliche einheimische, im Lande selbst gebildete Lehrer *), sondern unter den ärmern Zöglingen der kaiserlichen Fräuleininstitute (deren eines sich in jeder Gouvernementsstadt befindet) auch Erzieherinnen finden kann, welche durch einen meist neunjährigen Aufenthalt in diesen ausgezeichneten Anstalten für ihre Bestimmung vollkommen vorbereitet sind, auch weit geringere pecuniäre Ansprüche machen als die Fremden, denen man in der Vorliebe für alles Ausländische die übertriebensten Foderungen erfüllt. Die Regierung ist so weise, dieser Vorliebe hindernd in den Weg zu treten und jenen männlichen und weiblichen Pädagogen den Eintritt in das Land zu erschweren, Prüfungen von ihnen zu verlangen u. s. w., und gewiß kann die Verminderung ihrer Zahl der echten Nationalbildung nur förderlich sein.
Auch nichteuropäischen Fremdlingen begegnet man häufig in diesen Ländern, und außer den Kosacken, die mit langen Piken in der Hand und niedern spitzen pelzverbrämten Mützen über dem schnurrbärtigen Antlitz auf schnellen Rossen einzeln dahersprengen oder in ganzen Regimentern die Gegend durchziehen, sieht man manchen schlanken, schwarzäugigen, dunkelhaarigen Tscherkessen mit lebhaften, ausdrucksvollen Zügen,
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*) Unter den vielen vom Kaiser Nikolaus gegründeten öffentlichen Anstalten soll eine der trefflichsten das große Lehrerseminar in Petersburg sein.
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75 Fremde Nationalitäten.
angethan mit dem kurzen, breit ausgenähten Waffenrock, in dessen Silberhalftern über dem Gürtel die Pistolen stecken, sieht dann und wann einen Perser in buntem Kaftan und dem Feß über dem bräunlichen, klugen Angesicht, sieht vor allem häufig die Tataren mit kleinen, funkelnden, listigen Augen, den breiten Backenknochen, den weißen Zähnen, die unter dem dunkeln Schnurrbart blendend schimmern, die Kinder der Steppe, die ewig wandern zwischen dem Osten und Westen, die aus der Krim die Trauben und von Odessas Märkten kleinasiatische Früchte holen und auf ihren obstbeladenen Wagen sitzen mit der Pfeife im Munde und dem Dolch im Gürtel, oder die noch kostbarere Waare des Orients, Teppiche, Shawls, Seidenzeuge den europäischen Käufern bringen und diesen als schlaue, betrügerische Kaufleute bekannt sind.
Auch von dem Wandervolke, dessen Geschichte so dunkel und geheimnisvoll ist wie die des Pyramidenlandes, aus dem es stammen will, sind zahlreiche Horden über diese weiten grünen Lande verstreut. Hier und da lagern sie am Wege, die dunkeläugigen Zigeuner, mit den langen schwarzen Haaren, dem gelblichen Angesicht, den zerlumpten Kleidern und dem wilden, brennenden Blick. Oft ist eine ganze Schar vereinigt und hat ihr Lager aufgeschlagen in einer einsamen Steppen oder Waldgegend, oder in der Nähe der Dörfer, wo man, voll Furcht vor ihrem Diebssinn, ihr selten lange Rast gestattet. Wenn man am Abend durch die stille Gegend fährt, dann taucht oft plötzlich ein Bild aus dem Zigeunerleben wie ein dunkles Räthsel aus der Dämmerung auf: elende Zelte, magere Pferde, in der Nähe weidend, schmuzige Karren, Alles wild und grau durcheinandergemischt, finstere Männer mit wildem Haar müßig am Boden liegend, rauchend oder schlafend, Frauen in grellfarbigen, um den Kopf geschlungenen
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76 Natur - und Menschenleben in Volhynien u. s. w.
Tüchern, dazwischen braune, zerlumpte Kinder, die Gnomen gleich schreiend, streitend hin- und herfahren – Alles dann und wann grell von der aufflackernden Glut des Feuers beleuchtet, an dem die Frauen die Wäsche trocknen und die Suppe im schwärzlichen Kessel kochen.
Für diese und verschiedene andere Völkerstämme, die im weiten Reiche wohnen und wandern, ist Rußland gastfrei im vollen Sinne des Wortes, läßt sie nicht blos ungekränkt ihren eigenen Sitten und Gewohnheiten, sondern ungestört ihren eigenen Religionen leben. Und gastlich, gleich seinen Herrschern, empfängt das Land selbst Alle, die es betreten. Es bietet in seinen unermeßlichen Wäldern, seinen weiten grünen Fluren und grenzenlosen Steppen nicht blos Raum den verschiedenen in ihm heimischen Völkern, sondern könnte noch Unzählige aufnehmen und säen und ernten lassen in unbenutzten, unbewohnten Gefilden. Hier findet man noch frische junge Erde, noch reine freie Luft; hier kann man sich noch da und dort zurückdenken in die Urtage des Menschengeschlechts; hier hat „der Mensch mit seiner Qual“ noch nicht alle Stellen in Besitz genommen und noch ist „die Theilung der Erde“ hier nicht ganz geschehen. Ja selbst der Dichter kommt noch nicht zu spät und braucht nicht klagend zum Olymp zu fliehen.
Er findet hier noch liedervolle Stellen,
Noch tiefe dunkle Waldeseinsamkeit,
Noch ungekannte, ungetrübte Quellen,
Noch Fluren, die kein Menschenfuß entweiht,
Wo Pan noch ruht im Mittagssonnenschein,
Den Waldbach noch, wo die Najade wohnt,
Und noch den heilig stillen Eichenhain,
Wo frei und froh der Gott der Lieder thront,
Des Stimme herrlich durch die Wipfel rauscht
Und wo er süß entzückt dem Klange lauscht
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77 Reise durch Volhynien nach Podolien.
Und in den wohlbekannten Klang verloren,
Das fremd er in der Fremde weilt, vergißt,
Und selig fühlt, daß, wo er auch geboren,
Die ganze Welt des Dichters Heimat ist!
2. Reise durch Volhynien nach Podolien.
Kordelowka in Podolien, Anfangs Juni.
„Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident!“ Diese Worte des Dichters, die ein hochverehrter Freund mir beim Abschied zugerufen, klingen immer durch meine Seele. Wie schön ist's auch in Rußland, oder vielmehr wie schön und reich ist's auf der Erde! Das Ziel ist erreicht und hier und auf der ganzen Reise habe ich tausend Ueberraschungen gefunden, denn nach den Vorstellungen, die man sich bei uns von Rußland macht, konnte ich die Lieblichkeit nicht ahnen, die mich auch hier umgibt.
Betrübt nahm ich vor kurzem vom reizenden Stremilce, seinen Rosen und Linden, Abschied und erreichte von neuem Brody, bis dahin von den lieben Gastfreunden begleitet; mir war, als hätte ich eine glückliche Insel verlassen, um ins unbekannte Meer hinauszuschiffen; alles Unfreundliche, was man uns je von Rußland erzählt, kam mir ins Gedächtnis; mir war, als ginge ich in das Land, from whose bourns no traveller returns; ich hätte allen Planen entsagen und wieder umkehren mögen: aber der Reisewagen stand schon vor der Thür, die vier weißen Pferde wieherten lustig, der Kutscher
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78 Reise durch Volhynien nach Podolien.
war ungeduldig, also kein Bedenken – nur vor-, nicht rückwärts geblickt. Lebt wohl! lebt wohl! Die Welt ist überall des Herrn!
Wir fuhren durch eine kurze Strecke Fichtenwald, dann kam das österreichische Grenzhaus und ein kurzer Aufenthalt. Ein russischer Kosack setzte sich neben den Kutscher, ein anderer ritt neben her, und so großartig escortirt nahten wir der Grenze, die ein Schlagbaum mit den russischen Farben, dahinter einige kleine Gebäude mit Schildwachen bezeichneten. Oben wölbte sich der Himmel in unermeßlicher gleicher Bläue, helle Wolken zogen ungefesselt über Rußland nach Deutschland hin oder lagerten in lieblicher Ruhe über beiden Grenzen; ich versenkte meine Blicke in das weite unbegrenzte Reich des Lichtes, und als ich wieder herabsah, erschienen mir die Schildwachen da drüben so zwerghaft, der Schlagbaum ein Kinderspiel und kindisch die Menschen und ihre Anstalten, die Lande der Erde, die ein und dasselbe Grün bedeckt, ein und derselbe blaue Himmel überwölbt, voneinander zu scheiden und zu umgrenzen und die Bürger Einer Welt, die sich als Brüder lieben sollen, voneinander zu trennen.
Das Unangenehme der Visitation des Gepäcks wurde gemildert durch die Artigkeit und Höflichkeit der Beamten.
So war ich denn in Rußland und nach einer Viertelstunde im Grenzstädtchen Radziwilow unter weißen kleinen Häusern mit freundlichen Gärtchen. Im Posthause, wo man Nachtlager bekommt (einige Kissen und Decken auf lederüberzogenen Wandbänken) finde ich Deutsch sprechende gemüthliche Bewohner und einen kleinen Garten voll Rosen- und Akazienduft. Doch war ich froh, als mich am andern Morgen vier muthige Rosse der Einsamkeit entführten. Die Postklingel an dem einen Pferde die in Rußland das Posthorn ersetzt, begleitete mich mit ein förmigem Getön. Der Weg führte zuerst durch meist sandige
____ 79 Abend in Radziwilow. Fahrt nach Krzemienice.
Gegenden mit düstern Fichten- und Tannenwäldern; einsame Wirthshäuser (Kartschmas), vor denen bärtige Juden und Bauern standen, lagen in weiten Entfernungen voneinander; hier und da sah man öde Haidestrecken, auf denen große Pferdeheerden weideten. Nach und nach erheben sich die Gebirge –Zweige der Karpaten; waldbedeckte Höhen liegen im Vordergrunde, am Fuße kleine Dörfer verstreut, ein Kloster schimmert in der Ferne von einer Bergspitze; es ist ein berühmter katholischer Wallfahrtsort in der Nähe von Krzemienice; näher der Straße zeigt sich ein trauriger Anblick: die Ruinen eines prächtigen, kürzlich durch eine Feuersbrunst zerstörten Schlosses, vom verwüsteten Parke umgeben. Wir fahren in die Berge hinein und sehen in einem schönen Thale unter uns Krzemienice, romantisch, Karlsbad ähnlich, gelegen. Hohe und niedere Berge umschließen es von allen Seiten; zwischen sie und an sie hinan sind die Häuser gebaut, unregelmäßig durcheinanderliegend, mit malerischen Galerien, Außentreppen, vor springenden Dächern: dunkler Laubwald zieht sich von den Höhen bis dicht an die Wohnungen; mehre schöne Kirchen erheben sich mit ihren Thürmen, auf dem nächsten höchsten Berge, fast mitten in der Stadt, liegt die Ruine des Schlosses der Königin Bona. Das Innere der Stadt ist wenig romantisch; überall herrscht der Schmuz und Lärm der jüdischen Bevölkerung, mit deren elenden hölzernen Häusern die eleganten Wohnungen mehrer polnischer Familien, die sich hier und da mitten unter ihnen erheben, sonderbar contrastiren. In einer der letztern, dem Hause der Gräfin O., finde ich die gastlichste, gütigste Aufnahme. Von der Blumenterrasse, auf die man aus den heitern Salons tritt, blickt man durch die blühenden, duftenden Gewächse fremder Zonen auf die enge Judenstrase, die schmuzigen Hütten, die schreienden, lärmenden Bewohner; man träumt einen lieblichen Traum mitten in der grellen
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80 Reise durch Volhynien nach Podolien.
Wirklichkeit; auch die Vergangenheit drängt ihre Erinnerungen hinein, denn gerade gegenüber erhebt sich, die Straße verdunkelnd, der kahle Bergesgipfel mit dem zerstörten Schlosse der bösen leidenschaftlichen Königin. Den Nachmittag brachte ich im Hause des Baron Dz. aus Dresden zu, der, an eine polnische Dame verheirathet, hier in der reizendsten Umgebung lebt. Seine schöne Villa liegt auf einem Abhange, der sich mit Rasenplätzen, Blumen- und Baumgruppen, duftenden Akazien-, Rosen- und Jasminsträuchen bis ins Thal hinunterzieht. Das weiße Gebäude zeichnet sich hell von dem Hintergrunde der schwarzen Tannen ab, die den Waldberg bedecken, an den es sich lehnt, und von seinen Balkonen und Fenstern und jedem Punkte im Garten wandert das Auge entzückt über das schöne Thal mit der malerisch gelegenen Stadt und die wilden grünen Berge ringsum. Am Abend fand ich zahlreiche Gesellschaft bei der Gräfin O., ein liebenswürdiger polnischer Kreis, interessante geistvolle Unterhaltung; man konnte sich eher in einem pariser Salon, als in dem eines kleinen russischen Städtchens glauben.
Am andern Vormittag gingen wir in die katholische Kirche, die, ein kleines niederes Gebäude, eigentlich nur eine Kapelle, auf einem Hügel außerhalb der Stadt liegt. Der Raum war zu eng für die Menge, die sich hier zusammendrängte, und die Vielen, welche in der Kirche nicht Platz fanden, knieten draußen auf dem grünen Vorplatze, nur um von fern dem Klange des Glöckchens beim Gange der Messe zu folgen.
Die großen katholischen Kirchen der Stadt, die sie mit hohen Thürmen und reicher Architektur noch jetzt schmücken, sind geschlossen, oder für den griechischen Gottesdienst eingerichtet; auch verödete Klostergebäude stehen da und dort. Die Bibliothek, das gelehrte Gymnasium, vom Grafen Czacki, dem edeln Wohlthäter Volhyniens, einst hier gegründet, existiren nicht
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81 Ein Tag in Krzemienice. Weiterreise durch Volhynien.
mehr und man kann sich kaum denken, daß diese Stadt, die jetzt die Juden allein zu besitzen scheinen, einst das Athen Volhyniens war und das sich hier die Blüte seiner Jugend versammelte.
Mittag sagte ich den gütigen Gastfreunden Lebewohl und fuhr weiter mit der Equipage aus Kordelowka, die mich hier erwartete. Gleich nach Krzemienice verschwand die Romantik der Gegend; den schönen Bergen folgte theils sandiges, theils gutbebautes Hügelland. Nachmittag mußten die Pferde eine Stunde in einem Judenstädtchen rasten; ich ging unterdessen mit der deutschen Kammerfrau, die mir entgegengeschickt war, in der Gegend umher. Wir lagerten uns auf einem Hügel, der mit duftenden Kräutern und Haideblumen bewachsen war. Neben uns erhob sich eine kleine russische Kirche mit ihren drei grünen Kuppeln, von einem Breterzaun und einigen Bäumen umgeben! Der Pope, in schwarzem Bart und Haar, ging, sein kleines Töchterchen an der Hand, bedächtig den Hügel hinab. Schafe weideten am Abhange; ein kleiner Hirte, in eine braune Decke gehüllt, lagerte daneben; still ruhten rings die einsamen Thäler zwischen den kahlen oder mit dunkelm Nadelholz bedeckten Hügeln; ein Fluß wand sich langsam an ihrem Fuße hin und Mühlen und kleine Dörfer lagen an seinen Ufern. Auf den Wegen wanderten und fuhren Bauern zum Sonntagstanz und aus dem Wirthshause unter uns tönten die schrillenden Klänge einiger Geigen.
Nach mehrstündiger Fahrt durch die erquickende Abendkühle kehrten wir zur Nachtruhe in einer einsamen Kartschma ein. Diese Wirthshäuser haben alle dasselbe Aussehen: ein Säulen getragenes Vordach, unter dem sich der Haupteingang befindet, innen und außen weiß angestrichene Wände, ein Gang, der die Mitte des Gebäudes durchzieht und an dessen einer Seite sich
Förster, Südrußland.
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82 Reise durch Volhynien nach Podolien.
die Räume für die Reisenden und an der andern die Ställe befinden. Es dauerte lange, ehe das uns angewiesene kahle Gemach durch gehöriges Reinigen und durch Ausbreitung der mitgebrachten Matratzen, Decken, Servietten, Theegeräthe ein etwas wohnliches Ansehen erhielt. Nur Wasser zum Thee, Kohlen für den Samovar und Futter für die Pferde erhält man in diesen Wirthshäusern und muß alle nöthigen Lebensmittel mit sich bringen.
Am andern Morgen führte uns der Weg durch eine menschenleere, aber kornreiche Gegend, in der nur wenige Dörfer verstreut lagen.
Mittag blieben wir in einer Judenstadt –Konstantinow; die bärtigen zudringlichen Krämer, die sich in unsere Stube drängten, vertrieben mich daraus, ich suchte frische Luft und einen Ausweg ins Freie; so ließ ich mich verleiten, die Stadt in einigen Richtungen zu durchgehen. „Da unten aber war's fürchterlich!“ Ich kam in ein „grauses Gemisch“ von schmuzigen, halbzerfallenen Hütten, Haufen von faulem Gemüse, Eierschalen u. dergl., zwischen denen sich zerlumpte Kinder und Ferkel im Staube wälzten. Alte Weiber, häßlich wie die Hexe von Endor, stritten sich mit gleich schmuzigen Handelsleuten über ihre Waaren – es war ein Chaos von Lärm, Elend, Schmuz! Ohne Dante'sche Phantasie konnte man hier einen neuen Höllenkreis erdenken. Endlich gelangte ich aus den engen Gassen auf einen freien Platz. Eine Kirche von schöner Architektur mit hohen Thürmen und offener Pforte lud mich ein, in ihrem heiligen Raume Vergessen der traurigen Eindrücke zu suchen. Ich trat ein: der Vorhof war mit Gras und Nesseln bewachsen, die Kirchthür aus den Angeln gehoben, das Innere mit Staub und Schmuz bedeckt. Ich entfloh dem entstellten Heiligthum und war froh, als ich wieder im Wagen saß und die freie schöne Welt im Sommerabendglanze
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83 Steppengegend. Erster Blick auf Podolien.
vor mir lag. Auch das einsame kleine Dorf am blauen See zwischen den grünen Hügeln, wo wir zur Nacht blieben, war lieblich nach der Herberge des Mittags. Zur Abwechselung fanden wir in diesem Bauernwirthshause reinliche, sogar ein wenig möblirte Zimmer mit Lithographien an den Wänden. Am andern Tage bekam ich einen Begriff von der Steppe: vom frühesten Morgen bis zum Nachmittag fuhren wir in der größten Einsamkeit durch eine hügelige Ebene, die uns wie ein grünes Meer umgab; nirgends fand das Auge eine menschliche Wohnung, außer dann und wann, in weitesten Entfernungen, eine einsame Kartschma. Auch die Straße war ganz menschenleer. Nur einmal kam, wie eine Erscheinung aus einer andern Welt, eine Gesellschaft eleganter Damen und Herren zu Pferde, die irgendeinem entfernten Landsitze zueilte, querfeldein über den Weg gesprengt.
Auch diese einsame Steppengegend hatte ihre Reize, denn über uns jubelten die Lerchen in blauen Lüften und um uns dufteten, von Bienen und Schmetterlingen umflogen, tausend liebe bekannte Blumen. Unser Mittagsmahl hielten wir unter diesen Blumen, auf einem kleinen Hügel gelagert, von dem wir weit über die endlose schöne Einsamkeit blicken konnten. Am Nachmittage wird die Gegend belebter und bebauter. Wir fahren wieder durch ein armes kleines Judenstädtchen an einem waldumkränzten See, und als wir es verlassen, sehen wir vor uns ein liebliches freundliches Land, vielen deutschen Gegenden ähnlich; bewaldete Höhen ziehen sich in der Ferne hin; freundliche Dörfer sind an ihrem Fuße und inmitten der Ebene zwischen grünen Feldern und frischen Laubwäldern verstreut; da und dort liegen schöne Gutsgebäude, von blühenden Gärten umgeben, und viele blaue Seen schimmern zwischen dem Grün. Ein flüchtiger Gewitterregen macht Alles noch frischer und duftender. Tausend Regentropfen auf Blumen und Blättern
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84 Reise durch Volhynien nach Podolien.
funkeln in der Sonne; ein Regenbogen wölbt sich wie ein Paradiesthor über der grünen lächelnden Landschaft; zwischen dem dunkeln Grün der Eichenwälder schimmern die zarten duftenden Blüten der wilden Rosensträuche; alle Pfade sind belebt; Bauern mit Sicheln und Harken kommen von den Feldern zurück; sie sehen wie Mönche aus mit ihren langen Bärten und langen weiten Röcken von dunkelbraunem Fries, die manche noch vom Regen her über den Kopf gezogen haben. Daneben gehen hübsche Mädchen in weißen wollenen, vorn offenen Kaftanen, die ihre Haarflechten kronenartig um den Kopf gelegt und Kornblumen und Rosen darein gesteckt haben. Kinder klettern an den begrasten Gräben der Felder und haben die aufgehobenen Röckchen mit Kornblumen gefüllt.
Wir kommen aus einem duftenden Birkenwäldchen ins Freie: vor uns liegt eine heitere helle Villa mit breiter Treppe und offener Säulenhalle auf einem grünen Hügel, der sich als weit ausgedehnter Garten mit Blütensträuchern und jungen Bäumen bis zum blauen See hinunterzieht, an dessen jenseitigem Ufer ein Eichenwald dunkeln Schatten verbreitet. Die Häuser eines großen Dorfes, die drei grünen Kuppeln einer Kirche schimmern nahe der schönen Villa aus dem Grün vieler Obstbäume hervor. Der Wagen fährt durch das Gartenthor und hält vor der breiten Treppe; liebliche Gestalten eilen herbei, holde freundliche Gesichter, bekannte liebe Stimmen begrüßen mich; Heimatsluft umweht mich mitten im fremden Lande. Kordelowka, das Ziel der Reise, ist erreicht und liegt vor mir wie ein Buch, dessen erstes Blatt schon mir das Gute und schöne verspricht, das ich darin zu lesen hoffe.
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85 Erster Eindruck von Podolien. Ankunft in Kordelowka.
3. Landleben in Podolien.
1.
Kordelowka in Podolien, Mitte Juni.
Noch sind wir nicht in Sommers Mitte, noch ist Maienfrische in der Luft und Maiengrün auf Feld und Wald. Noch erscheint uns die Natur in aller ihrer angeborenen Lieblichkeit und wir genießen sie in vollen Zügen.
Ich fühle mich der Heimat nicht fern; findet man sie nicht überall, wo Schönheit, Güte, Jugend, Frühling ist? Alles hier ist herrlich, wie es jetzt bei uns ist. Hier wie dort hat Gott den großen Gedanken seiner Schöpfung von neuem lebendig gemacht, und wer die Schönheit dieser Schöpfung fühlt und liebt, kann nirgends in der Fremde sein; die alten Freunde – Bäume und Blumen, Sterne und Wolken findet er überall; überall wird dasselbe Herz von derselben Welt berührt, mit denselben Gefühlen der Liebe, Bewunderung und Andacht erfüllt.
Darum auch, weil Alles ebenso schön ist wie in der Heimat, kann ich euch nur wenig Neues beschreiben. Nicht Blüten von fremdartigen Gewächsen kann ich für euch pflücken, sondern nur einen einfachen Strauß von blauen Glocken- und Maiblumen, wie sie auch in unsern Wäldern wachsen. Aber ich schicke ihn doch; ich schildere euch die langbekannten Bilder, gerade damit ihr euch das Land so vorstellt, wie es ist, so frühlingsduftig lächelnd, so mit einfach lieblichen Reizen geschmückt, wie die heitersten Gegenden unserer Heimat. Unser Leben hier ist heiter wie das Land und die Jahreszeit: die wärmern Stunden der Vor- und Nachmittage bringen wir
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86 Landleben in Podolien.
mit unsern Beschäftigungen im Hause zu. Ueberall drängt sich ein Theil von Frühling und Natur herein. Durch die hohen offenen Glasthüren sieht man den blauen See und den jenseitigen Eichenwald; bis zu uns dringt der leise Lufthauch, in dem sich die Birken träumerisch neigen und der den Rosen ihre Düfte entführt. Alles lockt hinaus, wo uns tausend Freuden erwarten; ihr Schauplatz ist verschieden; heute ist es der sonnige See, morgen der schattige Wald. Dieser See liegt wie der Spiegel der freundlichen Gegend zu Füßen des Gartenhügels, auf dem sich die helle Villa erhebt; gleich ihr spiegelt sich der dunkelschöne Eichenwald vom jenseitigen Ufer in dem Gewässer, den links ein Damm mit einer belebten Straße, die zum Süden führt und rechts die reich bebaute Ebene begrenzt, aus der sich das weiße Schloß unserer nächsten Nachbarn über dunkeln Wald erhebt.
Auch viele der kleinen weißen Häuser des Dorfes haben sich an den See gedrängt, wie um ihr verschönertes Bild darin zu erblicken.
Im Weidengebüsch am Ufer liegt ein kleiner grüner Kahn. Wir machen die Kette los: Adine sitzt am Steuer, Marie rudert, und es ist ein herrliches Vergnügen, über die blaue Fläche zu gleiten, geführt von den lieblichen Schifferinnen. Vorüber an kleinen Schilfinseln, auf denen rothe Blumen blühen, Bienen und Käfer summen und weiße Wasservögel nisten, die bei unserm Ruderschlag emporfliegen, fahren wir bis hin auf in den fernsten Winkel des Sees, wo ganze Wälder von Schilf emporsteigen, eine Wohnstätte der wilden Schwäne, die, vor uns fliehend, zwischen den Binsen mit ihren Flügeln rauschen, und wo die Nymphäen schwimmen einzeln und in ganzen Eilanden zusammenhängend und wir uns niederbeugen und die weißen und gelben Blüten, die wie träumend auf den breiten Blättern ruhen, emporziehen und unsern Kahn damit
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87 Der Juni in Podolien. Fahrten auf dem See.
füllen. Hier und da drängt sich der Wald bis an das Wasser und mancher Baum senkt seine Zweige wie dürstend in die stille Flut; Erlen, Weiden, Schilf, zwischen denen Guirlanden von weißen Winden herabhängen, und rothe Wasserblumen bekränzen das Ufer und bilden manchen schattigen Winkel, in dem wilde Wasserenten nisten, die zuweilen in die Sonne schwimmen, umgeben von einer Schar kleiner gelber Nestlinge. Weiße Schmetterlinge und bläuliche Libellen umflattern die Büsche, Schwalben schießen pfeilschnell über das Wasser hin und hoch in den Lüften kreist die Lerche und offenbart in einem Jubelton die Lust und Seligkeit, die die Welt erfüllt. Alles ist still um uns; nur da und dort sieht man einen kleinen Bauerkahn, einfach primitiv aus einem hohlen Baumstamme gebildet; man hört auch wol Glöckchen von Heerden, die am Ufer weiden, oder hört, ist es Sonntag, die Töne der Kirchenglocke weit hin über den See zittern. Nur nahe dem Dorfe ist's belebter; man führt Pferde in das Wasser; hier und da sitzt ein Fischer mit seiner Angel und an vielen Stellen baden sich Kinder jubelnd und lachend. schön ist es hier am Morgen, wenn noch blauduftige Nachtfrische leise die Gegend umschleiert und Thautropfen auf allen Gräsern und Schilfhalmen schimmern und die Wellen selbst so kühl scheinen, als hätten sie alle Frische der Nacht in sich getrunken; schön am Abend, wenn ein leiser Wind die stille Flut zu leichten Wellen kräuselt und goldene Wolken über dem Walde im Westen ruhen und die Wasserfläche unter uns im Rosenlichte schimmert; schöner noch in den späten Stunden, wenn alle Farben erblaßt, alle Töne verstummt sind, wenn die Wälder ruhen, in ihre eigenen Schatten gehüllt, gleich Menschen versunken in die Traumgedanken ihrer Seele, wenn Sterne über uns und unter uns wie Freundesaugen grüßen und der Mond endlich emporschwebt höher und höher, bis auch er sein Antlitz
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88 Landleben in Podolien.
in die Tiefe des Sees senkt und duftige Silberschleier über alle Wälder legt.
Ebenso schöne Stunden blühen uns in den Wäldern, die sich da und dort in der großen Fläche ausbreiten. Es sind keine düster-ernsten Fichten- und Tannenwälder, auch keine feierlichen Buchenhaine, in die man mit geheimnisvollem Schauer wie in einen hochgewölbten gothischen Dom tritt; es sind Birkenwälder voll Licht und Heiterkeit und blumenreiche Eichenwälder voll Glanz und Frische. Oft in der Morgenfrühe gehen wir in den Birkenwald, der nahe dem Hause liegt. Vor ihm breitet sich ein reicher Teppich aus, aus tausend Blumen gestickt, mit feuchtschimmernden Perlen und Diamanten bestreut; über ihn schreitet man wie zu einem Feste in den Wald, in dem schon Staar und Amsel und Pirole jubeln. Wie ein griechischer Tempel hell und heiter mit schlanken glänzenden Säulen steigt er empor, durch das zarte grüne zitternde Laubgewebe lächelt der blaue Himmel, strahlt das goldene Licht und spielt mit den Schatten am Boden. So weit das Auge in die Tiefe des Waldes dringt, sieht es diese silberweisen Säulen und unter ihnen die großen blauen Glockenblumen, die dicht aneinandergedrängt aus dem thaufrischen Grase empor ins Licht schauen gleich einer Schar blauäugiger Kinder, die im hellen Tempel beten.
Das Ziel unserer Abendspaziergänge ist der entferntere Eichenwald, der sich zwischen unserm und dem Nachbargute ausbreitet und einem herrlichen Parke gleicht. Schmale Pfade führen in das Dickicht und locken, verborgene Schönheit aufzusuchen. Hier erhebt sich der Boden zu einem bebuschten Hügel, dort senkt er sich und wird ein kleines Thal voll Blumen und Sträucher; einsame Waldwiesen liegen wie verborgene Paradiese mitten im Dickicht mit einzelnen alten Bäumen, auf
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89 Sommerfreuden im Walde. Birken- und Eichenwälder.
deren Wipfeln Störche ihr Nest gebaut haben und unter denen Heerden lagern. Wir wandern, froh der Sommerfreiheit des Landes, singend auf dem Pfade, der den Wald durchschneidet, und athmen in vollen Zügen seine Frische ein. Von allen Seiten lächeln uns aus dem Grün blaue Glocken und purpurrothe Waldnelken an: darüber erheben sich Spireenbüsche mit ihren gefiederten Blütenzweigen und tief im Grase sind Erdbeeren verborgen und verrathen sich durch ihren Duft.
So kommen wir zum schönsten Punkte des Waldes, einem freien Platz, auf dem sich zerklüftete Felsen erheben, mit Kräutern und Blumen, mit duftendem Thymian und wilden Rosengebüschen bewachsen. Birken streben aus den Spalten empor; ihr Laub und die Ranken der Rosensträucher beben im Abendwinde. Da sitzt man hoch auf dem Geklüft und sieht in die schon dunkeln Eichen hinein, die den stillen Ort umschließen. Durch die Kronen glänzt das Gold der Abendsonne und über ihren Wipfeln ziehen weiße und rosa Wölkchen und sehen wie Engelsangesichter auf uns nieder. Hier – so fühlt man – ist eine der tausend Wohnungen des schönen Liedergeistes, der Dem, der ihn versteht, Worte zuflüstert und Melodien vorsingt. selten bleiben wir einsam in unserm kleinen Paradies. Meist treffen wir hier eine Karavane vom Nachbargute: Lehrer und Kinder zu Pferde und Wagen, eine fröhliche Gesellschaft, mit der wir den Wald in allen Richtungen durchziehen, bis uns die Abenddämmerung oder der Mond, der durch die Zweige blickt, an den Rückweg erinnern.
Oft fahren wir in unserer Britschka stundenlang durch die Waldungen, von einer zur andern, über Fluren und Triften; in fliegender Eile geht es über Stock und Stein, Wurzeln und Strauchwerk; wir durchschneiden die Luft, das sie uns scharf entgegenweht, Baumzweige schlagen uns ins Gesicht; wir sausen dahin,
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90 Landleben in Podolien.
als wollten wir die Welt erobern, oder als gehöre sie uns schon. Andere male kommen wir mit unsern Büchern, lagern uns ins Gras unter die Birken oder in einen der hohen Heuhaufen, die sich schon hier und da in den Wäldern erheben und auf deren Höhe wir hoch über den Blumen thronen und in das wehende Laub über uns und den blauen Himmel blicken, in dem lichte Wölkchen in die Ferne ziehen. Wir wollten lesen, aber das Buch fällt aus der Hand, wir fühlen, das um uns die Quelle selbst rauscht, aus der die Dichter schöpften. Um mich ist Frühlingsleben, frische fröhliche Jugend und in mir fühle ich das Echo von Allem!
Keine tiefe Landeinsamkeit herrscht in der Gegend; sie ist bevölkert und bebaut und von belebten Straßen durchzogen. Fahren wir auf der, die nach Berditschew, oder der, die nach dem südlichen Podolien und weiter nach Odessa führt, so haben wir immer neue Begegnungen: Wagen kommen mit Salzstücken, Holz- oder Theertonnen, begleitet von bärtigen Fuhrleuten mit bräunlichen Gesichtern, dunkeln Kaftanen, die eine rothe Schärpe umgürtet. Judenkarren rasseln vorüber, dicht gefüllt mit Männern in dunkeln Röcken mit schwarzem Haar und Bart, funkelnden Augen und mit Frauen in grellbunten Tüchern und Kleidern, welche alle mit lebhaften Geberden lachen und sprechen und die vorüberfahrenden Bauern anrufen und von ihnen mit Witz- oder auch mit Schmähworten verfolgt werden. Dann wieder kommen Soldaten mit glattgeschorenem Haar, braunen Gesichtern, langen Knebelbärten und der nachlässig auf der Achsel ruhenden Flinte; in ihrer Mitte gehen kettenbelastete Gefangene; einige Juden, die den Kopf hängen und mit schlauen Blicken vor sich hinschauen, und einige wildaussehende Männer, denen das Laster auf die Stirn geschrieben ist. Eine Britschka fährt vorbei, in der ein würdiger langbärtiger Pope sitzt neben seiner bürgerlich gekleideten
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91 Bevölkerung der Gegend. Begegnungen auf den Landstraßen.
Frau und umgeben von einer großen Kinderschar. Die vor übergehenden Bauern grüßen ihn ehrerbietig, ziehen aber so gleich ein wenig Heu oder Stroh aus ihrem Wagen und werfen es hinter sich, um nicht Unglück durch die geistliche Begegnung zu haben. Von weitem hört man die Schellen der Britschka des Handelsjuden, der in behaglicher Ruhe zwischen seinen Kisten und Kasten sitzt. Bauern kommen in großen Scharen von der Arbeit zurück und grüßen mit tiefem Verneigen die Herrschaft; sie haben etwas Nachlässiges, Verwildertes in ihrem Aussehen, nichts von der Freundlichkeit in den Gesichtern der wirklich russischen Bauern, von denen mehre sich als Arbeiter im Dorfe befinden, auch nichts von dem frommen sanften Ausdruck der galizischen Landleute an der Grenze. Hübscher und lebhafter erscheinen die Frauen und Mädchen, die fast die gleichen Kaftans wie die Männer tragen und ebenso nachlässig wie die Männer neben ihnen schlendern.
Dann und wann kommt ein bestaubter eleganter Reisewagen vorüber, noch öfter eine offene einsitzige Telega, in welcher Feldjäger oder Offiziere, in die gewöhnlichen grauen Militärmäntel gehüllt, sehr unbequem auf hölzernen Bänken placirt sind.
Selten trifft man einen Bettler, wenigstens keinen, der dem Dorfe angehört, denn die Bauern sorgen meist mildthätig für einander; aber bisweilen begegnet man einer Schar Pilger, die von Kiew kommen oder dahin gehen; meist sind es Frauen mit weißen oder grauen Tüchern über dem Kopfe, einem kleinen Säckchen mit ihrem wenigen Proviant auf dem Rücken und einem Stock in der Hand: sie singen einförmige Lieder und bitten die Vorübergehenden um Almosen.
Viele große Güter liegen in der Nähe und die weißen Landhäuser schimmern da und dort aus dem Grunde der Parks.
Am ersten Sonntag schon lernte ich einen Theil der zahlreichen
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92 Landleben in Podolien.
Nachbarn kennen im Hause der Gräfin Ch..... .... auf Janow, wohin wir zur Feier des Fronleichnamsfestes fuhren. Es war ein herrlicher Morgen und dies Podolien mit seinen Eichenwäldern und blauen Seen, in denen sich die kleinen Dörfer und Waldhügel spiegeln, erschien mir wie ein Garten, vom Schöpfer in göttlichem Schönheitsgefühl angelegt.
Wir langten an der alten lindenbeschatteten Kapelle an, als schon die Procession im Gange war; sie versetzte mich plötzlich nach Süddeutschland und ich sah das Fest so lieblich wie dort gefeiert. Hier wie dort sind blumengeschmückte Altäre im Freien errichtet, langsam zieht die Procession von einem zum andern, voran die Priester mit dem Allerheiligsten, dann Chorknaben mit Kirchenfahnen und Weihrauchbecken, Herren und Damen, geschmückte Landleute, Alle Kerzen tragend und Psalmen singend. Vor jedem Altare kniet man in stillem Gebet; nur der Ton des Meßglöckchens und der Lufthauch in den Linden unterbrechen die feierliche Stille.
Das Schloß, in das wir uns begaben, ist eines der wenigen im Lande, die einer mittelalterlichen Burg gleichen; es trägt Thürme und Zinnen; und noch sieht man Reste der Wälle, der Zugbrücke und der festungsartigen Mauern. Die Besitzer empfangen ihre Gäste mit liebenswürdiger Gastfreundschaft; ihre ganze Umgebung zeugt von feiner kosmopolitischer Bildung. Bücher und neueste Journale in allen Sprachen, Kupferstichsammlungen und Musikalien bedecken die Tische der Salons, deren Glasthüren sich auf eine Terrasse öffnen, von welcher Blumendüfte, Vögelgesang und Sonnenstrahlen herein dringen.
Zahlreich ist die Gesellschaft beim Diner, das unter fröhlicher Tafelmusik in einem der obern Säle gehalten wird, von dessen Wänden viele Ahnen des Hauses, stattliche Männer in altpolnischer Tracht, auf uns niederschauen. Die vier Priester
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93 Fest im Schlosse von Janow.
sind mit bei Tische und sehen in ihren langen schwarzen Röcken und ihrem weißen Haar ehrwürdig unter der eleganten belebten Gesellschaft aus.
Reizend sind die Mittag- und Abendstunden auf der Salonterrasse, die mit ihren alten schattigen Kastanien und Linden, unter denen Orangenbäume duften und seltene Blumen in Fülle blühen, einer der lieblichsten Plätze der Welt scheint. Auf einer Seite blickt man über die Mauerzinnen in den Schloßgarten, der mit alten dunkeln Bäumen, dichtverwachsenem Gesträuch feucht und düster vor uns liegt; an die andere grenzt der von hohen Gebäuden umschlossene, mit Blumenanlagen geschmückte Schloßhof – und an der dritten blickt man auf die kleine Judenstadt, die weit genug entfernt ist, um durch ihr buntes Handelsgewühl kein widriges, sondern ein heiteres Bild zu geben. Das hübscheste Bild aber ist die Terrasse selbst; da wandelt man unter Blumen, da sitzen verschiedene Gruppen im Schatten der Kastanien und blättern in den Albums und Kupferwerken; die Klänge des jetzt im Freien placirten Orchesters übertönen die heitern Gespräche; der Abendwind löst alle schönen Düfte von den Blumen; Erdbeeren und Ananas, Feigen und Datteln werden mit dem Thee gereicht, und nicht blos diese Früchte, sondern Alles, was uns umgibt, versetzt uns in schöne südliche Länder.
Unsere nächsten Nachbarn sind die von Z . . . . . . auf Czerygaczynze, nur eine halbe Stunde von uns entfernt; auch dort wie überall zeigt man dem Fremden freundlichstes Wohlwollen. Gleich in der ersten Woche meines Hierseins verlebten wir da einen heitern festlichen Nachmittag; Alles war fröhlich durch eine Geburtstagsfeier belebt und ich fühlte mich schnell heimisch auch in dem Kreise, der groß ist durch die Hausbewohner allein, die halberwachsenen Kinder und ihre, verschiedenen Nationen angehörenden Lehrer und Erzieher. Wir nahmen den
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94 Landleben in Podolien.
Thee und die Früchte (die immer zu diesem gereicht werden) in einem Zelte unter den alten Linden im Garten, gingen in der Abendkühle im anstoßenden Walde spazieren und soupirten auf einem andern reizenden Punkte, einem offenen Platze in der Mitte des Gartens, von einem Walde der herrlichsten blühenden Sträucher und Bäume umschlossen; die einheimischen Rosen mischen ihre Farben und Düfte mit denen der Orangen und Granatblüten und anderer Gewächse fremder Zonen, die unter diesem dunkelblauen Sommerhimmel gar nicht erotisch erscheinen. Hinter den hellen Blumenbüschen ragen die dunkeln Linden empor und Nachtigallentöne klingen von da zu uns her. Dieser Garten voll der schönsten alten Bäume, die hier dichte Gruppen, dort lange Alleen bilden, zieht sich weit an der einen Seite des Schlosses hin, das sich auf einem grünen Hügel über dem See erhebt, an dessen jenseitigem Ufer das große Dorf mit seinen weißen Hütten unter Bäumen liegt. Terrassen mit Bäumen, Blumen, Bänken führen vom Hügel und Garten zum See hinab, an dessen Rande ein Kahn zum Fahren auf der vom Abendroth gefärbten Fläche ladet. Das Innere des Schlosses, elegant wie alle diese Paläste, Villen und Cottages eingerichtet, hat als schönsten Schmuck viele Bilder von guten alten Meistern und mehre antike Sculpturen. Aehnliche Schätze, von den kunstliebenden Polen von ihren Reisen ins Ausland mitgebracht, findet man in vielen dieser einsamen Landsitze, und man hat vor diesen Bildern und Statuen, die aus weiter Ferne hier her entführt sind, eine Empfindung wie der Seefahrer, zu dem ein Wind vom Lande plötzlich den Blütenduft ferner glücklicher Gestade trägt.
Uczinze, das andere Gut des Herrn von K., liegt nur zwei Stunden von dem, was wir bewohnen, und dennoch in einer sehr verschiedenen Gegend, die reich ist an Bächen, Waldhügeln
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95 Landsitze in der Nachbarschaft. Gegenden am Bug.
und grünen Weideplätzen. Das Schloß oder Palais mit seiner breiten Avenue und Vortreppe sieht ganz deutsch aus; es liegt auf felsigem Ufer, über dem breiten Bug, der so voll kleiner Inseln, Schilfwälder, Wasserpflanzen und schwimmender Baumstämme ist, daß nur kleine Kähne hindurchgleiten können. Es ist schön, aus den Fenstern des Schlosses auf diesen dunkeln Strom zu blicken, der in Einsamkeit durch die grüne Ebene zieht; im Westen scheint er sich in das Purpurmeer der Abendröthe zu ergiesen, im Osten verliert er sich in bläulichem Duft; der Abendwind seufzt durch die Schilfwälder; weiße Wasservögel fliegen darüber hin; Heerden lagern still am jenseitigen Ufer; Alles trägt den Ausdruck tiefer, einsamer Ruhe. Die ganze Welt scheint ausgestorben und wir allein zurückgeblieben.
Ein Park voll hoher dunkler Bäume, mit dicht verwachsenem Gesträuch und düstern Alleen zieht sich neben dem Schlosse längs des Flusses hin. Auch über ihm liegt ein Hauch von Traurigkeit, ebenso über den öden unbewohnten Zimmern. Spuren, daß auch sie einst fröhlicher belebt waren, finden wir in den dunkeln Vorrathskammern des obersten Stockwerks, in denen allerlei Geräthe und Kleider aus frühern Zeiten von ehemaligen Besitzern des Schlosses aufgehäuft sind: alterthümliche Waffen und Trinkgefäße, Reste altpolnischer Herrentrachten, altmodische Hofdegen und Hofkleider, uralte Familienporträts, dazwischen Priestergewänder, Altardecken und verschiedene Geräthe der ehemaligen Hauskapelle, Alles mit Staub und Moder bedeckt. Man fühlt sich wie in einer Todtenkammer und sehnt sich hinaus in die frische Welt, wo alles Abgetragene, Abgenutzte mit dem letzten Herbstwind zerfällt und sich spurlos mit Wind und Wellen mischt, um neues Leben zu nähren. Nur was die Menschenhand schuf, enthält nicht den Keim des ewig neuen Lebens, den wir Tod nennen; ihre nichtigsten Gebilde,
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96 Landleben in Podolien.
ihre flüchtigsten Gewebe überdauern das längste Erdendasein göttlicher Geschöpfe und umgeben die Nachgeborenen wie häßliche Larven und leere Chrysaliden. Zu dem Eindruck des Ganzen paßte der ehemalige Besitzer des Schlosses, der noch einen Theil desselben bewohnt – ein geisteskranker Alter, den wir in langem braunen Gewande, mit weißem Haar und Bart und ausdruckslosen Gesichtszügen unbeweglich in der Vorhalle sitzen sahen und von dem der Geist der Melancholie, der über der Umgebung lag, auszugehen schien.
2.
Kordelowka in Podolien, Ende August.
Der ganze August ist vorübergegangen. Es war ein heißer Monat, der die Natur und die Menschen ermattete. Weite Spaziergänge waren selten möglich, auch nicht schön wie früher, da die Hitze bis in die Wälder gedrungen ist und das Laub seine Frische und der Boden seine schönsten Blumen verloren hat. Der See war unsere einzige Zuflucht. Am frühesten Morgen oder späten Abend ruderten wir auf der spiegelglatten Fläche und fuhren oft, wenn Gäste kamen, in großer Gesellschaft den ganzen Vormittag an der schattigen Seite des Ufers hin. Auch die Nächte wurden nicht kühl, und oft bis nach Mitternacht blieben wir auf dem Balkon, sahen die Sterne auf- und untergehen und fühlten keinen frischen Hauch. Für die Bauern besonders war diese Zeit der Hitze und der Ernte eine mühevolle Zeit. Wer arbeiten konnte, arbeitete im Schweiße des Angesichts von früh bis spät; denn erst wenn das Getreide des Herrn eingebracht ist, kann der Bauer das seine schneiden. Oft sind wir am frühen Morgen auf die
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97 Erntezeit. Das Treiben der Dienerschaft.
Felder gefahren und haben der Arbeit der Schnitter und Schnitterinnen zugesehen, die in langen Reihen aneinander stehen und ihr Werk mit Gesang begleiten und zu deren Füßen die Aehren und schönen Kornblumen wie die herabgerissene goldene Krone des Sommers liegen. Nun sind die Felder schon öde; zwei Wochen lang gehen die Reihen der Erntewagen, hoch mit Garben beladen, von weißen Ochsen gezogen, von früh bis Abend zu den Scheuern, neben denen dieser Reichthum des goldenen Weizens nun zu phantastischen Gebäuden aufgethürmt ist, unter denen man wandelt wie in einer glänzenden Märchenstadt.
Auch viel herrliche Früchte sind schon nacheinander reif geworden und die Wassermelonen, die hier in so großer Menge gezogen werden, haben uns in den heißen Tagen erquickt. Aber der Himmel selbst hat uns und der Natur nun die beste Erfrischung gesandt: einen wohlthätigen tagelangen Regen, der allen Staub abgespült und das frische Grün erneut hat. Alles im Hause athmet auf; auch die Diener, die träge umherschlichen und soviel als möglich schliefen, sind wieder lebendig geworden. Diese überflüssige Menge von Dienern, die unaufhörlich schwatzen, lachen, durch Gänge und Zimmer laufen und so wenig als möglich arbeiten, scheinen mir die größte Schattenseite des häuslichen Lebens dieses Landes; den Ruf: „Patische!“ (seid still!) und „sapri twäri!“ (Wacht die Thür zu!) muß man unaufhörlich an sie richten.
Die im Hause dienenden Landmädchen sind hübsch gekleidet: sie tragen weiße Oberhemden bis hoch an den Hals mit langen weiten Aermeln, bunte Röcke, weiße Schürzen und über diesem Costüm häufig noch den offenen weißen oder grauen Kaftan; die mit rothem Band durchflochtenen Zöpfe sind kronenartig um den Kopf gelegt und mit frischen Blumen besteckt; um den Hals tragen sie mehre Reihen rother Perlen,
Förster, Südrußland.
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98 Landleben in Podolien.
oft die getrockneten rothen Beeren des Vogelbeerbaums; überhaupt lieben sie jeden Schmuck, freuen sich wie Kinder an bunten und glänzenden Dingen und durch das Beschenken mit Glasperlen und Bändern kann man ihr Herz gewinnen, wie das der amerikanischen Indianer. Es gibt manche hübsche, ja schöne Gesichter unter ihnen; die Köpfe sind meist klein, Haare und Augen dunkel. Ihre aus Russisch und Polnisch zusammengesetzte Sprache klingt weich und lieblich, auch sind sie geschickt, sich dem Fremden durch Mienen und Gesten verständlich zu machen und dessen Geberdensprache zu verstehen. Sie sind freundlich und dienstfertig, aber die Lust am Schlafe und dolce far niente kämpft oft mit ihrem Eifer. Des Nachts liegen sie auf ihren Pelzen in den Corridors und wählen ihr Lager, das sie sich nomadenhaft frei in jeder beliebigen oder warmen Ecke aussuchen und nicht gern mit einem Bett vertauschen.
Vom eigentlichen „Zu Hause“ der Bauern habe ich noch wenig gesehen, da uns die halbwilden Hunde, welche oft die Vorübergehenden anfallen, die Spaziergänge durchs Dorf verleiden. Dieses hat ein recht freundliches Ansehen: die Wege sind breit und rein; die Hütten mit grauen Binsendächern und immer frisch geweißten Wänden, sehen von außen recht nett aus, besonders da neben jeder ein Garten mit Obstbäumen, Mais, Kürbissen u. dergl. liegt und jetzt auch ein hoher Getreidethurm sich erhebt. Im Innern dieser Hütten, die meist einen einzigen Raum enthalten, herrscht durch das immer brennende Feuer und die am Abend angezündeten Kienspäne oder Fichtenäste ein ewiger Rauch; dabei strömen so unangenehme Gerüche heraus, daß man vom Eintreten abgehalten wird. Keiner dieser Hüttenbewohner kennt den Luxus eines Bettes; man schläft, liegt krank, stirbt auf der bloßen Diele. Aerzte werden bei Krankheiten selten herbeigerufen;
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99 Dorfleben. Das Innere der Hütten. Landschaftliches.
die Juden theilen dann und wann Rathschläge und Medicin aus; am liebsten aber holt man sich solche von Leuten, die im Rufe der Zauberei stehen und in solchen Ruf meist durch ein besonders abschreckendes Aeußere kommen. Fröhliches Dorfleben, Kinderspiele u. dergl. wie bei uns, sieht man wenig hier; auch Gesang hört man selten, noch weniger Flöten- oder Zitherklänge wie in unsern Bergen; weiter im Innern ertönt die Balalaika, ein zitherartiges Instrument mit einfach lieblichen Klängen; hier hört man nur am Sonntag schrillende Geigentöne die wilden Tänze der Bauern begleiten. In den Häusern der Vornehmen aber wird viel musicirt. Auch einem Balle haben wir schon jetzt im Sommer beigewohnt. Abgerechnet eine etwas größere Tanzlust, eine etwas geringere Blasirtheit der Herren für das Vergnügen, glich jene soirée dansante jeder andern in gebildeter und vornehmer Gesellschaft und man kann sich kaum das Land draußen mit den bärtigen Bauern und Juden denken. Doch möchte ich gern Bekanntschaft mit diesen, den eigentlichen Landeskindern, machen, habe aber bisjetzt noch wenig Mittel dazu, da ich für sie noch „njemetzk“ bin, d. h. zugleich deutsch und stumm. So fremd mir leider die Menschen noch bleiben mußten, so vertraut erscheint mir die ganze Gegend; auf jedem Ausfluge begegne ich Stellen, die mir so ganz bekannt und heimatlich erscheinen; einmal sind es grünbewaldete Berge, die sich mit den kleinen Dorfhütten zu ihren Füßen in einem blauen Flusse spiegeln; dann eine Bergschlucht voll Buchenschatten und Dornensträuchen, bemoosten Felsenstücken und Farrnkräutern und endlich von einem hellen Bach durchzogen und von Hügeln begrenzt, auf deren Hängen Ziegen weiden und Kirschbäume mit reifen lockenden Früchten stehen; solche Gegenden voll lieblicher Abwechselung finden sich meist weiter im Süden in der Nähe des Bug, denn in der nächsten Nachbarschaft
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100 Landleben in Podolien.
ist das Land eben, mit dem immer gleichen, doch immer schönen Schmuck der grünen Wälder und blauen Seen.
Ihr werdet euch freuen, daß auch wir in dem fernen östlichen Lande den Tag gefeiert haben, an dem vor hundert Jahren der Dichter geboren wurde, der nicht blos uns, in deren Sprache er sang, von Kindheit an theuer ist, sondern Allen angehört, deren Herz warm für das Schöne schlägt, und dessen Name auch hier von Vielen mit Liebe und Verehrung genannt wird. Einen schönen Platz hatten wir für unsere „Goethe-Feier“ gewählt: Ihr kennt unsern Eichenwald und die wildbewachsenen Felsen in seiner Mitte; dort wollten wir den Dichter feiern, in dessen Liedern der Hauch des Waldes weht, der die Stimme der Natur verstand und dessen Geist dort in seiner eigenen Welt uns näher schien. So trafen wir uns mit unsern Nachbarn auf unserm Lieblingsplatze, den schon feierliche Abendstille umgab. Dort auf das höchste Gestein stellten wir die Büste des Dichters unter Blumen und Eichenzweigen auf und von demselben Felsen herab sprach oder las Jedes ein Goethe'sches Gedicht, sodaß fast alle unsere liebsten Lieder nacheinander in die schöne Welt hinaustönten, aus der sie in des Dichters Seele gedrungen waren. Die Stätte schien durch die lieben bekannten Töne und Worte geweiht und beseelt, und es war, als wandle der hohe Dichtergeist im Abendschatten durch die Bäume, als segne er auch dieses Land und verkündige laut, daß „die Welt“ des Dichters Heimat sei! Auf derselben Felsenspitze zündeten wir zuletzt aus grünen Aesten und Zweigen ein mächtiges Feuer an, das bald warm und leuchtend wie ein großer Menschengeist zum Himmel emporstieg. Wir lagerten uns auf die nahen Felsenstücke und ließen den materiellen Theil unserer Feier, unser Mahl von Ananas und Pfirsichen, folgen und riefen mit klingenden Gläsern des Dichters Namen durch den Wald. Zuletzt pflanzten
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101 Die Goethe-Feier im Walde. Sommerfestlichkeiten im Freien.
wir eine junge Pappel auf die stelle als grünes leben diges Denkmal unserer Feier und als symbol der Liebe für den Dichter, die auch unter fremdem Volke wurzeln und wach sen möge wie der Baum aus fernem mildern Lande im frem den Felsenboden unter eingeborenen Eichen!
3.
Kordelowka in Podolien, Ende September.
schon naht sich das Ende dieses schönen Sommers; aber wir haben ihn recht voll genossen, keine Blume ungepflückt verblühen, keinen Sommertag ungenutzt vergehen lassen. Wir haben Namenstage gefeiert, zu denen weit und breit die Nachbarn herbeikamen, haben Musik im Freien, theatralische Vorstellungen und lebende Bilder gehabt. Das Hübscheste dabei waren die Proben, die wir bei gutem Wetter meist im Freien an den bekannten Felsen oder im Eichenwalde jenseit des Sees hielten. Da fühlte man sich unter den lieblichen oder grotesken Gestalten in abenteuerlicher oder malerischer Tracht, die vor dem Hintergrunde der dunkeln Bäume und Felsen ihre Stellungen probirten und ihre Verse declamirten und verschiedene Gruppen bildeten, wie in einer bunten Märchenwelt. Es war wie eine Scene aus dem „Sommernachtstraum“ –„this green plot shall be our stage, this hawthorn-brake our tyring-house . . .“ und wol konnte man sich denken, daß Titania im Gebüsche lausche und das Puck der rettende Geist es sei, der mit plötzlichem Windstoße eine Perücke zerzauste, einen Schleier verwickelte oder geschriebene Verse entführte.
Nicht blos zu diesen Festen, auch an andern Tagen sind häufige Besuche gekommen, sodaß ich nun fast die ganze Nachbarschaft kenne. Oft kommen ganze Familien an mit Sechsgespann, Dienern, Vorreitern, Kammerfrauen, Bonnen u. s. w.
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102 Landleben in Podonien
und erfüllen zuweilen mehre Tage lang das Haus mit Lärm und Unruhe. So kann man sich denken, daß solche Besuche nicht immer zu den Freuden des Landlebens gehören, sondern oft wie feindliche Bomben in das Haus fallen und manche Plane und die Freuden und Geschäfte des täglichen Stilllebens zerstören, auch bei tagelangem Bleiben die Unterhaltungsgabe und freundschaftliche Verstellungskunst der Wirthe auf eine harte Probe stellen. Aber es erscheinen auch oft solche Besuche, welche nicht die Länge, sondern die Flüchtigkeit der Zeit bedauern lassen und lange in der Erinnerung nachklingen; es gibt so viele geistreiche und liebenswürdige Männer und Frauen unter diesen Landedelleuten, daß man sich in den meisten Kreisen wohl und heimatlich fühlen muß. Viele der Männer haben auf deutschen Universitäten studirt und sich mit deutscher Philosophie und Poesie bekannt gemacht, und auch unter den Frauen gibt es viele, die eine feine gesellige Bildung haben und die Literatur, die Sprachen, die Kunst- und Naturschätze verschiedener Länder kennen. So müssen sich die Fremden heimisch fühlen unter Denen, die das Beste ihrer Heimat kennen und lieben und die ihnen selbst mit freundlichster Gastfreundschaft und Theilnahme begegnen.
Im Anfange dieses Monats hatten wir viel Regen. Nun sind die Nebelschleier gefallen und wie neugeboren liegt das Land mit jungen Saaten und glänzendem Rasen vor uns; das Laub der Wälder ist noch ungefärbt; nur hier und da hat eine zarte Birke nicht wie die kräftigen Eichen den Stürmen des Lebens widerstehen können und neigt frühgealtert ihr welkes Laub. Schon fangen die Wölfe an, ihre Schlupfwinkel in der Tiefe der Wälder zu verlassen und zeigen sich dreist da und dort in der Nähe der Dörfer; schon fängt man an, schreckliche Geschichten von ihnen zu erzählen; hier und
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103 Moralischer Zustand der Bauern. Herbstanfang.
da sollen sie in die Ställe und Hütten gebrochen sein und Thiere, ja sogar kleine Kinder gewürgt haben. Manches Märchen mag mit der Wahrheit gemischt und den armen Wölfen ungerechterweise aufgebürdet werden. Diese Wolfsgeschichten sind aber auch den Winter lang der Hauptgesprächsstoff der Bauern und für sie Das, was das Politisiren für die unserigen ist. Haltet sie darum aber nicht für so viel weiter zurück in der Civilisation als die unsern; ist auch ihr Wissen von der Welt und ihren Gebräuchen geringer, sind sie auch ohne Unterricht aufgewachsen, so scheint doch die Natur selbst manche schöne Eigenschaft des Verstandes und Herzens in ihnen entwickelt zu haben, und aus Allem, was ich sehe und höre, erkenne ich, daß Gehorsam der Kinder gegen Aeltern, Ehrfurcht für das Alter, Mitleid für Arme und Kranke, Zufriedenheit, Dankbarkeit, Demuth gegen Höhere, Rechtsgefühl und doch Vergebung des erlittenen Unrechts und manche andere schöne sittliche Regung sich unter diesem unerzogenen, ununterrichteten Volke finden.
4.
Kordelowka in Podolien, Anfangs November.
Dieser Herbst soll schöner und wärmer sein, als man sie seit lange hier erlebte. Die Regengüsse, die sonst um diese Zeit das Land überfluten, sind ausgeblieben; die Luft ist warm und blau, die Erde grün; aber die Wälder sind blätterlos, die Fluren blumenleer, die Tage kurz, die Lüfte stumm, von keinem Vogelgesange mehr belebt, und das Landleben sieht mich, nun ihm die Reize des Sommers genommen sind, mit einem traurigen Antlitz an. Die Einförmigkeit der Gegend, die Ruhe, das Schweigen der Natur haben oft etwas Bedrückendes und man sehnt sich schon manchmal nach
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104 Landleben in Podolien.
einem erneuten Blick in die Welt, die immer weiter in die Ferne zu rücken scheint.
Ganz regungslos haben wir aber doch nicht die Blätter fallen sehen, sondern einige interessante weitere Ausflüge gemacht, zuerst, in Mitte vorigen Monats, nachdem eine halbe Tagereise entfernten Berditschew.
Große, herbstlich gefärbte Eichenwälder, steppenartige Fluren, aus denen sich hier und da grauer Felsenboden erhob, einzelne Kartschmas am Wege, Dörfer und kleine Seen, Judenstädtchen mit schmuzigen Hütten und irgendeinem verfallenen Kloster- oder Gutsgebäude bildeten die Landschaften, die unter dem ausnahmsweise grauen kalten Herbsthimmel melancholisch an uns vorüberzogen. Im Dunkeln kamen wir in die Stadt und freuten uns fast, nach langer Zeit einmal viele helle Fenster, einige Straßenlaternen und viele Menschengestalten zu sehen, viele Stimmen, Schritte und Wagengerassel zu hören. Die Freude dämpfte sich aber, als wir in unser Quartier kamen. Das beste Gasthaus dieser ziemlich großen und reichen Handelsstadt ist höchstens so gut wie eine unserer schlechtesten Dorfherbergen: man findet ungewaschene Dielen, geschwärzte Wände, schmuzige Tische, zerbrochene Stühle und Spiegel, dazu Spinnengewebe und unangenehme Gerüche; selbst die mitgenommenen Decken, Teppiche u. dergl. können den Aufenthalt nicht angenehm machen; auch Matratzen, Betten, Theegeschirre u. s. w. müssen bei jeder kleinen Reise mitgeführt werden, wodurch eine solche umständlicher wird als eine von Deutschland nach Amerika. Bis spät in die Nacht und wieder vom frühesten Morgen belagern die jüdischen Händler unsere Thür, sehen durch die Fenster herein und schreien mit ihren scharfen Stimmen durcheinander. So hatten wir auf einmal genug Menschentreiben um
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105 Fahrt nach Serditschew. Das Straßenleben in dieser Stadt.
uns, und als wir am Morgen durch das Juden-, Bauern und Soldatengewühl der Straßen und des Marktes fuhren und alle die bunten Trachten, die bärtigen bräunlichen Gesichter mit funkelnden Augen und weißen Zähnen, die grotesken fremdartigen Gestalten im Sonnenlichte durcheinanderwogten und schimmerten, als die vielen Hundert Menschen- und Thierstimmen, das Gerassel der Wagen, Droschken, Karren uns umtoste, da fühlte ich mich wie in einem Fiebertraume. Die Stadt selbst paßte zu diesem Treiben; die Straßen sind krumm und bergig, die Häuser stehen unordentlich durcheinander und sind oft halb verfallen, mit schwankenden Dächern und Galerien, das Pflaster ist uneben und mit Schmuz und Stroh bedeckt; längs der Häuser ziehen sich Kaufbuden hin mit allen möglichen Waaren und anrufenden jüdischen Verkäufern; auch in den Straßen sind die Händler dicht gedrängt und mit Shawls, Stoffen, Bändern, Schmucksachen, mit Pelzen und Sonnenschirmen, oder mit Holzschuhen, Thonpfeifen, Spiegeln, Tabacksbeuteln u. s. w. beladen, welche verschiedene Dinge sie mit orientalischer Beredtsamkeit preisen und den Vorübergehenden aufzudringen suchen. Dazwischen sieht man Bauern weniger aufgeregt in philosophischer Ruhe die Käufer ihrer Gemüse und Früchte abwarten; rauchend liegen sie auf dem Boden ausgestreckt neben ihren Karren und Pferden, oft in tiefen Schlaf versunken, als ginge sie der ganze Handel nichts an. Häßliche, halbwilde Hunde laufen und liegen in Menge umher und kämpfen miteinander um Knochen und abgefallene Fleischstücke; auch Kühe und Ziegen spazieren zwischen den Menschen und nähren sich von alle den umhergestreuten Gemüseblättern, Schalen und Halmen. Dann und wann ziehen Soldaten mit klingendem Spiel durch die Straßen oder sprengen Offiziere auf schnellen Rossen vorüber. Betäubt und verwirrt von dem Gewühl flüchteten wir uns in die hochgelegene
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106 Landleben in Podolien.
katholische Kirche, die mit ihrer alterthümlichen Bauart, ihrer feierlichen Stille, ihrem Altarbilde von einem italienischen Meister, mit den wenigen Betenden, dem alten Priester, der so einfach würdevoll die Messe las, dem Weihrauchduft und Orgelklang und geheimnisvollem Halbdunkel, eigen mit der Welt draußen contrastirte.
Diesem heiligen Eindrucke folgte ein ganz verschiedener, der einer Militärrevue, zu der uns General M., der mit seinem Regiment hier cantonnirt, gebeten hatte. Die Bühne des interessanten Schauspiels war eine große grüne Fläche, rechts von einem Eichenwalde, links von einem Birkenhaine begrenzt, während sich auf einer andern Seite die Thürme und Häuser der Stadt und auf der vierten die Kreuze eines Kirchhofs zwischen Linden und Pappeln erhoben, recht im Contrast zu der lebensvollen Scene im Vordergrunde. Die Waffen und Helme der Dragoner, die hoch zu Roß in unbeweglicher Ordnung ihren Chef erwarteten, glänzten in der Morgensonne; es waren lauter hohe, kräftige Gestalten und schön und kräftig wie sie waren ihre Pferde, von denen eines dem andern in Farbe und Größe täuschend ähnlich war. Die Musiker auf weißen Pferden, zum Unterschiede von den schwarzen des Regiments, waren seitwärts aufgestellt, und bald erklang die Hörnermusik mit kräftigen, lebensvollen Tönen durch die klare Morgenluft. Die Offiziere galoppirten vor den Fronten, ein hundertstimmiges Hurrah! ertönte, die Säbel zuckten aus den Scheiden und blitzten wie viele Hundert Silberstrahlen in der Sonne, die Pferde flogen mit Windeseile über die grüne Fläche und ein Schlachtgemälde entrollte sich plötzlich vor unsern Augen, ein Funkeln der Waffen, ein Kampf, ein Sieg, Alles wie ein Kunstwerk schnell, sicher, präcis und doch so lebensvoll ausgeführt.
Zwischen diesem interessanten Schauspiel und unserer Rückfahrt
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107 Fahrt nach Vinnica.
am Nachmittag hatten wir noch Zeit, von dem widerwärtigen Treiben und Schreien in der Stadt ganz ermattet zu werden, aber auch ihre hübsche Lage auf Hügeln zwischen Wäldern und einem kleinen Flusse anzuerkennen und ihre eleganten Magazine einiger deutschen Kaufleute zu bewundern. Sie hält jährlich vier Messen und ist der Haupthandelsplatz aller dieser Provinzen; darum durfte ich wol ausführlich Das, was wir in ihr erlebten, beschreiben.
Unsere zweite Ausfahrt ging an einem der letzten Octobertage nach Vinnica, einer kleinen Stadt weiter im Süden Podoliens. Der letzte Theil des Weges, dessen erste Hälfte uns nur durch die großen parkähnlichen Eichenwälder erfreute, geht am Bug hin. Da liegt hoch auf Felsen am jenseitigen Ufer das Schloß des Grafen Gr . . . , das mit weißen Säulenhallen hell und heiter aus dem Park im Hintergrunde emporragt. Auf beiden Seiten schauen die kleinen weißen Dorfhäuser aus den röthlich gefärbten Obstwäldern hervor und eine schöne katholische und zwei griechische Kirchen erheben sich über die Bäume. Unten am Fuße des bewaldeten Felsenufers führt eine Brücke über den Fluß, wie alle Wege umher belebt von Bauern im Sonntagsputz, von Fuhrleuten, Wagen und Pferden. Die Glöckchen klingen von den Kirchen, ein Hochzeitszug mit Violine und singenden Brautführerinnen kommt vorüber; weiter hin auf einem Felsenvorsprunge zwischen den Bäumen liegt eine kleine Kapelle und spiegelt sich im Flusse, dessen Windungen wir folgen, bis er uns in ein liebliches, aus bewaldeten Hügeln gebildetes Thal führt, in dessen Mitte Vinnica mit seinen reinen kleinen weißen Häusern und freundlichen Gärten liegt, ganz einem kleinen deutschen Badeorte gleichend. Wir fahren in die Kapuzinerklosterkirche, die recht heimlich unter Bäumen liegt, und kommen noch zeitig genug, um einer mir leider unverständlichen polnischen Predigt nebst einer
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108 Landleben in Podolien.
Messe mit ziemlich guter Orgelbegleitung beizuwohnen und eine Procession zu sehen, deren Haupttheilnehmer, die Kapuzinermönche, wie sicilische oder spanische Mönche aussehen; es sind hohe kraftvolle Gestalten mit energischen prononcirten Gesichtern, schwarzen Haaren und Bärten und dunkeln Gewändern und Kapuzen. Sie waren mir keine neuen Bekannten, denn hin und wieder ist Einer nach K. gekommen mit Wanderstab und großem Sack, um Brot oder Almosen zu erbitten. Ein trefflicher Obstwein, den diese Kapuziner bereiten, ist weit und breit berühmt. Die Kirche war mit Menschen gefüllt, eine Menge Equipagen hielten vor der Thür. Ueberhaupt ist das Leben in der Provinz hier anders als bei uns, wo sich aller Reichthum, alle Eleganz in den Hauptstädten concentrirt, während hier alles Land ringsum von Gütern der Vornehmen übersäet ist, die sie das Jahr durch bewohnen und zu Sitzen eines gebildeten luxuriösen Lebens machen. Bei der Entfernung der größern Hauptstädte bieten nun diese kleinen Ortschaften den reichen Landbewohnern alle Luxusartikel, die sie bedürfen, und überall sieht man elegante Kaufgewölbe, Conditoren u. dergl. Der nächste Tag, der letzte October, war ganz frühlingshaft, sodaß wir am Morgen in leichter Kleidung in die Felder spazieren und ein kleines verstecktes Wiesenthal entdecken, den Nachmittag im Garten zubringen und später eine lange Fahrt in der lauen Vollmondnacht machen konnten.
Und schön wie dieser letzte Tag war der ganze Monat gewesen. Zum ersten male habe ich hier inmitten der Laubwälder den Herbst in seiner ganzen Schönheit gesehen. Diese goldenen unabsehbaren Wälder, die frühlingsgrünen Felder, die weißen Dörfer im Kranze röthlicher Fruchtbäume, der dunkelblaue Himmel, der das Ganze mit sanftem Glanze umhaucht – Alles ist so herrlich, daß man
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109 Im Herbste. Ausflüge zu den Nachbarn.
begreift, wie die Indianer sich ihr Paradies mit ewigem Herbst und bunten Wäldern denken.
Oft zogen wir und unsere Nachbarn in fröhlicher Karavane zu Pferde und Wagen weit in das Land hinaus, schwelgend in seiner Farbenherrlichkeit. Nähere und entferntere Bekannte wurden auf einsamen Landsitzen besucht; jeder hatte seinen eigenen Charakter: bald war es ein idyllischer Wohnplatz im Thale, von eichenbewachsenen Hügeln umschlossen, auf den Abhängen weiden Heerden, in der Tiefe rauscht ein Bach über Felsenstücke und ein Garten mit hellen Blumen ist zwischen die waldigen Hügel gedrängt; bald war es eine Steppeneinsamkeit – einzelne kleine Wohnhäuser zerstreut auf sandiger Fläche an einem stillen traurigen See, von kahlen Hügeln umgeben, welche das nahe grüne Land verbargen. Dann wieder war es ein Bild voll Heiterkeit und Leben: ein freundliches Haus auf baum- und blumenreicher Höhe unter alten Linden mit einem Blick auf die fruchtbare Ebene, die sich jenseit des kleinen Sees mit Dörfern und Wäldern ausbreitete.
Ueberall herrscht Gastfreundschaft, empfangen uns freundliche Gesichter, gemüthliche Zimmer, ein brausender Samovar, frischer Kuchen, treffliche Butter und Sahne, Confituren, in deren Bereitung die guten Gospodinen miteinander rivalisiren, und alle die Früchte, die der Herbst in reicher Fülle gibt und zu denen auch die Trauben gehören, die man vom Dniestr oder aus der Krim hierherbringt.
Scheint es mir schon unmöglich, den Glanz, die Farbenpracht dieser herbstlichen Tage zu schildern, so scheint es mir noch unmöglicher, euch eine Idee von der Schönheit unserer Rückfahrt durch die mondhellen Nächte zu geben. Man fährt wie in einer Zauberwelt: jetzt liegt hinter uns ein See wie eine Silberfläche im Glanze des schönen Gestirns; nun umgibt
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110 Landleben in Podolien.
uns ein Wald, feenhaft erhellt von den milden Strahlen, die das durchsichtige Laub durchdringen und mit seinem Schatten auf dem Boden spielen; das Halbdunkel öffnet sich und ein neuer See liegt vor uns in träumerischer Ruhe und in ihm eine zitternde, schwankende, oft in tausend goldene Perlen sich auflösende Lichtsäule, das irdische Abbild der himmlischen Welt, die in stiller Ruhe über ihr schwebt – nun fahren wir hinaus in die Ebene und sie umgibt uns wie ein weites Meer in geisterhafter gleicher Helle; es ist, als träume man von der Ewigkeit, als blicke man in die unendlichen Fernen eines neuen Lebens – und Phantasie, Erinnerung, Sehnsucht werden mächtig und bevölkern den endlosen Raum mit Geistergestalten und man kommt nach Haus wie berauscht, wie eingesponnen in ein Netz wunderbarer Eindrücke, und er kennt sich und die alten Umgebungen kaum wieder.
Auch die Dörfer in der Nähe haben wir genauer kennen lernen; viele sind sehr groß, oft von mehr als 6000 Familien bewohnt (von der Zahl der Unterthanen – der Seelen, wie man hier sagt, hängen wegen der Steuer, die jeder dem Herrn zahlt, dessen Haupteinkünfte ab). Die Häuser, auf den Hügeln und an den Seen zerstreut, schimmern wie weiße Blumen zwischen den Bäumen. Meist seitwärts auf einer Höhe, vom Gebüsch und von den buntbemalten Kreuzen des Kirchhofs umgeben, liegt die weiße Kirche mit ihren drei grünen Kuppeln und dem einzeln stehenden Glockenthurm. Weiß und Grün, unsere freundlichen sächsischen Farben, scheinen auch im großen Kaiserreiche geliebt zu sein und zeigen sich nicht nur an fast allen Kirchen und Häusern, sondern selbst an den Kanonenkästen, den Fouragewagen u. s. w. Jede Hütte wird am Sonnabend frisch angestrichen, meist von den Frauen, die überhaupt mehr und unaufhörlicher beschäftigt scheinen als die Männer, die sich, wenn sie die Arbeit für den Herrn und
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111 Die Dörfer in der Umgegend. Lustbarkeiten der Bauern.
ihre eigene nothwendigste Feldarbeit gethan haben, meist schlafen legen und das Uebrige ihren Weibern überlassen. Jetzt, wo die arbeitsvollste Zeit des Jahres, die Ernte, vorüber ist, werden unzählige Hochzeiten gefeiert und fast täglich kann man da und dort vor den Dorfhütten tanzende Hochzeitgesellschaften sehen. Außer daß die Mädchen einige Blumen, einige flatternde Bänder in das Haar gesteckt und soviel Ketten als möglich um den Hals geschlungen haben, sieht man keinen besondern Putz an den Gästen, die alle, Frauen wie Männer, auch beim Tanze ihre grauen oder braunen wollenen Kaftans selten ablegen. Nur zuweilen leuchtet der lustigere Anzug irgendeines zufällig anwesenden und geladenen großrussischen Bauern, das rothe oder rosa Hemd auf schwarzen Pantalons, unter den übrigen düstern Trachten der Landleute hervor. Von den schrillenden Tönen einer Geige, eines Hackebrets oder einer soi-disant Flöte begleitet, machen sie auf einem engen Raume, so breit wie die Breite der kleinen Hütten, die sonderbarsten Sprünge, Jeder verschieden, selten einem Rhythmus, sondern der eigenen Phantasie folgend, zuweilen ganz allein, zuweilen zu Zwei, Drei, Vier zusammen im Kreise sich drehend oder herumhüpfend wie ausgelassene kleine Kinder, ja manchmal, wenn die Lustigkeit wilder wird, wie Wahnsinnige anzusehen. Von Grazie, wahrer Fröhlichkeit und irgendeinem national-geistigen Ausdrucke, wie man ihn in den Tänzen der polnischen und echtrussischen Bauern finden soll, ist hier keine Spur. Die festliche Bewirthung besteht in nichts als dem Branntweinkrug, der unaufhörlich von Einem zum Andern geht und von Frauen wie Männern mit gleicher Begierde geleert wird, sodaß man häufig diese wie jene im traurigsten Zustande sieht. Es war traurig, sich zu sagen, daß dies die Fest- und Ehrentage, die Lichtpunkte im Leben dieser Menschen seien.
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112 Landleben in Podolien.
Nur am Hochzeittage selbst dürfen die Mädchen tanzen, am zweiten oder dritten (denn das Fest dauert tagelang fort) nur die verheiratheten Frauen, die zum Unterschiede von jenen ein grobes weißes Tuch um die Haare geschlagen haben, welche von ihrem Hochzeitstage an verhüllt bleiben müssen. Am Abend vor der Trauung (auch noch einmal nach der selben) kommt der Hochzeitszug in das Herrenhaus. Dann ist das Haar der Braut aufgelöst und mit Bändern und Blumen besteckt. Vor Jedem im Hause wirft sich das Paar drei mal zur Erde und bittet, Hände und Kleider küssend, um Glückwünsche für die Ehe – eine sehr asiatische Scene, welche solche, die, wie ich, an dergleichen Kniefälle nicht gewöhnt sind, in große Verlegenheit versetzt.
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Auch die Ukraine habe ich nun mit eigenen Füßen be treten, das Land, das ich bis dahin nur aus Karl's XII. abenteuerlicher Geschichte und aus den lieblich frischen Liedern des ukrainischen Dichters Bohdan Zaleski kannte. An einem der letzten sonnigen Octobertage begannen wir unsern Ausflug dahin. Eine Fahrt von wenigen Stunden brachte uns aus den podolischen Fluren in die neue Provinz, die sich im Landschaftlichen nur wenig von der eben verlassenen unterscheidet. Große, herbstlich gefärbte Eichen- und Birkenwälder ziehen sich da und dort über die einsame Fläche; kahle Hügel umgeben stille Seen, an denen zerstreute weiße Hütten liegen, deren Bewohner selten sichtbar werden. Die Straße, ja die ganze Gegend scheint menschenleer; hier und da steht ein einsames Wirthshaus mit dem üblichen Frontispice über weißgekalkten Säulen, umgeben von einer schmuzigen, von Ochsen und Pferden aufgewühlten Erdmasse. Auch fahren
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113 Bauernhochzeiten. Ausflug in die Ukraine.
wir durch einige elende jüdische Ortschaften voll schmuziger Kinder, Ziegen und Ferkel, umgeben von kahlem Anger. Nach und nach wird die Gegend malerischer, der Boden wellenförmiger, da und dort zeigen sich freundliche Herrensitze, deren Mittelpunkt meist ein einfaches weißes im Grün des Parks fast verstecktes Landhaus ist. Eines derselben prägte sich unserm Gedächtnis besonders ein, theils durch seinen märchenhaften Namen Susulinze, theils auch durch sein lieblich einsames Aussehen; es war ein alterthümliches graues Haus mit kleinen Thürmen, unter alten Ulmen und Linden auf einer Inselhöhe in der Mitte eines hellen Sees gelegen und darüber hinaus von grünen Waldhöhen umschlossen. Andere solche Gutsgebäude hatten ein mehr schloßähnliches Ansehen mit einer stattlichen Umgebung von Wirthschaftshäusern, Orangerien und Parks. Aber auch sie verschwanden rasch wieder in der weiten Ebene, deren Oede dann um so fühlbarer wurde. Nur einzelne Heerden von Rindvieh und Pferden belebten sie hier und dort; es war schön, die letztern in ihrer wilden Freiheit zu sehen, wie sie hier über die Hügel jagten oder dort einen freien Waldraum mit geflügeltem Huf durcheilten. Auch Schafe, gleich den Pferden ein Hauptproduct der Ukraine, weideten auf den Abhängen, während einsame Hirten, in dunkle Decken gehüllt, am Wege standen oder an kleinen Feuern am Waldrand lagerten. Auch manche Schöne und manchen Mächtigen des Waldes hatten wir im Vorübereilen zu bewundern, manche hochgewachsene Birke nämlich mit weißem Stamm und gelblichem Laub, wie eine junge Fürstin in Gold und Silber gekleidet, und manchen gewaltigen Eichbaum mit stolzem Wipfel, keck aufstrebend zu den Wolken, während sich die dunkeln Aeste wie segnend oder gebietend weit ausstrecken über die andern Bäume des Waldes.
Gegen Abend gewann die Gegend einen ganz eigenthümlichen Reiz
Förster, Südrußland.
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114 Landleben in Podolien.
und der Weg wand sich zwischen dunkeln Waldbergen hin, die sich geheimnisvoll rings um uns her durcheinanderschlangen; die Sonne, die sie eben noch rosig färbte, war gesunken; Alles um uns her lag in tiefer Stille. Es dämmerte schon, als wir unser Ziel, das kleine Gut und Dörfchen Smarcinze erreichten. Wir hielten vor einem niedrigen grauen mit Binsen gedeckten Hause, das wie ein Vögelchen im Neste unter alten Bäumen und dichtverwachsenen Sträuchern lag; ringsum erhoben sich waldige Hügel, während sich vor uns das Thal erweiterte, um in einiger Entfernung mit einer blauen Höhenlinie abzuschließen. In der Tiefe des Thals ruhen arme Hütten zwischen Bäumen mit welkem Laub; eine kleine altersgraue russische Kirche erhebt sich über sie; das arme Dörfchen hat ihr statt der üblichen drei Kuppeln nur eine einzige geben können und der verwitterte Glockenthurm neben ihr scheint sich vor Altersschwäche zur Seite zu neigen. Der gelbbraune Hauch des Herbstes auf Wald und Flur vermischt sich mit dem Grau der Dämmerung; die Luft ist feucht und still; kein fallendes Blatt, kein Menschentritt zu hören; Alles scheint wie in Traum und Schlaf begraben, so süß und tief, wie ihn die Welt nicht hat. .. die Welt!... wo ist die Welt? wir träumten wol einmal von ihr? breite Straßen und Plätze, Kriege und Feste, Eisenbahnen, Dampfschiffe, Musik und Tanz – existirt das Alles wirklich? oder waren es nur Gebilde der Phantasie? und die Menschen draußen und Alle, die wir unter ihnen lieben, sind sie Alle gestorben und wir allein zurückgeblieben in der tiefen Einsamkeit?
Die Bewohner des stillen Hauses waren ausgegangen, bald kamen sie, uns freudig begrüßend, herbei; sie schienen wie geschaffen für ihre Umgebung. Frau von P., eine Witwe, leidend, bleich, Resignation in allen Zügen; die ältere Tochter,
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115 Ausflug in die Ukraine.
ein heiteres, thätiges, stillzufriedenes Wesen; Felicia, die jüngere, mit einem jugendfrischen Antlitz, in welchem der Ausdruck ruhigen Denkens lag und dessen tiefe dunkelblaue Augen die Dichterseele verriethen. Dieses junge Mädchen, das sich in der ländlichen Einsamkeit allein erzogen hat, schreibt Briefe so voll eigener großer Gedanken, so voll Phantasie und wunderbarer Ahnung des Lebens der Menschheit, daß man von neuem mit Wonne fühlt, wie der Strahl der Poesie gleich dem der Sonne überall hindringen und in tiefster Einsamkeit Seelen finden und entzünden kann.
Von der ganzen Welt geschieden, allein mit einer Magd und einem alten Diener, leben diese Damen in ihrem Waldhäuschen und offenbaren doch in Gespräch und Wesen alle edlere Bildung der Welt, die ihnen so fern liegt. Im Augenblick war der kleine Kreis durch einen Sohn vermehrt, der, eben aus dem ungarischen Kriege zurückgekehrt, ein Echo des fernen Weltgeräusches in diese Einsamkeit brachte, mit der die bunten Schilderungen seines kriegerischen Lebens seltsam contrastirten.
Wir verbrachten einen traulichen Abend in den kleinen Zimmern; aber erst als die Lichter verlöscht und Alle zur Ruhe gegangen waren, erschien mir der Ort recht eigen fremdartig. Rings um das Schlafstübchen rauschten die schwarzen blätterlosen Bäume des Gartens; vom blassen Mond beleuchtet, sahen sie geisterhaft durch die vier kleinen unverhangenen Fenster herein. Zuweilen gingen Wolken über den Mond und er selbst schien dann mit ihnen zu fliehen; es ward auf Augenblicke dunkel, dann wieder strömte das bleiche Licht herein; ferne Windesseufzer zogen durch die Wälder; Alles war so wundersam schauerlich. Tieck's Märchen vom blonden Eckbert wurde um mich lebendig; es war als sei dies die Waldhütte und als riefe die Stimme des Zaubervogels jenes Lied von
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116 Landleben in Podolien.
der Waldeinsamkeit durch die Nacht... Am Morgen weckte uns heller Sonnenschein. Wir spazierten nach dem Frühstück im Garten, der sich mit alten Linden und wilden Rosensträuchern, mit Geisblattlauben und Moosbänken bis an die Waldhügel hinzog. Jetzt lagen die welken Blätter gleich gestorbenen Sommerfreuden am Boden und rauschten unter unsern Tritten; man konnte durch die gelichteten Zweige alle fernen Birken- und Eichenwälder sehen. Die Ranken der Rosenbüsche und Lauben schwankten blüten- und blätterlos im Morgenwinde. Später machten wir noch eine Spazierfahrt weiter ins Land hinein, über die nächsten Berge, an Wäldern mit alten dichtverwachsenen Bäumen vorüber, in ein neues einsames Thal mit einem andern stillen Dorfe. Von da ging es wieder zur Höhe; wir stiegen aus und lagerten uns auf einem der kahlen Berghänge und blickten weithin über diese wasser-, wälder - und bergreiche Ukraine. Alles machte den Eindruck unendlicher Einsamkeit: die Berge lagen weit auseinandergestreckt, die Seen unbeweglich ruhig zu ihren Füßen; kahle Flächen und baumlose Höhen zogen sich dazwischen hin und nur wenige kleine schweigende Dörfer schimmerten hier und da zwischen den Stoppelfeldern, über welche der Morgenthau glänzende Netze gesponnen hatte. Die seltenen Rauchwolken, die aus den weißen Hütten aufstiegen, verriethen allein das Dasein der Bewohner, welche zur Zeit der Ernte- und Feldarbeiten wol etwas mehr Leben in diese Gegenden bringen mögen. Auch einige einsame Landsitze sahen wir in der Ferne liegen; so in einem versteckten Bergwinkel die Besitzung der Fürstin Wittgenstein. Noch weiterhin zeigte man uns die Gegend, in welcher Balzac auf dem Gute der Frau von Theinska lebt, die ihm bald als seine Gattin nach Paris folgen wird. *)
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*) Was kurz vor dem Tode des Schriftstellers geschah.
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117 Rückkehr nach Kordelowka. Wintertage.
Nach Tische traten wir den Rückweg an, der bei dem sommerlichen Wetter sehr lieblich war. Die Felder schimmerten in neuem Grün am Rande der goldenen Wälder; Heerden weideten auf allen Abhängen; überall lächelten kleine stille Dörfer. Alles war so heimlich und freundlich, daß ich eher in einer bekannten lieben deutschen Gegend zu fahren meinte als in der fernen einsamen Ukraine. Bald schimmerte die Abendröthe durch die durchsichtigen Birkenwälder und umhauchte die silbernen Stämme mit rosigem Duft; dann legte sich ein feuchter Nebel und endlich der noch dunklere Schleier der Nacht über die Gegend, sodaß wir unvermerkt aus der Ukraine nach Podolien zurück und an unser Ziel gelangten, das mir nach dieser ersten längern Abwesenheit schon ganz heimatlich erschien. Dies waren die letzten freundlichen Eindrücke des scheidenden Jahres. Heute schon ist die Scene verwandelt: Sturm und Regen schütteln die letzten Blätter von den Bäumen und die wenigen Blumen im Garten neigen sich mit erblassenden Farben. – Wol im nächsten Briefe schon kann ich euch von einem russischen Winter erzählen.
5.
Kordelowka in Podolien, Mitte December.
Die schöne Jahreszeit ist unter schweren Kämpfen von uns geschieden, unter Windesseufzen, Sturmesächzen und Strömen von Regen; die Wege waren unfahrbar und nur einmal konn ten wir noch den Eichenwald und unsere Felsen besuchen; wir fanden Alles traurig verwandelt: die Bäume waren kahl oder trugen wenige Reste bräunlichen Laubes, welke feuchte Blätter bedeckten den Boden; junge Stämme waren entwurzelt, zur Erde geworfen, ihre Aeste und Zweige herabgerissen, – alle Ordnung und Schönheit war zerstört, Alles verwüstet, als
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118 Landleben in Podolien.
seien Hunnen und Vandalen durch den Wald gezogen. Die guten Geister, die sonst unter diesem grünen Laubdach herrschten – Lust, Gesang und Poesie –, waren entflohen; die Wölfe hatten Besitz vom verödeten Reiche genommen und wir kehrten traurig zurück.
Endlich hörten die Stürme auf und es kamen die geisterhaft stillen Tage, wo der Schnee in dichten Flocken niederfiel, leise, langsam und doch in solcher Menge, daß es schien als wolle er eine Mauer zwischen uns und der übrigen Menschheit aufbauen und uns auf ewig von ihr trennen. Die kleinen Dorfhütten, die Wälder selbst mit ihren weißen Häuptern schienen in die lockere Masse zu versinken, der See war verschwunden, rings um uns nur noch eine einförmige traurige Oede,
Aber auch in dieser traurigen Oede läßt das endlich er scheinende Sonnenlicht neue Wunder erblühen und schmückt sie mit ungeahntem Zauber. Mit dem ersten Sonnenstrahl kam neues Leben in die winterliche Landschaft; zahllose Schlitten bahnten und glätteten die Wege, auf denen auch wir nach kurzem Zögern ins Land hineinflogen wie in eine neue Welt. In des Winters eigenstem Reiche meinten wir zu sein, in seiner kostbarsten Wohnung, einem Schloß aus Silber und Krystall und funkelnden Edelsteinen erbaut und die Neuheit des Anblicks ließ uns für Momente die Frühlings- und Sommerpracht der Erde vergessen. Die Ebene war eine glänzende Fläche geworden, auf der Millionen Diamanten und grüne und goldene Sterne funkelten, während in Gärten und Wäldern alle Bäume, Blumen und Kräuter der Feenmärchen emporgewachsen schienen. Eine neue Pflanzenwelt, aus Silber und Krystall gebildet, umgab uns; jeder Halm und Dorn, jede Ranke, jedes kleinste Blatt strahlte dem Blick entgegen. Die Wipfel der Bäume schimmerten wie duftige Marabouts
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119 Winterlandschaften. Schlittenfahrten.
in der Sonne; das Gezweig glänzte im Grunde des blauen Himmels wie ein durchsichtiges Silbergewebe oder eine feenhafte Stickerei. All dieses weiße gefiederte Laub war von ebenso mannichfacher Gestaltung wie einst das grüne, jeder Baum ebenso unterschieden vom andern wie früher. Die Eichen erhoben sich stolz im glänzenden Schmuck, die Birken neigten sich anmuthig unter der Last; an sonnigen Stellen erglänzte Alles in tausend Farben, während über die schattigen Räume ein sanfter blauer Hauch ergossen war. Besonders herrlich war es, durch die Birkenwälder zu fahren, die mit ihren tausend weißen Stämmen, dem durchsichtigen krystallenen Gezweig, dem Teppich des Bodens, aus weißen flimmernden Sternen gewebt, und dem dunkelblauen Himmel, der die glänzenden Säulen überwölbte, wie wahre Feentempel erschienen.
So war es in der goldenen Mitte des Tages. Aber ebenso schön, fast noch schöner war es, wenn die Abendröthe ein Rosenlicht auf die weißen Hügel und Baumwipfel und schneeigen Dächer goß, gleich wie wenn ein Greisenantlitz sanft erröthet bei süßem Jugendangedenken.
Schön war es auch, wenn wir am späten Abend von einem späten Ausfluge heimkehrten; ein Diener, eine weit strahlende Fackel in der Hand, ritt neben unserm Schlitten und ließ den rothen Schein grell auf die weiße Fläche fallen, so das einzelne Theile der Landschaft, hier eine Baumgruppe, dort eine alte beschneite Weide oder eines der hohen Kreuze, die überall am Wege stehen, plötzlich wie weiße Geistergestalten aus der Dunkelheit hervortraten. Auch die einige Wochen unterbrochene Geselligkeit wurde durch die Schlittenbahn neu belebt; fast täglich stiegen aus den beflügelten Fuhrwerken liebe Gäste, in dichte Pelze eingehüllt. Die Wärme und der Comfort des Hauses erschienen doppelt lieblich, nachdem man
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120 Aufenthalt in Volhynien.
einige Stunden in Schneegestöber oder kaltem Wind verlebt hatte. Wenn man dann in den hellerleuchteten Salons unter Epheulauben, Blumen, Kunstwerken fröhlich beieinander saß oder unter heitern Gesprächen auf- und abwandelte, hier Kupferstiche, dort ein Album betrachtete, die neuen Journale durchblätterte oder das Ohr den melodischen Klängen lieh, die vom Flügel her das Gemach durchtönten, während das Kamin hell leuchtete und der Samovar lustig brauste – dann konnte man sich die kalte Welt draußen kaum mehr vorstellen und meinte von den diamantenen Ebenen und den Eisblumen und krystallenen Wäldern nur geträumt zu haben.
4.
Aufenthalt in Volhynien.
1.
Zytomierz, Mitte December.
Wir haben den Landbewohnern, den Schneefeldern, Eispalästen und Wölfen Lebewohl gesagt und sind in die Stadt gezogen. An einem grauen Decembermorgen verließen wir das Gut; eingetretenes Thauwetter hatte die Wege verdorben und ließ uns trotz vielfachen Gespannes nur langsam vorwärtskommen. Die bekannten Gegenden, durch die wir bis Berditschew fuhren, uns liebgeworden in der Sommerschönheit ihrer Wälder, erschienen jetzt in der winterlichen Umhüllung fremd und traurig; die Straße war öde, nur dann und wann
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121 Winterreise nach Zytomierz in Volhynien.
von einem jüdischen Fuhrwerk belebt. Von der schmuzigen, häßlichen, nur von Juden bewohnten Stadt sahen wir zum Glück wenig, da wir im Dunkeln ankamen und in der Morgendämmerung wieder abreisten.
Schon waren wir in Volhynien und erkannten den neuen Charakter der Landschaft trotz ihres Schneegewandes. Der Boden wurde ungleich und zeigte Höhen und Tiefen; Tannenwälder erhoben sich aus dem Schnee, Berge mit Nadelholz bedeckt zogen uns zur Seite hin und ein Fluß, in dem Eisschollen trieben, belebte das öde Land. Die kleinen Dörfer lagen da, still wie im Schnee erstarrt; Alles hatte sich in die Hütten verborgen und nur wenn unsere Karavane von Schlitten und Pferden anlangte, schien etwas Leben zu erwachen: Männer, Frauen, Kinder in Schafpelzen und großen Stiefeln stellten sich um die Wagen, während wir vor einer Schmiede oder einem Posthaus hielten, und betrachteten nicht uns, sondern die Pferde, interessirten sich für das Ab- und Anspannen und legten hülfreiche Hand dabei an, ohne eine Belohnung zu erwarten.
Auf einer Fähre gelangten wir durch die Eisschollen an das jenseitige Ufer des Teterew; einige beschneite Thürme, die sich vor uns erhoben, verkündeten die Nähe der Stadt, auf welche keine Anlagen, Landhäuser oder Lustörter, wie man sie in Deutschland im Umkreis der kleinsten Ortschaft findet, vorbereiten.
Unser Haus, nahe an der Barriere gelegen, empfing uns mit seinen hellen freundlichen Räumen wie ein alter Bekannter, oder wie ein neuer, bei dessen Anblick man ahnt, daß er uns theuer werden kann. Auch beim ersten Blick aus Fenster und Balconthüren über die beschneiten Bäume des Gartens auf die Kuppeln und Thürme des Klosters und die tannenbewachsenen Berge im Hintergrunde war es uns, als
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122 Aufenthalt in Volhynien.
sähen wir auf allen Punkten tausend noch verhüllte Freuden uns erwarten.
Am andern Tage lernten wir diese unsere einstweilige Heimat Zytomierz, die Hauptstadt Volhyniens, näher kennen. Gleich allen russischen Städten umfaßt sie mit ihren auseinandergestreuten Häusern einen großen Raum; sie zieht sich weit auf der Bergebene hin an den Abhängen und in den Schluchten hinunter bis an den Teterew, an dessen jenseitigem Ufer die Berge wieder emporsteigen. An der Straße, die wir bewohnen, und noch in einigen andern ebenso langen und breiten Straßen liegen hübsche weiße kleine Häuser mit grauen oder grünen Dächern, meist nur aus einem Rez-de-Chaussée bestehend, zu dem eine kleine Vortreppe führt. Jedes ist nur für eine Familie eingerichtet und bildet mit Nebengebäude, Hof, Garten ein kleines abgeschlossenes Etablissement. Ueber die niedrigen Dächer erheben sich zahlreiche alte Bäume, theils schlanke Pappeln, theils hochgewachsene Birken, die selbst mit blätterlosen Zweigen anmuthsvoll erscheinen. Man ahnt aus dem Ganzen die Sommerlieblichkeit der Stadt; jetzt aber im Winter, mit diesen breiten öden Straßen und den vielen kahlen Bäumen und Gärten erscheint sie wie ein verlassener Badeort. Man müßte die Bewohner aller dieser luftigen kleinen Sommerhäuser bedauern, wüßte man nicht, daß diese Wohnungen, durchaus geheizt, mit doppelten bis zum Frühling festgeschlossenen Fenstern, keinen Hauch des Winters einlassen.
An der Hauptstraße, die zur Barriere von Kiew führt, zeigte man uns das Haus des Generalgouverneurs, ebenfalls nur ein weißes luftiges Gebäude mit grünem Dach und grünen Jalousien, nur in der Mitte zu einem Stockwerk erhoben, die niedern Seitenflügel aber weit von den Bäumen des Gartens überragt. Andere ähnliche Gartenhäuser in der Nähe nannte man uns als Wohnungen des Vicegouverneurs und
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123 Lage, Straßen, Plätze, Kirchen u. s. w. von Zytomierz.
des Gouvernementmarschalls. Alles sah so anspruchlos, so gemüthlich heiter und einfach aus, das man sich leicht ein an ziehendes Bild von den Bewohnern dieser kleinen Häuser und ihrem Leben machen konnte.
Hier und da erhoben sich zwischen den einfachen Wohnungen neue elegante mehrstöckige Häuser, anzusehen wie verirrte, aus München oder Berlin hierherverschlagene Wanderer. Neben den von der vornehmen Welt bewohnten größern und reinlichen Straßen ziehen sich viele andere hin mit dicht aneindergebauten Häusern und halbzerfallenen Hütten, die durch Unreinlichkeit, Lärm und zahllose Kinder ihre jüdischen Bewohner ankündigen. In der Mitte dieser regellosen Wohnungen steht auf einer Anhöhe die katholische Hauptkirche, die mit vier Thürmen die ganze Stadt überragt; auf einem an dern Felsenhügel erhebt sich ein weißes schloßartiges Gefängnisgebäude. Auf einem offenen öden Platze, über den der Steppenwind von Osten her bläst, steht eine große russische Kirche, weiß mit drei großen grünen Kuppeln; ähnliche kleinere Kirchendome ragen da und dort über die Häuser empor. Am Marktplatz, in der Mitte eines grasbewachsenen Vorhofs, ladet die zweite katholische Kirche mit einer offenen Pforte uns in ihren heiligen Raum. Neben der Kathedrale auf der Höhe liegt das einfache Wohnhaus des Bischofs und das katholische Seminar, dessen schwarzgekleidete Zöglinge dann und wann langsam durch die Straßen ziehen. Vor den russischen Kirchen und vor den Wohnungen russischer Priester sieht man häufig eine große Menge wilder Tauben versammelt, welchen hier täglich reichliches Futter ausgestreut wird. Der russische Bischof bewohnt in unserer Straße ein großes, einsam zwischen hohen Bäumen gelegenes Haus, dessen grünes Dach ein goldenes Kreuz überragt und vor dem man immer einige russische Mönche in schwarzen Gewändern auf- und abwandeln sieht.
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124 Aufenthalt in Volhynien.
An den meisten einstöckigen Häusern des Marktplatzes ziehen sich Verkaufshallen hin, der Gostinoi-Twor, der in keiner russischen Stadt fehlt. Dort verkaufen die bärtigen russischen Kaufleute in stattlichem Kaftan, mit rothen freundlichen Gesichtern in einzelnen Läden verschiedene Fabrikate, besonders Eisen-, Kupfer- und Pelzwaaren, Alles ziemlich solide tüchtige Producte des Inlandes, während die jüdischen Händler meist Erzeugnisse des Auslandes von alter verlegener Beschaffenheit feilbieten, theils in kleinen Läden, theils auf offener Straße, in der sie langsam, mit ihren Waaren bepackt, auf und niederschleichen. Mitten unter diesen ärmlichen Kaufläden haben einige polnische oder ausländische Modistinnen, Conditoren, Musikalien- und Buchhändler u. s. w. elegante Magazine etablirt, sodaß man sich selbst hier mit den verschiedensten Luxusgegenständen versehen kann. Auch ein Theatergebäude gibt es, nicht eben schlechter, als die Thespishallen unserer Provinzialstädte zu sein pflegen, und sogar mit einem griechischen Porticus versehen, der aber dem Einsturz ziemlich nahe scheint. Den Winter durch spielt hier eine stehende Truppe täglich in polnischer Sprache vor einem oft sehr vornehmen eleganten Publicum, das mit dem schmuzigen matterleuchteten Hause seltsam contrastirt. Gegenüber steht ein größeres Gebäude, in dem der volhynische Adel seine Marschälle wählt und seine Bälle feiert. Dasselbe hat ebenfalls ein etwas verfallenes Ansehen; vom Frontispice ist der Anstrich theilweise abgelöst, sodaß hinter dem kaiserlichen Adler ein Stück des altpolnischen Wappens hervorschimmert.
Die Fußgänger in den Straßen bestehen fast allein aus langbärtigen Juden, Bauern und glattrasirten Soldaten, zwischen denen Kühe, Ziegen und noch weniger ästhetische Vierfüßler langsam dahinwandeln. Mit diesem gehenden Publicum contrastirt das fahrende und reitende, das auf schönen
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125 Marktplatz, Gostinoi-Twor, Theater in Zytomierz.
Pferden, in eleganten Droschken und vier- und sechsspännigen Equipagen durch die schmuzigen Straßen und über die öden Plätze fliegt.
Nach dem langen Aufenthalt auf dem Lande freuen wir uns doppelt wieder so viel Menschenleben um uns zu sehen. „Und wo ihr's packt, da ist's interessant“ fühlen wir mit dem Dichter und denken, das Dem nur die Einsamkeit ge nügen kann, der sich in sie mit einer grosen Idee, einem grosen Glücke oder einem grosen schmerze flüchtet. Wir freuen uns, wieder in der Welt zu sein, in der man sich ja auch mit jedem tiefern Athemzuge des Gedankens Einsamkeit schaffen kann, – freuen uns, uns selbst widerzuspiegeln in tausend Gestalten, in allen uns wiederzufinden, tausendfach carikirt oder idealisirt: der Handelnde und Leidende, der Glückliche und Traurige, das Genie und die Narrheit, der sündige und Tugendhafte – in Allem siehst du Das, von dem etwas deine wie jede Menschennatur entwickelt oder im Keime verbirgt!
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Seitdem der Schnee von neuem die Straßen bedeckt, sind sie von vielen Schlitten belebt; zierliche kleine zweisitzige, mit weichen Pelzdecken belegt, fliegen zu Hunderten vorbei; hinter den Pferden sind farbige Netze ausgespannt, grün, roth oder goldgelb, wie Sonnenstrahlen anzusehen. Darüber thronen die Kutscher in pelzbesetztem Kaftan, mit langem Bart und hohem Hut, und rufen ohne Unterlaß: „Na prawa“, rechts! „Na lewa“, links! Unaufhörlich eilen diese kleinen Schlitten aneinander vorüber und trotz ihrer Menge und der Schnelligkeit des Fahrens ereignen sich selten Unglücksfälle, was man der strengen Aufsicht, unter der die Kutscher stehen, und den harten Strafen, die ihnen bei solchen Unfällen drohen, zuschreiben muß.
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126 Aufenthalt in Volhynien.
Schwerfälliger ziehen die großen Reiseschlitten mit den dicht in Pelz gehüllten Pferden und Dienern vorbei und die Lastschlitten der Bauern, welche mit beschneitem Holz und Feldfrüchten oder festgefrorenem Wild und Fischen beladen sind; diese kommen am zahlreichsten des Sonntags, wo hier, wie in Süddeutschland, der Hauptmarkt gehalten wird und auch die Juden ihre Waaren in größter Menge ausbieten, wodurch die Stadt jedes festliche Aussehen verliert; bis an die Kirchthüren drängt sich das Handeltreiben und mit dem Trödelkram alter Kleider und Geräthe verkaufen die Juden auch Heiligenbilder, Crucifixe und Rosenkränze; freilich macht die Kirche dann mit ihrem Orgelklang, Weihrauchduft und ihren weißgekleideten Priestern einen doppelt feierlichen Eindruck und erscheint wie ein Asyl mitten im Weltgewühl.
Bei den Wegen durch die Straßen wird man häufig in den Orient versetzt, nicht blos durch die vielen Juden in ihren dunkeln Kaftanen, sondern auch durch die Tscherkessen, Perser und Kosacken, die dann und wann in malerischen Trachten erscheinen. In den kalten Tagen sind alle Trachten wenn nicht malerisch, doch immer grotesk. Man sieht die sonderbarsten Verhüllungen und die Bauern tragen alle ihre Kleidungsstücke, ihre Kaftans und Pelze übereinander, dazu große Pelzstiefeln und Pelzmützen, sodaß sie ganz unförmlich erscheinen; die Frauen verhüllen sich außerdem Kopf und Gesicht mit Tüchern, sodaß nur die Augen freibleiben. Auch die Vornehmen verbergen sich gleich ängstlich in ihren kostbaren Pelzen, und die Herren, denen man in der Straße begegnet, gleichen in ihren Mänteln mit weitem zottigen Kragen und der haarigen Kopfverhüllung eher Bären und Wölfen als Menschen. Alles ist gegen den Winter gerüstet und gepanzert wie gegen den schlimmsten Feind; die Häuser sind gleich Festungen gegen sein Eindringen verwahrt und bei weitem
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127 Bevölkerung von Zytomierz. Straßenleben im Winter.
wärmer als die unserigen, sodaß solch ein russischer Winter sich leichter erträgt als einer im Süden, wo man es noch nicht gelernt hat, oder nicht der Mühe werth hält, mit ihm zu kämpfen; auch die Diener haben in den durchaus geheizten Häusern weniger als die unsern zu leiden und selbst die ärmste Hütte ist reich an Holz und Wärme.
Wie sich hier überall der Luxus, die Civilisation und ihre Contraste begegnen, so trägt man, um die widersprechendsten Eindrücke zu vermehren, die Todten unbedeckt mitten durch das bunte Leben. Da gibt es zuweilen die ergreifendsten Begegnungen! Wir hören einen dumpfen Gesang, der Schlitten hält an, wir blicken zur Seite und sehen plötzlich neben uns hoch über den Schultern der Träger eine starre Gestalt, ein bleiches Todtenantlitz. Priester, die das Crucifix und gemalte Heiligenbilder tragen, begleiten die Leiche, der nach uraltem Gebrauch Brot und Salz mit in die Gruft gegeben wird.
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Zur Stadt gehört ein Elisabethinerkloster, das am Rande der Bergebene liegt, hoch über dem Teterew, umgeben von Linden und dunkeln Tannen, die seine Kuppeln und Thürme überragen. Wir fahren oft zur Frühmesse in die Kapelle, wo uns der Gesang der Nonnen und ihrer kleinen Zöglinge erfreut und wo eine gute Copie der sixtinischen Madonna uns vom Hochaltar hernieder wie eine liebe Bekannte grüßt. Die 14 Nonnen, deren Zahl nicht erneut und vermehrt werden darf, sind mit der Erziehung armer Kinder und der Pflege von Kranken verschiedener Religionen beschäftigt. In Küche, Waschhaus, Krankensälen, Garten, Apotheke, Todtenkammer sind sie unaufhörlich thätig; die unter weißer steifer Haube verborgenen Gesichter sehen mild und freundlich aus. Ein Theil des Klostergebäudes dient zu einer russischen Erziehungsanstalt für arme Kinder,
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128 Aufenthalt in Volhynien.
die hier in großen reinlichen warmen Sälen in Religion, Elementarkenntnissen und allerhand Arbeiten unterrichtet, dabei einfach und gut genährt und gekleidet werden. Die kleinen Mädchen nähen, stricken, fertigen Kleider so hübsch und elegant, daß die meisten Damen der Stadt hier für ihre Toilette arbeiten lassen. An der hohen Tanne vorüber, die bei einem Besuch Kaiser Alexander's I. am Bergrand gepflanzt wurde, kommt man zu einem niedern strohbedeckten, von alten Bäumen umschlossenen Hause, in dem ein ehrwürdiger heiliger Mann lebt: der Seelsorger des Klosters, der Abbé O., ein wahres Ideal von Priester, der sein Vermögen wie seine Kenntnisse, die sich über alle Reiche des Wissens erstrecken, am Altare Gottes niedergelegt und sein ganzes Leben dessen Dienste geweiht hat. In dunkler Morgenfrühe geht er durch Schnee und Kälte zum Kloster, um dort die Messe zu lesen; dann fährt er in ärmlicher, mit strohgefüllter Britschka da- und dorthin, zu Reichen und Armen, um Kranke und Sterbende zu trösten, Rathlosen zu helfen, Unwissende zu belehren. Dünnes Silberhaar bedeckt sein Haupt, Nachtwachen, Arbeit und Entbehrung haben sein Gesicht durchfurcht; aber ein höheres Licht als das der Jugendfrische ist darüber ausgegossen; es ist, als ob im Antlitz selbst etwas von jenem Heiligenschein strahle, der, sonst im Bilde das Haupt der Auserwählten Gottes umgibt.
2.
Zytomierz, Anfang Januar.
Die zwei großen Kirchenfeste des Winters sind vorüber. Das erste derselben, das Weihnachtsfest, wird zwölf Tage später als das unsere und eigentlich nur in der Kirche gefeiert und ist nicht durch Lichter und Kinderjubel verschönt wie bei uns. Die deutschen Christbäume leuchten nur in einigen mit
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129 Das Weihnachtsfest. Einsegnung der Gewässer am 6. Januar.
der Fremde bekannten Familien. Dennoch schmücken auch hier einige liebliche Gewohnheiten das Fest. sobald der erste Stern erscheint und die Glocken das Ende des Fasttags und das Nahen der heiligen Nacht verkünden, bricht man in allen polnischen Häusern die geweihten Oblaten, theilt sie mit Verwandten und Freunden und begrüßt sich gegenseitig mit Glückwünschen. Ein Festmahl ist bereitet aus Fischen und süßen Speisen und Heu und Stroh ist unter das Tischtuch gebreitet, zur Erinnerung an das erste Lager des Christkindes, dessen Geburt um Mitternacht von allen Glocken verkündigt und durch Messen in allen Kirchen gefeiert wird.
Diesem heiligsten Feste folgt das der Taufe des Herrn, am 6. Jan., das durch die Einsegnung aller Gewässer im Reiche gefeiert wird. Wir fuhren, die Ceremonie mit anzusehen, an das Ufer des Teterew. Es war ein kalter heller Wintertag. Alle Wege, die zum Flusse führten, alle beschneiten Höhen an beiden Ufern waren mit Menschen bedeckt; Kinder saßen da und dort auf den kahlen Aesten der Bäume; die Helme der Militärs, die bunten Festkleider der Bürger und Bauern glänzten in der Sonne. Das dichteste Gedränge fand auf dem gefrorenen Flusse selbst statt, in dessen Mitte unter einem Tempel aus Tannenzweigen der Bischof eben den Segen ausgesprochen und die Form des heiligen Kreuzes in die Eisrinde geschnitten hatte. Als wir kamen, war die Ceremonie schon zu Ende; die Procession kehrte zurück; voran schritt der Bischof, ein ehrwürdiger Greis, mit langem weißen Barte in prachtvoller Kleidung, auf dem Haupt eine hohe, mit Edelsteinen besetzte Mütze; ihm folgten viele Priester in Gold- und Silbergewändern, mit langen Bärten und langem über die Stirn gescheiteltem Haar, einige mit farbigen, andere mit schwarzen hohen Mützen, andere in bloßem Haupt: es waren Greise und junge Männer und Alle Modelle zu den
Förster, Südrußland.
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130 Aufenthalt in Volhynien.
verschiedensten Apostelgestalten. Das Crucifix glänzte in ihrer Mitte, Kirchenfahnen wehten und Standarten mit in byzantinischer Weise gemalten Heiligenbildern und Christusköpfen ragten hoch über die Menge empor, die Psalmen singend den Berg hinanzog. Der größte Theil des Volks aber drängte sich zu jener geweihten Stelle auf dem Flusse, wo das emporquellende Wasser schon das Zeichen des Kreuzes zu überfluten begann. Erwachsene und Kinder, Bürger, Bauern, Soldaten, Alle kamen mit Krügen, Flaschen, Töpfen, um das geheiligte Wasser zu schöpfen, das sich jahrelang frisch erhalten soll. Jeder wollte zuerst zur Stelle, als fürchte er, der Fluß könne ausgetrunken werden; mit Heftigkeit leerte man die Krüge, als sei man durch die quellenlose Wüste gewandert. Hier bot Einer dem Andern seinen Krug; die Aeltern setzten ihn an die Lippen der kleinen Kinder, und Alle, die sich an dem eisigen Wasser sattgetrunken hatten und heimkehrten mit Tannenreisern und gefüllten Gefäßen, sahen so fröhlich aus, als hätten sie aus der Quelle der ewigen Jugend geschöpft.
3.
Zytomierz, Ende Februar.
Doch nicht blos von kirchlichen, auch von weltlichen Festen kann ich euch erzählen, denn wir haben als Zuschauerinnen schon mehren Bällen des Adelscasino beigewohnt und uns von unserer Loge aus an dem bunten Schauspiel amüsirt, an der Leidenschaftlichkeit, in welcher Alle – Junge wie Alte – von den rauschenden Klängen der Mazurka fortgerissen werden, welche den Greisen im Silberhaar und den Damen, deren Frühling seit lange verblühte, noch einmal Jugendgefühle gibt. Beim bloßen Zuschauen fühlten wir das Entflammende, Aufregende dieses Tanzes, der so ganz den polnischen Nationalcharakter ausdrückt.
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131 Geselliges Leben in Zytomierz. Elemente der Gesellschaft.
Die Leidenschaftlichkeit dieses Charakters zeigt sich auch beim Kartenspiel, welches den männlichen Theil der Gesellschaft Nächte durch an die grünen Tische fesseln und ganze große Vermögen oft in einer solchen Nacht fast dämonisch zerstören soll.
Das Haus hier ist ein sehr geselliges; wöchentlich einmal gibt uns eine Soirée dansante Gelegenheit, mehr und mehr mit der hiesigen Welt bekannt zu werden. Wir sind überrascht, in dieser fernen Provinzialstadt eine so auserwählte, gebildete und elegante Gesellschaft zu finden, die während des Carnevals immer zahlreicher geworden ist, da fast alle vornehmen Familien dieser und auch der benachbarten Provinzen sich wenigstens für einige Wochen hier etabliren. Auch die in der Gegend einquartierten höhern Offiziere kommen dann und wann mit ihren Familien und vermehren den militärischen Theil der Gesellschaft. Es ist in ihr ein ewiges Kommen und Gehen, eine stete Bewegung und Verwandlung fast wie in einem Badeort. Da weder Politik noch Theater und Oper Gesprächsgegenstände bieten können, so bewegt sich die Unterhaltung im Allgemeinen nur um die flüchtigsten Interessen des Tages. Doch wehen auch manche frische Winde, und mancher Genus, den poetische und musikalische Talente oder geistreiche Gespräche geben, läßt ein Echo in der Seele zurück. Die Polen, aus denen der größte Theil der Gesellschaft besteht, besitzen jene angenehmen äußern Formen, jenen Hauch von Vornehmheit und Eleganz, die Frauen jene liebliche Grazie, die Männer jene ritterliche Artigkeit, die der Geselligkeit so besondern Reiz verleihen. Auch die russischen Offiziere, theils Deutsche aus den Ostseeprovinzen, und ihre Damen sind durch Bildung und gesellige Formen angenehme Gesellschafter. Die Meisten sind nur momentan, Viele erst seit kurzem hier. Alle kennen mehr von der Welt als den kleinen Schauplatz, der sie eben umgibt. Die Polen sind großentheils Touristen und
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132 Aufenthalt in Volhynien.
können von halb Europa, die militärischen Herren und ihre Damen wenigstens von den verschiedenen Gegenden des großen russischen Reichs erzählen, in dem sie hin- und herziehen. Man wird durch ihre Schilderungen mit den Wundern von Petersburg und Moskau, mit den Schönheiten des fernen Kaukasus und mit den italischen Reizen der Krim vertraut. Alle diese vielgewanderten Menschen haben etwas Beflügeltes in ihrem Wesen: gewohnt das Leben leicht zu nehmen, den Schaum der Dinge flüchtig zu genießen, haben sie alles schwerfällige abgestreift und verleihen der ganzen Geselligkeit eine gewisse Frische.
Die ausgezeichnetsten Erscheinungen in der Gesellschaft sind, auch abgesehen von ihrem hohen Range, der Fürst Wassiltschikow und seine Gemahlin. Fürst Wassiltschikow, der Generalgouverneur von Volhynien *), dessen einfaches, ernstes, mildes Wesen jedes Herz gewinnen muß, wird von allen Bewohnern der Provinz, allen Ständen und Nationalitäten mit Dank und Verehrung genannt, während seine schöne geistreiche Gemahlin wie ein heller Stern nicht blos in den geselligen Kreisen, sondern auch in den Hütten der Armen leuchtet. Beide geben einen höchst günstigen Begriff von der Liebenswürdigkeit und Bildung der russischen Aristokratie.
Das interessanteste aller Ballfeste war der von der Fürstin Wassiltschikow arrangirte Bal costumé, der die ganze Provinz in Aufregung versetzte und lange vor- und nachher alle Gespräche erfüllte. Er bot ein glänzendes Schauspiel durch die malerischen prächtigen Toiletten und die Masse von Diamanten, mit denen Haare und Gewänder übersäet waren, sodaß manches liebliche Wesen einer mit Thautropfen bedeckten Blume glich. Die Fürstin Wassiltschikow, die mit künstlerischem Geiste das Ganze geordnet,
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*) Jetzt Generalgouverneur von Kiew, Volhynien und Podolien.
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133 Geselliges Leben in Zytomierz; Ballfeste u. s. w.
die Paare und ihre Costüme bestimmt hatte, machte in ihrer Beduinentracht, die so ganz mit ihrer und ihres ähnlich costümirten Cavaliers pikanter Schönheit harmonirte, einen Eindruck so voll Poesie und charakteristischer Wahrheit, daß man sich beim Anschauen wie vor einem Bilde von Horace Vernet fühlte und im Hintergrunde die ganze Wüste mit Palmen und Karavanen erblickte. Nächst ihr war die lieblichste Erscheinung Alexandrine von K., als Bergère in weiß und rosa Atlas mit Rosen im Haar, mit Schäferhut und Stab – selbst eine morgenfrische Rose.
Häufig finden in der Gesellschaft dramatische Vorstellungen statt. Es werden zum Besten der Armen russische, polnische und französische Stücke vortrefflich aufgeführt, wiederum unter der liebenswürdigen Intendanz der Fürstin Wassiltschikow, welche mit Grazie und künstlerischer Begabung selbst manche Rollen spielt.
Ergötzlich ist es, Vorstellungen der öffentlichen Theatertruppe oder öffentlichen Concerten durchreisender Virtuosen unterster Classe beizuwohnen, weil man bei solcher Gelegenheit die heitere Leichtigkeit, mit der die Slawen das Leben erfassen, ihre unzerstörbare Laune, ihre Fähigkeit, in jeder Blume Honig zu finden, so recht kennen lernt. Diese vornehmen, eleganten, selbst künstlerisch gebildeten oder mit den Kunstgenüssen großer Städte bekannten Personen hören mit fröhlicher Bonhommie den schlechtesten Productionen zu, applaudiren aus Güte oder Scherz, amüsiren sich über Alles: über die Mistöne, die düstern kalten Räume und über sich selbst, die in ihnen Unterhaltung suchen.
Endlich hat die Stille der Fastenzeit all diesen Freuden ein Ende gemacht. Auch der Winter bereitet sich zum Abschied. Schon ergraut der Schnee; schon haben wir eine Lerche gehört, die, hoch über den weißen Feldern schmetternd,
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134 Aufenthalt in Volhynien.
das Nahen des Frühlings verkündigt, der heute in zarten flockigen Wölkchen herunterzuschweben scheint, willkommen wie ein lieber lang verlorener Freund. Bald wird er seine goldenen Pfeile wider die Eisdecke der Gewässer richten, bald wird er uns Quellen, Blumen und Vögel, Hoffnungen und Träume, alle süßen Jugendgefühle wiedergeben.
4.
Zytomierz, Anfang Mai.
Diese letzten zwei Wochen glänzen wie ein helles Kleinod in meiner Erinnerung: die neuerwachten Frühlingsfreuden und die rührenden kirchlichen Feierlichkeiten vereinten sich, um aus ihnen ein so harmonisch schönes Ganze zu bilden, daß es mir schwer scheint, es wieder in Details aufzulösen und davon zu erzählen. Kaum weiß ich, ob ich zuerst von den Gärten und Thälern voll Blumen und Vögelgesang oder von den Kirchen voll Weihrauchduft und Orgelklang reden soll. Eins gehörte zum Andern und verschönerte und heiligte das Andere, und der beseligende Gedanke der Auferstehung war hier wie dort lebendig.
Acht Tage vor der Osterwoche beginnen die Vorbereitungen, welche der Abbé O. im Kloster für einen großen Kreis von jungen Mädchen und Kindern hält. In früher Morgenstunde versammeln sich Alle am Bergrand vor dem Kloster und erwarten das Kommen des ehrwürdigen Lehrers. Alles sieht heiter und poetisch aus: der blaue Fluß zu unsern Füßen glänzt in der Morgensonne, das junge Grün schimmert auf den nahen und fernen Bergen und goldiges zartes Laub an manchen Bäumen. Ueber uns singen Lerchen, unter uns in den knospenden Eichen Pirolen und Amseln. Die Kinder pflücken Blumen auf dem Berghang und überall zwischen den dunkeln Stämmen schimmern ihre hellen Gewänder. Alle die
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135 Vorbereitungen auf das Osterfest.
Zerstreuten vereinigen sich, als der Abbé aus der Pforte seines nahen kleinen Hauses tritt, und Kinder und Erwachsene eilen ihm mit frohen Grüßen entgegen. Der ehrwürdige Greis mit dem gütigen Lächeln und heitern Antlitz unter spärlichem Silberhaar ist im Einklang mit dem Frühlingsmorgen und die ganze Umgebung erscheint geheiligt durch seine Erscheinung. Alle folgen ihm ins Kloster, wo er im Saale der Priorin die religiösen Uebungen und Prüfungen hält. Diese Vorbereitungen dauern bis Ende der Woche, wo die meisten dieser jungen Mädchen mit den Nonnen vereint am heiligen Mahle theilnehmen und auch die Kinder ihre ersten Beichten halten. Es ist ein rührender Anblick, wenn der ehrwürdige Priester im weißen Gewande sein silberhaariges Haupt zum blonden Lockenköpfchen eines kleinen Mädchens neigt, das, im Beichtstuhl kniend, ihm ihr kindliches Bekenntnis zuflüstert. Es ist wie ein Bild vom guten Hirten, der auch für das Kleinste seiner Heerde liebend sorgt.
Die Blumen und Kerzen auf dem Altar unter dem schönen Abbild unserer sixtinischen Madonna, die kleinen Chorknaben, welche weiße Opfertücher halten, die gleich hellen Wolkenstreifen zwischen dem Priester und den Knienden schwanken, der Gesang der Nonnen, die Andacht und Rührung der Kinder – Alles ist so schön poetisch wie ein Traum aus einer andern Welt.
Auch in den übrigen katholischen und in den griechischen Kirchen finden wochenlange Vorbereitungen für die heiligste Feier statt, vor welcher Familienglieder und Bekannte sich gegenseitig um Vergebung bitten und nach welcher sie sich mit freudigen Glückwünschen begrüßen. Die russischen Dienstleute sind unermüdet im Besuche dieser täglichen stundenlangen Vorbereitungen und bei aller sonstigen Eßlust und Gourmandise äußerst streng in der Beobachtung der langen Fasten, die
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136 Aufenthalt in Volhynien.
ihnen nur Brot und in Oel gekochte Gemüse und Fische zur Nahrung gestatten. In der Osterwoche werden täglich in den katholischen Kirchen die uralten Lamentationen gesungen, in denen das Weh der ganzen Welt widerzuklingen scheint.
Am Charfreitag ist das Tabernakel unter Blumen, Zierath und Kerzen ausgestellt, ein bunter, nicht zu der heiligen Trauer des Tages stimmender Eindruck. An den Kirchthüren wird von je einer Dame und einem Herrn aus der Gesellschaft für die Armen gesammelt.
Sonnabend Nachmittag wird die Sventzone oder Pasqua im größten Zimmer des Hauses aufgestellt und von einem Priester gesegnet und mit Weihwasser besprengt. Dies Ostermahl mit seinen eigenthümlich nationalen Fleischspeisen und Bäckereien, mit den hohen Torten (babas), auf denen Osterlämmchen thronen, mit seinem Schmuck von Blumen und grünen Zweigen, bleibt während der Feiertage in allen Häusern stehen und ladet jeden Besuchenden zum Genus. Um Mitternacht ertönen alle Glocken und rufen zur Auferstehungsfeier, die in allen Kirchen gehalten wird und in den russischen Gotteshäusern, wo sich die Geistlichkeit in aller Pracht und Militär und Beamte in besten Uniformen versammeln, bis zum Morgen dauert. In der Frühe des ersten Feiertags beginnen die glückwünschenden Besuche, die man seinen Vorgesetzten und allen Bekannten nothwendig abstatten muß, sodaß für Viele diese Feiertage beschwerlichste Arbeitstage sind. Der Ostergruß: „Cristos woskres!“ („Christus ist auferstanden!“) durchtönt Straßen und Häuser. Vornehme und Geringe, Freunde, Verwandte, Diener und Herren begrüßen sich mit dem Rufe und küssen sich gegenseitig mehre male auf beide Wangen. Auch seinen Untergebenen und Dienern gibt der russische Herr an dem Tage der Freude den Bruderkuß. Alles scheint in Liebe und Glück verbunden. Nicht blos Küsse, auch Geschenke
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137 Die Passionswoche. Feier des Osterfestes.
werden ausgetheilt. Diener und Dienerinnen bringen am Morgen mit dem Gruße „Cristos woskres“ buntbemalte Eier und erhalten Bänder, Tücher oder Geld als Gegengeschenk. Auch die Vornehmen beschenken sich gegenseitig mit Eiern, die oft schön bemalt und verziert sind. Mit den nächsten Bekannten theilt und ißt man Eier unter gegenseitigen Glückwünschen, sowie man zu Weihnachten die geweihten Oblaten zusammen genoß.
Die ganze Stadt hat ein festliches Ansehen, da dieses Jahr auch die Juden zu jetziger Zeit ihr Passahfest haben und ihre Läden geschlossen halten und geputzt umhergehen. Ueberall erblickt man bunte helle Kleider, die Bauern tragen ihre besten Kaftans, die Bauermädchen haben ihr Haar mit Blumen geschmückt und mit ihren besten bunten Bändern, die lang über den Rücken herabhängen. Die Goldhauben und Ketten der Jüdinnen, die Helme und Uniformen der Offiziere glänzen in der Sonne, die kleinen schnellen Droschken und die reichen Equipagen rollen unaufhörlich durch die Straßen, die heute in noch ungesehener Reinheit glänzen. Am zweiten Feiertag beginnen die Volksbelustigungen, welche die ganze Woche durch fortdauern. Auf einem freien Platze vor der Stadt ist ein buntes Gedränge; Schaukeln fliegen empor, andere schwingen sich wie Räder im Kreise. Hackbret und Geigen klingen in unmelodischen Tönen; auf den Tanzplätzen drehen sich die Mädchen und Burschen in ihren eigenthümlichen Nationaltänzen, für die sie wenig Raum brauchen, da sie meist in Springen und Umdrehen auf einer Stelle bestehen. Krüge mit Kwas und Branntwein gehen von Einem zum Andern; auch Nüsse, Aepfel, Orangen, braune Pfefferkuchen und harte weiße Bretzeln werden an vielen Tischen verkauft, an andern würfelt man und gewinnt Glasperlen, Bänder, Spiegel und Zuckerwerk. Die Bauern und Bäuerinnen der Umgegend
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138 Aufenthalt in Volhynien.
legen ihre braunen und grauen Kaftans auch beim Tanzen nicht ab; die lustigsten Tänzer sind die Jemtschiks, die großrussischen Fuhrleute, von weit hierhergekommen, deren rothe oder rosa Hemden über schwarzsammetnen Unterkleidern von den dunkeln Kaftans der Andern abstechen; fröhliche frische Gesichter wie sie zeigen die großrussischen Bäuerinnen, die man hier und da in schönen hellseidenen Jacken oder Kassawaikas, weiten Röcken und bunten Kopftüchern unter der Menge sieht; sie Alle und ihre Männer sind meist blond und blauäugig und haben ein deutsches Aussehen, während die volhynischen und podolischen Bauern mit dunklern Augen und Haar, weniger frischer Gesichtsfarbe und weniger heiterm offenen Ausdruck mehr den Böhmen und Ungarn gleichen.
Aber nicht blos in Kirchen, Häusern und Straßen war es festlich; die ganze Natur erschien gehüllt in Frühlingsduft und Sonnenschein und gerade in diesen Tagen erblühten uns ungeahnte Schönheiten in der Gegend. Nicht blos Blumen und Gräser, sondern Wälder, Thäler, Felsen, Wasserfälle, deren Dasein die dichte Schneehülle verborgen hatte, erstanden plötzlich im neuen Sonnenschein und verwandelten die Welt die uns umgibt. Am schönen Ostersonntag stiegen wir zum ersten mal von der Bergfläche, auf der die Stadt sich ausbreitet, durch den knospenden Eichenhain hernieder ins reizende Thal des Teterew, das wie ein geöffnetes Paradies vor uns lag. sanftgewellte Berge mit grünen Abhängen, waldigen Schluchten und Felsenvorsprüngen ziehen sich zu beiden Seiten des Flusses hin, der kleine Inseln und Felsenblöcke umrauscht und höher oben mit glänzenden Schaumwellen über ein breites Wehr sich stürzt. Grüne Hütten sind auf den Höhen und am Ufer zerstreut, Kähne gleiten über die Wellen; von den Bergen rechter Hand sieht man die Thürme der Stadt schimmern und näher dem Abhang erheben sich die großen Gebäude
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139 Frühlingsanfang.
des Klosters; Mühlen, Felsenblöcke und alte Weiden schmücken hier und da die Ufer; das Thal erscheint so lieb und wohl bekannt wie alles Schöne. Wir überblicken es von der Höhe eines Abhangs, auf dem Veilchen und Primeln blühen, und sehen dahin wie auf ein neugeschenktes Reich. Unsere Augen folgen den Windungen des blauen Flusses, der sich rechts, mit der ihm entgegenschäumenden Kamionka verbunden, in ein neues waldiges Felsenthal verliert und links zwischen sonnigen Höhen hinzieht, auf denen kleine Dörfer und junge Saaten schimmern. Weiden und Birken lächeln im ersten goldigen Grün, Ziegen klettern auf den Höhen und suchen Frühlingskräuter; am Ufer und auf den Bergpfaden leuchten die hellen Kleider vieler Spaziergänger. Aus der Stadt tönen Vesperglocken, aus der Luft Gesänge der Lerchen und vom Flusse leise Ruderschläge. – Alles ist froh im Frühlingssonnenglanz und geheiligt von der Feiertagsruhe. Es war Festtag – Auferstehungstag – auch wir neugeboren mit der neugeborenen Welt –„Hoffnung und Glück im Thal“ und in unsern Herzen!
5.
Zytomierz, vom Mai bis Juli.
Alle Herrlichkeit, die uns eben umgibt, umhaucht, umtönt und heute und seit vielen Wochen glücklich macht, möchte ich euch in diesem Briefe schicken, alle Worte damit durchdringen, um euch eine Idee von diesem russischen Mai zu geben, der so schön ist wie unser deutscher.
Schon im Winter ahnten wir die Reize dieser Gegend, aber nun sie der Frühling wirklich erweckt hat, übertreffen sie alle unsere Erwartungen und wir sind ebenso freudig erstaunt, wie wenn ein Mensch, mit dem wir lange in gleichgültigem
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140 Aufenthalt in Volhynien.
Umgang lebten, uns auf einmal seine Seele und in ihr einen ungeahnten Reichthum von Poesie und Liebe eröffnet.
Ganz wunderbar hat sich die Gegend verwandelt und ohne den Ort verlassen zu haben, sind wir plötzlich in ein kleines Paradies versetzt. schon die nächste Umgebung bietet tausendfache Schönheit: aus den Zimmern treten wir in den Garten voller Blütenbäume und Blumen, mit denen das dunkle Buchengrün der Thalschlucht contrastirt, die diesen Garten begrenzt und uns wenige Schritte vom Hause die erquickendste Waldeinsamkeit bietet. Hier ist das Reich der Nachtigallen und vom Abend bis zum Morgen hören wir dies tausendfache Tönen voll Lust und Sehnsucht. Die Nächte sind so still und lau, daß wir oft, von Sternen und Nachtigallen gefesselt, bis nach 12 Uhr im Garten bleiben, dessen Blüten im Mondlicht wie Silber schimmern. Mit dem Duft dieser Blüten mischt sich der der Birken und Pappeln, er dringt aus dem Garten in die Zimmer und man fühlt auch da den Frühling. Nicht blos unsere Wohnung, sondern fast alle Häuser der Stadt umgibt er mit seiner Schönheit: die hohen Pappeln und sanftgeneigten Birken, die alten Linden und Kastanien, die Obstbäume und Akazien sind nun mit Laub geschmückt, beschatten die niedern Dächer und bestreuen sie mit Blüten; Blumen duften auf allen Perrons; überall grünen Gärten, Waldvögel singen mitten in der Stadt; Regen, Wind und Sonne haben die Straßen gereinigt und getrocknet; selbst in die elenden Judengassen dringt etwas von den Düften und Tönen, und die ärmste Hütte hat der Frühling umarmt.
Da die Stadt auf einer von Spalten und Rissen durchbrochenen Bergfläche erbaut ist, so gehen viele Häuser, die an einer öden häßlichen Straße liegen, von der Rückseite auf eine Berg- oder Waldschlucht oder auf ein liebliches Thal. Diese Schluchten und Thäler sind in kleine Gärten verwandelt, die
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141 Maienlust. Zytomierz im Frühling.
mit ihren Blumenterrassen, ihren Quellen und Lauben, ihren Bienen und Vögeln und den alten Bäumen, die das junge Blütenleben überschatten, wie verborgene Paradiese mitten im Treiben der Stadt liegen. Bei Spaziergängen in der Nähe und Ferne wird man an die Neckar-, Lahn- und Nahegegenden erinnert; Alles ist anmuthig lächelnd wie dort. Von allen Punkten im Thal und auf den Höhen sieht man das Elisabethinerkloster mit seinem weißen Gemäuer, seinen Kuppeln und seinem hohen Thurm weithin in der Sonne glänzen. Wir gehen gern in seiner Nähe spazieren, freuen uns der Aussicht auf den hellen Fluß und die Waldberge gegenüber, freuen uns an der Lust der armen Pflegekinder des Klosters, die auf dem Rasen spielen, und an dem Wohlbehagen, mit dem einige halbgenesene Kranke im warmen Sonnenschein spazieren, freuen uns vor allem an den Nonnen selbst, von denen einzelne hin- und hergehen mit den freundlichen stillen Gesichtern, welche die großen weißen Hauben nicht ganz verbergen.
Viele Pfade führen von hier zwischen den Eichen und Buchen, die den Berghang bedecken, hinab zum Fluß, der kleine Fischerkähne trägt, dann und wann über ein Wehr schäumt und weiterhin die Kamionka aufnimmt, einen zweiten glänzenden Fluß, der zwischen Tannenhügeln hervorstürzt und an dem ein Theil der Stadt in malerischer Unordnung liegt. Wir aber gehen dem Teterew nach bis ins enge kühle Felsenthal, aus welchem er, von seiner fernen Quelle kommend, hineinrauscht in die offenere Gegend. Felsentrümmer ruhen in seiner Mitte, von den klaren grünen Wellen umspült und von Birken überhangen, die aus den Spalten hervorgewachsen sind. Zu beiden Seiten steigen die Felsen empor, wild zerklüftet und dunkel das Wasser beschattend, das dicht an sie heranrauscht. Alles ist so einsam, still und kühl und man denkt sich im Thal der Genoveva oder Euryanthe. Auch oben
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142 Aufenthalt in Volhynien.
am Rande der Felsen ist es schön zu gehen; hier am ersten Vorsprung sehen wir das ganze heiter belebte Thal vor uns liegen, die sonnigen Berge, das Kloster auf grüner Höhe und die hellen rings verstreuten Häuser, und wenige Schritte weiter finden unsere Augen nur die einsamen Felsen, die Schluchten voll Tannen und Birken und tief unten den Fluß so dunkelgrün im Felsenschatten. Wir athmen entzückt die Wald- und Bergluft ein und den Duft des Thymian und der weißen Blüten der Clematissträucher, die auf den Abhängen wachsen, und vergessen Alles, was nicht rein und frisch ist wie die Welt, die uns umgibt.
Ebenso reizend ist es, auf der andern Seite der Stadt den Windungen des Teterew bis zu den fernen blauen Bergen zu folgen. Auch da geht man in einem stillen kühlen Thale zwischen sanftruhenden Bergen mit Birkenwäldern geschmückt, deren Frühlingsschönheit unbeschreiblich ist. so lustig streben die weißen glänzenden Stämme zum Himmel empor, so lieblich senken sich die hellbelaubten Zweige zur Erde. Viele dieser anmuthigsten Bäume des Waldes stehen in einzelnen Gruppen auf den Abhängen, zueinandergeneigt und flüsternd wie fröhliche Kinder. Da und dort schimmert ein Dörfchen aus dem Waldgrün hervor; nur selten gleitet ein Fischerkahn über die Wellen, die Menschenstimmen sind verstummt; aber die Natur ist laut in tausend Klängen: die Lüfte scheinen von Gesang belebt und aus den Tiefen der Wälder dringen die süßen Töne der Nachtigallen. Auch das Wasser ist voll Leben: auf seiner Oberfläche blitzen gleich tausend Silberfunken oder Sternen die Köpfchen der Fische, die neugierig in die Sonne schauen. Tiefer in den Bergen mischen sich dunkle Tannen mit dem zarten Grün der Birken und dazwischen schimmern die weißen Blüten der wilden Birnbäume und man geht dahin ganz berauscht von Düften und Tönen.
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143 Maienfeste im Freien.
Der Mai, der Marienmonat, ist hier wie in allen katholischen Ländern eine festliche Zeit: täglich finden in den Kirchen Processionen und Predigten zu Ehren der heiligen Jungfrau statt und jeden Abend ruft das Avegeläute zu feierlichem Gottesdienst. Aber auch in anderer Weise feiert man den schönen Blütenmonat: Alles gibt Maienfeste im Freien, „Maijufken“ genannt. Da ziehen gegen Abend die Geladenen zu Pferde und Wagen nach irgendeinem nahen Wald oder Berghang, wo sie die Wirthe empfangen, wo Zelte aufgeschlagen, Teppiche auf den Rasen gebreitet, Tische, Sessel und reiche Erfrischungen bereit sind. Musik klingt durch den Wald und bald schweben viel anmuthige Gestalten in hellen Gewändern durch das dunkle Grün. Da und dort lagern Gruppen unter den Bäumen, heitere Paare wandeln in der Einsamkeit auf entferntern Pfaden; die Jüngsten machen Spiele; Reifen und Ball fliegen durch die blaue Luft; Alles ist voll Scherz und Lust. Am Abend blitzen bunte Lampen von allen Bäumen und werfen eine magische Helle auf die nächste Umgebung, während die Ferne mit Bergen und Wäldern im sanften Dämmerlichte des Mondes wie ein Traumland ruht. Raketen sprühen auf, Leuchtkugeln steigen empor und sinken nieder, wie zurückgewiesen von den Sternen, zu deren Nähe sie strebten.
Auch einfachere Maienfeste werden gefeiert: fast auf jedem Spaziergang sieht man fröhliche Gruppen von Bürgerfamilien da und dort auf dem Rasen am Flusse oder am Waldrand gelagert; der Samovar dampft in der Mitte, Körbe voll Kuchen und Früchten werden ausgepackt; Jeder genießt und freut sich des Lebens; Lieder im schönen Laute der polnischen Sprache, oft mehrstimmig gesungen, verkünden von weitem die heitere stimmung der Gesellschaft. so sucht sich Jeder selbst seinen Lustort da, wo es ihm eben gefällt, und diese improvisirten Vergnügungsplätze mitten in der frischen fröhlichen
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144 Aufenthalt in Volhynien.
Natur haben Reize, die man an unsern öffentlichen Cafés und Concertgärten voll Lärm und Gedränge nicht kennt.
Eine andere gesellige Vereinigung bieten die von der Fürstin Wassiltschikow arrangirten Cavalcaden. Es ist eine Lust, daran theilzunehmen. Alles versammelt sich in den Salons und der grünen Veranda der Fürstin; nach kurzer Weile eilt man zu Roß und Wagen. Die Reiter und Reiterinnen sprengen voran; die Equipagen folgen und vergrößern durch ihr vielfaches Gespann den Zug, den die Diener und Grooms beschließen. Es ist ein bunter fröhlicher Anblick durch die eleganten Toiletten der Damen in den Equipagen, die reichen Uniformen der Offiziere und vor allem durch die schönen Reiterinnen, deren schönste die Fürstin Wassiltschikow ist, die, immer dem Zug voran, auf ihrem schwarzen Araberroß über die Ebene fliegt, bergauf bergab über Gräben und Hecken eilt, Alles mit so lieblicher Anmuth und so glänzendem Ausdruck der Freude im sonnigen Antlitz. Es ist wie eine Erscheinung aus einem Persergedicht oder einem orientalischen Märchen. Man zieht durch Wiesen und Felder, dann durch dunkeln Tannenwald zum schönen Thale der Kamionka, dem frischen Bergfluß, der über Felsenstücke rauscht und da, wo sich das Thal erweitert, einen kleinen See bildet, dessen Silberfläche Tannenwälder umschließen. Auf einer Stelle des felsigen Ufers steht ein freundliches Landhaus im Schatten uralter Linden; eine Mühle liegt im Grün versteckt am Wasser und das Geräusch ihrer Räder unterbricht allein die Stille. Die Hügel zu beiden Seiten sind mit lichtgrünen Birken und Eichen und dunkeln Tannen bedeckt und unter den Bäumen blühen rothe Nelken und wilde Maiblumen in Fülle. Wir ersteigen einen dieser Hügel und blicken von oben weit ins Land hinein, im Westen auf zerrissene Berge und Waldschluchten und im Osten auf eine Ebene, die sich mit maiengrünen
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145 Umgebung von Zytomierz. Waldberge und Thäler.
Feldern und Wäldern bis in weite Ferne ausdehnt wie ein smaragdenes Meer, in dem die einzelnen Hütten und Dörfer wie weiße Segel in der Sonne schimmern. Viele Wege und Pfade winden sich durch das Grün und nahebei führt die große Landstraße nach Warschau, der meine Blicke folgen bis wo sie sich im Gold und Purpur des Abendroths verliert.
Weiter geht es dann zu Roß und Wagen durch Wälder, Berge, Felsenthäler, über kleine Flüsse und Waldbäche, auf ungebahnten Wegen, immer folgend der schönen unermüdeten Führerin. Hier und da liegen kleine Hütten, und erstaunt blicken ihre armen Bewohner dem Zuge nach, der plötzlich wie ein glänzender Traum durch ihre Stille Welt zieht. Die Abendröthe durchdringt den Wald und fließt wie ein Purpurstrom zwischen den dunkeln Stämmen; von einer Kapelle auf der Höhe klingt das Aveglöckchen gleich einem Engelsgruß hernieder. Endlich öffnen sich die Waldhügel und vor uns, jenseit des Flusses auf Felsen und Bergen liegt die Stadt mit durcheinandergestreuten Häusern, Gärten und Baumgruppen, mit den weißen hohen Thürmen der katholischen, und den grünen Kuppeln der russischen Kirchen – ein malerisch schöner Anblick. Den Fluß, der sich unten um die Felsen windet, beleben Fischerkähne und badende Kinder. Auf einer niedrigen Stelle gehen Equipagen und Pferde hinüber und selbst die engen Judenstraßen, durch die wir in die Stadt eindringen, sehen lustig aus im Abendsonnenschein. Die elenden Häuser, die Gruppen vor den Thüren, die spielenden Kinder, die strickenden Frauen, die handelnden Männer – Alles ist verschönert durch die Rosenfarbe des Abends.
So ist schön und flüchtig der Frühling vorübergezogen; jede verschwindende Freude wurde durch eine neue ersetzt; den Blüten der Obstbäume folgten die des Hollunders und Jasmins; dann glühten die Rosen in tausendfacher Pracht; nun duften die Weinreben,
Förster, Südrußland.
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146 Aufenthalt in Volhynien,
die unser Haus umranken, und die Linden in allen Gärten der Stadt. Auch die Geselligkeit hat sich mit neuen Freuden geschmückt: Ende Mai versammelten die Electionen, die Wahlen der Adelsmarschälle, den größten Theil des Adels dieser und der Nachbarprovinzen in unserer Stadt. Von allen Seiten kamen die schwerbepackten Reisewagen herbei; alle Wohnungen der Stadt wurden in Beschlag genommen und theuer bezahlt. Schneider, Putzmacherinnen und Köche waren viel beschäftigt. Man glaubte sich durch die Menge der Equipagen, Reiter, Fußgänger und schnell improvisirter großer Kaufgewölbe plötzlich in eine große Hauptstadt versetzt. Feste reihten sich an Feste und das Interesse für diese vermischte sich mit dem für die Wahlen der neuen Marschälle, Präsidenten u. s. w.
An einem dieser schönen Morgen zogen die wählenden Herren in ihren Adelsuniformen in die katholische Kirche, wo Messe, Rede, feierliche Eidesleistung vor dem Generalgouverneur und bei alledem ein großes Gedränge stattfand. Auch in den Wahlsaal blickten wir einmal von der Galerie und hörten die Herren durcheinander rufen, stürmen, Ruhe erbitten, feurige Reden halten, applaudiren, pochen, einer den andern überschreien, sahen sie auf Stühle und Tische steigen und dachten uns dabei lebhaft die alten polnischen Königswahlen und fühlten, daß noch das Blut der Vorfahren in den Adern später Nachkommen rollte. Ebenso stürmisch soll es bei den großen Herrendiners hergegangen sein, die täglich die Wähler vereinigten und bei denen sie in der Wein- und Champagnerbegeisterung schneller zu ihren Beschlüssen kamen als bei den officiellen Verhandlungen.
Die hübschesten der Feste waren die im Freien, so z. B. ein Ball, den der abgehende Marschall Hr. v. V. in dem Birkenhain der Dombrowka gab. Die laue Mondnacht, in der man bis gegen Morgen in leichten Kleidern im Freien
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147 Geselligkeit im Sommer. Theaterabende im Freien,
bleiben konnte, die Lampen, die das duftende Birkenlaub beleuchteten, die Pechfackeln am Eingange und in den Alleen, der helle Glaspavillon, der seinen Lichtglanz weit durch den Garten verbreitete und hinter dessen durchsichtigen Wänden man von fernher die Tanzenden schweben sah, die Musik, die von hier den Wald durchklang, die Gruppen der im Freien Wandelnden und Ruhenden, die geschmückten Tafeln unter den Bäumen, die um Mitternacht die Gäste vereinten, die bunte Fröhlichkeit – durch Lichter, Duft und Töne belebt – Alles war zauberisch schön!
Auch das Ballfest beim Fürsten Wassiltschikow hatte Haus und Garten zum Schauplatz, beides illuminirt, durch Gäste und Musik belebt und von lauer Nachtluft durchdrungen.
In demselben Garten fanden die von der Fürstin arrangirten Theaterabende statt. Die Bühne war auf einem Rasenplatz zwischen den Bäumen errichtet; die Sitze der Zuschauer umschloß ein grünes Dickicht von Linden, Buchen und Birken, deren einzelne Partien und hervorreichenden Aeste die überall vertheilten Lampen zauberisch beleuchteten. Es war eine italienische Nacht. Die Lampen brannten ruhig, kein Windhauch bewegte das Laub, Musik tönte in den Pausen durch die laue Luft und die Sterne blickten still auf das frohe Leben nieder. Bis nach Mitternacht dauerten diese Feste, schöne unvergeßliche Sommernachtsträume!
Einige mal sind wir in erster Frühe schon auf dem Klosterberg gewesen und haben die Sonne hinter den Waldhöhen aufgehen und die Morgennebel zerstreuen sehen. Auch in späten Abendstunden standen wir dort und sahen den Vollmond über den Bergen schweben und niederschauen auf sein glänzendes Abbild im Flusse.
Bis in die Kirchen ist der Sommer gedrungen; neulich zu Pfingsten waren sie alle in grüne Lauben verwandelt und
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148 Aufenthalt in Volhynien.
auch außen die Pforten gleich den Thüren der Häuser und Hütten mit Birken und Ahornbäumen geschmückt.
Ebenso heiter war die Feier des Fronleichnamsfestes. Die Kathedrale auf dem Berge konnte nicht alle Andächtige aufnehmen und eine bunte Menge von Herren und Damen, geputzten Bürgern und Bauern drängte sich auf dem grünen Vorplatz im Schatten der alten Linden; Viele waren unter den Bäumen in Gruppen gelagert, beteten aus ihren Büchern, oder plauderten und genossen mitgebrachte Erfrischungen. Vier Kapellen waren längs der Mauern dieses Vorhofs aus Blumen und Zweigen errichtet und viele Betende knieten darin vor den kleinen Altären. Man hörte den Orgelklang aus der Kirche und mit ihm vermischt das Flüstern des Laubes. Endlich tönen die Glocken und aus der Kirche kommt die Procession. Unter lateinischen Gesängen ziehen sie von einem Altar zum andern und als die einförmigen ernsten Psalmentöne verklungen sind, als man den Vorhof voll Linden- und Weihrauchduft verläßt, fühlt man sich wie aus sanftem Traum erweckt und gibt sich ungern von neuem den lauten und bunten Eindrücken des Straßenlebens hin.
6.
Zytomierz, Ende August.
Eine Reise nach Podolien und ein kurzer Aufenthalt dort auf dem Lande hat eine neue Abwechselung in unser Sommerleben gebracht. In mehren Equipagen zogen wir durch das sommergrüne Land, das ich zuletzt so ganz anders in der traurigen Winterhülle gesehen hatte. Mit der herrlichen Natur contrastirten die kleinen schmuzigen Judenstädte, in welche nichts von des Sommers Reiz gedrungen war.
Die blauen Seen, die Birken- und Eichenwälder, die ihr schon kennt, hießen uns auch diesmal freundlich willkommen
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149 Ausflug nach Podolien.
und der Garten empfing uns mit duftender Rosenpracht. Alle Freuden des vorigen Jahres genossen wir noch einmal in flüchtiger Wiederholung; wir fuhren auf dem See, an den Schilfinseln, den goldigen Nymphäen, den wilden Schwänen vorüber, suchten unsere Lieblingsplätze in den Wäldern auf und fanden uns überall bekannt, wie begrüßt von den Geistern hier verlebter schöner Stunden. Auch in die Nachbarschaft machten wir Ausflüge, an die einsamen waldigen Ufer des Bug, wo der Abendwind im hohen Schilfe seufzt und weiße Wasservögel über die dunkle Fläche gleiten und in die Steppe, wo nur Blumen und Vögel und Schmetterlinge leben und der Mensch sich nur da und dort eine kleine einsame Hütte gebaut hat,
So vergingen die Tage schnell, aber doch war ich froh, als uns das heimatlichere Volhynien wieder umgab mit seinen dunkeln Tannenwäldern, seinen schnellen Flüssen und seiner reizenden Abwechselung von Berg und Thal; denn wie lieblich und fruchtbar auch Podolien ist, doch ermüdet das ewige Einerlei der Seen und Wälder und die Wellenlinie thut wohl nach den immer gleichen Linien der Ebene.
Die vornehmen Bewohner der Stadt setzen ihr fröhliches Sommerleben fort. Bald ist ein enges Felsenthal, bald ein grüner Berghang der Salon, in dem sich die Gesellschaft versammelt. Ein solches Fest im Freien fand neulich auf dem schönsten Aussichtspunkte der Umgegend statt, auf einem Berge, der den Blick in drei verschiedene Thäler bietet, das eine gebildet von den grünen Höhen, auf denen ein Theil der Stadt und das Kloster liegt und zu deren Füßen der Teterew in lieblichen Windungen hinzieht, das andere von Felsen und Tannengründen umschlossen, und das dritte begrenzt von dunkeln Waldbergen, auf deren einem ein einsamer Kirchhof liegt, dessen Kreuze im Abendlichte schimmern.
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150 Aufenthalt in Volhynien.
Alle diese Sommerfreuden werden durch das schönste Wetter begünstigt; vom April bis jetzt – Ende August – war ein Tag wie der andere sonnig heiter, alle Nächte lau und sternenklar; häufige kurze Gewitter erfrischen die Luft und die Erde, die noch fast maigrün ist. Auch unser Garten ist noch mit Glanz und Frische geschmückt; die Nachtigallen singen nicht mehr, aber andere Gäste beleben das Thal und wir erfreuen uns an den zierlichen Sprüngen der Eichhörnchen, die zwischen den Buchenästen auf- und niederklettern und die Menschennähe nicht fürchten.
So nahen die letzten Sommertage; es ist mir, als läse ich die letzte Seite in einem herrlichen Buche. Das Buch ist zu Ende – die Zeit ist vorüber; aber Das, was wir darin gelesen, Das, was sie in unsere Seele gelegt hat, bleibt als Nachklang ewig in ihr zurück.
7.
Zytomierz, vom September bis Anfang November.
Nicht von den feuchten trüben Herbsttagen und den melancholischen Stimmungen, die sie begleiten, will ich euch erzählen, sondern wie immer nur von den schönsten Stunden, die ja auch die Erinnerung viel lieber und sicherer festhält als die traurigen Momente. Nach lang anhaltenden Regengüssen kamen die sanften Tage, von denen Uhland singt, wo der Himmel in reinem Blau und die Erde in frischem Grün erglänzt. Wir beginnen von neuem unsere Spaziergänge auf den grünen Bergen und in den stillen Felsenthälern und sehen an dem goldenen Schimmer, der sich schon über die Wälder verbreitet, daß die Zeit vom Frühling bis jetzt doch nicht so kurz war, wie sie uns erschien. Immer entdecken wir neue schöne Punkte in der Umgegend. Neulich folgten wir dem Laufe der Kamionka, die sich unterhalb der Stadt in den
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151 Herbstspaziergänge in der Umgegend von Zytomierz.
Teterew ergießt, und kamen in eine reizende Einsamkeit von Waldhöhen und Felsenklippen, in welcher das rauschende Flüßchen Leben verbreitet; rückwegs war es schön zu sehen, wie es aus der Einsamkeit ins helle Leben hinauszog, wie Häuser und Hütten sich in seiner Flut spiegelten, wie es Fischerkähne trug und lustig die Räder einer Mühle bewegte. Weiterhin umschlingt es die Bergklippe, auf welcher sich die Kathedrale und ein Theil der Stadt erhebt, und wir, die wir jenseits stehen, sehen mit Entzücken das schöne Bild – den dunkeln Felsen über den blauen Fluß, auf den er tiefe Schatten wirft, die hellen Gebäude zwischen dem regenfeuchten Waldgrün, Thürme, Kreuze und Fenster vergoldet vom Abendsonnenglanz, seitwärts Wälder von Tannen, deren Wipfel in Purpur getaucht sind, und ganz im Hintergrunde die Alpenwelt des Himmels – die Wolkenberge mit weißen, vom Abend roth umglühten Spitzen.
Ein andermal wanderten wir auf der einsamen, wild bewachsenen Fläche der Berge, welche das Teterewthal umschließen. Es war ein düsterer Abend; dunkel lagen die Wolken über der vom Haidekraut röthlich gefärbten Fläche, auf welcher einzelne Ziegen zwischen den umhergestreuten Felsenblöcken und einsamen Tannen weideten, die ihre schwarzen Arme gen Himmel streckten. Die Wolken senkten sich tiefer und ergossen sich endlich in Strömen und trieben uns über die öde Fläche, die nirgends eine Zuflucht bot; da war ein Rauchwölkchen, das aus einer Tannenschlucht am jenseitigen Abhange emporstieg, eine erfreuliche Erscheinung. Wir folgten ihm nach tief ins Dickicht des Waldes und sahen uns plötzlich vor einer reizenden Einsiedelei, wo uns deutsche Worte begrüßten. Ein biederer Oesterreicher hatte sich dies kleine Paradies mitten unter Wald und Felsen gegründet und bewohnte es mit seiner Frau und zwei Töchtern, die selbst wie schöne Blumen in der Wildnis blühten.
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152 Aufenthalt in Volhynien.
Wir traten in das freundliche nach Schweizerart gebaute Haus und fühlten drinnen den Hauch stiller glücklicher Häuslichkeit und draußen auf den Balconen und hölzernen Galerien den Geist der Romantik und Poesie, dessen Stimme in den flüsternden Tannenwipfeln und im Rauschen des Waldstroms erklang. Der Regen hörte auf und Diamanten glänzten im Sonnenlicht auf allen Tannennadeln und Gräsern. Ehe wir schieden, sahen wir den kleinen Zaubergarten im Thalgrund hinter dem Hause, vom Walde verborgen, mit dessen Dunkel die tausendfache Farbenpracht der Georginen und verschiedenster seltener Blumen und Gewächse gar lieblich contrastirte; kleine Pfade winden sich durch diese glänzenden Blumenwälder, die sich in Terrassen bis zum jenseitigen Berghang emporziehen, zahme Rehe lauschen da und dort am Wege, eine Quelle sprudelt hell aus der Felsenwand, gleitet zwischen den Blumen hin und verliert sich im Gebüsch des Thalgrundes und ringsum blicken die schwarzen Tannen so ernst herein, als bewachten sie den Garten, der wie ein Wunder plötzlich in der Wildnis vor uns erblühte.
Manche schöne Nachmittagsstunden verlebten wir auch jetzt im Herbste auf den Felsenhängen des Teterewthales zwischen duftenden Kräutern gelagert vor den Bergen und Wäldern, und dem silberglänzenden Fluß und dem Kloster auf dem Felsen mit Kuppeln und flachen Dächern, von schlanken Pappeln überragt – Alles leuchtend lächelnd im Sonnenglanz, Alles so unaussprechlich heiter liebewarm wie ein Bild aus dem fernen Süden.
Oft brachten wir ganze Stunden in diesem schönen Felsenthale zu, saßen auf den Steinen am Wasser und hörten mit Lust sein Rauschen und das Flüstern des Windes in dem goldigen Laube der Birken und den Zweigen der wilden Rosensträucher, deren purpurne Früchte in der blauen Luft glänzen;
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153 Spaziergänge im Teterewthal. Tatarische Traubenverkäufer.
dann gingen wir weiter in das Thal hinein, dessen Felsen sich bald dicht an den Fluß drängen, bald auseinandertreten und sich mit grünen Matten und Tannenwäldern schmücken, die von den Höhen bis zum Ufer niederziehen. Unsere Einsamkeit wurde selten gestört, da Niemand hier spazieren geht. Nur auf bekannten und gebahnten Wegen fährt man durch das Land und läßt sich nicht von seinen verborgenen Reizen locken. So hatten wir die Welt ganz für uns und theilten unsere Freuden höchstens einmal mit einem Trupp kleiner Gymnasiasten, die mit Schmetterlingsnetzen und grünen Botanisirbüchsen über die Berge ziehen und denen gewöhnlich ein Pfefferkuchen- oder Bretzelverkäufer in verführerischer Nähe folgt.
Alle seine Schätze bot der Herbst hier in Ueberfluß. Der Reichthum an Früchten ist unbeschreiblich; nicht alle sind in dieser Gegend gereift; man bringt sie vom südlichen Podolien und von weiter herbei; ganze Wagen voll Melonen und Wassermelonen wurden von den Bauern in die Stadt gefahren und für niedrigste Preise verkauft. Auch Tataren aus der Krim kamen und brachten köstliche dunkelblaue großbeerige Trauben, hochaufgethürmt in kleinen Wagen, vor denen die Männer mit den bräunlichen Gesichtern, den kecken dunkeln Augen saßen und mit unverständlichen Worten zum Kaufen luden und das kurze dolchartige Messer aus dem Gürtel zogen, um die aneinanderhängenden Trauben zu trennen.
Bei unsern Spazierfahrten kommen wir zuweilen durch deutsche Colonistendörfer, und ehe man die Herkunft der Bewohner ahnt, fühlt man sich wie in der Heimat, wenn man ringsum die netten weißen Hütten sieht mit bemaltem Gebälk und Fensterläden, mit wohlgehaltenen kleinen Gärten, Blumentöpfen vor den Fenstern und Bänken vor den Thüren, auf denen da und dort ein Alter mit einer Pfeife im Munde, eine Frau mit einem Strickstrumpf sitzt, neben denen kleine
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154 Aufenthalt in Volhynien.
reinliche Kinder spielen. Auch im Innern sieht es nett und heimlich aus; nahe der Thür pickt eine alte Schwarzwälder Wanduhr; im Winkel steht eine buntbemalte Truhe; auf dem Fensterbret neben dem Geranium- und Lavendelstöcken liegt die alte deutsche Bibel und das Gesangbuch. Grüne irdene Krüge und Milchnäpfe stehen auf dem Sims, mit Sprüchen in deutscher Sprache verziert. So sorgsam, wie man diese Andenken aus der Heimat, welche die Urgroßältern einst ins ferne Land mitgenommen haben, bewahrt hat, so treu hat man auch ihre Sprache sich erhalten. Die meisten dieser Hüttenbewohner haben Deutschland nicht gesehen und wissen nur durch Tradition, aus welcher Gegend ihre Vorfahren kamen, und doch sprechen sie noch vollkommen den Dialekt dieser Gegend, sodaß man im ersten Gespräch mit ihnen die Schlesier, Schwaben, Sachsen u. s. w. erkennt.
Auch kleiden sie sich in ihre deutschen Trachten und nicht gleich den hiesigen Bauern, von denen sie ganz gesondert leben, sich nie mit ihnen verheirathen und zu denen sie durch ihren Fleiß, ihre Ordnungsliebe und Reinlichkeit einen auffallenden Contrast bilden.
Auch ihre Religion bleibt ihnen theuer, wie fern sie auch von Kirche und Prediger leben, und sie gehen meilen-, ja tageweit, um dann und wann einem deutschen Gottesdienste beizuwohnen.
Die hiesigen polnisch-russischen Bauern sehen geistvoller und lebhafter aus als die in Podolien; man sieht wahrhaft edle Physiognomien unter ihnen; auch sind viele von ihnen Schlachtschitzen –Adelige, die durch Armuth zum Bauernleben gezwungen sind.
In den letzten Herbstwochen war die Provinz in lebhafter Bewegung durch die großartige Revue, die bei Bjelo-Zerkiew, dem Gute des Grafen Branitzki, stattfand. Man hat uns viel
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155 Vorbereitungen auf die Ankunft des Kaisers.
von den Bällen und Festlichkeiten, zu denen sie Veranlassung gegeben, und von der Gegenwart des Kaisers, die sie verherrlichte, erzählt. Auch Zytomierz hat dieser auf der Durchreise berührt und schon Wochen vorher machte man für diese Ankunft Vorbereitungen, die sehr praktischer Natur und vortheilhaft für Alle waren: man besserte die Landstraßen aus, pflasterte die Straßen der Stadt an vielen Stellen von neuem, schaffte alle Unreinigkeit fort, reparirte Brücken und Barrieren, gab Häusern und Geländern frischen Anstrich und befestigte auf jedem Dache die vom Gesetze gebotenen, aber hier und da dennoch fehlenden Feuereimer. So traut man dem Auge des Herrschers eine wunderbare Kraft zu, bis in die verborgensten Winkel zu schauen und alle kleinsten Mängel zu entdecken. Lange vor dem Tage, an welchem man seine Ankunft erwartete, zogen zahllose Menschen an der Straße hin und her, auf der er kommen mußte, Viele nur um das Angesicht ihres verehrten Zaren zu sehen, ihres „Väterchens“, wie ihn die Bauern nennen, eine große Zahl auch, um Bittschriften darzureichen.
Viele alte Frauen, die solche übergeben und den Augenblick der Ankunft nicht versäumen wollten, hatten sich ganz häuslich am Wege niedergelassen, ruhten des Nachts auf Kissen und Decken unter freiem Himmel trotz der feuchten Herbstluft und strickten am Tage auf ihrem Posten. Auch vornehme Damen hatten sich in Lehnsesseln nahe der Barriere placirt und erwarteten zu gleichem Zwecke, in gleicher Spannung, den wichtigen Moment.
Wenn man so viele Hoffende und Bittende sah und sich dachte, daß ein Wort, ein Federstrich so tausend heiße Wünsche erfüllen, so Viele beglücken konnte – dann schien es herrlich, ein Kaiser zu sein! Auch sollen viele dieser Bittschriften Erhörung gefunden
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156 Aufenthalt in Volhynien.
haben, obgleich sie der Kaiser nicht in Zytomierz, das er des Nachts durchfuhr, sondern einige Tage später, in Kiew, empfangen konnte. Der Kaiser, dessen großartige Heldengestalt wir so gern wieder erblickt hätten, kam leider Nachts hier durch; seinen Sohn aber, den Thronfolger Alexander, der auch in diesem Herbst auf einer Reise nach dem Süden die Stadt berührte, sahen wir bei Tageslicht und in einem er greifenden unvergeßlichen Moment. Es war vor der katholischen Hauptkirche, wo sich die Geistlichkeit in feierlichen Gewändern zum Empfange des Herrschersohnes versammelte, den die russische Priesterschaft soeben in gleicher Weise vor der griechischen Hauptkirche begrüßt und gesegnet hatte. Die offene Reisekalesche des Großfürsten, dem eine einzige zweite folgte, hielt eben vor der Pforte des Vorhofs; der Bischof, ein ehrwürdiger silberhaariger Greis in langem weißen Gewand, trat heran und reichte segnend das Crucifix dem jungen schönen Manne, der sich im Wagen erhob und es mit beiden Händen inbrünstig umfaßte, es andächtig mit den Lippen berührte und darauf mit demuthsvoller Verneigung den Segen des Priesters empfing. Der graue Reisemantel war zurückgefallen und ließ die edle hohe Gestalt erkennen, und die Sonne, die eben durch die Wolken brach, beleuchtete ein schönes bleiches Antlitz und ließ uns in den ernsten, milden, geistvollen Zügen die Verheißung von Rußlands schöner Zukunft lesen.
Nach den freundlichen Herbsttagen, an denen wir von allen unsern Lieblingspunkten in der Gegend Abschied nehmen und Maigefühle haben konnten, wenn wir an sonnigen Morgen durch neubegrünte Felder fuhren, kamen die trüben Tage, wo rauhe Winde die letzten welken Blätter von den Bäumen wehten und die heimkehrenden Störche gleich schwarzen Wolken über uns hinzogen, wo dichter Nebel die Fernen verhüllte und uns eine Vorahnung von dem Schneegewand gab, das
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157 Durchreise des Kaisers und des Thronfolgers. Letzte Herbsttage.
bald die Erde bedecken wird. Da kehrten jene Gedanken an Tod und Vergänglichkeit wieder, jene trüben Stimmungen, die wir jährlich von neuem durchleben. Aber auch sie werden vorübergehen und Auferstehungsgedanken und neue Jugendgefühle werden mit dem neuen Frühling wiederkommen – und wir danken Gott für dies stetige Gehen und Kommen in der Natur, diesen regelmäßigen Wechsel in der schönen Welt des Lichts und der Farben, für dieses Etwas, das uns sicher bleibt im Wandel unsers irdischen Daseins, in dem soviel dahingeht ohne Wiederkehr, soviel veraltet ohne neue Blüte!
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5.
Die Ukraine. Kiew.
1.
Kiew, Anfang März.
Seit einer Woche sind wir in Kiew, der originellen wunderbaren Stadt, von der eine Beschreibung nur schwer eine rechte Vorstellung geben kann. Schon ihre Lage zwischen dem Gebirge und der Steppe, durch welche der Dniepr seine mächtigen Wogen rollt, ist ganz eigen schön. Nicht eine einzige Stadt, sondern eine Vereinigung von Städten scheint sie zu sein, ein Chaos von Menschenwohnungen, auf den Höhen und kahlen Abhängen, in den Thälern und Schluchten verstreut. In jedem Stadttheil wird man an einen andern wunderbaren Ort der Welt erinnert. Tief unten, zu Füßen der Berge, auf einer Fläche, die sich wie eine Landzunge in den
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158 Die Ukraine. Kiew.
blauen Strom erstreckt, liegt die niedere oder Thalstadt Podol (dol =Thal), mit ihren weißen und grünen Häusern, Kuppeln und Thürmen, ihren Gärten, Plätzen, Kais, ihrem Walde von Masten, die noch im Eise unbeweglich ruhen, ihrem Kranz von Klöstern, Kirchen und Häusern auf den Bergen im Hintergrunde amphitheatralisch erhoben – an Konstantinopel oder Neapel erinnernd.
Ueber dieser Thalstadt ragt auf den sonnigen Flächen kahler Berge das „Alte Kiew“ – Stare Kiew – empor, neu und glänzend trotz des Namens, mit zahllosen Gold- und Silberdomen, mit alten weißangestrichenen byzantinischen Kirchen und modernen großen Gebäuden von röthlicher Färbung, im griechischen Stil, mit auseinandergestreuten Gruppen neuer Häuser, mit jungen Anlagen und Gärten und weiten sandigen Strecken – eine Erinnerung an Edinburg oder Neu-Athen. Gegenüber diesen Höhen liegt das Petscherski, die Höhlenstadt (von petschera =Höhle, weil sich hier die Katakomben befinden), mit den neuen gelblich schimmernden Gebäuden der Citadelle, die in gothisch-normannischem Stile, mit zinnengekrönten Mauern und runden Thürmen, einzeln in weiten Zwischenräumen aufgeführt, mittelalterlichen Burgen gleichen, hinter denen sich als Contrast die alten byzantinischen Kirchen und Kuppeln und der hohe Thurm des alten Lawraklosters erheben, während im Vordergrunde reizende elegante Villen, Gärten, Baumgruppen die Abhänge bedecken und ein sonnig heiteres Bild von italienischem Charakter geben.
Zwischen diesen Bergen, in dem Thale, das sich zum Podol hinabzieht, liegt der vierte Stadttheil – Krestschatek – die Kreuzesstadt, die den heiligen Namen von der nahen Stelle am Strome hat, wo das erste Kreuz sich erhob und Wladimir die Taufe empfing. Sie sieht aber nicht geistlich aus, sondern gleicht mit ihren weißen schönen Gebäuden auf
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159 Erster Eindruck von Kiew. Die vier Stadttheile u. s. w.
den Höhen, ihren hellen Häusern und Villen in der Tiefe, ihren Gärten, Bosquets und Springbrunnen einem freundlichen eleganten Badeorte, eine Aehnlichkeit, die erhöht wird durch die vielen Cafés, Conditoreien, Modeläden, Equipagen, die man hier, wo die vornehme Welt wohnt, vorzugsweise sieht.
So könnt ihr euch vorstellen, welche Fülle von Ansichten der Stadt und Aussichten über das Land jeder Schritt hier bietet. Am meisten fesseln meine Augen die goldenen, silbernen und grünen Kupeln, die glänzend von allen Höhen und Tiefen in den blauen Himmel emporragen. In Gruppen, gleich ganzen Wäldern, sind sie zusammengedrängt, oft funkeln sechs, acht bis zwölf über einer Kirche, ein Anblick, der noch tausend mal eigener und schöner ist, weil sich diese Kirchen nicht blos nebeneinander in der Ebene, sondern über-, untereinander auf den hohen und niedern Bergen erheben. Wie Christbäume mit goldenen und silbernen Früchten aus einer Weihnachtsbescherung ragen diese Kirchen mit ihren glänzenden Domen über die hellen Häuser mit den grünen Dächern in die blaue Luft empor. Alles sieht strahlend heiter aus wie bereitet für ein Fest. Alles erinnert an das Morgenland, nicht blos die Kuppeln und minaretartigen einzelnen Glockenthürme, auch diese lustigen Häuser oft mit flachen Dächern, mit Balkonen, Säulen, grünen Jalousien, nicht in regelmäßige Straßen gereiht, sondern malerisch zwischen Gärten und Bäumen durcheinandergestreut. Herrlich ist diese Weite, diese Freiheit, dies Athmen der Bergluft, dies Erblicken der Natur mitten in der Stadt! Keine engen Gassen gibt es hier, keine dunkeln Winkel und kellerartigen finstern Häuser, kein Versteck für das Laster, keine verborgene Höhle für menschliches Elend wie in andern großen Hauptstädten; die reine Luft durchdringt Alles; das klare Auge der Sonne sieht überall hin!
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160 Aufenthalt in Kiew.
Eine Menge großartiger Privat- und Gouvernementsgebäude, häufig im griechischen Stil, zeichnen sich unter den übrigen aus und werden durch ihre Lage, meist auf freien Höhen, weithin gesehen. Alles ist so neu, wie eben aus der Erde emporgewachsen; man meint in einem frischen Frühlingsgarten zu gehen; selbst die Kuppeln scheinen heute zum ersten mal die Sonnenstrahlen widerzuspiegeln. Auch werden sie häufig neu vergoldet, wie auch alle Häuser jährlich neuen Anstrich erhalten.
Die größte Ordnung und Reinlichkeit schmücken die Stadt, uns doppelt auffallend nach einem langen Aufenthalt in Zytomierz. Unaufhörlich sieht man die Straßen kehren, leider freilich von Gefangenen mit rasselnden Ketten; kein Grashälmchen wächst zwischen den schmalen glatten Ziegeln, aus denen die Trottoirs zusammengesetzt sind.
Auf allen großen Plätzen sprudeln Brunnen und Fontainen, um die sich das Volk drängt, elegante Laternenpfähle und die kleinen Häuser der Boutschniks sind in regelmäßigen Entfernungen angebracht. Ueber den reichausgestatteten Magazinen steht häufig: „de Paris“, „de Vienne“, „de Pétersbourg“, u. s. w. Französische Tailleurs und Coiffeurs scheint es in Masse zu geben. Hier sieht man das attelage russe in vollem Glanze, zahllose reiche Equipagen, mit vier, sechs und acht schönen Pferden, mit Vorreiter und bärtigem Kutscher in altrussischer Tracht. Alles ist voll Eleganz und Reichthum, auch die Toiletten der Damen und der vielen hübschen Kinder, die man in den Straßen sieht.
Jetzt erst fühle ich mich in einem fremden Lande; hier erst ist das wirkliche Rußland, ja vielleicht nirgends so wie hier, in der Wiege seiner Religion, dem Ziele seiner Pilger, dem slawischen Rom. – Wohl verdient Kiew diesen Namen, auch wegen seiner Lage, seiner Umgebung. Dort die weite
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161 Kiew, das slawische Rom.
unabsehbare unbewohnte Steppe, in deren Mitte die Stadt thront wie eine einsame Wüstenkönigin – das ist die Campagna, jene blauen Berge, mit manchem Kloster und Gemäuer gekrönt, sind die Albaner Berge – und wie die Ewige Stadt sich auf ihre sieben Hügel, so hat auch diese sich mit Kirchen und Häusern auf die kahlen Höhen gelagert. Hier wie dort hört man Tag und Nacht die Glocken von hundert Kirchen und Klöstern, hier wie dort ziehen unaufhörlich Pilgerscharen durch die Straßen und lagern vor den Kirchen und an den Brunnen, und hier auch wandeln aller Orten Nonnen und bärtige Mönche in dunkler Verhüllung, und um sich noch lebhafter in die Siebenhügelstadt zu denken, sieht man da und dort Bauern mit Körben am Arm und auf dem Rücken, in denen hochaufgethürmt Orangen glänzen, so goldig frisch, als wären sie in den einheimischen Gärten gepflückt.
Menschen, Sprache, Alles ist fremdartiger hier als in Volhynien. Ein bärtiges Volk umgibt uns, aber nur wenig Juden sind darunter; dafür sieht man Tataren, Kosacken, Tscherkessen, schwarzgekleidete Mönche und Nonnen in Menge, viel Militär und – als traurigste Erscheinung – viele Gefangene, die in die Festung transportirt oder von da zu den Straßenarbeiten herabgeführt werden, sodaß man ebenso viel Kettenklirren wie Glockenläuten hört. Wir bewohnen ein Haus im Krestschatek, gegenüber dem Kaiserlichen öffentlichen Garten, der sich mit Anlagen, Wald- und Baumgruppen auf den Höhen und in den Schluchten, die jenseits zum Dniepr hinab gehen, ausbreitet und im Sommer der Hauptspazierort der Stadt ist. Zwischen diesen Gartenhügeln zur Rechten und einem kahlen Bergrücken zur Linken, auf dem die katholische Kirche steht und das Stare Kiew beginnt, blicken wir auf den Dniepr und die Steppe jenseits, während wir mehr rückwärts auf unserer Seite das helle großartige Gebäude des
Förster, Südrußland.
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162 Aufenthalt in Kiew.
Fräuleininstituts auf einer mit Gärten und Bäumen bedeckten Höhe über der Straße leuchten sehen.
Unter unsern Fenstern ist ein ewiger Lärm von Wagen, Pferden, Karren, Reitern, Militär, Bauern, Verkäufern, die mit lautem Rufe Eis und Kwas und Bäckerwaaren ausbieten. Bei jedem Schritt aus dem Hause umgeben uns neue Bilder, und um keines derselben zu vergessen, will ich euch von jedem bisjetzt hier verlebten Tage erzählen. Unser erster Ausgang führte uns nach dem Petscherski, zu dem wir aus der uns zunächstliegenden breiten, mit neuen Häusern und vielen Kaufläden eingefaßten Straße emporstiegen. Auch die Bergstraßen sind breit und von schönen Häusern und Gärten begrenzt, und rückwärts blickend sehen wir jenseits auf den Höhen die Gebäude der Universität und des Gymnasiums und viele goldene Kirchendome glänzen, während in der Tiefe und rings um uns die hellen Häuser wie weiße Blumen ausgestreut sind. Im Petscherski gehen wir durch regelmäßige Straßen zwischen schönen Häusern und Gärten bis an den Rand der Bergfläche und sehen weithin über die Steppe, die sich, in blauen Duft gehüllt, bis zum Horizont erstreckt. Wie ein Theil von ihr ruht der Dniepr noch erstarrt zu unsern Füßen; nur ein schmaler ungefrorener Streifen windet sich wie ein blaues Band am Rande hin. Neben uns erhebt sich eines der Festungsgebäude mit Thürmen, Zinnen, schmalen Bogenfenstern, einem hochgewölbten Thor, zu dem eine Zugbrücke über die Schlucht führt, welche die Höhe von einer andern trennt. Der Doppeladler schwebt über dem Portal, alle Ornamente, Säulenknäufe, die Brücke u. s. w. sind von Gußeisen – Alles neu, prächtig, großartig. Man fühlt hier und überall, daß man sich im Lande eines großen reichen Kaisers befindet. Von fern winkt über andern Festungsgebäuden emporragend das goldene Haupt des Lawrathurms, des höchsten im Reiche.
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163 Das Wladimirmonument im Krestschatek.
Durch eine andere breite Bergstraße gehen wir wieder in das Krestschatek zurück, das mir beim Hinuntersteigen mit seinen Villen und Gärten und elegantem Leben wie Baden-Baden erschienen wäre, wenn nicht jenseits wieder auf andern Bergen die goldenen fremdartigen Kuppeln geglänzt hätten.
Am andern Morgen gehen wir in den Park gegenüber, dessen Sommerschönheit wir uns trotz der öden Alleen und der kahlen durchsichtigen Waldpartien denken können. Wir gehen bis an den Bergrand, wo man vom Balcon eines kapellenartigen Sommerhauses über die weite Steppe und den mächtigen Strom sieht, ein melancholischer Anblick trotz des Sonnenscheins, der Alles verklärt und beengend trotz der unendlichen Weite. „Alles ist so leer und einsam in ihr; man sieht kein Dorf, keine Spur menschlicher Wohnung, keine belebte Landstraße; wie eine plötzliche Erscheinung ruht das Podol, das wir mit seinen Thürmen und Kuppeln von hier zu unsern Füßen sehen, in der Einöde. Lange gehen wir auf den einsamen Pfaden bergauf bergab und sehen bald die anmuthigen Häuser des Krestschatek lächelnd vor uns liegen, bald die Goldkuppeln des Stare Kiew durch die kahlen Bäume glänzen. später spazieren wir auf einer breiten, großartig angelegten Straße, die in Windungen aus dem Krestschatekthal in das tiefergelegene Podol hinabführt. Rechts vom Wege zieht sich in Schluchten und Spalten der Berghang zum Dniepr nieder, und hier war es, wo Wladimir im Jahre 1000 hinab stieg und von griechischen Bischöfen die heilige Taufe empfing; hier war es, wo ihm, der Sage nach, das verlorene Augenlicht im Augenblick der Christenweihe wunderbar wiederkehrte, hier auch, wo seine Unterthanen von fern und nah sich sammelten und nach dem Beispiel und Gebet des Herrschers durch das Wasser des geheiligten Stromes für ein neues Leben geweiht wurden. Ein sehr einfaches altes Monument, ein unschöner schwerfälliger
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164 Aufenthalt in Kiew.
Obelisk, der auf einem hallenartigen Unterbau ruht, unter welchem sich früher eine Art Taufbecken befand, und der auf seiner Spitze ein Kreuz trägt, bezeichnet die Stelle, wo die Sonne des Glaubens, der Bildung und religiösen Gesittung zuerst für Rußland aufging. Im Podol empfängt uns mehr Leben als in der übrigen Stadt, denn hier wohnen die Handwerker, die russischen Kaufleute, und Alles regt sich in Handel und Betriebsamkeit. Lastwagen fahren, Ambose und Hämmer dröhnen. Die Kaufleute mit bärtigen frischen freundlichen Gesichtern stehen, zum Kaufen ladend, an ihren großen Magazinen, in denen wenig elegante, aber wie es scheint sehr tüchtige Waare, besonders in Eisen und Leder, aufgehäuft ist. Die Straßen sind gerade und regelmäßig, obgleich viele Gärten die Reihen der Häuser unterbrechen, die hier bis an den Fuß des Berges, dort bis an den Dniepr gehen, dessen Nähe ihnen durch häufige Ueberschwemmungen gefährlich ist; in der Mitte der Stadt liegt ein weiter Marktplatz und wiederum in dessen Mitte der Bazar oder Gostinoi-Twor, ein großes, aus doppelten Reihen von Verkaufsläden und Hallen gebildetes Viereck, der Hauptmittelpunkt des Handels der einheimischen kiewer Kaufleute. Der Marktplatz für die Gemüse, Früchte und andern Landproducte befindet sich hinter diesem Kaufhause. Auch Klöster und Kirchen liegen zahlreich in der Mitte dieses bunten Lebens, alle von großen Vorhöfen umgeben. Wir treten in einen derselben, der zur Kirche der Bratzki gehört; es ist so still feierlich darin; Vögel zwitschern in den kahlen Bäumen; zur Seite ziehen sich Klostergebäude hin mit doppelten hochgewölbten offenen Galerien, in denen die schwarzen Gestalten der Seminaristen oder Mönche auf- und abwandeln; es sieht aus wie ein italienisches Kloster und hat früher den Jesuiten gehört. In der Mitte des Hofes steht die Kirche
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165 Die Bratzki- und die Andreaskirche.
schweigend verschlossen; aber selbst die verschlossene Thür fesselt uns durch ihre goldenen Zierathen und die byzantinischen darein gefügten Malereien, unter denen ganz liebliche sanfte Engelsköpfe uns anlächeln. Nun steigen wir die Berge hinter dem Podol empor, mächtig gezogen von einer lieblichen Kirche, die schon während des ganzen Weges uns zu sich emporwinkte. Wie hingehaucht in die blaue Luft leuchtet sie auf der Bergesspitze, diese schöne Andreaskirche mit ihren fünf schlanken graziösen Thürmen, deren einer höchster sich inmitten der vier andern erhebt, und mit den einfach eleganten Ornamenten und leichten Kuppeln. Anmuthig luftig bildet sie einen Contrast zur schwerfälligen Bauart der andern Kirchen, die unter und neben ihr mit ihren massiven goldenen Domen ruhen, wie alte Königinnen in überladenem Schmuck neben einer lieblichen Fee. Alles an ihr, Formen wie Farben, ist einfach schön; zu dem weißen Gemäuer hat man ihr Silberkuppeln und Verzierungen aus dunkler Bronze gegeben. So schwebt sie wie eine weiße Taube, ein Bild des Friedens über der Stadt und ist das schönste, was wir bis jetzt in dieser gesehen haben. Auch ihre Lage ist eigenthümlich herrlich: von der Straßenseite sieht man sie auf dem Kloster stehen, das in den Berg hineingebaut ist, der sich auf der andern Seite mit Klippen und Spalten bis ins Podol hinunterzieht; eine breite prächtige eiserne Treppe führt von dieser Straße empor bis zu der ebenfalls mit Eisen belegten Plateforme, die das Dach des Klosters bildet und die Kirche umgibt. Diese Plateforme ist der schönste Aussichtspunkt in Kiew. Ueber uns liegt das heitere Podol, weiter der Strom und die Steppen; auf der andern Seite ziehen sich Berge mit Felsenhängen und Schluchten hin, die Spitzen sind mit Kirchen und Klöstern gekrönt, die Abhänge mit Häusern bedeckt und malerische Hütten in den kahlen oder waldigen
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166 Aufenthalt in Kiew.
Thälern verstreut. Menschenbelebte Pfade winden sich die Höhe hinab und bis in weite Ferne sieht man Klöster und Kapellen auf den Bergen längs des Dniepr glänzen. Eine wahre Paradiesesluft umweht uns, der reine frische Hauch aus Osten! Die liebliche Kirche, unter der St.-Andreas begraben ist, hat keine Glocken, keinen eigenen Glockenthurm wie alle andern Kirchen, und heißt darum auch „die Klanglose“. In der Ferne aber und nahe unter uns läuten die Vesperglocken und die ganze Luft scheint von heiligen Klängen belebt.
Wir steigen hinab in die alte Kirche, aus der die mächtigen Töne klingen; es ist die der Sta.-Barbara, die zum Michaelkloster gehört, ein schwerfälliges Bauwerk, das einen Wald von Goldkuppeln trägt. Im Vorhof werden Heiligenbilder, Kreuze, Amulets verkauft und an dessen Mauern sehen wir alte Fresken, von denen die Zeit nur theilweise die neuern Malereien abgelöst hat, welche sie bis vor kurzem bedeckten. Es sind Gruppen von sterbenden Heiligen, trauernden Frauen und Männern, tröstenden Engeln; darunter manche zarte liebliche Köpfe, fast wie aus Bildern von Giotto und Fiesole. In der Kirche selbst herrscht dunkle geheimnisvolle Pracht; die Wände sind bis zur Wölbung mit Gold und Silber bedeckt; zwischen den phantastischen Arabesken sieht man von der Zeit geschwärzte, von Juwelen umgebene Heiligenbilder. Die einzelnen Lampen, die nur in ihrer Nähe einige Helle verbreiten, heben das Dunkel des übrigen Raumes noch mehr hervor. Gott scheint sich unter dieser geheimnisvollen Pracht zu verbergen. Noch schwärzer sind die Seitenkapellen, in deren eine wir treten, von feierlich düsterm Gesang gezogen. In der Mitte ist das Grabmonument der Heiligen, schwarzbedeckt, von goldenen Bogen überwölbt. Erst nach und nach gewöhnen sich unsere Augen an das Dunkel
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167 St.-Barbarakirche. Mönche. Universitätsplatz.
und sehen an den vier Ecken des Katafalks vier Mönchsgestalten aus der Nacht hervortreten; Alles an ihnen außer die Gesichter ist schwarz, die Talare, die hohen Mützen, die Tücher oder Schleier, die von diesen herabwallen, die langen Haare, Bärte und die Augen mit dem eigenthümlichen fanatischen oder schwärmerischen Blick. Man meint zu träumen und in einer andern Welt zu sein, aus der alle Tagesgestalten, alles der Sonne Bekannte verschwunden ist. Ganz beklemmt und bange eilen wir wieder hinaus in die klare Helle.
Der folgende Tag bringt eine neue Entdeckungsreise: Wir gehen die lange Krestschatekstraße hinab und durch eine weite Esplanade den Berg hinauf, auf dessen breiter Fläche die Universität liegt, ein großes elegantes Gebäude im griechischen Stil, ganz das Ebenbild der münchener Pinakothek, auch durch die röthliche Farbe des Steins, aus dem es aufgeführt ist und die so kräftig im dunkelblauen Himmel hervortritt. Mächtige Säulen tragen das Frontispice, in welchem der Doppeladler schwebt. Eine breite Vortreppe, gleich der Flur, den Stiegen und Corridoren des Hauses mit Eisenplatten belegt, führt zum hohen Portal.
In kleiner Entfernung links erhebt sich das Gymnasium, ein helles großartiges Gebäude in edlem Palaststil; von den übrigen Seiten blickt man auf wild durcheinandergeworfene kahle und waldige Berge. Auf den jenseitigen Höhen lagert malerisch die Stadt, von den burgartigen Festungswerken überragt. Auch hier oben trinken wir in vollen Zügen die köstliche Luft, frisch wie die der Alpen.
Wir gehen durch dieselbe Esplanade zurück, an vielen hübschen neuen Häusern vorüber und über einen freien Platz, auf dem ein Springbrunnen rauscht und zahlreiche Iswoschtschiks (Droschkenführer) uns anrufen, einen andern Weg zum Petscherski hinan, jede Minute verweilend, um den entzückenden
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168 Aufenthalt in Kiew.
Rückblick auf den eben verlassenen, von Hügel zu Hügel emporsteigenden Stadttheil und auf die weißen eleganten Villen mit Galerien, Balconen, Kuppeln, Gärten, Pavillons in unserer Nähe zu genießen. Donnerstag Mittag machen wir einen weiten Weg bis in die Mitte der Festungsgebäude, und kamen über verschiedene Zugbrücken, an Gräben und hohen Wällen vorüber, die, mit Gesträuch bepflanzt und schon grünendem Rasen belegt, Parkanlagen gleichen. Um uns liegen Kasernen, Zeughaus, Kornmagazine, Wohnungen zahlreicher Beamten und Offiziere, Kirchen *), unendliche Gefängnisgebäude – eine ganze eigene Welt, von der wir doch nur einen kleinen Theil sehen, da sie sich über mehre Berge erstreckt. Die einzigen Bewohner dieser Welt scheinen Soldaten, Gefangene und Mönche; diesen Allen begegnen wir in Menge und hier wieder treffen unser Ohr unaufhörlich die contrastirenden Klänge des Kettenrasselns und des Glockenläutens.
In der Mitte der Festungswerke liegt das heilige Lawra-(Laura)kloster mit seiner uralten Kathedrale, eine der ältesten Rußlands; auch hier treten wir ein in eine neue eigene Welt, auf die uns schon die Fresken an den Mauerwänden vor dem Thore des Vorhofs vorbereiten. Da sehen wir in bunten Farben den Metropolit in aller Pracht seines Amtes, gefolgt von einer Schar von Heiligen und Priestern mit Physiognomien, Bärten, Haaren, gleich den lebenden Mönchen um uns, aus den Katakomben ziehen und unter ihnen Kiew liegen mit funkelnden Kuppeln und dunkelblauem Strom und hellgrünen Gärten, lustig bunt gemalt. Wir treten in den großen mit Bäumen bepflanzten und mit Bettlern gefüllten
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*) „Der große Nicola“ und „der kleine Nicola“, so nennt das Volk zwei dieser dem St.-Nicola geweihten Kirchen.
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169 Das Aeußere und Innere der Lawrakirche.
Vorhof. Freundliche Klostergebäude, alle weiß mit grünen Dächern, auf denen kleine Thürme oder Kreuze, Zeichen der zahlreichen Kapellen, emporragen, umschließen den Hof. In seiner Mitte vor uns steht die Kirche, von eigenthümlicher schwerfälliger Architektur; die untere Mauerwand der Façade ist von Bogen in einer Art von schnörkelhaftem Rococogeschmack überwölbt, hinter denen bunte Fresken hervorschimmern und über die sich die weißen zahlreichen Thürme mit ihren gleich schwerfälligen goldenen Kuppeln erheben. Der Glockenthurm, wie schon erwähnt, der höchste von ganz Rußland, steht einzeln rechts von der Kirche, deren Façade durch den Eingang in zwei Hälften getheilt wird. Die Seitenwände derselben, die den offenen zur Pforte führenden Gang bilden, sind wiederum mit Malereien auf Goldgrund bedeckt; eben solche sind in die mit schweren goldenen Zierathen bedeckte Pforte eingefügt. Auch das Innere dieser Kirche umgibt uns mit geheimnisvollem Dunkel, das selbst die vielen Lampen und Kerzen nicht erhellen. Erst nach und nach erkennen wir die unendliche Pracht des Raumes. Die Wände sind bis hoch empor mit Goldarbeit bedeckt, die nicht blos prächtig, sondern kunstvoll ist, Blätter, Ranken, Trauben, Früchte, Engelsköpfchen, in deren Mitte Heiligenbilder schimmern, in blitzende Diamanten gefaßt. Dies viereckige Mittelschiff endigt sich in eine gewaltige, mit Goldsternen bedeckte Kuppel. In der Mitte öffnet sich eine Art Thor zum Heiligthum, wo Kerzenglanz den der Gemeinde verborgenen Altar andeutet, in dessen Nähe nur Männer, nie die Frauen gelassen werden. Ueber dieser Stelle steigen die Goldverzierungen der Wand pyramidenartig empor und auf der Spitze bis hoch in die Kuppel erhebt sich ein goldenes Riesenkreuz. Prächtige, aus massivem Silber gearbeitete Kronleuchter hängen von der Decke hernieder. Noch geheimnisvoller und ebenso prächtig ist es in den
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170 Aufenthalt in Kiew.
beiden Seitenkapellen, wo Reliquien und wunderthätige Heiligenbilder, in goldenen Särgen und Schreinen bewahrt, vom Volke gesucht und von schwarzen Mönchen mit bleichen Gesichtern bewacht werden.
Beim Hinausgehen blicken wir von den Stufen noch einmal zurück auf die dunkle Pracht und die demuthsvoll gebeugte Menge, über die sich eben von der Decke langsam ein kolossales, in Gold geborgenes Heiligenbild herniedersenkt. Draußen überfallen uns Scharen von Bettlern und werden, sobald wir einigen gegeben haben, zudringlich wie feindliche Heere, sodaß wir uns kaum aus dem Schwarm retten können. solche Bettler, theils arme Pilger, findet man in der Nähe aller Kirchen, wo sie fast den ganzen Tag zubringen, sicher, außer dem Almosen der Kommenden auch Speisung, wenigstens Brot, in den nahen Klöstern zu erhalten.
Freitag Nachmittag fahren wir in die Bratzkikirche, oder vielmehr in die kleine geheizte Winterkirche dahinter, deren eine sich fast bei jeder großen Kirche befindet. Wir finden im engen Raum eine große Menschenmasse aus allen Ständen dichtgedrängt, Alle stehend; die Luft ist noch mehr verdichtet durch den Dampf der vielen Kerzen. Vor der Altarpforte stehen ungefähr zwölf Priester in schwarzen, mit Silber besetzten Talaren, Wachskerzen in der Hand, und lesen das Evangelinm; dazwischen tönt der schöne eigenthümliche Gesang des Chors, großentheils aus Kinderstimmen bestehend. Die Hitze vertreibt uns bald. Wir erholen uns im großen Vorhof, wo es frühlingshaft ist unter knospenden Bäumen, auf deren Zweigen Vögel zwitschern; ein Brunnen plätschert, Mönche in ihrer ernsten eigenthümlichen Tracht wandeln langsam in den Gängen und den offenen luftigen Galerien der hohen Klostergebäude. Zwischen den Gebäuden und Thürmen erblickt man die Berge, die, nun der Schnee geschmolzen ist,
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171 Die protestantische Kirche. Das Goldene Thor.
noch höher erscheinen; jetzt erst treten ihre Felsenhänge und Schluchten und Wälder und ihre mit goldenen Domen gekrönten Gipfel recht hervor; über alle aber erhebt sich wie eine Lichterscheinung die liebliche Kirche St.-Andrea.
Sonnabend lernen wir nichts als verschiedene Mode- und andere Magazine kennen und sehen, daß man alle möglichen Luxusartikel, von allen Hauptstädten Europas hergebracht, zu den höchsten Preisen haben kann. Fast in jedem dritten Hause ist ein Tailleur oder Coiffeur. Diese wie die Modistinnen sind meist Franzosen, die übrigen Kaufleute, Fabrikanten, Handwerker meist Deutsche; man hört überhaupt in den Straßen soviel Deutsch wie in unsern ja auch mit Fremden gefüllten Städten. – so fand ich denn auch die Gemeinde in der protestantischen Kirche, die ich Sonntag besuchte, sehr zahlreich. Diese Kirche *) ist ein kleines ärmliches hölzernes Gebäude auf der Höhe einer der bergigen Straßen über dem Krestschatek; das hölzerne Kreuz auf dem Dache zeigt allein seine Bestimmung an.
Später gehen wir bis zur Universität, dann links in das Stare Kiew hinein, am großen, mit prächtigem Eisengitter umgebenen Hofe des Gymnasiums und an neubegonnenen großartigen Bauten (ein Cadettenhaus und ein Progymnasium) vorüber, durch viele öde Straßen mit zerstreuten neuen oder im Bau begriffenen Häusern, zwischen denen wüste Plätze, steinige kleine Schluchten und manche arme Hütten liegen. Da oben stehen noch Mauerreste des sogenannten Goldenen Thores, das Thor des alten Kiew, an das der Polenkönig Boleslaw Chrobry bei der Eroberung der Stadt drei mal mit seinem Schwerte schlug zum Zeichen, daß er Einlaß begehre oder erzwinge. In diesen Resten der Thorwölbung, die man
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*) Später hat man eine neue protestantische Kirche zu bauen begonnen.
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172 Aufenthalt in Kiew.
in neuerer Zeit durch Eisenstangen vor dem Einfallen gesichert hat, sind die Steine regelmäsig fest mosaikartig nach Größe und Farbe aneinandergefügt und durch Mörtel verbunden. In der Nähe steigen viele goldene Kuppeln empor und jenseits breitet sich heiter das elegante Krestschatek und Petscherski über Thal und Berg.
Weiterhin wird uns ein sehr unscheinbarer Mauerrest aus gebrannten Ziegeln als Ruine der schon vor Olga erbauten Kirche der St.-Irene, der ersten hier gegründeten Kirche, gezeigt.
Dieser ärmliche Steinhaufen und jene Thorruine sind die einzigen Ueberreste des alten Kiew, dessen Gebäude, nur aus losem Material, Backsteinen, Ziegeln u. s. w. aufgeführt, in den verschiedenen Einfällen und Eroberungen durch Polen, Tataren gänzlich untergingen, sodaß dieses jetzige Kiew sich wie ein Phönix ganz neu aus der Asche des alten erhoben hat; selbst die ältesten Kirchen sind auf den Trümmern noch älterer entstanden. Auf dieser Seite übrigens lag damals allein die Stadt, die sich jetzt auch auf den jenseitigen Bergen ausbreitet; hier war damals die Festung, die Burg der Könige; darum hat dieser Theil noch jetzt den Namen des „Alten Kiew“.
Wir kommen an der verschlossenen St.-Sophienkirche vorüber, deren schwerfällige Architektur und etagenartig aufsteigender, mit Schnörkeleien überladener, chinesisch aussehender Glockenthurm uns wenig anzieht; lieber steigen wir zur nahen Andreaskirche empor, die uns schon von weitem zu sich winkt und von der aus die Aussicht auf das sonnige weiß und grüne Podol und die blauliche Steppe von neuem entzückt. Das blaue Band im Dniepr ist schon viel breiter geworden und wir dürfen uns auf das nahende Schauspiel des Eisgangs freuen.
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173 St.-Irenenkirche. Nonnenkloster im Podol. St.-Sophienkirche.
Montag gingen wir auf Entdeckungen ins Podol und fanden ein Nonnenkloster, das wie alle Klöster hier aus vielen einzelnen freundlichen hellen Häusern besteht, zwischen denen Gärten, Höfe, Brunnen, Bäume liegen, Alles in weitem Umkreis von einer Mauer umschlossen, eine eigene kleine Welt bildend. Im Hintergrunde steigen die Berge empor, an die sich viele der Gebäude lehnen und auf deren Hängen kleine Gärten terrassenförmig angelegt sind. Alles ist so friedlich heiter; die Brunnen plätschern, Vögel singen, Nonnen in schwarzen Kleidern, den Kopf in schwarze Tücher gehüllt, sind in Hof und Garten mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt. Eine von ihnen führt uns zur Kirche, die sehr freundlich und hell ist. Bilder und Goldverzierungen bedecken die Wände; überall stehen auf Postamenten kostbare Reliquienschreine, Särge, Bilder, Vasen mit künstlichen Blumen, tausenderlei Kostbarkeiten aus Gold und Silber, gestickte Heiligenbilder u. dergl.; Alles ist nett und glänzend; man sieht, daß die Kirche der Stolz der Klosterfrauen und nicht blos ihr Heiligthum, sondern ihr Kunstcabinet, ihre Raritätensammlung ist.
Nach einigen Regentagen fuhren wir gestern Vormittag zur Sophienkirche, der ältesten der Stadt, von Jaroslaw gebaut. Sie ist wegen Restauration den ganzen Winter verschlossen, viele Fenster zugesetzt, überall Gerüste aufgestellt und so der große Raum verdunkelt und verengt. Auch ist es kalt, wir fühlen eine wahre Grabesluft, sodaß wir uns beeilen, alle die Merkwürdigkeiten zu sehen, die uns unser Führer zeigt, ein alter Priester mit eisgrauem Bart und großem Filzhut auf dem Kopfe. Wir sehen uralte byzantinische Mosaiken, aus Konstantinopel hierhergebracht und meist in die Decke eingefügt, darunter einen kolossalen Christuskopf, ferner merkwürdige Fresken an den Wänden, erst kürzlich durch Ablösen des spätern Mauerbewurfs entdeckt; diese Malereien
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174 Aufenthalt in Kiew.
sollen aus dem 11. Jahrhundert sein, da die Mauern noch von jener Zeit her stehen; es sind lauter einzelne Gestalten, einzelne Köpfe von Heiligen, die Gesichter und Hände haben oft einen wahren lebensvollen Ausdruck, die Figuren sind meist steif und unwahr.
Auch das Grabmonument des Jaroslaw sehen wir: ein über seiner Gruft an die Wand gelehnter steinerner Sarg mit Sculpturen in Relief, ganz eigenthümliche Figuren, allerlei Fische und Thiere darunter, ebenfalls ein Werk altrussischer Kunst aus dem 11. Jahrhundert.
Viel bleibt uns zu sehen übrig in diesem weiten düstern Raume, über den sich die mit goldenen Sternen bedeckte Kuppel wie ein tiefdunkler Nachthimmel wölbt.
Heute den 21. März war es schon ganz frühlingshaft und bei unserer Spazierfahrt durch die Stadt konnten wir die Schönheit ihrer Lage, die wol einzig in der Welt ist, recht erkennen.
Wir waren im Gostinoi-Twor, dem großen Bazar mit den Magazinen der einheimischen Kaufleute, alle reich ausgestattet, besonders die mit den Hauptproducten der Gegend: den Confituren und getrockneten Früchten. Bis an die Decke hinauf stehen die Riesenglasbüchsen mit allen Arten von ein gemachten und trockenen Birnen, Pflaumen, Kirschen, Nüssen, Beeren; ganze Berge von Zuckerhüten, auch einheimisches Fabrikat, erheben sich; aber an ferne Länder erinnern die Masse großer chinesischer Theekisten mit den sonderbaren Lackmalereien. Alles ist außerordentlich rein und zum Kaufen einladend; auch die Verkäufer sehen sehr nett und freundlich aus.
Von hier gehen wir wieder in die Bratzkikirche und hören die Vesper vom Altar singen. Ueberall hängen kolossale Marienbilder, an denen meist nur die Köpfe gemalt und an die
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175 Der Gostinoi-Twor. Frühlingsnähe.
Gewänder und Hüllen aus wirklichem Goldstoff befestigt sind; manche von ihnen, als besonders wunderthätig bekannt, werden unaufhörlich von der Menge geküßt und sind schon ganz geschwärzt von diesen Millionen Küssen. Jeder Andächtige hält ein langes Stück gelben brennenden Wachsstocks in der Hand, sodaß ein starkriechender Dampf den ganzen Raum erfüllt, der aber die elegantesten Damen nicht abhält, zwei bis drei Stunden stehend im Gedränge zuzubringen. Draußen blicken wir entzückt über die Klostermauern hinweg auf die mit Klöstern und Kirchen übersäeten, mit erstem feuchten Grün bedeckten Berge und auf die zerrissenen gelbbraunen Schluchten, die sie unterbrechen; am Himmel ziehen Frühlingswölkchen hin, die Luft ist weich und lau; wir fühlen uns froh und doch so wehmüthig in dieser wunderbar fremdartigen Welt, in die wir so plötzlich und für so kurzes Geniesen versetzt sind.
2.
Kiew, Ende April.
Welche reiche interessante Tage verleben wir hier; Tage, die sich in der Erinnerung zu vielen Wochen ausdehnen. Um keinen zu vergessen, muß ich in meiner Erzählung zu dem zurückgehen, an welchem ich euch meine letzten Briefe sandte. Es war Sonntag, 22. März. Am Morgen hörten wir die Messe in der katholischen Kirche, ein einfaches weißes Gebäude, gleich den übrigen Kirchen von einer grünen Kuppel überwölbt, das frei auf dem ersten Berghang des Stare Kiew liegt und eine reizende Aussicht auf die Villen und Gärten des Krestschatek, auf den öffentlichen Park, den Dniepr und das Wladimirmonument bietet. Das Innere ist sehr einfach und die Zahl der Priester klein. Mittag fahren wir spazieren in leichtem Anzug, entzückt von dieser so früh erschienenen
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176 Aufenthalt in Kiew.
Frühlingswärme und den strahlenden Kirchendomen und sonnigen Straßen, in denen reiche Equipagen und geputzte Menschen hin- und herziehen.
Auch die folgenden Tage dauert das Frühlingswetter fort; wir spazieren im Kaiserlichen Garten, klettern auf den Hängen über dem Dniepr umher und erfreuen uns an der grünenden Erde, dem frischen Duft der Tannen und des Mooses und dem Anblick des blauen, hier schon vom Eise befreiten Stromes. Gegen Abend gehen wir häufig auf die Plateforme der Andreaskirche. Die laue weiche Abendluft, das feuchte erste Grün der Berge, die zarten rosigen Frühlingswolken, die Vögel, die im Himmelsblau um die hellen Thurmspitzen fliegen, – das Alles ist bekannt und erregt die gewohnten schmerzlichfrohen Frühlingsgefühle; – die zerrissenen wilden Berge aber, die weite Steppe, der mächtige ernste Strom, das eigenthümliche Geläute, die dunkelverhüllten Mönche und bärtigen Pilger und Bauern – das Alles ist fremdartig – eine eigene wunderbare Welt! Das neue Land, der neue Frühling, Alles ergreift die Seele mit fast überwältigender Macht.
Die folgenden Tage gehen wir nur im Krestschatek, dem nicht aufregenden Stadttheil, wo man nicht wie in der Fremde, sondern wie in München, Berlin und andern uns bekannten Städten, zwischen modernen Häusern, französischen und deutschen Magazinen und viel eleganter Welt spaziert. Das moderne und das alte, das vornehme und das volksthümliche, das kirchliche und das weltliche Rußland begegnen sich in diesem Kiew als wunderbare Contraste, und ebenso liegen in der Umgegend die öde Steppe und das romantische Gebirge wie zwei verschiedene Welten einander gegenüber.
Die ersten Apriltage sind regnerisch; erst Ende der Woche wird es hell. Der Dniepr ist nun offen und geht in mächtiger Breite
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177 Contraste in Kiew. Erste Frühlingstage. Straßenleben.
bis weit hinüber zur Steppe. Es ist herrlich jetzt zu gehen auf den grünen Bergen, wo schon Veilchen duften, unter goldenen Kuppeln, in der klaren Luft! Die Straßen beleben sich immer mehr. Wie bunt sieht es schon unter unsern Fenstern aus. Jenseit auf allen Pfaden der Gartenhänge schimmern die hellen Gewänder spazierender Frauen und Kinder; auf der Straße zieht ein Regiment Kosacken vorüber, hohe schöne kräftige Gestalten mit braunen Gesichtern, langen schnurrbärten, dunkeln Augen, über denen die runden mit Pelz garnirten Mützen sitzen. Sie halten lange Piken in der Hand und erheben sich fast auf recht, wie an ihre Pferde gewachsen über dieselben. Fremdartig aussehende Offiziere, mit gleichen Physiognomien, in ähnlicher Tracht, sprengen nebenher. Vier- und sechsspännige reiche Equipagen rollen hin und wider; Damen und Kinder in eleganten Toiletten sitzen darin; Offiziere und Studenten zu Pferde und in Droschken fliegen vorüber, langsamer rasseln die Telegas der Bauern; unter den Mönchen und Nonnen in schwarzer, den Bauern der Umgegend in einförmiger grauer, weißer oder brauner Tracht schimmern die bunten Röcke und Kassawaikas der Bürgersleute und reichern Bauern.
Am Sonntag gehen wir wieder in mehre Kirchen, erst in die katholische; werfen dann einen Blick in die Goldpracht der St.-Barbarakirche, in der wie überall in diesen Räumen die Altarwand den meisten Gold- und Silberglanz entfaltet, und auf der höchsten Spitze ein Kreuz trägt, tief unter welchem die Thür zum Altar führt. Vor der Kirche lagern Pilger und Bauern und halten zahlreiche Händler ihre Waaren feil: runde weiße ungesäuerte Brote und weiße Kringel. Dazwischen stehen Verkaufstische, mit Heiligenbildern aus Holz geschnitzt, mit Kreuzen, Ketten u. dergl. bedeckt.
Förster, Südrußland.
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178 Die Ukraine. Kiew.
Von da steigen wir zur Andreaskirche empor; die Thüren nach den Bergen zu sind geöffnet, der Gottesdienst aber schon zu Ende; das Innere ist einfach, hell, heiter, verschieden von der dunkeln Pracht der übrigen Kirchen.
Heute ist die Aussicht hier oben besonders herrlich, unter dem weichen milden Frühlingshimmel sind alle Gegenstände so deutlich sichtbar und doch in solchen zarten Hauch gehüllt; die Pfade in den Thälern und auf den grünen Bergen sind von Kirchgängern belebt; Frauen mit Körben voll Orangen kommen den Berg herauf; alle Kirchen und Klöster auf den Bergen, der Mönchskirchhof auf einem Abhang, alle in den Thälern verstreuten Hütten und Häuser sind bis in weiteste Ferne sichtbar; gerade unter uns liegt die heitere Wasserstadt. Wir schauen wie vom Himmel hernieder in ihr sonntägliches Leben auf Plätzen und Straßen und vor den Kirchen, wo sich Menschen und Equipagen drängen. Glocken tönen, von oben, von unten, aus der Stadt, von allen Höhen, Klänge, so laut und mächtig, als wollten sie die ganze Menschheit herbeirufen.
Montag gehen wir in das Podol zum Frauenkloster, dessen Lage an den Bergen ich euch schon neulich als sehr lieblich beschrieb. Das Innere ist weniger hübsch; die Gänge und Zellen sind eng, niedrig, es sind keine gemeinschaftlichen Speise- und Arbeitssäle da; jede Nonne lebt für sich, führt ihren Haushalt für sich; von den ärmern wirthschaften oft zwei, drei zusammen in Einer Stube, wo es denn nicht sehr angenehm aussieht; die reichern haben ihre eigenen Dienerinnen, man fühlt wenig von der einen allgemeinen, Alles belebenden Idee, die solch ein Klosterleben durchdringen und idealisiren muß. Auch sollen die Ordensregeln in diesem Kloster nicht sehr streng sein; die Nonnen dürfen ausgehen so viel sie wollen; man sieht sie häufig in den Straßen, auch im Kaiserlichen Garten.
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179 Das Innere eines Frauenklosters.
Die jungen schönen Nonnen lassen sich selbst in der Kirche nur verschleiert sehen; daher erblicken wir nur häßliche gelbe, verwelkte, durch Leiden oder Leidenschaften gefurchte Gesichter. Man zeigte uns aber ein kleines Häuschen, einsam auf dem Berg gelegen, in welchem drei junge schöne Schwestern, aus dem innern Rußland nach der Aeltern Tod hierhergekommen, zurückgezogen leben und sich auf die Ablegung des Ordensgelübdes vorbereiten. Das kleine Häuschen erschien uns wie ein Käfig mit drei jungen, mitten im Waldgrün gefangenen Vögeln. In vielen andern Klöstern sollen Disciplin und Lebensweise weit strenger sein; dieses hier erschien mir mehr wie ein großes Versorgungshaus; großentheils befinden sich auch hier Frauen aus niedern Classen und nur wenig vornehme, die von jenen ganz getrennt leben. Wir waren in einer der ärmern Zellen, wo eine Frau Wäsche trocknete, eine andere kochte oder Teller wusch, eine dritte Kindern stricken lehrte, und wo wenig Ordnung und Reinlichkeit herrschte, und in einer der bessern, die ganz von Möbeln, Heiligenbildern und Stickrahmen verengt und erstickend heiß war. Hier sahen wir auch viele der künstlichen Arbeiten, mit denen sich die meisten Nonnen beschäftigen; es sind Heiligenbilder, Scenen aus der heiligen Geschichte, oft ganze große Kirchenbilder mit Gold oder Silberfäden nach stehenden Mustern gestickt; die Gesichter allein sind gemalt und werden in die Stickereien eingesetzt, die an unsere mittelalterlichen, in Curiositätensammlungen bewahrten ähnlichen Frauenarbeiten erinnern und großen Fleiß bewundern lassen. Diese gestickten Goldbilder werden weithin in Kirchen und Klöster gesandt; auch die gemalten Heiligenbilder gehen meist aus den Händen der Nonnen hervor; man kann wörtlich sagen: aus den Händen, da selten ihr Geist dabei zu thun hat und sie fast nie neue componiren, sondern immer nur die uralten stereotypen Originale copiren.
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180 Die Ukraine. Kiew.
Am andern Tage fahren wir schon in der Frühe zur Lawrakirche; der große Vorhof mit den alten Nußbäumen und grünen Bänken, den weißen Klostergebäuden mit grünen Dächern und goldenen Kreuzen, den überall emporragenden grünen und goldenen Kuppeln, den Mönchen und Pilgern erscheint uns wie das erste mal heiter friedlich und doch so fremdartig. Die großen Obst- und Blumengärten, die zwischen und hinter den Gebäuden liegen und sich über den Berghang bis zum Dniepr hinabziehen, müssen in der nahenden Blütezeit reizend sein. Wir gelangen durch Höfe und Gänge auf den Balcon eines der Gebäude, von dem man den herrlichsten Blick über jene Berggärten, den blauen Strom, auf dem weiße Segel schimmern, die Steppenwälder und fernen Höhen hat, während in der Nähe die Kirchen und Kapellen, die Thürme und Kuppeln des Klosters, auf dem Bergabhang zwischen Bäumen über- und untereinander emporragend, bis zum Dniepr hinab verstreut, den malerischsten Vordergrund bilden.
In der Nähe ist die Druckerei des Klosters, in der unter der Direction eines Mönchs mehre Pressen im Gange sind; nur religiöse Bücher in der heiligen slawonischen Sprache werden hier gedruckt, meist mit sehr großen Lettern, die Anfangsbuchstaben häufig mit farbigen Schnörkeln verziert. In einem andern Gebäude am Eingang sehen wir die Buchhandlung, wo ebenfalls Mönche jene Gebet-, Evangelien- und Legendenbücher verkaufen; weiterhin ist ein Magazin von Heiligenbildern, Crucifixen u. dergl., wo man die größte Auswahl und Verschiedenheit dieser geheiligten Kunstarbeiten und unter ihnen besonders viele in Cedernholz geschnitzte Gegenstände findet, die oft Formen- und Schönheitssinn verrathen und aus den Händen ungelehrter Bauern hervorgegangen sind.
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181 Die Katakomben. 181
Um uns zu neuen Gängen zu stärken, bitten wir an der Thür einer Zelle um Kwas (Bier) und Brot, Gaben, die hier weder dem Vornehmsten noch Geringsten verweigert werden und für welche die freundlichen Mönche nur den Dank annehmen. Diese Mönche übrigens nähren sich nicht blos von diesem Brot und Kwas, sondern sollen sehr à leur aise leben, ihr Kloster überhaupt viele Reichthümer besitzen, die jährlich durch große Schenkungen und durch die Gaben der unzähligen Pilger vermehrt werden.
Heute sehen wir denn auch die größte Merkwürdigkeit Kiews, die weltberühmten Katakomben, welche in uralter Zeit die von den Tataren verfolgten christlichen Russen zur heimlichen Ausübung ihres Glaubens angelegt haben und in denen viele der berühmtesten Heiligen lebten, starben und begraben sind.
Eine bedeckte breite Treppengalerie, von deren einer Seite man in lustige Obstgärten blickt, führt aus den obern Klosterhöfen den Berg hinab bis fast an den Dniepr; auch dort liegen viele freundliche weiße, grünbedachte Klostergebäude zwischen den Bäumen; die Pforte zu den Katakomben befindet sich in der Arcade eines derselben, die mit sonderbaren Fresken bemalt ist: Gruppen von Engeln und Teufeln, welche lange rothe Zungen hervorstrecken, streiten sich um junge Seelen, durch Kinder in weißen Kleidern dargestellt, oder um sterbende Heilige; Weinflaschen, Flötenspiele, Schalen mit Früchten in den Händen der Teufel, bezeichnen ihre Verführungskünste; aber die Engel siegen dennoch; die sterbenden Heiligen tragen noch die weißen Gewänder der Unschuld; die Seele wird in erneuter Kindergestalt von den Engeln emporgehoben; die irdischen Hüllen aber liegen unverwest in den Särgen der Katakomben.
Die doppelte Eisenpforte, die in das unterirdische Heiligthum führt, wird von einem Mönch, der mit rasselndem
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182 Die Ukraine. Kiew.
Schlüsselbund naht, geöffnet. Wir dringen in das Dunkel, das nur schwach der Schein der kleinen Wachskerzen erhellt, die Jedes von uns am Eingang empfangen hat, und durchschreiten ein Labyrinth von engen gewölbten, sich kreuzenden und windenden Gängen, Einer hinter dem Andern, dem Mönch folgend; die Mauern und der steinerne Fußboden sind durch Alter und Feuchtigkeit schwarz-röthlich marmorirt; alle zehn Schritte sehen wir Vertiefungen in der Wand mit offenen Särgen der Heiligen, deren Körper, sagt man, ganz wohl erhalten sind, die aber unserm Auge zum Glück durch Stoffe verhüllt waren, die nur die Russen in der Gesellschaft aufheben, um die Knochenhände ehrfurchtsvoll zu küssen; hier und da blickt man durch Gitterfenster in kleine dunkle Räume, in denen Heilige ihr Leben zugebracht haben und eben dadurch zu Heiligen geworden sind; in einem solchen engen Kellerraum haben zwölf Brüder zusammengelebt, gewiß die verträglichsten der Welt! Bei jeder Wendung der Gänge und jedem Zusammenstoßen derselben sind kleine Kirchen angebracht, d. h. kleine, von niedern Säulen überwölbte Altäre, an denen häufig Messe gelesen wird, wie denn auch heute aus einem entferntern Theile dieser unterirdischen Gänge ein feierlicher Gesang und schwacher Kerzenschein herüberdrang; bis unter die Erde ist die Passion für Bilder gedrungen, mit denen die russischen Kirchen von oben bis unten bedeckt sind und die mit grellen Farben selbst in diesem Grabesdunkel schimmern.
An bestimmten Festtagen sind diese Katakomben, die sich stundenweit unter dem Dniepr hinziehen und von denen wir nur einen kleinen Theil gesehen haben, von Menschen überflutet, die hier bei jedem heiligen Leichnam, vor jedes Heiligen Zelle, jedem Altar ihre Andacht halten. Zu jenen Heiligen gehören St.-Antonius, der die ersten Höhlen anlegte, und St-Marcus, dessen Trinkgefäß in Kreuzesform man noch zeigt;
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183 Wanderung durch die Katakomben. Der Lawra-Glockenthurm.
auch Nestor, der älteste russische Geschichtschreiber, liegt hier begraben.
Noch jetzt bringen viele der Mönche, die den unterirdischen Kirchendienst besorgen, abwechselnd Tage und Nächte hier unten zu, wählen auch manchmal zu besonderer Sammlung oder Buße diesen nächtlichen grabesstillen Aufenthalt, dessen lautloses Schweigen nur durch das Rauschen unterirdischer Quellen unterbrochen wird. Oft verirren sich auch einzelne Pilger in den labyrinthischen Gängen. So hat neulich ein junges Landmädchen, hinter den Uebrigen zurückgeblieben, den Weg und ihre Begleitung verloren und einen oder einige Tage tief im selten betretenen Innern der Katakomben in schauervoller Finsternis unter den Todten zugebracht und war selbst halb todt, als man sie endlich wieder auffand.
In der ersten Frühe des Ostermorgens zieht zu einem feierlichen Gottesdienst der Archimandrit mit großem Gefolge von Geistlichen in die Katakomben und betritt sie zuerst vor den Andern ganz allein mit dem Rufe: „Cristos woskräs!“ „Christ ist erstanden!“ „worauf“, so erzählt die Volkssage, „alle todten Heiligen sich in ihren Särgen erheben und den Anruf mit geisterhaften Stimmen wiederholen.“
Ich bin froh, als wir aus den Grabeshöhlen wieder in das schöne liebe Tageslicht hinaustreten. Die Welt scheint mir wie neugeschenkt. Wieder vor der Hauptkirche angelangt, machen wir einen Versuch, den großen Glockenthurm zu besteigen, von dessen Höhe die Aussicht herrlich sein muß, finden aber den dunkeln beschwerlichen Weg in die Höhe zu ermüdend nach der langen Wanderung in der Tiefe.
Von diesem Glockenthurm erzählt die Sage, das er während des Baus tief in die Erde eingesunken war, aber als die Kuppel mit dem Kreuze vollendet seine Spitze krönte, plötzlich wieder emporstieg, weil diese himmlische Macht des Kreuzes
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184 Die Ukraine. Kiew.
den Satan und seine Versuche, das fromme Werk zu hindern, überwunden hatte. Man verläßt diese Lawraklosterstadt wie eine andere, von der übrigen ganz getrennte Welt, und doch fühle ich mich schon fast zu Hause unter diesen schwarzen Mönchen, die mir im Anfang so fremd und unheimlich erschienen. Wenn man draußen die belebten Straßen und eleganten Menschen, das ganze gewöhnliche großstädtische Treiben wieder sieht, kann man sich kaum denken, daß man in der Nähe von alle dem so eigenthümliche Existenzen und Erscheinungen gesehen hat; es ist, als ob man dunkle wunderbare Geheimnisse tief im Herzen eines heitern Weltmenschen entdeckt hätte.
Den nächsten Abend verleben wir voller Frühlingsgefühle unter singenden Vögeln und grünenden Bäumen im Kaiserlichen Garten, wo wir bald die stille Enge im Thale, bald den freien Blick vom Bergrand über Strom und Stadt suchen, über welche die untergehende Sonne ein Rosenlicht ausgießt.
Eine Feuersbrunst in einem entfernten Stadttheil gab uns neulich Gelegenheit, die Pompiers zu sehen, die mit Blitzesschnelle an uns vorübereilten: in einer enganliegenden grauen Kleidung, mit glänzenden Helmen auf dem Haupt stehen und sitzen sie in malerischen flüchtigen Stellungen auf den langen schwarzen Wagen, die ein Dreigespann von schwarzen Pferden brausend dahinführt, und sind anzusehen wie römische Soldaten auf einem Kriegswagen. Sie erscheinen mit größter Schnelligkeit, sobald von einem der Feuerthürme, die sich da und dort auf den Höhen erheben, durch Flaggen, Nachts durch Laternen von verschiedenen Farben, das Signal gegeben ist. Man hört kein Trommeln, keinen betäubenden Lärm; kein Zulauf der Neugierigen wird am Orte des Brandes geduldet und das Feuer meist mit großer Geschwindigkeit gelöscht.
Neulich besuchten wir die Universität, deren Inneres großartig wie das Aeußere ist, das ich euch schon beschrieben habe.
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185 Russische Pompiers. Das Innere des Universitätsgebäudes.
Wir sehen weite Treppenhallen und hochgewölbte Gänge. Die Wände sind blendend weiß, der Boden ist schwarz gefirnist, die Treppen sind mit Eisenplatten belegt und da und dort Waschgefäße an der Mauer angebracht, die man durch einen Druck an der Röhre darüber mit frischem Wasser füllen kann; Alles ist reinlich, luftig, frei. Wir durchgehen alle Räume, die verschiedenen Hörsäle, die Hallen der Bibliothek, welche durch die hierherversetzten Büchersammlungen von Krzemienice und Wilna ansehnlich vermehrt worden ist, sehen das Chemische Laboratorium, den Zeichensaal mit einer kleinen Gemäldesammlung, den Fechtsaal mit weiter Aussicht auf die ringsumliegenden öden Berge, den Ballsaal mit einem lebensgroßen Bilde des Kaisers, die Säle der ziemlich ansehnlichen Naturaliensammlung und endlich die griechisch- und die römisch-katholische Kapelle, hochgewölbte Rotunden, die sich in den beiden Eckthürmen des Gebäudes befinden. Auch die großen Gewächshäuser besuchen wir und freuen uns an den einheimischen duftenden Veilchen und Rosen und den Palmen und Cactus und andern Gewächsen fremder Zonen; den Besuch des naheliegenden großen Universitätsgartens aber versparen wir bis auf den Frühling. Die Studenten, deren Menge auf eine gewisse Zahl beschränkt ist, tragen Uniformen, ebenso die Professoren; viele derselben und auch der Rector sind Deutsche aus den Ostseeprovinzen.
Der Dniepr erfreut uns immer von neuem durch seine blaue Fläche und die vielen Segel, die jetzt auf ihr schimmern; auch ein Dampfschiff fährt von hier bis nach Tschernigow und andern Orten am obern Theile des Stroms, dessen unterer Theil wegen der großen Wasserfälle für die Schiffahrt gefährlich ist. Neulich stiegen wir vom kahlen Petscherskiberg zu seinem Ufer nieder; auch da am Wasser steht eines der Festungsgebäude mit Thürmen und Zinnen, wie
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186 Die Ukraine. Kiew
eine einsame Ritterburg; ein ähnliches Castell schaut von der Höhe herunter; außerdem ist nirgends eine menschliche Wohnung, auch kein Baum, kein Grün zu sehen, nichts als der kahle Berg und das steile sandige Ufer. Nur das einförmige Schlagen der Wellen an den Strand tönt durch die Stille. In weiter Ferne liegen die niedern jenseitigen Ufer. Wir gehen entlang der Berge, die steil zu unserer Linken empor steigen. Aus dem zerklüfteten Schiefer- und Lehmboden ragen einzelne Tannen und auf den Vorsprüngen hängen malerische kleine Hütten; ein kleiner Kahn durchschneidet vor uns die Flut und in der Ferne leuchten große weiße Segel. Mit diesen freundlichen Bildern aber und mit dem Eindruck jener großartigen Wassereinsamkeit und dem feierlichen Wellenrauschen contrastiren jene Stellen am Ufer, wo viele Hundert Gefangene an Kais und Dämmen bauen, wo Soldaten, mit Peitschen bewaffnet, sie bewachen und wo Ketten und Karren traurig rasseln.
3.
Kiew, Anfang Mai.
Unterdessen ist die Osterzeit herangekommen und die Vorbereitungen auf die kirchliche und weltliche Feier des Festes beleben die Stadt. Unaufhörliches Geläute umtönt uns. Jede Mitternacht umrauschen uns die Glocken der nahen Barbarakirche eine Stunde lang mit ihren mächtigen Klängen. Man merkt, daß man sich in einer „heiligen“ Stadt befindet.
Auch Pilger kommen jetzt in ganzen Zügen herbei und überfluten fast die Stadt; sie umlagern in Scharen die Brunnen und Kirchen und haben nach weiter Reise meist keine andere Herberge als diese offenen Plätze und die Vorhöfe der Klöster, kein anderes Lager als diese Steinplatten, auf denen
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187 Spaziergänge am Dniepr. Osterzeit. Pilgerscharen.
sie in Sonnenschein und Staub ausgestreckt, mit dem Kopfe auf ihrem kleinen Bündel ruhend, ungestört schlafen. Großentheils sind sie arm, oder haben das Gelübde abgelegt, sich während ihre Pilgerfahrt nur durch Almosen zu ernähren; darum theilt man ihnen gern Gaben aus, obgleich sich manche Vagabonden unter ihnen befinden, aber auch solche, die den Kirchen und Klöstern ansehnliche Geschenke, oft die Ersparnisse eines ganzen Lebens bringen.
Einmal im Leben wenigstens sucht jeder Russe in Kiew zu beten und eine Wallfahrt dahin erkauft ihm Vergebung der Sünden. So kommen die Pilger aus Norden und Süden herbei, von den fernsten Grenzen des Reichs, vom Strande des Eismeeres und den Ufern des Pontus; ja von jenseit der Wolga und des Uralgebirges ziehen Wallfahrer zur heiligen Stadt und legen zu Fuß die unendlichen Strecken zurück. So ist kürzlich eine Bäuerin aus dem innern Sibirien hergekommen, die ein und ein halbes Jahr gegangen war und eben soviel Zeit zu ihrer Rückreise braucht. Auch in Kiew angelangt ruhen sie nicht; mit geschwollenen Füßen, ermattet und bestäubt, ziehen sie auch da von einer Kirche zur andern, beten vor allen Heiligenschreinen und Heiligenbildern über und unter der Erde, schlafen auf Steinen im Freien, nähren sich von dem Kwas und schwarzen Brot, das die Mönche um Gotteswillen geben. Der einzige Luxus, den sie sich erlauben, das Einzige, was sie mit zur fernen Heimat bringen, sind die geweihten Kreuze, Medaillen und Heiligenbilder, die vor den Kirchen verkauft werden und die sie wol auch in den Klöstern als Gegengabe für die dargebrachten Geldspenden erhalten.
So könnte man an dieser Menge verschiedener Pilger die Nationaltrachten von ganz Rußland kennen lernen, wenn sie nicht alle über ihrer gewöhnlichen Kleidung große graue Oberröcke trügen; diese und die Sandalen an den Füßen, die
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188 Die Ukraine. Kiew.
großen Stöcke in den Händen, die Wasserflasche an der Seite, ein kleines Bündel über der Schulter hängend, sind die allgemeinen Abzeichen dieser frommen Wanderer, die den ganzen Sommer durch Kiew überfüllen.
Sonnabend vor dem Palmsonntag sehen wir im Podol den Jahrmarkt an, der während der Feiertage dauert und von den Pilgern und Landleuten besucht wird, die hier nicht blos Heiligenbilder und andern kirchlichen, sondern auch weltlichen Prunk, Glasperlen, Bänder, Ringe, rothe Schuhe u. s. w. kaufen. Hier wie in den übrigen Stadttheilen macht man Vorbereitungen für die Osterspiele des Volks, errichtet Schaukeln, Carrousels u. s. w.
Der heilige Osterabend kommt mit Maienfrische, Glockengeläut und zarter Himmelsrosenglut; sobald die ersten Sterne schimmern, entzünden sich Lichterketten an allen Straßen; je später es wird, je mehr beleben sie sich. Um 10 Uhr gehen auch wir den nahen Berg hinauf in die katholische Kirche, die übervoll ist, sodaß wir den Gottesdienst und die Procession, die auch außen um die Kirche zieht, nur von fern sehen können. Den schönsten Eindruck haben wir beim Heraustreten: vor uns schwebt der Vollmond in grüngoldenem Glanze; unter ihm schimmern wie leuchtende Perlenreihen die Lampen der illuminirten Stadt, um ihn glänzen unzählige Sterne. So steht er gerade gegenüber dem Altar, dessen Kerzenglanz durch die geöffneten Kirchthüren strömt.
Von hier fahren wir nach Mitternacht im offenen Wagen zur fernen Lawrakirche, um auch dort die Osterfeier mit anzusehen. Welch eine entzückende unvergeßliche Fahrt! Die Frühlingsnacht ist so warm und still und sternenreich, die Stadt so wunderbar schön in der Mondbeleuchtung und im Schmucke dieser zitternden goldigen Lichterketten, die sich kreuzend und verschlingend bergauf bergunter ziehen und die Straßen
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189 Die Osternacht. Mitternachtsgottesdienst in der Lawrakirche.
und die Umrisse aller großen Gebäude bezeichnen. Alles ist voll Leben; Fußgänger, Equipagen ziehen alle in derselben Richtung zur Lawra, deren mächtige Glocken rufen und deren bis zur Kuppel erleuchteter Glockenthurm wie ein Wegweiser in der Ferne emporstrahlt. Bald sind wir ihm nahe, steigen aus, treten in den illuminirten menschenvollen Vorhof, dann in die Kirche. Ein Lichtmeer strömt uns entgegen. Geblendet von der Pracht und Helle kann man im Anfang kaum das Zaubervolle fassen. Bis zur Höhe der Kuppel verbreiten viele Tausend Kerzen eine Tageshelle im ganzen Raume und lassen seinen Reichthum und das Detail der Verzierungen, der Arabesken und Bilder besser erkennen als am Tage selbst. Feurig glänzen die goldenen Wände, milder schimmern die riesenhaften Silbercandelaber im Glanze des dichten Kerzenkranzes, den sie tragen; aber nicht blos von ihnen und den Wänden und Altären strömt das Licht, auch jeder der vielen Tausend Menschen hält eine brennende Kerze; all diese Tausende gehören der vornehmen eleganten Welt an, denn das Volk ist in der Nacht nur auf die Galerien beschränkt; Offiziere in glänzenden sternenreichen Uniformen, Damen in Soiréetoilette drängen sich wie zu einem Hoffest; mit ihnen contrastiren die Mönche und Nonnen in ihren schwarzen Gewändern und Verhüllungen. In der Mitte der Kirche, um eine Art von heiligem Grab oder Katafalk, ganz in Gold- und Silberglanz gehüllt, sind die Priester versammelt, die Kerzen halten und recitativartig Evangelien oder Psalmen singen. Bald ziehen sie Alle an uns vorüber zu einer Procession außen um die Kirche, Alle in verschieden prächtiger Tracht: die gewöhnlichen Popen mit unbedecktem langen schwarzen Haar, die Archimandriten mit hohen schwarzen, die höhern Geistlichen mit rothen Mützen, die gleich den weißen Gewändern von Gold, Silber und Juwelen funkeln; inmitten Aller schreitet
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190 Die Ukraine. Kiew.
der Metropolitan, ein Greis mit echtslawischem Gesicht und langem weißen Bart, eine hohe blaue, von Diamanten strahlende Mütze auf dem Haupt und den St.-Andreasorden am breiten blauen Bande um den Hals; auch viele der übrigen Priester sind mit Orden geschmückt. Voran ziehen die Chorknaben in blauem gelbverzierten Anzug, der einer mittelalterlichen Pagentracht gleicht. Diese Kinderstimmen erfüllen die Kirche mit einem lieblich rührenden Gesang, den unaufhörlich die heiligen Jubelworte: „Cristos woskräs!“ durchtönen. Nach kurzer Weile, während welcher außen die Runde um die Kirche gemacht wurde, kehrt der Zug, dem sich alle höchste Beamte, Offiziere u. s. w. anschließen, in derselben Weise zurück. Wir warten das Ende der Feierlichkeiten, die bis gegen Morgen dauern, nicht ab, sondern verlassen die Kirche nach einer Stunde, betäubt von dem wunderbar prächtigen Schauspiel, geblendet von dem Lichter-, Gold- und Diamantenglanz, und es thut wohl, nach all diesem Funkeln und Glänzen und irdischen Prangen Auge und Herz wieder auszuruhen draus
ßen in der stillen sanftverklärten Mondnacht.
Die Sonne des herrlichen Ostermorgens und die Glückwünsche der Dienerinnen weckten uns, als wir kaum ein wenig geruht hatten. Das Beschenken mit Eiern, die vom Priester gesegnete Swentzone oder Pasqua (das Ostermahl), die glückwünschenden Besuche der Bekannten, Alles ist so, wie wir es voriges Jahr in Zytomierz erlebten. In den sonnigen reinen Straßen drängt sich eine bunte Menge, eilen Droschken und elegante Equipagen hin und her und überall sieht man die heitern Scenen des gegenseitigen Umarmens, Küssens und Glückwünschens und überall ertönt der frohe Ruf: „Cristos woskräs!“ In den höhern Kreisen vereint man sich zu geselligen Festen, während sich das Volk bei den öffentlichen Spielen, den Schaukeln und Ringelbahnen vergnügt.
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191 Osterfeier in Kiew. Maischönheit der Stadt.
Dazu beginnen die Bäume zu knospen, Veilchen im frischen Rasen zu duften; schon erklingen Nachtigallentöne und auf den fernen Bergen schimmern die Birkenwälder im hellen Grün. Es wäre herrlich, wenn es – die Heimat wäre!
4.
Kiew, Ende Mai.
Welchen Zauber der Mai hier entfaltet, ist kaum zu sagen. Diese Fülle und glänzende Frische des Laubes, diese Ueppigkeit des Grases, dieser Reichthum an Blumen ist unbeschreiblich. Mit jungfräulicher Kraft scheint der Boden Alles hervorzubringen und zu nähren und Alles entwickelt sich wunderbar schnell. Die Blätter, die man kaum die Knospenhülle durchbrechen sah, bildeten in wenig Tagen glänzende Schattendächer. In der letzten Woche des April standen alle Bäume in Blüte, in der ersten des Mai war die Pracht schon vorüber und schon verweht der Ahorn- und Pappelduft, der die Luft erfüllt hatte. Jetzt blühen überall riesige Hollunderbouquets, die Kastanienbäume tragen ihre weißen Kerzen; bald wird man Rosen-, Linden- und Akaziendüfte einathmen.
Ich muß mich freuen, diese Stadt gerade im Mai gesehen zu haben, der sie so zauberisch schmückt. Jedes Haus liegt so weiß und freundlich zwischen hohen Linden und Pappeln und mächtigen duftenden Blütensträußern. Alleen von Ahornbäumen, Akazien und Pappeln ziehen sich die Berge hinan. In jeder Straße geht man wie in einem Garten, sieht Grün und Blumen und athmet frische Luft und Wohlgerüche ein.
Die ganze Stadt mit ihren grünen Hügeln und Thälern, über welche die weißen Häuser wie Perlen, die goldenen Kuppeln wie Sterne gestreut sind, erscheint wie ein Zaubergarten, – nennt man sie ja auch im ganzen Reiche, und mit Recht,
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192 Die Ukraine. Kiew.
„den heiligen Garten“. Vogelgesänge und Glockenklänge tönen durch die Lüfte; selbst die Stille der Nacht unterbricht solch feierliches Geläute, denn fast täglich begeht man irgend eines Heiligen Fest, und alle Feste beginnen um Mitternacht. so gleichen hier alle Tage dem Sonntag und es wäre paradiesisch ohne die traurigen Gestalten der Gefangenen, die unaufhörlich mit rasselnden Ketten durch die frühlingshellen Straßen ziehen. Am meisten genießen wir die schönen Tage im Kaiserlichen Garten, der über Berge und Thäler gebreitet, offene Flächen, freie Aussichtspunkte und einsame waldige Stellen umschließt. seine jetzige Schönheit ist größer als wir es ahnten, ehe noch diese Alleen hoher Linden und Eschen belaubt, ehe die Waldpartien in den Schluchten so dicht und dunkel waren und die Blütenbäume lieblich durchs Dickicht schimmerten, ehe die Baumgruppen auf Höhen und Abhängen ihre schönen Laubkronen trugen und die Birken ihre hellen Zweige anmuthig in der blauen Luft wiegten, und ehe der Nachtigallengesang aus allen Büschen und Bäumen tönte. Hier im Garten ist es heimatlich, aber außen vor der Stadt, wo die öden Berge liegen und die kahle Steppe ruht, fühlt man sich so weit vom Vaterlande. selbst der Dniepr, der so langsam feierlich zwischen einsamen Ufern zieht, ist mir noch ein Fremder, dessen Sprache ich nicht verstehe.
Alle Sonn- und Feiertage ist Musik in diesem schönen Garten. Doppelte Musikchöre (nur Blasinstrumente) sind an verschiedenen Orten vertheilt und spielen bekannte Opernsachen, Tänze, aber auch originelle Nationalmelodien. Der Eintritt ist Jedem erlaubt. so wandelt eine bunte, aus allen Ständen gebildete Menge durch die schattigen Gänge: Damen, Herren, Kinder in eleganten Toiletten, meist in heitern Gruppen, ganze Züge von Landleuten im Costüm dieser Gegenden oder in der buntern großrussischen Tracht, Offiziere, Beamte,
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193 Der Kaiserliche Garten im Mai.
Studenten in verschiedenen Uniformen, russische Kaufleute mit ihren reichgeputzten Frauen und Kindern. Man begegnet und begrüßt sich, man spricht und lacht, man ruht auf Bänken unter den Bäumen oder geniest Eis vor dem Pavillon des Conditors. Es ist ein fröhlicher sonniger Eindruck; man glaubt sich in einem großen deutschen Badeorte. Das einzig Fremdartige sind die Tänze und Gesänge der Soldaten, die sie zwischen den Musikstücken ausführen, und zwar, indem sie den Gesang mit dem Tanz begleiten, der in einem sonderbaren Auf- und Niederspringen mit eingestemmten Armen besteht.
Auch am Morgen ist Musik hier für die zahlreichen Brunnentrinker, die in den Alleen vor der großen Trinkhalle wandeln, in welcher man verschiedene Mineralwässer ausschenkt und zu welcher auch guteingerichtete Bäder gehören. Auch diese Morgen unter Musik, Schatten, Blütenduft und eleganten Spaziergängern sind ganz „comme à l'étranger“, wie die Einheimischen sagen.
Aber ebenso schön ist's am Abend, wenn rosige Glut durch die hellgrünen Bäume schimmert, wenn Ahorn und Faulbaum berauschend duften und der Gesang der Nachtigallen wehmuthvoll, sehnsüchtig leidenschaftlich wie die Sprache Romeo's und Julia's erklingt, und schöner noch ist es, später am Rande des Gartens über dem Dniepr zu stehen, wenn im Osten der Vollmond über silberglänzenden Blütenwäldern schwebt, während im Westen der Rosenhauch des Abends noch die Berge und den Strom und die Stadt am Ufer umschleiert. Auch in den luftigen reinen Laub- und Blütenstraßen der Stadt geht man wie in einem Garten. Besonders anmuthig sind die Wege am Rande des Petscherski, wo auf der einen Seite die von Bäumen umschlossenen hellen Häuser, auf der
Förster, Südrußland.
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194 Die Ukraine. Kiew.
andern weite Gärten liegen, die sich den Berghang hinunter ziehen und mit ihren jungen Blütenbäumen und frischbegrünten Linden lieblichste Sitze des Frühlings sind. Darüber hinaus blickt man auf die gelblichen Burgen der Festungswerke, hoch auf den Bergen über Blütenhaine und helle Birkenwälder erhoben, und auf die kleinen Thäler zu ihren Füßen, in denen weiße Hütten halb im Grün verborgen ruhen.
Selbst die steppe und die Inseln im Strom, auf die wir von der andern Seite blicken, glänzen hell im Maiengrün.
Ein heftiges Gewitter, das wir vom Gartenpavillon aus bewunderten, wo wir den Sturm über die Steppe brausen, den Strom in schwarzen Wogen emporwallen und Blitze aus dunkeln Wolkenbergen flammen sahen, hat die letzten Blüten von den Bäumen geweht. Das schönste des Jahres ist vor bei. Der Frühling geht zu Ende!
5.
Kiew, Mitte Juni.
Wir haben an einem schönen Sommerfeste theilgenommen. Es wurde vom Grafen Br. gegeben, der eine polnische Gesellschaft von 30–40 Personen eingeladen und das Dampfschiff zur Fahrt nach Mischi-Gori (in den Bergen) gemiethet hatte. Um 4 Uhr Nachmittags fuhren wir fort mit vollstimmiger Militärmusik am Bord. Fröhlich ertönten die Hörner; eine große Menschenmenge am Ufer verfolgte uns mit ihren Blicken; die Räder durchschnitten die dunkeln Fluten und brausend entfernte sich das Schiff vom Lande, das uns einen entzückenden Anblick bot, als die ganze Bergkette vor uns lag, zu ihren Füßen die weiße Stadt wie eine glänzende Perlenschnur, und auf den grünen Hängen helle Häuser ausgestreut, und hoch über Alles die Kirchen und Klöster erhoben, deren
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195 Fahrt auf dem Dniepr. Sommerfest in Mischi-Gori.
Kuppeln und Kreuze jeden Sonnenstrahl erfassen und widerspiegeln.
Ueber zwei Stunden schifften wir auf dem mächtigen Strome. Das Bild der fernen Stadt blieb uns auf dem ganzen Weg; zu unserer Linken wurden die Berge immer höher und waldiger und blieben belebt durch Dörfer und Klöster; zu unserer Rechten aber lag die einsame Ebene mit ihren stillen Wäldern; einzelne uralte Bäume ragten hier und da mit blätterlosen mächtigen Aesten über die frische grüne Pflanzenwelt empor; einsam wie dort war es auch auf dem Strome; kein Schiff begegnete dem unsern, das wie ein glänzendes Meteor plötzlich durch die stille Oede zog. Unaufhörlich er klangen die Hörner in fröhlichen Melodien; die Gesellschaft war von liebenswürdiger Heiterkeit belebt. Endlich umschifften wir das waldige Vorgebirge, bis zu welchem man von Kiew aus sehen kann, und erblickten in einem schattig-grünen Bergwinkel die Gebäude von Mischi-Gori glänzend im Abendsonnenschein.
Nach kurzer Ruhe wanderten wir durch ein kühles waldgrünes Thal bis zur Quelle tief im Grunde, die als Wunderborn berühmt und das Ziel vieler Wallfahrten ist. Auch war das krystallhelle bergfrische Wasser ein herrliches Labsal und ebenso das Einathmen der Wald- und Bergluft, die wir so lange in der nun schon heißen staubigen Stadt entbehrten. Ein reiches Diner (zu dessen Bereitung Köche, Diener, Geräth und Material schon Tags zuvor herausgeschickt waren) in einem der Pavillons über dem Strom füllte die letzten Tagesstunden aus. Heitere Gespräche, Musik, zahlreiche Toaste, ein herrlicher Sonnenuntergang, der den Fluß vor uns rosig färbte, belebten die lange Sitzung.
Als wir wieder hinaustraten, dämmerte es schon. Kleine Feuer schimmerten in Booten auf dem Wasser; die Mondsichel
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196 Die Ukraine. Kiew.
und einige Sterne standen schon am Himmel. Sie leuchteten uns auf unserer Wanderung in ein nahes zweites Thal, das uns mit geheimnisvoller halbverhüllter Schönheit, mit Nachtigallengesang und Heuduft empfing.
Von da führte Graf Br. die Gesellschaft in die Kirche, ein altes berühmtes Heiligthum, das auf seine Anordnung glänzend erleuchtet war, sodaß man die Goldpracht, die Bilder und Reliquien, die uns ein alter Priester zeigte, vollständig betrachten konnte.
Auch die großen Verkaufssäle und Ateliers der Porzellanfabrik, welche dem Ort besondere Wichtigkeit verleihen, sahen Einige bei Fackellicht. Im großen eleganten Hause des Fabrikdirectors versammelte sich unterdeß die Gesellschaft zum Ball, der die Nacht hindurch bei offenen Fenstern und Thüren fort gesetzt wurde.
Oft trat man hinaus auf den Balcon und sah in die heiligstille Nacht, die um uns lag so ganz anders als die bunte Welt da drinnen, und sah die Sterne tiefer und tiefer sinken und untergehen wie helle theure Wesen, die aus dem Leben scheiden –, untergehen, nur für unser Auge, um einem andern in neuen Welten zu leuchten –, scheiden, nur aus unserm Leben, aber ununterbrochen in dem eigenen, und uns und all das Unsere fühlten wir sicher geborgen in der Liebe, die diese Millionen Welten in ihren Bahnen lenkt und ihren Auf- und Untergang bestimmt!
Mit dem Morgengrauen brach man auf. Langsam zogen die schwarzen Gestalten durch die Dämmerung den Berg hinunter. Um uns schlummerte die Welt; nur einige Vögel zwitscherten wie träumend in den Bäumen am Wege; wenige blasse Sterne standen noch am Himmel, den im Westen schon ein sanfter Rosenschimmer färbte. Bald wurden die stillen Wellen durch unser brausendes Fahrzeug geweckt. Die Kühle
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197 Nächtliche Fahrt auf dem Dniepr. Kiew bei Sonnenaufgang.
und der Morgenthau, der das Verdeck durchnäßte, ließen uns die enge dunkle Kajüte suchen. Auch hier ermattete die heitere lebhafte Unterhaltung nicht. Keine Gesellschaft kann an Liebenswürdigkeit solch eine polnische übertreffen. Zwölf Stunden war man nun beisammen und die heitere Laune, das feine graziöse Wesen Aller, die chevalereske Artigkeit der Herren für die Damen waren sich immer gleichgeblieben.
„Le soleil se lève“ der Ruf drängte Alle aufs Verdeck zurück. Röther und röther erglühte der Osten; jetzt sprühten Goldfunken in diesem Purpur und nun schwebte die herrliche glänzende Weltkugel empor und weckte die unsere; die Hörner begrüßten sie mit fröhlichen Klängen; auch die Vögel erwachten und erfüllten die Luft mit Jubeltönen. Der Thau auf den Inseln, im Strom und den Wäldern verwandelte sich in Millionen glänzender Perlen; die Wellen schimmerten in tausend Schattirungen von Blau, Grün, Gold; – das entzückendste Bild aber lag vor uns: Kiew bei Sonnenaufgang! Nur Neapel, in gleichem Momente erblickt, kann diesem Bilde ähnlich sein.
Auf den Abhängen und Gipfeln der Berge schimmerten die Kreuze und Kuppeln erst in zartem Silberglanz, dann in strahlender Goldpracht, wie Juwelen ausgestreut über Thäler und Höhen. Am Ufer des Flusses glänzten die weißen Häuser im Grün wie frischerblühte Blumen; ein weicher Morgenhauch umhüllte harmonisch alle Gegenstände. Wie eine Meergeborene, wie eine reizende Anadyomene, weiß und glänzend aus den Fluten emporgestiegen, erschien die Stadt, der wir uns unter fröhlichem Hörnerschall nahten und die uns mit dem feierlichen Klange der Morgenglocken begrüßte. schon umgab uns das laute Treiben des Tages; aber wie im Traum wandelten wir mitten darin, noch erfüllt von den zaubervollen Bildern der Nacht
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198 Die Ukraine. Kiew.
Wollt ihr einen Ort sehen, wo ein fröhliches frisches Frühlingsleben, nicht aus Blumen und Bäumen, sondern aus jungen Menschenseelen uns entgegenblüht, dann kommt mit mir in das Kaiserliche Fräuleininstitut. Wir steigen aus dem Krestschatek zu einem großen weißen eleganten Gebäude empor, das sich auf einem der grünbewachsenen Berge zwischen hohen Pappeln erhebt. Heiter wie das Gebäude sind seine Bewohner, die eine eigene, von dem übrigen Menschenleben getrennte Welt bilden. Durch eine hohe Halle treten wir ein und hören von allen Corridoren, Treppen, Zimmern fröhliche Kinderstimmen wie hundertfaches Vogelgezwitscher tönen. Das ganze große Gebäude ist durchschwärmt von den lieblichen Bewohnerinnen, die hier ihre ganze Welt haben. Neun Jahre lang bringen sie meist in dem Institute zu und verlassen es nur einmal des Jahres für einige Stunden, um eine Fahrt durch die Stadt oder einen Besuch bei Verwandten zu machen. Sie sind Gefangene, aber die glücklichsten der Welt, die ihr Gefängnis nur mit Thränen verlassen und daran zurückdenken wie an ein verlorenes Paradies. Mehre Hundert Zöglinge befinden sich hier von verschiedenem Alter, kleine reizende Kinder und erwachsene schöne Mädchen. Die Anzüge sind von gleichem Schnitt, doch verschiedener Farbe nach den verschiedenen Classen; die der ersten grau, der zweiten braun, der dritten grün; der Stoff der Kleider ist feiner Merino, dazu weiße Battistschürzen mit Kragen, die den Hals bloßlassen. Alle sehen nett und elegant aus; die Aermern haben Freistellen und Alle sind aus guten russischen und polnischen Familien und werden von den besten Lehrern, theils Professoren der Universität, in allem Wissenswerthen unterrichtet. Ausländische Gouvernanten sind zum Lehren der fremden Sprachen angestellt; alle Talente für Musik, Zeichnen u. s. w. werden ausgebildet, alle weiblichen Handarbeiten geübt
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199 Das Kaiserliche Fräuleininstitut in Kiew.
(man trifft sogar Anstalten zum Lehren des Kochens) und auf die moralische Ausbildung wirkt das stete Zusammenleben mit den dames de classes, den eigentlichen Erzieherinnen, die dem Institut angehören, und die liebevolle Sorgfalt der Directrice, deren wichtige Stelle immer mit einer vom Kaiser selbst erwählten würdigen Dame besetzt wird, welche sich als Mutter dieser Kinder betrachtet. Alle Jahre findet eine öffentliche Prüfung statt, bei welcher Preise vertheilt werden, deren höchster die Chiffre der Kaiserin ist, welche auf die Achsel der Erwählten geheftet wird. So finden die Kinder in diesem Institute Mutter, Lehrer, Freundinnen, Schwestern, Unterricht, Liebe, Auszeichnung, ein regelmäßiges sorglos heiteres, ja materiell elegantes Leben, sodaß sie sich nur mit Schmerzen von demselben losreisen und sich schwer an ein anderes gewöhnen, besonders wenn es sie, wie es häufig geschieht, in die beschränkten Verhältnisse, in denen sie geboren sind, zurückführt.
Für die gänzlich Mittellosen wird übrigens im Institut gesorgt; sie treten in diesem oder einem andern als pepinières (Aufseherinnen) oder dames de classes ein. Zwei solcher dames de classes führten uns umher, erst in den Sprechsaal, an dessen Ende sich das lebensgrose Bild der Kaiserin, der Beschützerin aller dieser Institute, befindet. Hier empfangen die Zöglinge jeden Sonntag von 12–4 Uhr die Besuche ihrer Verwandten. Auch heute standen eine Menge Besucher außerhalb der Barriere, welche den innern für die Kinder bestimmten Raum umgibt. Da gab es verschiedene Scenen zu sehen. Dort stand ein alter graubärtiger General und streichelte die Wangen seiner jungen schlanken Tochter, die mit glänzenden Augen zu ihm aufblickte; hier herzte und küßte ein liebliches blondlockiges Mädchen ihr kleines Schwesterchen, das in rothem Kleidchen vor ihm auf der Barriere stand und
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200 Die Ukraine. Kiew.
mit Erstaunen auf die vielen Kinder sah. Weiterhin umarmte eine Mutter ihr Kind, von dem sie wol lange getrennt war, denn Thränen waren in Beider Augen und nur einzelne Worte der Liebe kamen über die Lippen, während zwei kleine muntere Brüder danebenstanden und ungeduldig und glühend vor Freude die Früchte und Blumen hinhielten, die sie der Schwester mitgebracht haben.
Wir sahen alle Stundenzimmer, die mit Büchern, Karten, physikalischen Instrumenten reich versehen sind; die Musik- und Sticksäle, die griechische und die katholische Kapelle, beide in der Mittelrotunde des Gebäudes übereinandergelegen, hoch gewölbt, hell und heiter; den Eßsaal, in welchem schon die vielen Tafeln mit schneeweißem feinen Tischzeug für das Diner gedeckt werden; die Schlafsäle mit den langen Reihen der kleinen weißen Betten, über deren jedem ein Crucifix oder Heiligenbild, mitgebracht aus den fernen Heimatshäusern, befestigt ist, und endlich die großen Waschzimmer neben jedem Saal, mit den in der Runde um einen Pfeiler aneinandergereihten Becken, in welche das Wasser mittels des Druckes an eine Röhre sich ergießt.
Alle diese Säle und Gänge sind rein und luftig und die letztern und die Treppen belebt von den Kindern, welche in Gruppen zusammensitzen, plaudernd oder einer Erzählerin horchend, oder Arm in Arm in langen Reihen auf- und niedergehen und ihre klingenden Stimmen, ihr fröhliches Lachen weithin erschallen lassen, oder die paarweis zusammen lesen oder sich in traulichem Gespräch in stillen Ecken auf Treppenstufen, hinter Thüren verborgen halten. Alle sind schüchtern und beantworten unsere Fragen meist nur mit einem Lächeln. Fast jedes größere Mädchen hat ein oder zwei kleine neben sich, die scheu ihre Lockenköpfchen hinter ihr verbergen oder sich zärtlich an sie schmiegen. so scheu sollen sie mit allen
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201 Einrichtung, Leben im Kaiserlichen Fräuleininstitut.
Fremden sein, außer mit dem Kaiser, der nie durch Kiew kommt, ohne „seine Kinder“, wie er sie nennt, zu besuchen, die ihn denn auch wie einen geliebten väterlichen Freund begrüßen, sich, wie die dame de classe uns erzählte, jubelnd an ihn hängen und ihm durch das ganze Haus folgen. „sie gehen an solchem Tage ganz aus ihrer Natur heraus“, sagte die Dame, „und wir erkennen sie kaum wieder.“ Nur des Abends können die Kinder den großen, aber neuangelegten schattenlosen Garten benutzen; dann durcheilen sie ihn in fröhlichen Spielen und man sieht ihre weißen helgoländer Hüte wie hundert weiße Tauben in allen Richtungen flattern. Unsere Führerin zeigte uns auch ihr eigenes großes freundliches Zimmer voller Blumen und Bücher und mit herrlicher Aussicht über Stadt und Land. Nach 25jährigem Aufenthalt im Institut kann sie austreten und erhält eine Pension; es schien mir sehr lange, trotz der Reize des Ortes, denn auch diese Damen dürfen ihn nie verlassen und nur alle sechs Jahre auf zwei Monate verreisen. Diese unsere Führerin war schon sieben Jahre hier, nachdem sie ihre Kindheit und erste Jugend in einem gleichen Institut in Moskau verlebt hatte. Voriges Jahr hatte sie ihre erste „sortie“ gemacht, nur bis zur nächsten Stadt Zytomierz, und nun freute sie sich schon wieder auf die nächste, in fünf Jahren zu erwartende Reise.
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Auch im vorrückenden Sommer ist der Kaiserliche Garten der Hauptspazierort der vornehmen Welt, die sich als Lieblingsweg die große Mittelallee gewählt hat, welche am Bergrand über den Thalgrund hinführt. Da wandelt jeden Abend, oft beim Klange der Militärmusik, eine bunte Menge in eleganten Toiletten auf und nieder, lebhaft conversirend, sich zu
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202 Die Ukraine. Kiew.
Gruppen vereinend, ganz wie in einem Salon. Dabei kann man sich der herrlichsten Aussicht erfreuen. Auf der einen Seite blickt man in das Dunkel der dichten Lindenalleen, auf der andern zwischen hohen Birken, die ihre durchsichtig hell grün belaubten Zweige anmuthig senken, auf den tiefgelegenen waldigen Theil des Parks, der sich wie ein Meer von Grün unter uns ausbreitet und auf die Häuser, Kirchen, Kuppeln und Gärten des Stare Kiew, das den jenseitigen Berghang bedeckt. In diesem grünumrahmten Bilde sehen wir außer der katholischen Kirche im Vordergrunde die Andreaskirche, die Barbarakirche, die Sophienkirche und andere kleinere Gotteshäuser mit ihren zahllosen Gold- und Silberdomen, ihren einzelnen hoch über sie erhobenen Glockenthürmen, ihren Kapellen und Klostergebäuden. Weiter am Ende der Allee erblickt man plötzlich in der Tiefe das lächelnde Podol mit seinen hellgrünen Kuppeln, Dächern und Bäumen und weiterhin den Dniepr, der nach Osten zieht und die blauliche Steppenferne am jenseitigen Ufer, und wiederum von einer andern Seite des Berges sehen wir das Krestschatek unter uns liegen, sonnig elegant wie eine italienische Villenstadt. So gehen wir wie in einer Bildergalerie und haben auf jedem Schritt einen verschiedenen Eindruck, und wenn wir müde sind vom Schauen, steigen wir wieder in den Thalgrund, wo helle Obstbäume in frischem Wiesengrün stehen, wo die hohen Pappeln des „Poetengangs“ sich wölben und wo neben einem stillen Weiher ein altersgrauer Weidenbaum steht, den Katharina II., die Schöpferin dieses schönen Gartens, gepflanzt hat. Von jener Allee auf der Höhe des Berges haben wir manchen Sonnenuntergang gesehen so herrlich, wie man ihn nur vom Monte-Pincio angesichts der ewigen Roma erblicken kann. Denkt euch den purpurnen golddurchsprühten Himmelshintergrund und die Geisterstadt, die in ihm erscheint, die Thürme,
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203 Der Festungsgarten. Der Universitätsgarten.
Kuppeln und Häuser in duftig grauer Färbung, wie aus Nebelwolken gebaut; denkt euch das Rosenlicht in der Tiefe auf dem Podol und dem Strom, und die Abendglocken, die das Alles mit heiligen Tönen beleben, und denkt euch, wie man in solchen Momenten sich nicht mehr in der Fremde fühlt, sondern heimisch unter dem Himmel, der hier wie dort die Ehre Gottes erzählt!
Ein zweiter öffentlicher Garten ist der Festungsgarten, der sich unterhalb der Castelle auf dem Berghang über dem Dniepr ausbreitet. Es ist ein wildverwachsener einsamer Garten; blaue Glockenblumen stehen im hohen Gras, alte Nußbäume, Linden und Fliedersträucher breiten ihre Schatten darüber und schmale Pfade führen durch das Dickicht bis hinab zum Strom, dessen einsamen Lauf man von einem Pavillon auf der Höhe überblickt.
Sehr verschieden ist der Universitätsgarten, eine liebliche neue Schöpfung, welche die Stadt dem deutschen Rector der Universität dankt. Mit einer Fülle von Blumen, Sträuchern, großen Wiesenplätzen, jungen Baumanlagen, breitet er sich hinter dem röthlichen Universitätspalast über Hügel und Thäler aus, welche noch vor kurzem eine öde Wildnis waren. In einigen Jahrzehnden wird es ein herrlicher schattiger Aufenthalt sein; jetzt kann man nur am Abend zwischen diesen Blütenhainen wandeln, berauscht von den Düften und Farben der zahllosen Rosen, die hier schon erblüht sind, und entzückt von der weiten Aussicht, die sich allerwärts auf Berge, Wälder und einsame Dörfer eröffnet. Auch die sandige Fläche auf der Vorderseite der Universität soll in einen ähnlichen Garten verwandelt werden, dessen Bewässerung ebenso mühselig und kostbar sein wird wie die des Blumenparadieses, in dem wir wandeln.
Nicht hier nur, aller Orten sehen wir Anlagen und Bauten
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204 Die Ukraine. Kiew.
begonnen und können uns denken, wie großartig und prächtig Kiew in einigen Jahren sein wird. Zu diesen begonnenen Bauten gehören: ein Cadettenhaus, ein zweites Gymnasium, die Reitschule, Alles in Stare Kiew; jenseits im Petscherski die imposante Reihe der Festungsgebäude, die erst zum Theil vollendet sind und nach und nach die ganze Bergkette angesichts des Alten Kiew krönen sollen; ferner die Schiffswerfte und die großen Kais, die sich vom Podol längs des Dniepr bis unter die Festung ziehen, und endlich die große Dnieprbrücke, zu deren Bau eine Gesellschaft englischer Ingenieurs hergekommen ist, die jenseit des Stroms eine eigene kleine Colonie gegründet hat und deren Werk in einem Jahre vollendet und ein Wunder der Welt werden soll, durch gewaltige Verhältnisse und solide prächtige Construction. Schon stehen die Grundpfeiler im Bett des mächtigen Stroms, an dessen jenseitiges Ufer, wo die Straße nach Petersburg und Moskau geht, bisjetzt nur eine Fähre und ein Dampfschiff fährt und von dem man zur Zeit des Eisganges und der Ueberschwemmungen gänzlich abgeschnitten ist. *)
Auch von einem prächtigen kaiserlichen Palast, der im Krestschatek erbaut werden soll, wird gesprochen, und so seht ihr, das Leben, Regsamkeit und Fortschritt hier herrschen wie in jeder andern der großen europäischen Städte.
6.
Kiew, Ende Juni.
Das Pfingstfest hatte die Stadt mit den Bäumen und Blumen der Wälder geschmückt; nicht blos in den Kirchen, an allen Pforten der Häuser, auf allen Balkonen und Treppen
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*) Bei diesem Bau im Strom hat man tief unter der Erde große Krüge voll Silbermünzen mit türkischen und arabischen Inschriften gefunden, welche die Tataren wahrscheinlich einst hier vergraben hatten.
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205 Neubauten in Kiew. Dnieprbrücke. Das Pfingstfest.
dufteten junge Ahornbäume und lichtgrüne Birken, alle Fußböden waren mit Kalmus bestreut und noch mehr Blumen als sonst schimmerten in den Haarkronen der Landmädchen. An solchen sonnigen Festtagsmorgen ist es herrlich, auf der Plateforme der Andreaskirche zu stehen hoch über den läutenden Glocken und dem lieblichen Podol, zwischen dessen weißen grünumkränzten Häusern helle Pappeln in den blauen Himmel ragen, und hoch über dem Dniepr, auf dem die bunten Flaggen vieler Schiffe wehen und hundertweise Segel schimmern und dessen dunkelblaue Flut so schön von den lichtgrünen Ufern sich abzeichnet. Mit Freuden fühle ich, daß alle diese schönen hellen Bilder sich für ewig in die Erinnerung prägen; denn die Zeit der Trennung naht und bald werde ich nur mit dem Auge der Phantasie diese Gold- und Silberdome in der Nebelferne der Vergangenheit glänzen sehen.
Zum Schlusse erzähle ich euch von einigen Ausflügen in die Umgegend, zuerst von dem nach dem Park von Kingrust („Wirf den Schmerz weg“). Wir fahren durchs helle Podol, weiter an den waldigen Bergen hin bis zu Kyrillski, eine Anstalt für Geisteskranke, die frei und schön auf einem Berge liegt und eine weite Aussicht nach Kiew bietet. Helle Gebäude, eine schöne, von Bäumen umgebene Kirche, freundliche Gärten, in denen die Kranken in weißen blendend reinen Anzügen arbeiten und spazieren, Alles gibt dem Ort ein weniger trauriges Ansehen, als seine Bestimmung vermuthen ließ. Von hier fahren wir über eine Fläche, welche kürzlich ein Unwetter verwüstet hat, und sehen die Bauern traurig zwischen zerstörten Hütten, umgerissenen und entlaubten Bäumen und mit Steinen besäeten Feldern stehen. Mit diesem trüben Eindruck contrastirt das frische Waldgrün des Parkes von Kingrust, in dessen Schatten wir mit Entzücken treten und stundenlang wandern, vorüber an herrlichen Baumgruppen, an
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206 Die Ukraine. Kiew.
weiten Rasenplätzen mit glänzenden Blumen geschmückt, an stillen Bosquets und lieblichen Ruheplätzen. Dann steigen wir auf die Höhe, an die sich das freundliche Landhaus lehnt, und übersehen von oben den ganzen herrlichen Park, der wie ein frischer Blumenstrauß mitten in der Wildnis liegt und hinter dem die Berge mit dunkeln stillen, vom Abendroth durchglühten Tannenwäldern ruhen.
Unser zweiter Ausflug ging bis zu einem Thale jenseit der Festung, durch dessen kühle Buchenschatten wir einen der Berge am Dniepr emporstiegen. Auf der Höhe weideten Heerden; eine wahre Himmelsluft umwehte uns und auf der Seite, da wir hinabgehen, sehen wir unter uns das Kloster Wido-Bog liegen, das diesen Namen: Wido-Bog oder Bosche, „Komm heraus, Gott!“ bekommen hat, weil es, wie die Sage erzählt, an der Stelle gebaut wurde, wo die Missionare ein Götzenbild in den Fluß gestürzt hatten, welches die heidnischen Russen durch jene Anrufung wieder herauf beschwören wollten. Mit weißen Thürmen und hellgrünen Kuppeln, von alten Buchen und Linden umschattet, steht es auf einer Höhe über dem Strome, der bläulich hinter den Thürmen glänzt. Jenseits ist die duftige Steppe ausgebreitet und zu beiden Seiten erheben sich waldige Berge und umschließen vor unserm Auge das eigen-schöne Bild.
Wir steigen hinab in diesen stillen friedvollen Winkel der Erde. Mönche, die in den Mauernischen der altersgrauen Thorwölbung sitzen, erlauben uns, in ihren Garten zu treten, den sie mit noch stillern Bewohnern theilen, denn unter alten Bäumen und wilden Rosensträuchern ragen weiße Grabsteine und schwarze und goldene Kreuze empor; dem Thore gegenüber erhebt sich die Kirche, auf der andern Seite das Klostergebäude und auf der dritten umschließt ein waldiger Bergrücken diesen Raum, der uns mit allem Frieden einer heiligen
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207 Ausflüge in die Umgegend. Park von Kingrust.
Ruhestätte umgibt und Leben und Tod – Eines durch die Nähe des Andern verklärt.
Am Ende des Gartens geht ein hölzerner grünüberwölbter Balcon auf den Dniepr hinaus. Da saßen wir eine Weile, verloren in die friedvolle Schönheit vor uns. Grüne dichte Baumwipfel, die zu beiden Seiten neben dem Balkon hervorragen, scheinen den Strom zu umschließen, der wie ein stiller blauer See vor uns liegt. Das Abendroth färbt ihn und den Himmel und die Wälder jenseits mit rosigem Hauch und vor uns schwebt in der Mitte des Bildes blaßgolden der Vollmond; es war so still; kaum regten sich die Blätter – so einsam, nur ein Mönch in schwarzem Gewand, mit langem schwarzen Bart und edelm Antlitz trat zu uns und sprach vom Glücke, so fern der Welt allein für Gott zu leben. Ich dachte mir, welche einfach Stille, oder welch eine reiche erhabene Seele dazu gehöre, dieses Glück zu empfinden!
Wir gingen am Strome hin und horchten der Sprache der Wellen; heute schien ich sie zu verstehen; der Dniepr war mir kein Fremdling mehr; ich wußte nun mit wem ihn zu vergleichen. Nicht war er wie der Rhein, ein Jüngling, der voll Lebensmuth, Begeisterung, Liebe, kühn in die Welt hineinbraust; nicht war er wie die Donau, ein greiser Herrscher, der mit ernster Pracht und feierlicher Majestät die Reiche, die ihm gehören, durchzieht; er schien mir einem frommen Eremiten zu gleichen, der schweigend und gedankenvoll zu seinem Grabe durch des Lebens Einöde wallt. In jeder Welle hörte ich ein leises Wort über die Vergänglichkeit der Welt, über die Nichtigkeit des Irdischen, über Tod und Ewigkeit. Das Schilfrohr am Ufer flüsterte, Windesseufzer zogen klagend darüber hin; Glockentöne klangen ernst vom Kloster her; ein Kahn glitt leise über die Flut, als führe er Geister ans Land; dort erhoben sich die kahlen Berge, hier breitete sich die öde Steppe
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208 Die Ukraine. Kiew.
aus, Alles vereinte sich harmonisch zu dem einen tiefernsten Eindruck; freundlich lächelnd allein schwebte der Mond am Himmel und leuchtete in der Flut wie eine himmlische Hoffnung in trauriger Menschenseele!
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Nach einigen Wochen lag das schöne Kiew mit seinen Gold- und Silberkuppeln und das ganze grüne Rußland mit seinen dunkeln Wäldern und blauen Seen weit hinter mir; aber gern blickte ich zurück und wiederholte in dankbarer Seele jene Worte des Dichters, die mir als Segenswunsch beim Abschied von der Heimat zugerufen wurden:
Gottes ist der Orient,
Gottes ist der Occident,
Nord' und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände!
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Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
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209 Literarische Anzeigen,
Morgenland und Abendland. Bilder von der Donau, Türkei, Griechenland, Aegypten, Palästina, Syrien, dem Mittelmeer, Spanien, Portugal und Südfrankreich. Vom Verfasser der Cartons. Zweite Auflage. 2 Bände. Gr. 8. Preis 4 Fl. 3 Kr. oder 2 Thlr. 7½ Ngr.
Inhalt des ersten Bandes: Türkei, Griechenland, Aegypten.
1. Reiselust. 2. Die Donaureise. 3. Konstantinopel. 4. Der junge Sultan. 5. Die Derwische. 6. Türkische Badescene. 7. Die Reform. 8. Die Casernen. 9. Miscellen über die Türkenarmee. 10. Der Seraskier. 11. Europäische Kleidung im Orient. 12. Die Dardanellen und Troja. 13. Smyrna. 14. Chios 5. Quarantäne des Piräus. 16. Athen. 17. Der König und sein Haus. 18. Das Reisen in Griechenland. 19. Das Land der Böotier. 20. Bivouac zu Delphi. 21. Korinth. 22. Argolis. 23. Sparta: 24. Messene und Phigalia. 25. Olympia. 26. Patras. 27. Die Griechen. 28. Griechische Zustände. 29. Die Phäakeninsel. 30. Alexandrien. 31. Mehemed Ali. 32. Aegyptische Besteuerung und Justiz. 33. Einrichtung zur Nilreise. 34. Die Nilbarke. 35. Reise nach Cairo. 36. Die Kalifenstadt. 37. Ibrahim Pascha 38. Ägyptische Lehranstalten. 39. Die Pyramiden. 40. Nilfahrt nach Theben. 41. Theben. 42. Hermonthis und Ombos, 43. Philä und die Katarakten. 44. Das Beduinenlager. 45. Die Felsengräber. 46. Rückreise auf dem Nil. 47. Tentyra. 48. Das Sklavenschiff. 49. Der Pascha und die Alterthümer. 50. Die schöne Safie. 51. Ritt durch die Wüste.
Inhalt des zweiten Bandes: Palästina, Syrien, Spanien, Portugal, Südfrankreich.
1. Jerusalem. 2. Bethlehem. 3. Das Todte Meer. 4. Palästina. 5, Nazareth., 6. Gang über den Jordan. 7. Damaskus. 8. Christenmord in Damaskus. 9. Der Antilibanon. 10. Balbek. 11. Der große Libanon. 12. Beyrut. 13. Cypern und Rhodus: 14. Das gestrandete Schiff. 15. Die Dampfschiffe im Mittelmeer. 16. Malta. 17. Die französische Berberei und die Spitze von Europa. 18. Malaga. 19. Die andalusische Landkutsche. 20. Granada. 21. Die Alhambra. 22. Reise nach Aranjuez 23. Aranjuez. 24. Madrid. 25. Das Stiergefecht. 26. Der Fronleichnamstag in Madrid. 27. El Escorial. 28. Drei Tage unter Räubern. 29. Das Land der Mauren. 30. Sevilla. 31. Die Cigarren-Fabrik. 32. Cadix. 33. Lissabon. 34. Cintra. 35. Der Phénicien. 36. Die Provence. 37. Die Rhone. stuttgart und Tübingen. J. G. Cotta'scher Verlag.
Stuttgart und Tübingen.
J. G. Cotta'scher Verlag.
Förster, Südrußland.
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Brockhaus Reise-Atlas.
Entworfen und gezeichnet von Henry Lange. Hiervon sind erschienen:
Eisenbahn von Leipzig nach Dresden.
Plan von Leipzig (mit 10 Abbildungen).
Plan von Dresden (mit 10 Abbildungen).
Die Sächsische Schweiz (mit 9Abbildungen).
Eisenbahn von Leipzig nach Hof (mit 2 Abbildungen).
Eisenbahn von Hof nach Nürnberg (mit 6 Abbildungen).
Preis eines jeden Blatts 5 Sgr.
Weitere Karten und Städtepläne werden in rascher Folge erscheinen.
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Brockhaus' Reise–Bibliothek für Eisenbahnen und Dampfschiffe
Preis des Bändchens 10 Silbergroschen.
Verzeichnis von Schriftstellern, welche Beiträge für die Reise-Bibliothek geliefert oder zugesagt haben:
Karl Andree. |
Friedrich Körner. |
Karl Gustav v. Berneck. |
F. Gustav Kühne. |
Adolf Bock. |
Max Kurnik. |
Friedrich Bodenstedt. |
Franz Löher. |
Aurelio Buddeus. |
Hermann Marggraff. |
Bernhard Cotta. |
Hermann Masius. |
Marie Förster. |
Emil Müller. |
Friedrich Gerstäcker. |
Otto Müller. |
H. Girard. |
Wolfgang Müller von Königswinter. |
Rudolf Gottschall. |
|
W. Häring (Wilibald Alexis). |
Heinrich Pröhle. |
Ferdinand Hochstetter. |
Josef Rank. |
Nikolaus Hocker. |
Adolf Schmidl. |
J. E. Horn. |
Levin Schücking. |
Siegfried Kapper. |
Ludwig Steub. |
Alexander Kaufmann. |
Ernst Willkomm. |
Heinrich Koenig. |
Karl Winter. |
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Von der Reise-Bibliothek sind bereits folgende Bändchen erschienen:
Poetisches Reise-Album. Herausgegeben von Josef Rank.
Eine Eisenbahnfahrt durch Westfalen. Von Levin Schücking.
Wien in alter und neuer Zeit. Von F. Gustav Kühne.
Harzbilder. Sitten und Gebräuche aus dem Harze. Von Heinrich Pröhle.
Von Berlin nach Hamburg. Nebst Schildereien aus Lübeck und Hamburg. Von Ernst Willkomm.
Die Schlachten bei Leipzig. Kriegsgemälde von Karl Gustav von Berneck. Mit zwei Plänen.
Brüssel nach seiner Vergangenheit und Gegenwart. Von J. E. Horn.
Das Moselthal von Nancy bis Koblenz. Landschaft, Geschichte, Sage. Von Nikolaus Hocker.
Die Thüringische Eisenbahn. Von Adolf Bock.
Von Frankfurt a. M. nach Basel. Eisenbahnfahrt und Wanderungen im süddeutschen Rheinland. Von Aurelio Buddeus.
Briefe aus Südrußland während eines Aufenthalts in Podolien, Volhynien und der Ukraine. Von Marie Förster.
Reise-Pitaval. Auserlesene Criminalgeschichten, erzählt von Wilibald Alexis.
Münchener Skizzenbuch. Von Wolfgang Müller von Königswinter.
Schillerhäuser. Von Josef Rank.
Auf den schlesischen Eisenbahnen. Eine Fahrt von Breslau nach Ober-, Mittel- und Niederschlesien. Von Max Kurnik.
Prag. Von F. Gustav Kühne.
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Von der Reise-Bibliothek werden zunächst folgende Bändchen erscheinen:
Reisebuch von Köln bis Minden. Von Levin Schücking.
Reisebuch von Dresden bis Prag. Von Karl Winter.
Reisebuch von Eisenach nach Frankfurt a. M. Von Emil Müller.
Donaubuch von Regensburg bis Galacz. Von Adolf Schmidl.
Der Rhein von Mainz bis Köln. Von Nikolaus Hocker.
Der Niederrhein. Von Wolfgang Müller von Königswinter.
Der Main. Von Alexander Kaufmann.
Das schlesische Gebirge und die schlesischen Bäder. Von Rudolf Gottschall.
Die böhmischen Bäder. Von Siegfried Kapper.
Thüringen. Von Bernhard Cotta.
Rügen. Von Hermann Masius.
Quelle:
Münchener Digitalisierungszentrum. Digitale Bibliothek. https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10135700_00005.html
Seite 1-208, 211-214
Briefe aus Südrußland während eines Aufenthalts in Podolien, Volhynien und der Ukraine
Autor / Hrsg.: Förster, Marie ; Förster, Marie
Verlagsort: Leipzig | Erscheinungsjahr: 1856 | Verlag: Brockhaus
Signatur: Var. 363 p-14
Reihe: Briefe aus Südrußland während eines Aufenthalts in Podolien, Volhynien und der Ukraine
Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10135700-0
Die Autorin, Marie Laura Förster lebte von 1817 bis 1856. Sie wurde als Tochter des Schriftstellers Karl August Förster in Dresden geboren. Sie verarbeitete ihre Reiseeindrücke aus Sachsen, Süddeutschland, Italien und Südrußland in der vorliegenden bewundernswerten Reisebeschreibung aus dem Europa des 19. Jahrhunderts.
Skizzen aus Odessa 1854
Skizzen aus Odessa.
Nach dem Russischen des Herrn Tereschtschenko.
Die Physiognomie Odessa’s und seiner Bewohner bietet eine außerordentliche Mannigfaltigkeit dar. Die Bauart ist ein Gemisch von asiatischem, gothischem und altdeutschem Styl, in welchem mittelalterliche Thürme mit italiänischen Palazzo’s abwechseln und elegante Gebäude sich an bescheidene Wohnungen mit Ziegeldächern schließen. Ueberall hört man ausländische Töne, und wenn nicht die Stiere der Tschumaken, die ihre schwere Lasten über das treffliche Pflaster der breiten Straßen schleppen, und die Tschumaken selbst mit ihren gebräunten Gesichtern und dem langen, hängenden Schnurrbart uns darin erinnerten, daß wir uns noch in Russland befinden, so würden wir uns nach der Fremde versetzt glauben.
Wie die Archäologen behaupten, liegt Odessa an derselben Stelle, die im Alterthum unter dem Namen des Hafens Istria bekannt war, und wo man Grabmäler gefunden hat, die von den griechischen Colonisten herrühren sollen. Als die Verbindungen Griechenlands mit den Nordküsten des Schwarzen Meeres aufhörten, wechselte diese Gegend im Laufe der Jahrhunderte sehr oft ihre Beherrscher, bis sie gegen Ende des funfzehnten Jahrhunderts in die Hände der Osmanen kam,
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575 Skizzen aus Odessa.
die hier die Festung Hadjibei erbauten. — Diese wurde im Jahr 1789 von den Russen erobert und in Odessa umgetauft, zu Ehren der alten Stadt Odyssos, die etwa 650 Jahre vor Christi Geburt von den Miletern gegründet wurde und an der Mündung des Liman von Tiligul, 43 Werst von dem heutigen Odessa, lag. Die Umgebungen des Tiligul geben ein schlagendes Bild der von der Zeit hervorgebrachten Umwälzungen; der schöne Hafen ist verschwunden und hat einem Moraste Platz gemacht, und statt der von unternehmenden Hellenen bevölkerten Handelsstadt sieht man hier nur noch das elende Dorf Troizkaja, dessen Todtenstille selten von dem Postglöckchen eines Reisenden unterbrochen wird.
Der Gründer des heutigen Odessa war der Vice-Admiral Joseph de Ribas, ein geborener Spanier, der unter Potemkin und Suworow gedient und nach der Einnahme von Hadjibei die Localilät als passend für die Anlegung einer Handelsstadt erkannt hatte.
Einfügung:
Sein Andenken ist durch die Benennung einer der schönsten Straßen Odessa’s verewigt worden. Seine Nachfolger waren: General Berdäjew, der Herzog von Richelieu, Graf Langeron und endlich Graf M. S. Woronzow, jetziger Statthalter im Kaukasus. Durch ihre unermüdliche Sorgfalt erhob sich Odessa bald zu hohem Flor, und ehe noch ein halbes Jahrhundert seit seiner Gründung verflossen, zählte es bereits zu den ersten Handelsstädten Europa’s. Zu diesem raschen Aufblühen trugen die ihm verliehenen Rechte eines Freihafens nicht wenig bei. Hier concentrirte sich der Handel des Schwarzen, Asowschen und Mittelländischen Meeres, und von hieraus wurden die enormen Massen Getreide verschifft, die in Neurussland, Kleinrussland, Podolien und Bessarabien producirt wurden.
Der Herzog von Richelieu hat in Odessa so zahlreiche Denkmäler seiner Wirksamkeit hinterlassen, daß es unmöglich ist, sie alle in der Kürze aufzuzählen. Ihm verdankt man die Anlegung von Gärten, die Errichtung eines Handelsgymnasiums, der Quarantaine, des Theaters, mehrerer Kirchen und vieler schönen Landsitze (datschi) und Häuser. Als er im Jahr 1815
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576 Historisch-linguistische Wissenschaften.
nach der Restauration der Bourbons nach Frankreich zurückkehrte, nannten die dankbaren Bewohner von Odessa eine ihrer Hauptstraßen nach ihm, gaben dem 1804 von ihm errichteten adeligen Institut den Namen Lyceum Richelieu und stellten ihm auf dem Boulevard, am Ufer des Schwarzen Meeres, ein Denkmal von Bronze, das zu den Zierden der Stadt gehört. Es besteht aus einer Statue des Herzogs, mit einer römischen Toga bekleidet und mit der rechten Hand auf das Meer zeigend; die linke hält eine Rolle, um das Haupt windet sich ein Eichenkranz, das Gesicht ist sanft und nachdenkend.
Durch Vermittlung seines Nachfolgers, des Grafen Langeron, wurden die der Stadt anfangs nur auf 25 Jahr gewährten Handelsprivilegien verlängert, ein botanischer Garten angelegt, die Spuski (Abhänge) von Cherson und der Quarantaine mit Granit gepflastert etc. Mit dem Amtsantritt des Grafen Woronzow begann eine glänzende Epoche für Odessa und ganz Neurussland *).
Odessa liegt auf einem Berg-Abhang (kosogor) aus Kalk **), jenseits dessen sich eine von Schluchten (balki) durchschnittene Ebene erstreckt. Die Straßen sind alle reinich und geräumig, aber etwas krumm und nicht ganz eben, indem sie zuweilen bergauf, zuweilen bergab gehen. In der Nähe des Meeres werden sie abschüssig und bilden dann schöne, mit Akazien besetzte Alleen. Die Lieblings-Promenade der Odessaer ist der Boulevard am Meeresufer, zu welchem eine kolossale, aus weißem Marmor gebaute Treppe führt.
Einfügung:
Er ist mit prächtigen Akazien bepflanzt, unter deren Schatten man des Abends lustwandelt und sich an dem Anblicke des zu seinen Füßen wogenden Meeres ergötzt. Im Hafen sind die Kauffahrer in langen Reihen aufgestellt; am Landungsplatze arbeiten die Hunderte von Leuten, mit dem Ein- und
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*) Statt der hier folgenden statistischen Notizen verweisen wir auf den Artikel „Odessa im Jahr 1846“ in diesem Archiv Bd. VI. S.595 ff. Nach dem Noworossijskji Kalendar für das Jahr 1853 zählte man in Odessa 90000 Einwohner, wozu noch eine „floating population” von etwa 34000 Seelen kam. **) Tertiärem. Vergl. in d. Arch. Bd. I. S.286 u. die zugehörige Karte.
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577 Skizzen aus Odessa.
Ausladen der Waaren beschäftigt. Unweit davon befinden sich auch die Seebäder. Die ganze Hafengegend bietet ein Bild des fröhlichen Getümmels dar, aus welchem die Töne der verschiedenartigsten Dialecte hervorschallen.
Den Akazien des Boulevard gegenüber zieht sich eine Reihe von schönen Häusern entlang; am entferntesten Ende steht die Börse, neben ihr das Gebäude des Odessaer Vereins für Geschichte und Alterthümer (Odesskoje Obschtschestwo Istorii i Drewnostei). Die Katherinen-Straße hinaufgehend, gelangt man zuerst zum Palais royal mit seinem Garten, dann zum Thealer, etwas weiter, an der Ecke der Katherinen- und de Ribas-Straße, zum Lyceum Richelieu. Von hieraus erstrecken sich nach allen Richtungen Gebäude von mannigfachster Form, unter welchen die Börse durch ihren eigenthümlichen Charakter auffällt; sie ist mit Säulen umgeben die zum Theil einen Portikus bilden. Das dem erwähnten Verein für Geschichle und Alterthümer gehörige Haus hat die Gestalt eines Halbkreises und ist zwar einfach, aber mit Geschmack gebaut. Der Verein wurde am 25. März 1839 gegründet; sein Zweck ist die Erforschung und Beschreibung Neurusslands und Bessarabiens in historischer und archäologischer Beziehung. In seinem Museum werden, außer schriftlichen Documenten, die Alterthümer aufbewahrt, die man in diesen Provinzen entdeckt hat, zu welchen noch Merkwürdigkeiten anderer Länder, als ägyptische, byzantinische, türkisch-tatarische, moldauische, litthauische, kleinrussische und saporogische, kommen. Man findet hier Denkmäler von den Inseln Leuke (Phidonisi, an der Mündung der Donau), und Borysthenes (Beresan), von Istria (dem heutigen Odessa), Tiras (Akkerman), Odyssos, Olbia, Chersones (2 Werst von Sewastopol), Epolium (in der jetzigen Provinz Bessarabien, Kreis Kagul), Cherson, Bobrinez (Gouvernement Cherson), Kaffa, Pantikapäum (Kertsch), dem Bezirke Lampas (Kutschuk - Lambat, am südlichen Ufer der Krym), dem Flecken Nikopolis (Gouvern. Jekaterinoslaw), dem Dorfe Malaja-Snamenka (Kreis Melitopol, Gouvernement Taurien), Neapolis (einer skythischen Festung,
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578 Historisch-linguistische Wissenschaften.
drei Werst von Simpheropol) und der Festung Alektor (Olschakow). — Beachtung verdient ferner die Sammlung von Münzen der griechischen Städte im südlichen Russland, von krymischen, byzantinischen, orientalischen, einigen alten russischen, nebst einer vollständigen Reihefolge der seit Erwerbung der Südprovinzen durch Russland geschlagnen, auf dieselben bezüglichen Medaillen. Die Zahl der Münzen und Medaillen beläuft sich im Ganzen auf 8000. Unter den Handschriften befinden sich namentlich viele alte hebräische *), dann griechische und bulgarische Manuscripte aus dem zehnten Jahrhundert und serbische und moldauische Documente, deren ältestes aus dem Jahr 1254 stammt. Die gegenwärlige vortreffliche Einrichtung des Museums verdankt man dem Secretair des Vereins und Director des Richelieu-Lyceums, Herrn Mursakewitsch.
Unter den gemeinnützigen Anstalten Odessa’s nimmt die im Jahr 1829 errichtete städtische Bibliothek einen ehrenvollen Platz ein. — Sie steht gleichfalls unter der Leitung des Herrn Mursakewitsch und kann von Jedermann, ohne Unterschied des Standes, benutzt werden. Im Jahr 1851 fanden sich 3159 Leser ein, ohne die Personen, die zum Nachschlagen oder Excerpiren kamen — eine im Verhältnils zur Bevölkerung bedeutende Anzahl. Ich bemerkte in den Sälen auch Matrosen und Tagelöhner, die sich gleich den Anderen mit der Lectüre beschäftigten, und Alle wurden von den Bibliothekaren mit gleicher Zuvorkommenheit behandelt. Die Büchersammlung besteht aus 12022 Bänden, und im Journalzimmer sind 22 Zeitschriften ausgelegt. In Odessa selbst erscheinen vier Journale: die Memoiren der südrussischen landwirthschaftlichen Gesellschaft (Sapiski Obschtschestwa Selskago Chosjaistwa Jujnoi Rossii), der Odesskji Wjestnik (französisch unter dem Titel Journal d’Odessa), das Porto-franco di Odessa (italiänisch) und das Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler
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*) Vergl. Michnéwitsch „Ueber die hebräischen Manuscripte d. Odessaer Ver. f. Geschichte u. Alterth.“ in d. Mem. (Sapiski) d. Ver. Bd. II, S. 76.
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579 Skizzen aus Odessa.
im südlichen Russland. Aus den Buchdruckereien Odessa’s geht alljährlich eine nicht unbedeutende Anzahl von Werken hervor, die sich im Allgemeinen durch Sauberkeit und Correctheit des Drucks auszeichnen.
Die Bildung ist hier mehr oder weniger unter allen Ständen verbreitet. Unter der nichtrussischen Bevölkerung machen sich besonders die Hebräer durch ihre Zahl und Geschäftigkeit bemerkbar. Die Kleidung ist die im übrigen Europa gebräuchliche; in einer Stadt, deren Bewohner aus so verschiedenen Theilen der Welt zusammengeströmt sind, kann von einer Nationaltracht nicht die Rede sein. Viele von den Bürgern bringen den Sommer in ihren Landhäusern (chutorà) zu, die meist in der Nähe des Meeresufers angelegt sind, deren Baumpflanzungen und Blumengärten jedoch ein ärmliches Ansehen haben, indem der muschelsandige, mit Thon vermischte Boden der Vegetation so ungünstig ist, daß selbst die petersburger Gärten im Vergleich mit den hiesigen sich einer üppigen Blüthe rühmen können. Auch der botanische Garten macht, trotz aller darauf verwandten Sorgfalt, keine Ausnahme. Die Bäume wachsen nur zehn bis funfzehn Jahr, verdorren dann und werden durch neue ersetzt. Der Boulevard allein prangt in üppigem Grün, wird aber auch in jeder Weise gehätschelt und gepflegt, da er den einzigen Sammelplatz der schönen Welt bildet.
Die Lebensweise ist hier ziemlich einförmig; wie es gestern war, ist es auch heute und wird es auch morgen sein. Man giebt weder Soiréen, noch Bälle; Jedermann befleißigt sich der Sparsamkeit und vermeidet alle überflüssige Ausgaben. Dieses ist um so nothwendiger, da hier die größte Theuerung herrscht, und das Leben noch kostspieliger ist, als selbst in Petersburg *).
(J. M. N. P.)
*) Die Beschreibung der Quarantaine, womit Hr. Tereschtschenko seine Reiseskizzen aus Odessa schließt, glauben wir übergehen zu können, da ihre Einrichtung zwar als vortrefflich geschildert wird, aber im Wesentlichen mit andern, bekannten Anstalten dieser Art übereinstimmt.
Quelle:
Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland. Hrsg. A. Erdmann. 13. Bd. Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1854. S. 574-579.
Die Quelle wurde vom Göttinger Digitalisierungszentrum der SUB Göttigen eingescannt und ist über folgenden Link verfügbar:
https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN332924793_0013
In die Quelle wurden Fotos von 2011 eingefügt.
Daniel Schlatter 1830 über die Nogayen-Tataren am Asowschen Meere
Zeichnung 1
Tatarischer Edelmann.
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Bruchstücke aus einigen Reisen nach dem südlichen Rußland, in den Jahren 1822 bis 1828,
Mit besonderer Rücksicht auf die Nogayen-Tataren am Asowschen Meere.
Mit 15 lithographirten Abbildungen und einer Charte,
St. Gallen, 1830.
In Kommission bei Huber und Comp.
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Dem Tataren Ali-Ametow und dessen Sohn Abdullah zu dankbarem Andenken gewidmet
von dem Verfasser.
Vorwort eines Freundes, der das Buch durchgesehen hat.
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Ungern entschloß Freund Schlatter sich zur Bearbeitung vorliegender Schrift. Denen, die ihn dazu beredeten, namentlich auch dem Unterzeichneten, liegt also die Rechtfertigung des Werkes ob, wenn dieses einer solchen bedürftig sein sollte. Auf die Erfahrung gestützt, daß der Geschmack an Länder- und Völkerbeschreibungen sich von den Zeiten der Erfindung der Buchdruckerkunst her bis heute lebendig erhielt, ja in unsern Tagen noch immer zu wachsen scheint, glaubten jene Freunde, ein ausführlicheres Wort über eine meist noch wenig bekannte europäische Völkerschaft könnte immerhin eine gute Statt finden — und es möchte dasselbe den Laien im Gebiete der Geographie aus dem Munde eines Laien vielleicht eben so erwünscht sein, als wenn es der gelehrtesten Feder entflossen wäre. Bei aller Achtung vor den Erzeugnissen wahrer Wissenschaftlichkeit darf man doch zugestehen, daß die Dornen gelehrter Streitfragen für die Großzahl der Leser zu abschreckend sind und die Steppen langer und breiter
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VI
Erörterungen die Ausdauer einer bloß gewöhnlichen Wißbegierde oft auf allzuharte Probe setzen. Mag der ungelehrte Beobachter allerdings an Vielseitigkeit der Wahrnehmung, Gründlichkeit der Untersuchung und Leichtigkeit der Combination dem gelehrten nachstehen, so dürfte doch der Erstere unter besonders begünstigenden Umständen, wie z. B. im vorliegenden Falle bei einem längern Aufenthalt in den zu beschreibenden Gegenden, sich ohne Anmaßung auch zu der Zahl derjenigen rechnen, die den Tempelbau der Wissenschaft gefördert haben.
Unsere geographischen Bibliotheken thürmen sich zusehends. Jedoch sind viele Schilderungen immer wieder den gleichen Gegenständen entnommen und viele Bücher fast bIoß mit todten Ortsnamen, wie mit Meeressand, angefüllt. Von manchen Dingen in der großen Völkerkette sind hingegen kaum erst die Umrisse gezeichnet: So im Osten und Südosten unsers Erdtheils.
Wer Längstbekanntes wieder beschreiben will, dessen Wort bedarf wenigstens einer neuen Farbe; aber wie leicht geht bei künstlichem Farbenspiel die Erzählung in Dichtung über! Bei dem Stoffe, der gegenwärtigem Buche zum Grunde liegt, war ersteres unnöthig, letzteres also nicht zu befürchten. Ich denke, das Buch trägt das Siegel der ungeschminktesten Wahrheit auf jedem Blatte.
Diesen Stempel durch einen Umguß des Ganzen zu verwischen, wollte ich nicht Gefahr laufen, wie sehr auch der Verfasser eine völlige Umarbeitung wünschte. Sein einfaches Wort kann einfachen Lesern nicht mißfallen,
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VII
und für verwöhnte Gaumen ist ja andernorts Rath. Ueberhaupt konnte ich mich mit dem Gedanken nie vertraut machen, Freund Schlatter bei Leibesleben so metamorphosirt zu sehen oder gar selbst ihn umzugestalten. Von einem Buche dieser Art verlange ich ganz besonders, daß es mich durch sich den Verfasser kennen lehre. „Rede, daß ich dich sehe!“ sage ich zu letzterm.
Die Revision des Unterzeichneten ist also von dem unbedeutendsten Belange. Am wenigsten dürfte er wohl in den hie und da eingestreuten Reflexionen zu erkennen sein, da diese fast ganz des Verfassers Eigenthum sind. „Jedem das Seine!“ ist ein Grundsatz, dessen volle Geltung gerade auch für den vorliegenden Fall jeder zugestehen muß, dem die menschliche Persönlichkeit wichtig und ehrwürdig ist. Dieses sei namentlich für die zahlreichen Freunde des Verfassers bemerkt, bei denen ich mich für allfälliges Befremden über die eine und andere Stelle sichern möchte.
Damit wäre nun, wie ich glaube, alles gesagt, was mir hier zu sagen obliegen konnte. Möge das Werklein manche Unterhaltung und auch mehrseitigen Nutzen gewähren!
J. J. Bernet,
V. D. M.
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Vorrede des Verfassers.
Von mehrern Seiten aufgefordert, Einiges über das noch wenig bekannte und beschriebene Volk der Nogayen-Tataren am Asowschen Meere und über meinen Aufenthalt unter demselben durch den Druck bekannt zu machen, wage ich es in gegenwärtiger Schrift, jedoch nicht ohne Schüchternheit und mit der Bitte, weder eine vollständige Beschreibung dieses Volkes noch ein zusammenhängendes Ganzes von meinem Leben unter demselben zu erwarten. Nie hatte ich bisher daran gedacht, etwas darüber öffentlich werden zu lassen und mich also darauf nicht vorbereitet. Leider mußte ich auch Papiere mit Notizen in Rußland zurücklassen. Es sind also nur Bruchstücke, die vielleicht Wenigen genügen; doch hoffe ich, daß kein Leser das Buch ganz unbefriedigt und ohne Nutzen Iesen werde.
Viel Interessantes mußte mir freilich in meinen Verhältnissen unter den Nogayen-Tataren entgehen, das ich kennen zu lernen keine Gelegenheit hatte; Vieles ist nur sehr kurz berührt, um nicht zu weitläufig zu werden; Anderes, z. B. aus dem häuslichen Leben, mag Vielen hingegen zu umständlich scheinen. Ein mehrjähriger Aufenthalt, während welchem ich integrirender
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IX
Theil einer nogayisch-muselmannschen Familie war, gab mir Anlaß, sie in diesen Verhältnissen besonders kennen zu lernen. Ich glaubte auch Einiges über die teutschen Kolonien im südlichen Rußland, besonders über jene an der Molotschna im Gouvernement Taurien, bemerken zu müssen, und einige, wenn auch noch so flüchtige Umrisse von meinen auf verschiedenen Wegen vollführten Reisen aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere und der Halbinsel Krimm, so wie auch zurück nach dem Vaterlande, der Vollständigkeit des Ganzen schuldig zu sein. Den Mangel nöthiger Kenntnisse und wissenschaftlicher Ausbildung fühlend, glaubte ich in einer eigentlichen Reisebeschreibung kein Interesse erwecken oder etwas Neues geben zu können und zugleich wollte ich der Beschreibung des Nogayenvolkes den Raum nicht verkümmern.
Unrichtige Angaben oder Bemerkungen, welche sich ohne Willen des Verfassers vorfinden möchten, beliebe man ihm zu verzeihen, da er sich bei Abfassung dieser Schrift nur sehr weniger fremder Hülfsmittel bediente.
Sodann sind, ungeachtet möglichster Bemühung, die, nicht am Druckorte verfertigten, Abbildungen nicht durchweg nach Wunsch ausgefallen, dagegen aber die Bogenzahl ein wenig über das in der Subscriptionsanzeige Versprochene gestiegen.
Denen, die etwa fragen möchten, was denn eigentlich den Verfasser zu dem Entschluß geführt habe, unter einem noch wenig kultivirten Volke zu leben, glaube ich folgende Erklärung schuldig zu sein. Meine Absieht war, einem frühe gewurzelten und lange genährten
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X
Trieb zu Reisen und zu Abentheuern ein Genüge zu thun und zugleich auch auf den sittlich-religiösen und ökonomischen Zustand eines solchen Volkes oder auch nur einer Familie oder eines einzelnen Individuums desselben einigen Einfluß zu gewinnen.
Wer strebt nicht nach Genuß und wie verschieden ist nicht dies Streben? Was allein wahre, dauernde Freude, Genuß und Glückseligkeit gewähren könne, was das eine Nothwendige‚ das höchste Gut sei, wußte ich — Gott und meiner guten Mutter sei es gedankt! — schon sehr frühe; aber es schien mir damals noch zu hoch, zu weit und entfernt. Was mein, Auge sah, mein Ohr hörte, die Welt um mich her, hatte ja der Reize genug und bot mir einen Genuß dar, der, wie mir schien, mit weniger Mühe zu erreichen war.
Was nun alles dazu beigetragen, daß ein unwiderstehlicher Trieb zum Wenigergewöhnlichen in mir geweckt wurde, kann ich nicht bestimmen. So viel glaube ich zu wissen, daß die in meiner Kindheit angehörten Reisebeschreibungen viel dazu beitrugen. Reisen hielt ich für den höchsten Genuß, der mir auch reizender und leichter erfüllbar als himmlische Pilgerschaft schien. Aber nicht nur Reisen wollte ich; Abentheuer gefielen mir, ungewöhnliche Ereignisse! und was ist das anders als die Eitelkeit der menschlichen Natur, der das Gewöhnliche nicht genügt? was anders, als das Böse, welches den göttlichen Funken, dem zur Nahrung und Entflammung die ganze Welt mit ihren Genüssen nicht genügen kann, der nach dem Höchsten und Ewigen emporstrebt, zu ersticken bemüht ist?!
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XI
Die Stube ward mir zu alltäglich. Flugs wurde hinterm Ofen mit Brettern und Schemeln eine Hütte erbaut — welch ein Genuß, mich einen Robinson denkend! — so bald verschwunden, doch ein Vorgeschmack von künftigem Genusse, den ich mir träumte. Der Trieb hatte nun einmal tiefe Wurzel gefaßt; eine gute äussere Lage konnte mich nicht dagegen bestimmen, da ich ja nicht das Bequeme und Leichte, sondern das Auffallende und Besondere suchte.
Aeussere Umstände hinderten mich, gewiß zu meinem Besten, noch viele Fahre an der Erfüllung meiner Wünsche. Indessen suchte ich mich durch Abhärtung meines Körpers, die ich für wichtig und nöthig hielt, vorzubereiten.
Meine christliche Erziehung, das viele Gute, das ich hörte, Leiden, die ich um mich her sah, hatten mir unterdeß Religion zum Bedürfnisse gemacht. Von einem Lavater, Jung, Sailer, Grellet *) gesegnet, ermahnt und belehrt, mit den besten Mitteln zur Erbauung und Belebung des Geistes versehen, ward mein Herz oft gerührt und nach dem Höchsten hingezogen. Eine Menge religiöser Schriften wurden gelesen und — am Reisen einstweilen gehindert — fand meine Eigenliebe und der Hang zum Ungewöhnlichen neue Nahrung. Was konnte anders als der Wunsch, kein gewöhnlicher Christ zu sein, in mir aufsteigen? Selbstverläugnung — die sich selbst sucht und gefällt — ward
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*) Ein gemüthvoller Quacker aus Neu-York, der für christliche Zwecke Europa durchreiste.
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XII
mit Macht getrieben und nach jeder besondern Erscheinung im politisch-religiösen Gebiete gegriffen. Aber ich las doch nicht vergeblich das Wort Gottes und andere gute Schriften und der Umgang mit Menschen, die redlicher und treuer waren in Anwendung des erkannten Guten, war nicht ohne Einfluß auf mich. Fest war ich überzeugt, da im Irdischen, Vergänglichen bleibende Freude und wahrer Genuß nicht zu finden sei. Bloße Reiseabentheuer konnten mir nicht mehr das Wünschenswertheste sein; ich wollte auch Gutes thun, auch andern Menschen nützen, und hatte den Trost, zu wissen, daß man dies in jeder Lage und jedem Verhältnisse thun könne. Nicht, daß mir nun meine äussern guten Verhältnisse völlig genügten und die Reiselust ganz geschwunden wäre — die Neigung zum Besondern hatte nun bloß mehr den Vorwand des Nützlichen. Das, was man auch wohl prosaisches Leben nennt, genügte mir nicht; erst später erkannte ich, daß man sich so auf einen gefährlichen Standpunkt stellt. Man glaubt dabei mehr Genuß zu haben, läuft aber Gefahr, entweder den sittlichen Charakter zu verlieren oder allzufromm, scheinheilig zu werden.
Als Knecht unter einem uncivilisirten Volke mein Brod mir zur verdienen, war etwas, das, keiner besondern Aufmerksamkeit werth, dennoch bei einigen Menschen Aufsehen erregen konnte. Meine Absieht ward nur zu gut erreicht und wie ich sie vielleicht auf keinem andern Wege, bei geringem Maaße natürlicher Vortheile und Ausbildung hätte erreichen können. Von Manchen ward es als großes Liebesopfer angesehen,
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XIII
als etwas, wozu ein nicht geringes Maaß von Selbstverläugnung, von Menschenliebe und Christenthum erfordert würde — und doch hatte dies alles nur geringen Antheil daran. Insofern aber der Wunsch auch in mir lebte, meinen Mitmenschen nützlich zu sein, so hielt ich es keineswegs für gering, unter einem Volke zu leben, welches der Vortheile des Christenthums ermangelt. Nur wer das Elend der ungebildeten Heiden und die Vorzüge des Christenthums nicht kennt, nicht erfahren hat oder wer nur ausgebreitete Folgen und Wirkungen einer Handlung und nicht auch das Wenige zu schätzen weiß, wird ein solches Leben für zwecklos und also für überflüssig halten. Wie viel aber oder wie wenig Einfluß ich gehabt, ist mir nicht noth zu wissen. Möchte ich nur nie durch eigne Schuld im Leichtsinn oder Schlaffheit mir und Andern geschadet haben!
Sollte Jemand in den Erwartungen von meinem Leben unter den Tataren sich getäuscht finden, so kann es vielleicht daher kommen, daß mir etwas zugemuthet wurde, zu dem ich mich nie berufen fühlte, nie verbindlich machte. Wohnte ich ja als Laie, nicht als Lehrer unter jenem Volke. Indessen aus einer Familie, die in gewissen Rufe des Christenthums stand und auch selbst eifrig bemüht, nicht der Letzte zu sein, dabei öffentliche Theilnahme an dem Missionswesen äussernd, dachte man auch mich zu diesem bestimmt, oder betrachtete mich wohl gar, da ich an keine Missionsgesellschaft angeschlossen war, als ein besonderes Werkzeug in der Hand Gottes. Meine bestimmten ausdrücklichen Erklärungen und Bekenntnisse konnten mir wenig
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XIV
helfen; ja es schien oft, als wurde es von Andern als Zeichen der Demuth angesehen. Selbst in öffentlichen Blättern kündigte man mich als Missionar an. Die Meinung — ich erkenne es wohl — war gut. Welcher Mensch, in welchem Verhältniß er auch sei, hat nicht die Pflicht auf sich, in seinem größern oder kleinern Wirkungskreise dem Allgemeinen nützlich zu sein?! Aber mit Recht soll dennoch ein Unterschied zwischen dem Missions- und Laienstande gemacht werden, wie es denn auch allgemein angenommen ist.
So viel nach der Wahrheit, nicht, um mich zu erniedrigen, auch nicht, mich rechtfertigen zu wollen, sondern nur, um Mißverständnisse zu heben und die Absicht‚ die ich hatte, klar zu machen.
Allen Freunden und Bekannten, von denen ich auf meinen Reisen mit Rath und That unterstützt worden, danke ich hiemit, und freue mich der Gelegenheit, es öffentlich thun zu können.
Sollte in Rußland Jemand in den Fall kommen, diese Schrift meinem ehemaligen Wirthe, dem Tataren Ali, oder dessen Sohn Abdullah zu zeigen oder sonst bekannt zu machen, so bitte ich, dieselben meiner unveränderlichen Liebe und Dankbarkeit zu versichern. Ihnen bleibt diese Schrift gewidmet.
St. Gallen in der Schweiz, im Monat August 1829.
Daniel Schlatter.
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Inhalt.
Erste Reise
aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere, über Londen, Berlin, St. Petersburg und Moskau, und zurück über Odessa , Lemberg, Wien, Salzburg und Innsbruck.
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Seite |
Das Vaterland |
3 |
Rheingegend. Niederlande. |
4 |
London |
6 |
Fahrt nach Hamburg |
11 |
Preußen. Berlin. Königsberg |
14 |
Rußland. Riga. St. Petersburg. Moskau. |
18 |
Neu-Rußland. Die Molotschna. |
22 |
Die Tataren-Familie. Ali. |
29 |
Rückreise nach der Schweiz. — Cherson und Odessa |
36 |
Polen. Galizien. |
40 |
Oesterreich und Tyrol. |
43 |
Zweite Reise
aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere durch Baiern, Sachsen, Schlesien, über Krakau, Brody und Odessa und zurück über Odessa, Konstantinopel, Smyrna, den Archiper, das Mittelmeer, Livorno, Florenz, Mailand, den Comosee und den Splügenpaß.
Baiern, Sachsen, Schlesien. |
47 |
Krakau, Brody, Bessarabien. |
53 |
____
XVI
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Seite |
Aufenthalt bei den Nogayen-Tataren. — Aufnahme, Beschäftigung, Behandlung. Ali und seine Familie. |
58 |
Ueber die am Asowschen Meere angesiedelten Nogayen-Tataren. — Aus der Geschichte der Nogayen-Tataren. |
75 |
Verfassung. Die Mursa’s oder Edelleute. Die Kadi’s oder Richter. |
86 |
Das Aeussere der Nogayen. — Körperbau. Gesichtsbildung. Sinnenschärfe. |
88 |
Des Nogayen Inneres. — Temperament. Charakter. |
92 |
Verstand und Gedächtniß. |
95 |
Sittlichkeit. |
97 |
Zanksucht |
101 |
Raubsucht |
103 |
Der Nogaye bei seinen russischen und teutschen Nachbarn. |
106 |
Erziehung und Kinderzucht. |
109 |
Die Schulen. |
114 |
Sprache. |
116 |
Begrüßungen, Danksagungen, zärtliche Ausdrücke, Schimpfworte, Namen von Nogayen, besondere Redegebräuche. |
122 |
Schrift. |
127 |
Zeitrechnung. |
130 |
Geld, Maaß und Gewicht. |
133 |
Musik, Spiele, Vergnügungen. |
135 |
Religion. |
138 |
Worte des Korans. |
142 |
Worte des Korans. (Fortsetzung.) |
145 |
Ueber den Islam. |
149 |
Das Gebet. |
154 |
Fatalismus. |
158 |
Die Opfer. |
161 |
Der Ramasan oder Fastenmonat. |
163 |
Das große und Kurban-Bairam. |
165 |
Verschiedene religiöse Gebräuche. |
167 |
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XVII
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Seite |
Die Mollah’s oder Priester. |
170 |
Die Adsche’s oder Pilger. |
172 |
Der männliche Nogaye überhaupt. - Beschäftigung. |
175 |
Viehzucht. |
176 |
Die Kameele |
178 |
Rindviehzucht. |
180 |
Abrichten der wilden Ochsen. |
183 |
Die Schaafzucht. |
184 |
Pferdezucht. |
187 |
Die Hengste. |
191 |
Das Melken der Stuten. |
192 |
Zureiten der wilden Pferde. |
193 |
Verkauf ungebändigter Pferde. Treiben derselben auf der Steppe und durch Flüsse. |
198 |
Ganz wilde Pferde. |
202 |
Ackerbau. Ackergeräthschaften |
204 |
Säen, Pflügen, Aerndten, Dreschen, Aufbehalten des Getreides. |
206 |
Graswuchs. Heuärndte. |
209 |
Gartenbau. Baumzucht. |
210 |
Handwerke. Gewerbe. |
212 |
Die Märkte. |
214 |
Die Jagd. |
215 |
Persönliches. — Kleidung der Männer. |
217 |
Weibliches Geschlecht. |
220 |
Mädchen- und Weiberhandel |
228 |
Die Hochzeit. |
233 |
Vielweiberei. |
235 |
Beschäftigung der Frauen. |
237 |
Verarbeitung und Benutzung der Schaafwolle. |
239 |
Zubereitung der Felle und Verfertigung der Pelzkleider. |
241 |
Zubereitung der Seife. |
242 |
Kleidung der Mädchen und Frauen. |
243 |
Getränke der Tataren. — Die Buttermilch. |
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XVIII
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Seite |
Der Kumiß oder die Stutenmilch. |
249 |
Die Bosa oder das Bier der Nogayen. |
250 |
Der kalmükische Thee. |
251 |
Der Rauchtabak. |
252 |
Speisen. Animalische. Die Kuhmilch und Djughrt. |
255 |
Butter. Käse. |
257 |
Fleischspeisen. |
258 |
Das Pferdefleisch. |
260 |
Die Turray-Speise. |
263 |
Vegetabilische Nahrung. — Die Hirsebereitung. |
254 |
Mehlspeisen. |
266 |
Das Brot. |
267 |
Noch einige Pflanzenspeisen. |
268 |
Die Mahlzeit. |
270 |
Wohnungen. — Häuser. Hausgeräthschaften, Dörfer. |
275 |
Brennmaterialien. |
281 |
Unterhaltskosten einer Tatarenfamilie. Arme. |
283 |
Krankheiten. Hausmittel. |
287 |
Chiromantie. Beschwörer. |
289 |
Tod, Begräbniß, Trauer, Fest für Verstorbene |
291 |
Verschiedene Gebräuche. — Das Alter.2 |
294 |
Gastfreundschaft. |
296 |
Begrüßungsweise. Die Rache. |
301 |
Das Fest der Erstlingsfrucht. Rein und unrein. Das Waschen. |
302 |
Die Haare. Der Bart. |
304 |
Der Hund. |
306 |
Geographische Bemerkungen über das Gebiet der angesiedelten Nogayen-Tataren am Asowschen Meere. — Lage. Größe. Grenzen. |
313 |
Klima. |
314 |
Der Boden. Steppen. Pflanzen. |
316 |
Das Wasser. Die Cisternen. |
320 |
Salpeter. Salz. |
322 |
Tiere. |
323 |
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XIX
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Seite |
Die Zugheuschrecken. |
326 |
Der Steppenbrand. |
329 |
Die Staubsäulen. |
331 |
Die Mirage oder Kimmung. |
332 |
Die Grabhügel oder Mohillen. Steinerne Bildsäulen. |
333 |
Verschiedene Excursionen.
Reise nach Odessa und in die Halbinsel Krimm, im Frühjahr 1825. — Steppenreisen. |
339 |
Der Sturm auf dem schwarzen Meere. |
343 |
Kertsch. Feodosia. |
347 |
Die teutschen Kolonien in der Halbinsel Krimm. Zürichthal. |
351 |
Die Koschen oder Nomaden. |
354 |
Die teutschen Kolonisten an der Molotschna. Die Mennoniten. |
359 |
Die Duchoborzen. |
369 |
Die Malokaner. |
372 |
Armenier. Griechische Muselmänner. Zigeuner. |
374 |
Durchziehende durch das Gebiet der Nogayen und Besuchende. |
378 |
Kaiser Alexander im Gebiete der Nogayen-Tataren und der teutschen Kolonisten. |
382 |
Nogayzg und der Chef der Nogayen-Tataren. |
387 |
Der schreckliche Winter von 1825 bis 1826. |
389 |
Rückreise nach der Schweiz. — Simferopol und Odessa. |
394 |
Konstantinopel. |
399 |
Smyrna. Der Archipelagus. |
406 |
Das Mittelmeer Italien. |
409 |
Brief des Tataren Ali an den Verfasser. |
415 |
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XX
Dritte Reise
aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere über London, Brüssel, Cassel, Berlin, Danzig, Warschau und Odessa, und zurück über Odessa, Lemberg, Brünn, Wien, Salzburg und Innsbruck.
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Seite |
Reise aus der Schweiz nach England. |
421 |
London. |
423 |
Preußen. Von Aachen bis Thorn. |
428 |
Warschau. Brody. Odessa. |
431 |
Fußreife durch die Halbinsel Krimm. |
434 |
Noch ein kurzer Aufenthalt bei den Nogayen-Tataren. |
437 |
Reise von der Molotschna nach Neu-Taganrok. |
440 |
Reise von der Molotschna nach dem taurischen Gebirge und der Südküste der Halbinsel Krimm. — Von Burkud bis Sewastopol. |
445 |
Die Südküste. Der Dschaderdagh. |
451 |
Sudagh. |
460 |
Abschied. Reflexionen. |
464 |
Rückreise nach der Schweiz. — Rußland. |
469 |
Oesterreich. |
473 |
Anhang. — Privilegium der Mennoniten in Rußland. |
476 |
Uebersicht der teutschen, bulgarischen und jüdischen Kolonien in den Gouvernements Ekatherinoslaw, Taurien, Cherson und der Provinz Bessarabien vom Jahr 1826. |
482 |
Vergleichung verschiedener Benennungen der Gegenden, Flüsse, Gebirge und Ortschaften an den Ufern des schwarzen und Asowschen Meeres und der Meere selbst. |
488 |
Verzeichniß der in der Charte von dem Gebiet der angesiedelten Nogayen-Tataren und angrenzenden Ländern vorkommenden Kolonien. |
491 |
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Erste Reise aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere, über London, Berlin, St. Petersburg und Moskau und zurück über Odessa, Lemberg, Wien, Salzburg und Insbruck.
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Das Vaterland.
Vor einigen Wochen von einer kleinen Reise durch Baiern, Sachsen und Schlesien, über Weimar, Gotha und Frankfurt am Main nach der Schweiz zurückgekommen, ward mein Wunsch, noch weiter zu reisen, gesteigert. Wie dieser Wunsch eigentlich entstanden, erwachsen und gereist war, sagt die Vorrede.
Es zog mich nach Osten hin — über manche nicht kleine Hindernisse hinweg.
„Bleib’ im Land und nähre dich redlich!“ gilt dem Reiselustigen nicht so viel, als: „Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen will!“ und man denkt das Land noch wohl selbst zu finden. Uebrigens beredet man sich gerne, nicht nur zu eigenem, sondern auch zu Anderer Nutzen reisen zu können, und denkt sich eben so gerne Welt- wie Staatsbürger.
Ein schönes Vaterland, theure Geliebte verließ ich — wer konnte wissen für wie lange? Einer ungewissen Zukunft gieng ich entgegen; — frei und doch nicht. Eine gewaltige Hand leitet den Willen und das Schicksal der Menschen, und
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wem mag seine Zukunft in Hinsieht seines irdischen Schicksals gewiß sein?! — Wer aber zu Muselmännern geht, dem dürfen solche Gedanken nicht Unruhe machen. Sie sind mit ihren Ansichten unverträglich, so wie sie auch mit den christlichen nie vereinbart erscheinen sollten.
Auf der Reise von St. Gallen durch den nördlichen Theil der Schweiz ward mir mancher köstliche Genuß — an den lieblichen Ufern des Zürchersees und auf einigen Höhen, besonders auf der Schaafmatt, wo ich von den schneebedeckten Gebirgen, von dem hohen Säntis und dem anmuthigen Rigi mit dankbar freudiger und doch auch wehmüthiger Empfindung Abschied nahm.
Den 7. März des Jahrs 1822 verließ ich die so bald durchschrittene Schweiz, und betrat bei St. Louis Frankreichs Boden, um über Mühlhausen, Colmar und Schlettstadt Strasburg zu erreichen, und auf der Höhe des Münsterthurmes, von der man in weiter Ferne die Schweiz erblickt, „Adieu Vaterland!“ zu sagen.
Rheingegend. Niederlande.
Mit kleinen Unterbrechungen dem Laufe des Rheinstroms bis an dessen Ausfluß in’s Meer bei Helvoetsluys folgend , gieng es von Strasburg über die Brücke durch Kehl, Rastatt, die schöne Residenz Karlsruhe, die Universitätsstadt Heidelberg, deren treffliche Lage am Neckar und herrliche Aussicht auf dem Schlosse schon früher mein Herz
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erfreute. Auf der Bergstraße durch Darmstadt nach Frankfurt am Main und von da auf dem Marktschiffe, in dem Getümmel von Menschen aller Art, den Main und Rhein herunter nach der Bundesfestung Mainz. Von hier wird die Fahrt auf dem Rhein durchs Bingerloch besonders merkwürdig bis Koblenz. Was sie dem Pilger darbietet, ist längst trefflich geschildert, gemalt, besungen. Ich gestehe, daß auch meine Vorstellung davon weit übertroffen wurde. Was meine Aufmerksamkeit auch sehr anregte, waren die von mir noch nie gesehenen Rheinflöße, ungeheure Massen aneinander gebundener Baumstämme, auf denen kleine Häuschen erbaut sind, und in deren Mitte ein Gerüst errichtet ist, auf welchem der Schiffer den Ruderern durch Schwenken des Hutes Zeichen giebt. — Von Coblenz ließ ich mich nach Neuwied und von da nach Andernach übersetzen, um mit dem eleganten Eilwagen über Remagen und Bonn nach dem großen Cöln zu fahren. Hier entschädigte mich die schöne Aussicht auf dem alten Dom für das im Ganzen Unfreundliche der Straßen der uralten Stadt. Ueber den Rhein gesetzt, gieng ich zu Fuße von Deuz in’s angenehme, bevölkerte und gewerbfleißige Wupperthal, nach Elberfeld und Barmen, zwei nur durch eine Brücke getrennte bedeutende und reiche Fabrikstädte. Bei Düsseldorf auf fliegender Brücke über den Rhein und dann durch Crefeld, Geldern, Cleven nach den Niederlanden, wo die vielen zierlichen, reinlichen Dörfer, die wohlbestellten Felder, die vielen großen und schönen Dämme, Kanäle und Schleussen Zeugen von der Ordnungsliebe und Reinlichkeit, von dem Fleiße der Bewohner, so wie von der starken Bevölkerung des Landes sind. Dem Schweizer kann die Abwechslung von Berggegend zu
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den weiten Flächen der Niederlande, wenigstens auf kurze Zeit, nicht unangenehm sein. Was mich wenig anzog, war hingegen das Phlegma des Holländers, das Schwerfällige der Sprache, der Thee und Taback.
Von Nymwegen dann gieng’s über Dordrecht nach dem schönen Rotterdam, in dessen Mitte, auf Kanälen, man große Seeschiffe, selbst Ostindienfahrer sieht, und ihre Größe in Verhältniß der nahestehenden Häuser besser als in einem weiten Hafen beurtheilen kann.
Ueberschau ich den hier nur mit einigen Punkten bezeichneten Flug von Basel bis Rotterdam, so war der Genuß auf dieser kurzen Strecke‚ den mir gemachte Bekanntschaften, Natur und Kunst darboten, ausserordentlich groß, aber zu gedrängt. Wer diesen Weg mit Muße, Plan und Vorkenntniß macht, der muß eine große Ausbeute für sein Wissen und sein ganzes Wesen erlangen. Aber Eilwagenreisen sind nicht zu vielen Beobachtungen geeignet, ausser etwa dessen, was Mitreisende darbieten. Das Uebrige muß gleichsam im Fluge aufgefaßt und genossen werden. Am meisten verdankte ich den Wasserfahrten, bei denen man ungestörter und ruhiger sich umschauen kann. Langsam zu reisen hatte ich keine Lust. Der Wunsch, vorwärts zu kommen zu den Steppenbewohnern im Osten, war zu Iebhaft, und noch wollte ich London sehen.
London.
Von Rotterdam schiffte ich mich auf englischer Brigantine nach England ein, Bei Helvoetsluys verliessen
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uns die Lootsen, und wir trieben bei ungünstigem Winde in die hohe See hinaus. Ein dichter Nebel bedeckte das Meer. bald ward ich seekrank, und mit mir eine englische Dame, mit der ich allein als Passagier in der Kajüte war. Der Kapitän, ein roher, wilder Mann, und — wie ich erst in London erfuhr — Schmuggler, war immer besoffen. — Der Genuß, den sonst eine kleine Seereife gewähren kann, war nicht groß, ungeachtet man auf dem Verdeck fast den ganzen Tag durch das «God save the King» auf einer kleinen Orgel spielte. Am vierten Tag erreichten wir das Wachtschiff am Ausfluß der Themse. In Gravesand betrat ich wieder festen Boden, besah die Stadt, und fuhr dann auf einem Paquetboot die Themse hinauf nach London, eine Fahrt, merkwürdig vielleicht ohne Gleichen und immer merkwürdiger, je mehr man sich der ungeheuern Weltstadt nähert. Durch eine unermeßliche Zahl von Schiffen jeder Gattung kamen wir bis nahe an die große Londnerbrücke. Bald sah ich mich mitten im Strom und Gewirre der Menschen auf den Straßen. Es war wenig später als Mittag. Bekannte und Freunde wußte ich da genug; aber mir fehlten ganz genaue Adressen. Wie viel drückender empfand jetzt der Kleinstädter diesen Mangel, als er sich ihn vorgestellt! Fragte ich, so kehrte man mir steif und stumm den Rücken. Alles eilte, kein Mensch um den andern sich kümmernd, seine Straße fort. Endlich gaben Einige, jedoch nur kurzen und halben Bescheid, wodurch ich nach und nach dem gesuchten Quartier näher kam. Doch war ich darum noch nicht geborgen. Von meinen Effekten sah ich mich nämlich in Gravesand ganz unerwartet getrennt; sie blieben auf dem Kauffahrteischiffe, und kamen erst später an. Mein jetziger Anzug war aber nicht für Engländer.
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Dieser Umstand, dann vielleicht auch Mißverstand, und daß ich mich nicht bestimmt zu erkennen gab, brachte mich bald wieder auf die Straße hinaus, ohne auch nur die gewünschte nähere Adresse eines Bekannten erhalten zu haben. Sogar Scheu , den Sabbath zu brechen (es war Sonntag), schien mit im Bunde gegen mich zu sein. Gasthöfe nun freilich fand ich — aber alle für englische Sprache und englische Beutel. Stunden wurden mir zu Augenblicken, nicht nur der Weitläufigkeit der Straßen, sondern auch der Lust der Augen wegen, die sich kaum sättigen konnten an so vielen neuen Gegenständen und am Gewühl und Getreibe der Menschen. Anstatt zu eilen und zu suchen, stand ich oft wie eingewurzelt. Die Dunkelheit brach ein. Mir aber war’s wohl unter so vielen Menschen, die mit mir auf der Straße waren. Was kümmerte mich ein Nachtquartier, da ich so viele Gesellschaft hatte, und die Straßen nun, vom herrlichen Gasfeuer erleuchtet, immer lebhafter wurden, das Gerassel der Equipagen und das Gedränge auf den Trottoirs sich mehrte! Eine Menschenmasse drängte sich in ein Haus — ich mit. Es war ein Theater, ein Londner Theater — gewiß nicht uninteressant; aber die beständige Störung während des Spiels, das Lärmen, Stampfen, das Herumfliegen der Orangenschalen, der fast erstickende Dunst und die Hitze auf der Galerie war doch nicht angenehm.
Nach einigen Stunden Unterhaltung sah ich mich wieder ohne Obdach. Es war mehr als Mitternacht. Wer hätte mich gehindert, auf der Straße die Nacht zuzubringen? Aber das Gewühl der Menschen nahm nach und nach ab, und rege ward das Bedürfniß, mit Menschen unter einem Dache zu wohnen, und mich ihnen näher anzuschliessen. Deshalb darf
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auch in London Niemand verlegen sein, wenn’s aufs äusserste kommt. Tausend und tausend dienstbare Geister (man rechnet deren in London von einer Klasse etwa 30,000) flattern bis gegen Morgen in den Straßen herum, selbst in Paris vielleicht nicht bereitwilliger, besonders dem Fremden, wenn auch an Festtagen, Logis anzuweisen. Ich warf mich ihnen in die Arme, und hatte nach einer kleinen Promenade ein Quartier, das mir sonst Niemand anweisen wollte. Meine Wohlthäterin bezahlte ich und dankte. Begreiflich wäre mehr in meiner Macht gelegen. Wenn mir aber der Gedanke an jenes Auge, das in’s Verborgene zu sehen keines Gaslichts bedarf, auch nicht lebendig genug inwohnte, so hielt mich doch die Furcht vor übeln Folgen ab.
Das Mißverständnis wurde nachher gehoben. Vierzehn Tage — für London freilich viel zu wenig — brachte ich im Kreise guter Freunde zu. Die so kurze Zeit gestattete mir nur, die Straßen und herrlichen Brücken, die Westminster- und Paulskirche, den Sommersettpalast und Tower, die Themse , die Schiffe und Doken, das Volk und einige andere Merkwürdigkeiten kennen zu lernen. Ich kann jedoch nicht sagen, es bedauert zu haben, London so bald verlassen zu müssen, da es nun einmal den Gedanken an meiner Reise Ziel in mir nicht auslöschen, nicht einmal schwächen konnte. Gerne benutzte ich die erste sich darbietende Gelegenheit, nach Hamburg zu fahren. Auf der Straße, wenn sie gedrängt voll Menschen war, gefiel es mir stets besser als innert den Mauern; es fehlte mir die Aufmerksamkeit auf die Kleidung, die Sprache, den Ton, wie sie England hat und fordert. Die gerühmte Toleranz konnte ich nicht finden. Nirgends noch glaubte ich steifes Formenwesen, gegenseitige Geringschätzung
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und Absonderung der verschiedenen Glaubensparteien so groß wie hier gesehen zu haben. Eine Partei sucht es der andern freilich auch in guten Werken hervorzuthun,, und dieser Wetteifer kommt dann auch Vielen wohl zu statten. Man erstaunt, zu sehen und zu hören, was zur Erleichterung menschlichen Elendes und für die Ausbreitung des Wortes Gottes und des Christenthums gethan wird. Sollte wohl, so fällt mir hier nebenbei ein, der Vorwurf, den man den Engländern so häufig macht, daß nämlich bloße Staatspolitik und Handelsinteresse bei solchen Unternehmungen leiten, gerecht seyn? Wenn auch Unlauterkeiten mit unterlaufen, so möchte man doch wohl auch anderswo von selbigen noch nicht so frei sein, um zum Tadel Fug und Recht zu haben.
Merkwürdig war mir in London ein Kabinet, in welchem viele der gräßlichen Götzenbilder aufgestellt sind, die früher auf der Insel Otaheiti angebetet worden sind, aber nach Uebertritt der heidnischen Insulaner zum Christenthum nach England geschickt wurden. Auch zeigte man mir einen Originalbrief des otaheitischen Königs Pomaere, der mit seinem Volke Christ geworden. Andere, sehr verschiedene Gefühle erregte in mir ein Toiletten-Zimmer neben dem großen, prächtigen Versammlungssaale der Mitglieder der Bibelgesellschaft in dem mit großen Kosten aufgeführten Bibelhause. Es enthielt dasselbe alles Nöthige, um gewaschen, gebürstet, rasiert und parfümirt, gepudert und gepomadet in den zierlichen Versammlungssaal eintreten zu können. So will es Londoner Sitte! Doch weiß ich nicht, ob auch im Parlamentshause dasselbe vorkommt.
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Fahrt nach Hamburg.
Auf der englischen Brigantine „die Industrie“ fuhr ich mit gutem Winde durch die Masse der Schiffe die Themse herunter in die Nordsee. In einigen Tagen erblickten wir den Texel; dann aber änderte sich der Wind, und ward etwas stürmisch. Bis gegen die Insel Helgoland hin mußte fast immer lavirt werden. Das Schwanken und Umwenden des Schiffes, verbunden mit der Seeluft und der Ausdünstung des Meerwassers, verursachte mir und einigen andern Reisenden die bekannte Seekranheit. Befand ich mich wieder wohl, so vergieng die Zeit mit Lesen auf dem Verdeck oder dem Mastkorbe. Der Kapitän erzählte mir auch wohl aus seiner Lebensgeschichte, wie sein Schiff von den Franzosen gekapert worden, und welche grausame Behandlung er in Frankreich Jahre lang erduldet habe. Von Strasburg aus hatte ich im Postwagen einen Franzofen zum Gesellschafter, der vorgab, aus Surinam zu kommen, und kaum Worte finden konnte, die Grausamkeit und den abscheulichen Charakter der Engländer kräftig genug zu schildern, und demnach, wie er sich ausdrückte, gern alle Engländer aufgeknüpft sähe. Man darf nicht weit reisen, so findet man, daß das, wessen sich Engländer und Franzosen gegenseitig beschuldigen, eben kein großes Gewicht haben kann.
In der Kajüte hatte der Kapitän eine Bibel, welche‚ nach der Abnutzung des Schnittes zu urtheilen, in den Büchern Esther und Judith vorzüglich oft gebraucht worden war. Er sagte mir auch, daß diese Stücke seine Lieblingslektüre in der
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Bibel seyen. Ich schlug mir lieber das Evangelium und die Briefe Johannis oder die Briefe Pauli auf.
Wir brachen nur sehr langsam durch die Wellen. Solche Tage einer Seereise, in denen weder Sturm noch guter Wind uns hoffen lassen, das Einerlei von Himmel und Wasser nicht allzulange mehr ertragen zu müssen, mißstimmen entweder das Gemüth, oder erwecken das Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft. In mir erweckte es auch eine Art Heimweh nach verlassenen Geliebten. Vorübergegangene Genüsse und mein ganzes Leben zogen in den frischesten Farben an meinem innern Sinne vorbei. Selbst die kleinsten Umstände von Handlungen und Begebenheiten der zurückgelegten Laufbahn las ich als aus einem Buche. Und was zeigte sich mir? Ein Heer Thorheiten und Sünden, wie Wellen des Meeres; — Hulderweisungen Gottes aber noch viel überschwänglicher , und unzählbar wie der Sarıd am Meere. Und wenn dann die Sonne in ihrer Pracht sich herabsenkte, den Horizont röthete, und sich in’s Meer zu tauchen schien, dann füllte sich mein Herz mit Wonne, Dank und Freude, und schwamm im Meere der Liebe Gottes, und die freundlichen Sterne drückten das Siegel drauf, bis das Auge sich schloß, um am Morgen zur Anschauung neuer Herrlichkeit im majestätischen Aufgang der Sonne sich wieder zu öffnen.
Endlich erreichten wir den Ausfluß der Elbe und Cuxhafen, mußten aber einige Meilen von Altona, an der Dänisch-Holsteinschen Küste, widrigen Windes wegen, die Anker werfen. Diese Zeit benutzte ich, mich an’s Land setzen zu lassen, und einen Berg zu besteigen, von dessen Höhe ich die Städte Altona und Hamburg, ungeheure Flächen
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über der Elbe und diesen Fluß. mit einer Menge Schiffe besäet, übersehen konnte. Ein schöner Anblick! um so wohlthuender nach einer etwas langen Seefahrt; denn vierzehn Tage waren seit der Abfahrt von London verflossen. Ich eilte in ein nahe liegendes Dorf, und ließ mir in einem Hause wieder einmal Milch geben, welche man in London nur sehr spärlich und schlecht findet, und auf der Seereise ganz entbehrt. Von dem Teutsch der gutmüthigen Bauern konnte ich wenig verstehen.
Als ich wieder auf die Höhe kam‚ konnten Anstalten zur Abreise auf dem Schiffe bemerkt werden. Ich eilte demnach zurück. Abends fuhren wir, Altona vorbei, nach Hamburg. Von da machte ich noch denselben Abend den schönen, belebten Weg nach Altona.
Nach einem angenehmen Aufenthalte von einigen Tagen im Schooße der Freundschaft, im schönen Landhäusern an der Elbe, und nachdem ich die große Hansestadt und ihre Umgebungen besehen, reiste ich mit dem Postwagen über Lauenburg, Lübthen, Perleberg und Fehrbellin nach Berlin. Der Weg bot wenig Bemerkenswerthes. Die Reisegesellschaft bestand aus Studenten und — einen Theil des Weges — aus zwei jungen Frauenzimmern, welche der wegen Errettung eines Menschen aus Todesgefahr mit Civilorden gezierte Wagenführer ausser Hamburg , wahrscheinlich als blinde Passagiers, aufpackte, und deren Charakter sich zweideutig zeigte.
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Preussen.
Berlin. Königsberg.
So einförmig und genußlos im Ganzen die Reise von Hamburg aus war, so blieb mir um so mehr Freude in Berlin aufbewahrt. Unvergeßlich bleibt mir der kurze Aufenthalt von einigen Tagen in dieser schönen Residenz, und die Menschen hohen und niedern Standes, die ich da kennen zu lernen die Freude hatte, sie bleiben meinem Herzen besonders theuer. Auch in der Stadt sah ich mich gerne um — am königlichen Palaste, an der Universität, dem neuen Opernhaus, der Domkirche, am Brandenburger-Thor und unter den Linden.
Von Berlin eilte ich in Postwagen weiter, über Küstrin, Friedeberg, Driesen, Schneidemühl, Nakel und Bromberg; bei Fordon über den Weichselstrom nach Graudenz, Marienwerder, Stuhm und Marienburg. Hier hielt ich mich einige Tage auf, um Erfundigungen über die südlichen Gegenden Rußlands einzuziehen, weil von hier jährlich mehrere Familien dorthin auswandern, besonders von den Mennoniten oder Taufgesinnten, welche den größten Theil der Bewohner der Weichselniederung und der Nogat bis nach Danzig und Elbing ausmachen. Gerne benutzte ich die Gelegenheit, diese Gemeine, mit der ich zum Theil schon in den Niederlanden und in Altona bekannt geworden, noch näher kennen zu lernen. Im Postwagen von Berlin her hatten Offiziere gewaltig über Juden
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und noch mehr über Mennoniten geschimpft, weil letztere durch Privilegien vom Militärdienste freigesprochen sind. Der Staat scheint mit ihnen zufrieden zu sein, und so sehr auch Wohlstand und Sittlichkeit gesunken sind, so zeichnen sie sich von andern Bewohnern dieser Gegenden noch immer vortheilhaft aus. Noch ist ein Verbrecher eine Seltenheit unter ihnen. Indessen scheint der Zeitpunkt heranzurücken, wo der Staat rücksichtlich des Militärdienstes keine Ausnahme mehr machen wird. Gewiß auch würde jetzt bei dem größten Theile der Mennoniten deshalb weniger das Gewissen beschwert werden, als das Herz erschrecken vor den Mühen und Gefahren des Kriegshandwerks, da es mehr nur noch oberflächlich gelehrt als treu geglaubt wird, daß jener Stand unrecht sei. Wenigstens der Selbstvertheidigung scheint, wie man sieht und hört, der größere Theil jetzt nicht mehr abgeneigt zu sein. Wer sich aber selbst mit Gewalt oder gar mit Waffen vertheidigt, der ist dies eben sowohl dem Ganzen schuldig, und es kann ihm dann nicht Sünde sein, auch darin der Obrigkeit zu gehorchen.
Was diese Gemeinde oder Sekte, wie man eine kleinere Gemeine zu nennen pflegt, noch besonders auszeichnet, ist, daß sie nur Erwachsene, in der Religion unterrichtete Personen, aber keine Kinder tauft. Früher hielten die Aeltesten und Lehrer der Gemeine strenger auf wirkliche Ueberzeugung und lebendigen Glauben des Täuflings. Daher konnte oft Einer alt werden, ehe er zur Taufe und Abendmahl zugelassen wurde. Wer sich nachher als Heuchler zeigte oder abfiel, und in seinem Lebenswandel seinen Glauben verläugnete, der wurde aus der Gemeine ausgeschlossen. Jetzt gilt mehr Ansehen der Person. Das bloße Bekenntniß des Mundes genügt.
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Im Alter von 16 oder 18 Jahren, oder wenn Einer heiratslustig ist, wird gewöhnlich ohne Unterschied getauft. Selten wird noch Jemand aus der Gemeine ausgeschlossen. Was dann dabei gewonnen sein mag, oder was der Mennonite vor andern Kirchenparteien dann noch Besseres zu haben glaubt, mag ihm zu bedenken überlassen sein.
Von Marienburg reiste ich über Elbing, Braunsberg, Brandenburg nach Königsberg, wo ich einige freundliche, angenehme Tage zubrachte und mich dann auf der Curischen Haff einschiffte. Ein heftiger Wind, der den Segel zerriß, trieb uns, auf der Hälfte Weges nach Memel, wieder nach dem kleinen Dorfe Schacken zurück. Diesen Aufhalt benutzte ich, nach der Schweiz zu schreiben.
Besondere Reiseabentheuer waren mir bisher nicht begegnet. Mücken zu Elephanten zu steigern, scheint mir jetzt, da ich schreibe, im Hinblick auf meine spätern Begegnisse, unnöthig. Sodann fühle ich weder Beruf noch Lust, Romantiker zu werden, obwohl ich stets geneigt war, Romanhaftes spielen zu wollen.
Menschen der verschiedensten Stände und Klassen , der verschiedensten Ansichten und Meinungen, nicht blos disputirend in großer Gesellschaft, oder etwa auf kurze Augenblicke nur, im Sonntagskleide, sondern, so viel möglich, in wahrer Gestalt, in ihrem häuslichen und Privatleben immer besser kennen zu lernen, war meine größte Freude. Ich würde mich dies zu gestehen schämen, wenn ich dabei nur darauf ausgegangen wäre, die Schattenseite an Andern zu entdecken, um scharf und lieblos urtheilen und tadeln zu können, und nicht vielmehr, um überhaupt des Menschen ganze innere Gestalt zu erforschen, und darin meiner eigenen Schwäche einen
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wohlthuenden Tadel zu finden, aber auch ein lehrreichen, lebenfrisches Vorbild meines eigenen Seinsollens. — Wie viele vortreffliche Menschen lernte ich kennen! und wie oft ward ich auch da, wo mein arger Sinn Böses erwartete oder muthmaßte, beschämt! Wenn das Reisen auch nur den Nutzen hätte, daß man, weniger einseitig und beschränkt in Ansichten und Urtheilen, sich mit der Menschheit aussöhnt, und weniger Andere als sich selbst zu bessern sucht, so wäre schon Großes gewonnen. Auch Postwagen-Gesellschaft, die insgemein nicht aus den sogenannten höchsten Ständen und, bei den Preisen der teutschen Post- und Eilwagen, auch nicht aus den niedrigsten Volksklassen besteht, kann mannigfaltigen Nutzen gewähren. Gewöhnlich finden sich Kaufleute, Studenten, Offiziere, Künstler, Gouvernanten und wohl auch etwa auf Spekulation reisende Damen.
Wie oft wird man durch einen angenehmen Gesellschafter erfreut! Wie oft genießt man das belehrende Vergnügen, hie und da eine Maske gelüftet, eines Menschen wahre Gestalt zu erblicken! Die Meisten fordern im Postwagen weiter nichts als ihr Recht, an dem ihnen zukommenden Platz zu sitzen, und Wagenrecht zu halten, das heißt: Die Füße mit denen des Antipoden gehörig zu verschränken, und glauben übrigens der Gesellschaft nichts schuldig zu sein. Der Passagier zeigt sich im Wagen gewöhnlich in dem Charakteristischen und Individuellen, das er vielleicht vor Kurzem in anderer Gesellschaft verläugnet oder warum er sich wenigstens Zaum und Gebiß angelegt hatte, von dem er nun gerne sich befreit sieht. Er überläßt sich nun wieder der lieben Natur, und das Gemüthliche oder Abstoßende derselben tritt sichtbarer hervor. Wer sich noch Zwang anthun will, der verräth sich
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wenigstens auf einer etwas langen Reise. Nicht mit Unrecht wird daher allgemein geglaubt, daß man auf Reisen sich und Andere am besten kennen lernen könne.
Am zweiten Tage konnten wir endlich von Schacken nach Memel übersetzen. In diesem kleinen, aber lebhaften Seehafen betrachtete ich‚ mit Erinnerung an die hochgefeierte Königin Louise, das schöne Gebäude, welches sie im J. 1806 bewohnte, und dessen Eigenthümerin in Königsberg mir so viel Schönes und Rührendes von jenem Aufenthalt erzählt hatte.
Ueber Nimmersatt kam ich dann endlich bei Polangen an die russische Gränze. Die Kosaken öffneten den Schlagbaum, und ich war in Rußland, jedoch noch eben so weit vom Orte meiner Bestimmung als von der Schweiz entfernt.
Rußland.
Riga. St. Petersburg Moskau.
In Polangen dingte ich einen Bauern, der mich in einer Powosge — einem kleinen russischen Wagen — längs dem Strande des Baltischen Meeres bis Libau führte. Von da mit besserer Gelegenheit über Grobinen, Drogen, Frauenberg und Doblen nach Mietau, der Hauptstadt Kurlands, von wo ein guter Postwagen nach Riga geht.
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Mehrere Tage hielt ich mich in der Nähe dieser Hauptstadt Lievlands auf einem Landgute auf, und besuchte von Zeit zu Zeit, über die Düna-Brücke gehend, die Stadt mit dem prächtigen Rathhause und den schönen weiten Vorstädten, welche seit dem Jahr 1812 wieder neu aufgebaut sind.
Die Rückkunft des Generalgouverneurs, Herzog von Pauluzzi, aus seinem Vaterland Italien veranlaßte einen Festtag‚ an welchem die Bürgergarde ausrückte. Eines andern Tages manoeuvrirte das Sakensche Armeekorps bei der Stadt. Es that mir wehe, ergraute Militärs von jungen Offizieren, die kaum dreimal so groß als ihre Tschakos waren, schimpflich behandelt zu sehen. — Auf dem Markte empörte mich zu sehen, wie Polizeidiener ohne Rücksicht und Schonung auf die Köpfe der Bauern zuschlugen‚ und wenn der Bettler vor mir sich in den Staub bückte, um meine Schuhe zu küssen, so stand ich erröthend vor Schaam und Aerger da. Jedoch diese Menschen fühlen und urtheilen anders, und Alles hat ja auch seine Zeit. Hat man ja in Rußland — unter den Leibeigenen selbst — Widerstand gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft gefunden!
Von Riga fuhr ich mit bequemer Diligence in vier Tagen nach St. Petersburg. Ein Weg von 540 Wersten oder 77 Meilen. Eine beträchtliche Strecke gieng’s durch tiefen Sand, mit zwölf kleinen Postpferdchen, zu sechs und sechs neben einander gespannt, gewöhnlich aber mit sechs Pferden. Die Stationen sind hier kürzer als im Innern Rußlands, von 15 bis 25 Wersten. Die Posthäuser findet man theilweise auf diesem Wege auf Unkosten der Krone in neuem Geschmack gebaut und meublirt, zugleich auch als Gasthäuser, in denen man aber sehr theuer lebt. Die Gesellschaft im Wagen bestand,
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nebst dem bewaffneten Conducteur, in zwei polnischen Edelleuten mit einer gebildeten und schönen Maitresse.
In Kurland trifft man noch gute Dörfer und leidliche Krüge oder Wirthshäuser. Aber eine Menge Menschen, welche auf einem Felde mit den bloßen Händen den Mist zerrissen, und als Dünger um sich her ausstreuten, zeigten mir, daß ich nicht mehr in Teutschland sei. In Lievland läßt es sich schon nicht mehr gut reisen, wenn man sich nicht selbst mit Proviant und Bettzeug versieht, oder wenn man nicht mit eigenem Wagen und sehr langsam reist. In diesem Theile von Rußland fand ich auch eine Münze von gestempeltem Leder. Die Poststraße geht von Engelhardshof, Wolmar, Walk, Kuikatz, die Universitätsstadt Dorpat, durch Torma, längs dem Ufer des Peipus-Sees in die Provinz Esthland, über Rama-Pungern, Schudlet, nach der Festung und dem Seehafen Narwa, durch die hübsche Fabrikstadt Jamburg, über Kiskowo und Gorebskaja nach St. Petersburg.
Die prachtvolle Kaiserstadt zeigt sich schon von ferne. mit ihren vergoldeten Thurmspitzen und Kuppeln. Die Regelmäßigkeit der Straßen macht, daß man sich sehr bald orientirt. Sie schienen mir aber im Vergleich mit denen zu London leblos zu sein. Doch ist der Unterschied nicht so groß, als man anfangs denkt; denn in den zwei- bis dreimal breitern Straßen verliert sich die Masse der Menschen. St. Petersburg zählt, bei einem Umfange von 3½ deutschen Meilen, nur etwa 300,000 Einwohner, da London hingegen, bei einem Umfange von 4 Meilen, 900,000 Einwohner hat. Aber die Regelmäßigkeit der Straßen, die schönen, gemauerten Kajes, der schöne Newafluß, die Menge der Paläste und prachtvollen öffentlichen
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und Privat-Gebäude, die Kasansche und andere Kirchen, die öffentlichen Pläne — Alles macht Petersburg zu einer der schönsten Städte, wenn nicht zur schönsten Stadt der Welt.
Angenehm und lehrreich giengen mir sechszehn Tage Aufenthalt vorüber, in Verbindung mit ausgezeichneten, vortrefflichen Menschen, Russen, Engländern, Teutschen, unter denen mehrere Vielgereiste, welche mir auch von dem Volke der Nogayen-Tataren Manches mittheilten. Das fachte die Glut meiner Sehnsucht neu an, und ich warf mich wieder in den Postwagen, der in nicht vollen vier Tagen die 740 Werste nach Moskau zurücklegt. Eine die Braunschweigerin, nebst Sohn und Tochter, und ein junger Husarenoffizier waren mit im Wagen. Nicht weit von St. Petersburg fuhren wir durch eine regelmäßig angelegte teutsche Kolonie, dann bei dem schönen kaiserlichen Lustschloß Zarskoeselo vorbei, durch viele und große Dörfer, deren Häuser von Holz in ganz eigener Art gebaut sind. Die Bewohner gefielen wir sehr wohl; besonders bemerkte ich recht schöne Kinder und ehrwürdige, weißbärtige Greise. Merkwürdig war mir die ehemalige Hauptstadt des russischen Reiches — Nowogorod am Ilmensee und die Waldaische Gebirgsgegend. Von Nowogorod geht es durch die Kreisstädte Krestzy, Waldai, Wisznei-Wolgzok, Terschot und Twer. Bei Ietzter Stadt setzt man über die hier noch schmale Wolga, die weiterhin zum größten Strom Europa’s anwächst.
In der Nähe Moskau’s wurden wir von den Verwandten der Braunschweigerin mit Musik überrascht, und zogen so fröhlich in die weite Residenz ein.
Moskau gab mir in dem Treiben und Leben der Menschen mehr Stoff zu Betrachtungen als St. Petersburg; es ist eine
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ächt russische Stadt, in der man die Nation in ihrer Eigenthümlichkeit kennen lernen kann; ein Sammelplatz der verschiedenen Völker des europäischen und asiatischen Rußlands, so wie auch vieler anderer Länder in Europa und Asien. Viele der Straßen und öffentlichen Plätze sind ausserordentlich lebhaft. Eine ungeheure Anzahl Droschken durchziehen die Straßen hin und her. Bei meinen Zügen durch die Stadt traf ich auch manche noch öde Plätze, Ruinen von Häusern an — Spuren des zerstörenden Befreiungsbrandes vom Jahr 1812. Ich besuchte, durch das heilige Thor gehend, den berühmten Kremlin mit seinen schönen Kirchen, und genoß auf dem hohen Iwans-Thurme die entzückende und merkwürdige Aussicht auf die ungeheure Stadt und ihre vielen Kirchen, deren Kuppeln herrlich im Glanz der Sonne prangten. Der Kremlin selbst, die Moskwa und die angenehme Umgegend der Stadt — Alles zusammen gewährt einen überraschenden Anblick, so ganz verschieden von dem‚ den ich vor vier Monaten auf dem Stasburger Münster genoß.
Neu-Rußland. Die Molotschna.
Nach dem kurzen Aufenthalt von acht Tagen verließ ich mit noch zwei Freunden Moskau. Auf einer Anhöhe, einige Werste von der Stadt, zeigt sich dieses Meer von Häusern und Thürmen noch einmal dem Auge ausserordentlich reizend. Uns ward, um auf den Poststationen schnell befördert zu werden, ein bewaffneter Postoffiziant beigegeben, der die
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strengste Instruktion erhalten hatte, uns in Allem beizustehen. Es gieng auch recht gut, wiewohl dieser Begleiter nicht teutsch sprach, und selten nüchtern war. Wir wurden nicht aufgehalten, da sonst Fremde auf der Extrapost, auch mit der Podroschna (einem eigens erkauften Postschein) versehen, oft halbe und ganze Tage auf einer Station aufgehalten und auf die ärgerlichste Weise geäfft werden, bis sie endlich über die Taxe bezahlen. — Von der Schnelligkeit, mit welcher man in dem größten Theil von Rußland mit Postpferden reist, hat man in Teutschland keine Vorstellung; es gehen aber auch der Pferde genug zu Grunde, und selbst der Reisende läuft beständig Gefahr, den Hals zu brechen. Von dem Hemmen des Rades weiß man nichts. Mit den schwersten Reisewagen fährt man im schnellsten Gallop Berg auf und ab und über Graben und Löcher. So wird die Station von 20 bis 30, auch wohl bis 36 Wersten (etwa 5 Meilen) im gestreckten Gallop zurückgelegt, wobei die Pferde nur selten mit der Kantschu oder Peitsche angetrieben werden, sondern mehr durch ein Pfeifen des Postillons, an welches die Pferde gewöhnt sind, und wobei sie sich zu Tode rennen würden. Wie sehr sich diese Pferde überhaupt an’s Laufen gewöhnt haben, zeigte sich, um nur etwas anzuführen, vor einer Station, von welcher wir eben abgefahren. In der Nähe weideten innert einem Gehäge mehrere Postpferde; so wie wir vorbei fuhren, setzte eines der Pferde über den Zaun, und ließ sich durch nichts abwendig machen, frei neben unsern Pferden die 30 Werste im Gallop mitzurennen. Eine Werst, deren sieben eine teutsche Postmeile machen, wird gewöhnlich in drei bis vier Minuten zurückgelegt. Kuriere, welche die ausgesuchtesten Pferde erhalten, fahren noch schneller. In sehr gebirgigen und
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steinigen Gegenden geht es freilich langsamer. Die großen Poststraßen in Rußland gehen in geraden Linien über Berg und Thal. Sie sind auf beiden Seiten mit einem Graben und auf jeder Seite mit zwei Reihen Bäumen besetzt. Hohe Pfähle mit Nummern bezeichnen bei jeder Werst die Anzahl derselben, sowohl von der verlassenen als auch von der nächstfolgenden Station an gezählt.
Je weiter man nach Süden kommt, desto einförmiger wird im Ganzen die Gegend. An der Straße findet man — auch oft selbst in den Städten — nur schlechte Schenken oder sogenannte Traeteurs, in welchen weiter nichts als Branntewein, und höchstens allenfalls ein Bissen schwarzen Brotes zu finden ist. Wir fuhren durch die Gouvernements-Hauptstädte Tula, Orel, Kursk, Charkow und Ekatherinoslaw, bedeutend große, zum Theil regelmäßig angelegte Städte, in denen der Reisende einige Bequemlichkeiten genießt. Tula ist sehr lebhaft, die Universitätsstadt Charkow gut gebaut. Ekatherinoslaw, in sehr angenehmer Gegend am Dnjeper, verschönert sich mit jedem Jahr bedeutend. Uebrigens sind noch die Städte Mtzensk, Obojan, Bjelgorod am Donez und Nowomoskowsk zu bemerken.
So wie man nach Neu-Rußland kommt, findet man sowohl in der Bauart der Häuser, als auch in Sitte und Lebensart und in Gestalt und Charakter der Bewohner eine große Verschiedenheit gegen Alt-Rußland. Der Neu-Russe ist im Ganzen gutmüthiger, treuer und weniger fanatisch als der gemeine sogenannte Moskowite. Die Häuser sind, statt von Holz, von Erdziegeln erbaut und mit weisser Erde übertüncht.
Im Gouvernement Pultawa führt die Poststraße durch
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Constantinograd, wo eine teutsche Kolonie ist, von Webern bewohnt, die auch über schlechte Zeiten klagen, dabei aber ziemlich flott leben. Man kommt auch da und dort durch Militärkolonien und durch jüdische Kolonien. Letztere wollen durch Schuld der arbeitscheuen, schachersüchtigen Israeliten nicht recht gedeihen. Etwa 50 Werste von der Gouvernementsstadt Ekatherinoslaw, gegen Süden, zeigt sich das erste teutsche Dorf der sogenannten Chortitzer-Kolonie, mit Namen Neuenburg.
Wer im Innern von Rußland reist, wird sich, selbst wenn er der Landessprache mächtig sein sollte, als Teutscher doch gewiß, freuen, wieder teutsch reden zu hören, und sich nach der langen Reise unter Russen auf einmal wieder wie nach Teutschland versetzt zu sehen. Diese teutschen Kolonisten, Iauter Preussen von der Gemeine der Mennoniten, haben sowohl teutsche Bauart der Häuser als auch frühere Lebensweise beibehalten; nur sind, woran sich das Auge gerne gewöhnt, die Dörfer hier regelmäßiger angelegt. Ihre Bewohner geniessen große politische und völlige religiöse Freiheit, haben vielen und fruchtbaren Boden, und nähren sich alle nicht kümmerlich von Viehzucht und Ackerbau. Sie haben zum Theil hier die Dnjeper-Gegend inne, welche früher von den berühmten Saporoger-Kosaken bewohnt gewesen ist, bis diese nachher zum Theil an und über die Donau gezogen, zum Theil, unter der Kaiserin Katharina, in die Gegend zwischen dem Don und Kuban am Asowschen Meere angesiedelt wurden, und den Namen der Tschernomorskischen (d. h. Schwarzmeer-) Kosaken erhielten.
In Chortitz, dem Hauptorte des Gebietes, wird in
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einem eigens dazu errichteten kleinen Gebäude das schöne Privilegium der Mennoniten aufbewahrt, welches von der Kaiserin Katharina II. ertheilt und von Kaiser Paul I. bestätigt worden ist. Diese Teutschen sind schon seit etwa dreißig Jahren angesiedelt, und wohnen jetzt in achtzehn Dörfern.
In Neuenburg trennte ich mich von meinen Reisegefährten, und gieng bei dem Dorfe, Einlage genannt, über den Dnjeper, nicht weit von dessen Katarakten, in einer wilden, romantischen Gegend; dann durch die russische Kreisstadt und kleine Vestung Alexandrowsky und die Mennoniten-Kolonie Schönwiese, über Jandschukrak und Kratschukrak, durch die teutsche Kolonie Grünenthal, nach dem Hauptorte der teutschen Kolonien am rechten Ufer der Molotschna oder des Milchflusses — Prischep, auch Molotschna genannt.
Bei der auf einer Anhöhe gelegenen, schönen, auf kaiserliche Kosten erbauten Kirche der evangelischen Kolonisten genießt man einer weiten Aussicht auf die Niederungen und auf viele teutsche, auch einige russische oder Duchoborzen-Dörfer. Diese Ländereien der Teutschen an der Molotschna gehören in’s Taurische Gouvernement, zum Kreise Melitopol, dessen Hauptstadt Orechow ist. Die Kolonien jedoch stehen nicht unter der Gouvernements-Regierung, sondern unter dem sogenannten Tutel-Comptoir, oder dem Comptoir für auswärtige Ansiedler, dessen Sitz in Ekatherinoslaw ist. Dieses steht mit den beiden Comptoirs von Odessa und Bessarabien unter dem Chef aller Ansiedlungen im südlichen Rußland, welcher in Kischenew in der russischen Moldau residirt, und unmittelbar von dem Ministerium des
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Innern abhängt. Unter besagten drei Comptoirs stehen in den Gouvernements Ekatherinoslaw, Taurien, Cherson und der Provinz Bessarabien über 250 meistend teutsche, dann auch einige bulgarische, griechische und jüdische Kolonien. Mehrere Dörfer zusammen haben ein Gebietsamt. Jedes Dorf wählt sich den Dorfschulzen, das ganze Gebiet den Oberschulzen oder Gebietsvorsteher. — In kirchlicher Hinsieht stehen die Evangelischen unter dem Superintendenten in Odessa, die Katholiken unter dem Bischof vom Mohilew; die Mennoniten lediglich unter ihren selbstgewählten Lehrern und Aeltesten, welche erstere die Prediger, letztere die Bischöfe der Gemeine sind. Drei würtembergische Separatisten- Kolonien an der Berda haben ebenfalls ihre eigene kirchliche Verfassung. *)
Am rechten Ufer der Molotschna befinden sich 23 evangelische und katholische Dörfer; am Iinken Ufer 41 Mennoniten-Dörfer. Erstere sind aus Würtemberg, Baden, Darmstadt, Nassau und andern Staaten Teutschlands; letztere aus Preussen; einige wenige aus dem Zweibrückischen. Jedes Jahr werden neue Dörfer angelegt, wiewohl die Auswanderung aus Preussen sowohl als die Einwanderung in Rußland durch neue Verordnungen etwas erschwert ist. Die Lust zur Auswanderung nach Rußland hat überhaupt in Teutschland etwas nachgelassen, seitdem man mit jenem Lande mehr bekannt geworden, und die idealischen Vorstellungen von demselben durch die Wirklichkeit viel von ihrem Zauber verloren haben.
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*) Ein Verzeichniß der sämmtlichen Kolonien in Süd-Rußland folgt am Schlusse dieses Werkleins.
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Nicht weniger hat der Chiliasmus (die Erwartung des tausendjährigen Reiches Christi auf Erden), der so Viele nach Rußland trieb, durch die in Folge der großen politischen Katastrophe von 1813 für das Abendland eingetretene Friedenszeit sich sehr gemindert. Wer aber gleichwohl auswandern wollte, und wirklich auswanderte, der hat es, wie ich glaube, keineswegs zu bereuen, nach Rußland gekommen zu sein.
Von Prischep gieng ich über den Mirchfluß nach Halbstadt, dem Hauptorte des Mennoniten-Gebiets, und durch mehrere Dörfer, deren Namen sämmtlich aus Preussen entlehnt sind. Diese Mennoniten-Dörfer zeichnen sich durch gute Bauart und siehtlichen Wohlstand bedeutend vor denen am rechten Ufer der Molotschna aus. Abends langte ich in dem den Nogayen-Tataren von dieser Seite am nächsten gelegenen teutschen Dorfe Ohrlof an.
Ich hatte nun schon hinüber gesehen in das Land des Tataren-Volkes, zu dem mein Sinn von der Schweiz aus gerichtet war. Noch aber wußte ich nicht, ob und wie ich von ihnen aufgenommen würde. Ich kannte nicht den Charakter des Volkes, nicht dessen Sprache, nur wenig von ihrem Leben und ihren Sitten. Eigenthümliche Gefühle konnten jetzt meinem Gemüthe nicht ferne sein. Die scheidende Sonne zog meinen Blick nach Westen hin. Ihr nachschauend rief’s in mir: Wiedersehn ! — Wiedersehn werd’ ich Euch — Geliebte dort im Abendlande! — und nie zum letztenmal sehen! — Aber ich dachte an jenseits — kaum an die Möglichkeit diesseits des Grabes.
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Die Tataren-Familie Ali.
Es war der 27. des Heumonats, als ich in der teutschen Kolonie Ohrlof ankam. Hier war ich von St. Petersburg auf an einen begüterten, in öffentlichem Amte stehenden, wackern Mann empfohlen, welcher seit vielen Jahren in Geschäftsverbindung mit den benachbarten Nogayen-Tataren stand. — Gastfreundlich ward ich von ihm aufgenommen, als sich eben ein Nogaye bei ihm befand, dem er erzählte, wer ich sei, woher ich käme, und daß mein Wunsch wäre, die Tataren und ihre Sprache kennen zu lernen. Sogleich lud mich der Tatar ein, bei ihm zu wohnen; sogleich auch nahm ich den Vorschlag an, und von da an blieb ich dann auch bei diesem Biedermanne. Er heißt Ali. Sein Vater hieß Ametow. Er verlor ihn, als er noch das Weltlicht nicht erblickt hatte, weßhalb er den Zunamen Builuk (Kind im Mutterleibe) erhielt.
Ali ist ein Mann von einigen und vierzig Jahren, mit kräftigem aber sehr heftigem Charakter. Bei aller Abwechslung seiner Schicksale ist er dennoch ächter Tatar und guter Muselmann geblieben. Er ist in der Bulgarei, aus demjenigen Stamme der Nogayen geboren, welcher seit der Zeit des Feldherrn Nogay. (1260) die genannte türkische Provinz bewohnte. Ali hielt sich mehrere Jahre in Konstantinopel auf, machte im Jahr 1809 bei der türkischen Armee den Feldzug gegen die Russen, und erhielt mehrere Wunden, deren Spuren er noch jetzt aufweisen kann. Gefangen von den Russen, wohnte er vier Jahre im Tambowskischen Gouvernement, wo er bei einer russischen Familie als Knecht, wie
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er sagt, sehr gut behandelt, aber vergeblich angegangen wurde, den Islam mit der griechischen Kirche und ihrem Glauben zu vertauschen. — Nach seiner Auswechslung gieng er nach Rumili (Romanien) und heirathete. Zwei Frauen starben ihm kurz nach einander weg. Dann suchte er seine Brüder und Verwandten an der Molotschna und am Asowschen Meere auf, und diente in dem Tataren-Dorfe Ak-Kehrman (welches sich von Ak-Kehrman oder Bjelogrod in Bessarabien herleitet) als Tabundschik oder Pferdehirt, wodurch er zu großer Uebung im Reiten und in der Behandlung wilder Pferde gelangte. Als er aus diesem Dorfe sich ein Weib nehmen konnte, zog er nach Dömenge oder Nieder-Burkud, einem Dorfe, das von Ak-Kehrman nur sieben Werste und von dem ersten teutschen Dorfe nur fünfzehn Werste oder etwa zwei teutsche Meilen entfernt ist. Hier wohnte er dann auch bei meiner Ankunft.
Mein teutscher Freund, welcher alles Mögliche für mich that, und mir Vieles von dem Leben der Tataren, besonders ihrem frühern Nomadenleben und der Zeit ihrer Ansiedlung aus eigenen Kenntnissen und Erfahrungen mittheilte, führte mich vorerst auf einen Besuch in einige Tataren-Dörfer. Der Anblick des ersten machte einen eigenen, unauslöschlichen Eindruck auf mich. Der Gedanke, unter einem von uns so ganz verschiedenen Volke leben zu können, namentlich unter Orientalen und Muselmännern, war in mir von einer Manchen vielleicht seltsam scheinenden, freudigen Empfindung begleitet. Die Einrichtung der Häuser, die Kleidung und Lebensart der Bewohner — Alles so ganz anders, als ich es noch eben vor kurzer Zeit vor mir gesehen. Vorher nur unklares und meist unrichtiges Bild vor meinem innern Sinn,
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jetzt die lebendige Wirklichkeit vor meinem leiblichen Auge. Wahrlich ein Unterschied!
Ali nahm mich mit Freundschaft und Liebe auf. Er äusserte seine Freude darüber, dass er, gegen bisherige Gewohnheit der Nogayen, seinem Lieblings-Reitpferd, einem Blau-Schimmel (Kokat) erst kürzlich einen kleinen Stall neben seinem Hause erbaut hatte, und daß er mir nun diesen Platz als Schlafstätte einräumen könne. Er ließ nun sein Pferd wieder unter freiem Himmel, und ich zog in meine neue Wohnung ein. Nachher aber erbauten wir von Erdziegeln, anstoßend an die alte Wohnung, noch ein Zimmer, weil ich in dem Pferdestall weder vor Wind noch Regen geschützt war.
Ali hatte nur eine Frau, mit Namen Tasche, jugendlich schön, noch nicht zwanzig Jahre alt, und einen noch nicht zweijährigen Sohn, mit dem arabischen Namen Abdullah (Knecht Gottes).
Am ersten Tage meines Weilens in Alis Hütte brachte mir die Frau in einer hölzernen Schüssel eine Art Suppe, von den Nogayen Lachsa Schorba genannt. Das Ganze hatte kein reinliches Aussehen. Nur mit Zwang konnte ich etwas geniessen, um nicht Verachtung gegen die Speise und die Kochkunst der Tataren zu zeigen. Schon begreife ich jetzt selbst kaum mehr, wie ich nachher diese und noch viel schlechter und unreinlicher zubereitete Speise mit Appetit essen konnte. Die Frau mochte sich wohl auf des Mannes Geheiß Mühe gegeben haben, dem Fremden etwas recht Gutes und Schmackhaftes zu kochen. Doch schien sie nicht in guter Stimmung zu sein; denn indem sie die Schüssel brachte, schnitt sie ein häßliches Gesicht, und es entfuhren ihr Schimpfwörter
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Jauer, Kaper (Abtrünniger, Ketzer). u. dgl. *) Wie hätte ich ihr’s verübeln können? Sie mußte wohl denken, daß sie nun einen Menschen mehr im Hause habe, der ihr Arbeit und Mühe mache, dem sie, gleich allen Männern, werde dienen und aufwarten müssen, und der noch dazu ein — Christ oder, was ihr einerlei galt, ein Kopek (Hund) sei. Noch wußte ich nicht, daß sie von ausgezeichnet fanatischen Eltern erzogen und zudem auch träge sei. bald sah sie sich jedoch in ihrer von dem Fremden gehegten Vorstellung getäuscht. Ihr Gesicht erheiterte sich, als ich sogleich nach dem Essen den Besen ergriff und das Haus auskehrte, getrockneten Mist an’s Feuer brachte, und ihr alle Aufmerksamkeit bewies. Von einem beträchtlichen Theil ihrer Arbeit sah sie sich durch mich bald entlediget. Warum sollte ich einem armen Weibe, das, wie alle Tatarinnen, zu viel Arbeit hat, und dem die Arbeit noch dazu eine Last ist, nicht gerne das Schicksal erleichtern? warum einem sklavisch behandelten Wesen, wie es das Weib des Morgenländers beinahe durchweg ist, die Freude nicht gerne gönnen, noch Jemand unter sich zu sehen und beherrschen zu können? Uebrigens war, was ich ihr that, nur Nebensache; die Hauptsache blieb die Besorgung des Viehes, da Ali in Geschäften oft mehrere Tage nach einander abwesend sein mußte. Von weit verzweigten Geschäften konnte bei Tataren die Rede nicht sein. Zudem war Ali ein
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*) Kiafer, Kafer bezeichnet auch bei den Arabern selbst einen Ungläubigen. Daher der allgemeine Name Kaffern für so viele Völker Südafrikas. In Persien hat der Ausdruck: Gaur, Geber ungefähr dieselbe Geltung.
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armer Tatar. Doch mußte auch diese kleine Wirthschaft besorgt sein.
So war ich den ganzen Tag mit allem dem beschäftigt, was in einer Tataren-Wirthschaft vorkommt; immer mit und unter Tataren, ausser wenn ich etwa allein das Vieh auf der Steppe weidete. Ich aß mit den Tataren; des Nachts gieng ich in meine kleine Hütte, zu schlafen. Die große Lehrerin Gewohnheit machte mir allmählig Alles erträglicher, die morgenländischen Sitten, die Art zu sitzen, die Speisen und Getränke. Anfangs mußte ich mich durch Geberden verständlich zu machen suchen; bald fanden sich jedoch die nöthigsten Ausdrücke, und wichtige Geschäfte und Verhandlungen standen ja keine zu erwarten. Durch den teutschen Freund hatte ich dem Ali erklärt, daß ich keineswegs gekommen sei, müßig zu sitzen, ihm und den Seinen lästig zu sein; daß ich mit Arbeit ihm dienen, und auf jede mir mögliche Weise ihn in seine Wirthschaft unterstützen würde.
So viel Abschreckendes auch in meinen Beschäftigungen und der Lebensweise bei den Tataren war, so fand ich doch Alles noch viel besser und erträglicher, als ich mir es vorgestellt hatte. Die Unreinlichkeit und das viele Ungeziefer blieb immer das, woran ich mich nicht gewöhnen konnte noch wollte, dem ich nur aus Noth, weil ich nicht getrennt, sondern gemeinsam mit den Tataren zu leben mir vorgenommen, mich unterwerfen mußte, da die Tataren ihre ganze Weise zu sein und zu leben für untadelhaft halten, von Eckel nicht leicht ergriffen werden, und ein Ungeziefer wohl gar als einen nicht zu verachtenden Gast betrachten.
Wie hätte ich mir einfallen lassen können, meine Ansicht und Empfindung ihnen sogleich aufdringen zu wollen! Wie
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übel angebracht wäre ein beständiges Tadeln gewesen, da mich die Tataren nicht hergebeten hatten, sondern von mir waren aufgesucht worden! „Uns ist es so gut genug!“ hätten sie mir, wenn nicht mit Recht, so doch mit der allenthalben herrschenden National-Selbstigkeit, sagen können, — „gehe in dein Land, wenn es dir nicht recht ist!“
Nur von der Zeit konnte etwas erwartet werden. An Ali hatte ich die Freude, wenigstens in dem Punkte der Unreinlichkeit Veränderungen zu bemerken. Die Frau hingegen schien völlig unempfänglich zur Besserung, und machte ihre Sache nach wie vor mit Gleichgültigkeit, Unordnung und Unreinlichkeit.
Angenehm war es mir, mich durch so Vieles bei den Tataren an die Zeit der Erzväter und überhaupt an die Bibel erinnert zu sehen. Die Art das Vieh zu behandeln, die Kameele, die Cisternen, das Mahlen zweier Weiber auf einer Mühle, die Kleidung der Weiber, die Spangen, Stirn- und Armbänder; sodann die Feste und Opfer, die Gebräuche der Gastfreundschaft und noch so Vieles im Ehelichen und Häuslichen, das mich gleichsam in jene uralten Zeiten einfachen Hirtenlebens zurück versetzte.
Die Freundschaft und Liebe, die mir Ali bewies, machte mir den Aufenthalt bei ihm zu wahrer Freude, die um so ungestörter war, da ich sah, daß ich auch ihm einigermaßen nützlich sein konnte, — nicht daß Ali großen Vortheil an mir hatte, und mich etwa nur deswegen in seinem Hause duldete. Er hat ein liebendes, gefühlvolles Herz, und betrachtet als Muselmann die Art und Weise, wie ich zu ihm kam, als höhere Leitung. Mehrmal sagte Ali zu mir: „Nicht von ungefähr war ich gerade zur Zeit deiner Ankunft bei dem teutschen Freunde. Gott hat dich zu mir geführt! Ich
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betrachte dich als meinen Freund, als meinen Sohn. Alles, was ich habe, ist auch dein. Nimm dir das Beste, was du im Hause findest und nöthig hast. Nimm dir auch Reitpferde, so oft du andere Tataren-Dörfer oder Teutsche besuchen willst. Arbeite so viel und was du willst, und wenn du auch nicht arbeitest, so wird es mich nicht weniger freuen, wenn du bei mir bleibst.“ — Wer würde von Christen eine freundlichere Sprache verlangen, ja von den Meisten so viele Humanität auch nur erwarten?
Unter den benachbarten Teutschen lernte ich manche redliche, christlich gesinnte Menschen kennen, so daß meine Lage nicht nur erträglich, sondern meinen Wünschen und Bedürfnissen sehr angemessen war.
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Rückreise nach der Schweiz.
Cherson und Odessa.
Ein wichtiger Brief der Meinigen rief mich von den Tataren weg‚ die ich ungerne verließ. Spätestens in einem halben Jahre hoffte ich jedoch wieder am Asowschen Meere zurück zu sein. Den 15. des Oktobers 1822 verließ ich die Molotschna. — Ali schenkte mir ein Pferd mit Sattel und Zaum, und er fühlte sich beleidigt, daß ich bezahlen wollte, und anstand, es als Geschenk anzunehmen. Er selbst wollte mich über die öden Steppen bis auf die große Poststraße bei Cherson begleiten; als wir aber am dritten Tage Teutschen begegneten, welche nach Odessa reisten, so nahm ich Abschied von ihm. Weinend fiel er mir um den Hals, was mir die Trennung von diesem wackern Tataren noch empfindlicher machte. In den rührendsten Ausdrücken wünschte er mir glückliche Reise, gab mir Grüße auf an alle Freunde und Verwandte in der Schweiz, besonders aber an meine Mutter, wenn ich sie noch am Leben
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anträfe, Er schloß mit dem aufrichtigen Wunsche, daß ich bald wieder glücklich zurückkommen möchte. — Das werde ich auch, guter Ali!
Ueber schlecht bewohnte, wasserlose Steppen, auf denen nur in großen Entfernungen ein Dorf, eine sogenannte Kaserne, von einigen Invaliden besetzt, oder auf den Besitzungen der Edelleute ein elendes Wirthschaftsgebäude, von den Russen Kuter genannt, sich zeigt, kamen wir an den Dnjeper, an dessen Ufer man eine große Strecke in tiefem Sande zu fahren hat. Hier findet man eine Menge Tschumaken oder russische Fuhrleute mit kleinen Wagen, die mit Ochsen bespannt sind, und in großen Karamanen von den Ufern des Asowschen und faulen Meeres *) Salz in’s Innere von Rußland oder aus den östlichen Gegenden Getraide nach Odessa führen. An dem Orte, wo man über den Dnjeper setzt, ist dieser Fluß bedeutend breit. Der Uebergang geschieht auf großen Fähren im Frühling und Herbst oder im Winter, wenn er nicht zugefroren ist; im Sommer ist eine Schiffbrücke geschlagen.
Am jenseitigen abschüssigen Felsenufer erblickt man die Stadt Bereslaw. Sie gewährt in der Ferne wegen ihrer Lage und regelmäßigen Bauart einen stattlichen Anblick. Man freut sich, aus der weiten, öden Steppe kommend, eine so schöne Stadt zu sehen; aber wie bei fast allen kleinern russischen Städten verschwindet ihre Pracht, so wie man näher kommt, und man findet nichts als einen Haufen Erdhütten
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*) Ueber die geographischen Namen dieser Gegenden folgt ein eigener Anschnitt, auf den wir hier ein für allemal verweisen.
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und hölzerner Kirchen. — Bei Bereslaw trifft man die große, mit mit steinernen Werstpfählen versehene Poststraße an. Bei Täginska kommt man über den Ingulez und von da nach dem Gouvernements-Hauptort Cherson, einer großen Stadt an dem Ausflusse des Dnjepers in das schwarze Meer. Sie ist regelmäßig gebaut, und hat eine gut unterhaltene kleine Festung oder Citadelle. Nicht weit von der Barriere steht des Menschenfreundes Howards Denkmal. Potemkin, dem Taurier und Günstling der Kaiserin Katharina, hingegen ist keines gesetzt. Bei dem ehemaligen Gouvernements-Hauptorte Nikolajew, einer großen Stadt mit vielen schönen Gebäuden und breiten Straßen, setzten wir über den breiten Bug oder eigentlich den Liman oder Meeresbusen, der weiter oben den Bug aufnimmt. Hier liegt ein Theil der russischen Kriegsflotte.
Die Reise von der Molotschna nach Odessa ist ziemlich - beschwerlich für den, der sie nicht in eigenem Reisewagen und nicht mit der Post macht; in den sogenannten Trakteurs ist sehr wenig zu finden; und vor Ungeziefer ist man in den Häusern nicht sicher. Man zieht es daher vor, auf der Steppe neben der Straße zu bivonakiren.
Jeden Tag ritt ich etwa 70 Werste oder 10 Meilen, was in diesen Gegenden wenig ist. Auf einer Strecke von 70 Wersten von Odessa *) kommt man über mehrere Berge, zwischen
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*) Diese Stadt ist unter der Kaiserin Katharina unter der Oberaufsicht des Admirals Ribas, der die hier befindliche kleine Festung Gadjibei den Türken entrissen, angelegt worden, kam aber erst unter der Leitung des Generalgouverneurs vom südlichen Rußland, Herzog von Richelieu, in Flor.
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denen sich das Meer hineindrängt und Busen bildet. Die Stadt zeigt sich von ferne auf dem hohen Ufer, und man wird gespannt, sie recht bald zu erreichen; aber die Geduld wird in tiefem Sande geübt, der sieben Werte bis an die Stadt reicht, und den schnellen Gang der Pferde hemmt.
Die Lage der Stadt, die Regelmäßigkeit der Straßen und gute Bauart der Häuser macht sie zu einer der schönsten Städte Rußlands. Bemerkenswerth sind die neu erbauten Ouarantaine- Gebäude, das Theater, der Kronsgarten, das Richelieusche Lyceum, die Festung und die beiden Hafen, in denen es von Schiffen wimmelte. Den Mangel an Trinkwasser und gepflasterten Straßen wird immer mehr abgeholfen. In wenigen Städten werden vielleicht mehr verschiedene Sprachen gehört als hier. Fünf oder sechs Sprachen erlernt zu haben, ist noch nichts Ungewöhnliches, ein Siebensprächler hiemit kein Wunder. Am meisten wird Neugriechisch und Russisch gesprochen, dann Italienisch und Französisch, hierauf Teutsch, Englisch, Türkisch, Armenisch, Polnisch, Tatarisch, Moldauisch, Jüdisch. Neben der neuesten Modetracht der europäischen Städter findet man Armenier, Griechen, Karaiten, Türken, Juden, Tataren und Russen in ihrem eigenthümlichen Costüm. Die Gegend aber ist, im Gegensatze dieses bunten Wesens, kahl, und gewährt dem Auge nichts Angenehmes. Die Stadt ist ein Freihafen, und der Handel über das schwarze Meer nach der Türkei und Italien, besonders mit Waizen, noch immer bedeutend, wenn auch nicht mehr wie früher.
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Polen. Gallizien.
Mit sehr guter Gelegenheit setzte ich die Reise durch die Gouvernements von Cherson, Podolien und Volhynien bis nach Brody in Gallizien fort, und zwar auf dem sogenannten Judenweg , der um hundert Werste kürzer ist als die Poststraße. Die gute Kalesche wurde von vier starken Pferden gezogen, aber leider von einem Juden geleitet, mit dem wir auch Sabbat halten mußten. Der größte Nachtheil für den Beutel würde den Juden nicht bewegen, den Sabbat zu brechen. Der Flachkopf von Christen lacht über eine solche Pietät als über Aberglauben; der Denkende aber schämt sich wohl eher für sich und seine Religionsgenossen, die darin vom Juden meist übertroffen werden, was freilich nicht allemal innern Werth hat. — In den Wirthshäusern hält der Jude Christen zu Knechten und Mägden, durch die der Fremde am diesem Tage bedient wird. Auf dem ganzen Wege von Odessa durch das alte Polen bis nach der Gränze sieht man fast nur Juden; die übrigen Bewohner scheinen die kleinere Zahl auszumachen. Verstand, Witz und Klugheit ist dem polnischen Juden fast durchgehends eigen; aber eben so voll sind sie von Betrug und Lüge, von Schmutz und desto leerer an anderweitiger Bildung. Ihre Armuth oder Geldgier läßt sie alles ausdenken, um den Fremden zu hintergehen. Kommt man in ein Dorf, so balgen und prügeln sie sich oft herum, weil jeder den Reisenden aufnehmen und etwas von ihm erhaschen will. Jeder betheuert, das beste Logis zu haben, und daß alles Mögliche bei ihm zu finden wäre, und doch wird höchstens ein schlechtes, unmeublirtes Zimmer und,
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wenn es gut geht, neben schlechtem Branntewein und etwas Brot noch ein Stück Fisch — schmutzig ıund theuer — gefunden. Es muß von Allem der Preis zum voraus bestimmt werden. — Die Unreinlichkeit, das Lästige dieser Juden, die im Ganzen nicht angenehme Gegend, der Koth in den polnischen Dörfern, das Ungeziefer, von dem ganz frei zu bleiben fast unmöglich ist, — Alles mehrte den Wunsch, recht bald in Teutschland zu sein. Der Dörfer sind sehr viele auf dieser Strecke von 650 Wersten bis zur Gränzstadt Radziwilow. Bedeutende Städte sind: Balta, Olgopol, Tultschin, Braslaw, Littin, Neu- und Alt-Constantin.
Ohne die geringste Ungelegenheit passirten wir einen Theil der russischen Observationsarmee. Was mir auf dem Wege noch besonders auffiel, waren verschiedene polnische Weibertrachten und der Abstand zwischen den elenden Erdhütten der Bauern und einigen großen, prachtvollen Gebäuden Adelicher.
An der Barriere zwischen den Städten Radziwilow und Brody betrat ich mit Freude, nach einer Reise von neun Tagen von Odessa, Oesterreichs Boden. Gerne gab ich dem Kosaken, der den Schlagbaum öffnete, sein Schnaps- oder Brannteweingeld. Die Reise schien mir so gut als beendigt.
Brody ist eine Freistadt, und fast allein nur von Juden bewohnt, wird auch wohl das teutsche Jerusalem genannt; doch giebt es einige teutsche Gasthöfe. Hier mußte ich mich mehrere Tage aufhalten, da sich ein jeder aus Rußland kommende Reisende mit einem österreichischen neuen Passe aus Lemberg zu versehen hat.
In einer sogenannten Wiener Landkutsche verließ ich Brody mit einigen Reisegefährten. Die sogenannte Kaiserstraße
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führt nach Wien erst durch die Hauptstadt Galliziens, Lemberg, groß und gut gebaut, dann durch mehrere Kreisstädte und durch fruchtbare und angenehme Gegenden bis nach Bochnia und Wielizka, in welchen Städten ich die berühmten Salzbergwerke besuchte. Das von Bochnia ist tiefer als das in Wielizka, aber dieses ist weitaus schöner, und übertraf alle meine Erwartungen. In Bergmannskleidung wurde ich achtzig Klafter tief in eine Schacht hinuntergelassen, und mußte nachher noch mehrere hundert in das Salz oder den Berg eingebauene Stufen hinabsteigen. Durch viele Gänge, in denen man eines Führers bedarf, kommt man endlich in das große Gewölbe, wo viele Bergleute bei’m Lampenschein, bis auf die Leinhosen ganz nackt, arbeiten. In einem andern sehr hohen Gewölbe befindet sich eine ganz in das harte Salz eingehauene Kapelle, in der Alles, Bänke, Altar, Säulen, Crucifix, Leuchter, Verzierungen aus Salz gehauen ist. Noch in einem andern ungeheuern Gewölbe ist ein See, auf welchem wir in einem Kahn eine Reise machten, die einem Griechen den Nachen Charons auf dem Styx hätte veranschaulichen können.
Von Wielizka führte mein Weg nach Podgorze, von wo aus ich Krakau mit seinen schönen Kirchen besuchte, und dann über Teschen durch österreichisch Schlesien und durch Mähren die Reise fortsetzte. Bei Weiskirchen verliessen wir die Hauptstraße, um, Olmüz und Brünn ausweichend, einen nähern Weg einzuschlagen. Wir kamen über das Schlachtfeld von Austerlitz, dann nach Pohorliz, Nikolsburg und durch das Land unter der Enns an die Donau, und über die Brücke derselben, den schönen Inseln vorbei, nach der Kaiserstadt Wien. Ohne besonders
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merkwürdige Begebenheit Iegten wir den Weg von hundert und zehn Meilen von Brody aus in dreizehn Tagen zurück.
Oesterreich und Tyrol.
In der schönen Residenz Wien hielt ich mich nur drei Tage auf, im welcher Zeit die Stadt und einige Merkwürdigkeiten freilich nur flüchtig beschaut werden konnten.
Ueber München gedachte ich so schnell als möglich zu reisen, um bald die Schweiz zu erreichen. Ich eilte demnach über St. Pölten, Mölk, Enns nach Braunau und über die Innbrücke an die baierische Gränze, jedoch, in Ermanglung des Viso des königl. baierischen Gesandten in Wien, nicht weiter. Die Mittel, welche in Rußland gewöhnlich helfen, wollten hier nicht anschlagen. Ich wählte also den weitern Weg durch’s Tyrol. Da mir München schon bekannt war, durfte ich den Umweg nicht bereuen, da Salzburg und Tyrol einem Schweizer, der das Großartige seiner Vaterlandsnatur liebt, so viel Reiz gewährt, und auch in seinen Bewohnern manches Eigenthümliche bietet. Von Salzburg aus machte ich, der baierischen Gränze zulieb, die Reise mit einem Führer auf einsamen Fußpfaden über die Gebirge, wodurch ich Reichenhall u. s. f. vermied. Durch Hallein, Werfen, St. Johann in Salzburg, den berühmten Lugpaß und Zell, kam ich bei St. Johann in Tyrol wieder auf die Heerstraße und über Wörgl, Schwaz und Hall nach dem schön gelegenen Innsbruck und weiter durch das
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Oberinnthal auf des Arlbergs merkwürdigem Pfade über Bludenz und Feldkirch nach der Schweiz. Man erlasse mir hier, was der Leser ohne meine Worte so gut sich denken kann, als bloße Worte es möglich machen. Mein Herz schwoll empor zu den Gebirgen des Vaterlandes, deren Vorlager ob Altstädten bald mein Fuß nun betrat. Welch ein Heimathsgefühl, als ich durch die vormals so oft von mir bewanderten Wege Appenzells eilte, und auf Vögelisegg den Bodensee statt des schwarzen Meeres erblickte, welches ich vor sechs Wochen verlassen hatte! Alles schien mir ein Traum zu sein. Den 7. Dezember Abends war ich bei meinen Geliebten. Vieles hatte sich in der kurzen Zeit geändert. Mein Herz aber war Dank gegen Gott.
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Zweite Reise aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere, durch Baiern, Sachsen, Schlesien über Krakau, Brody und Odessa, und zurück über Odessa, Constantinopel, Smyrna, den Archipel, das Mittelmeer, Livorno, Florenz, Mailand, den Comosee und den Splügenpaß.
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Baiern, Sachsen, Schlesien.
Der Hauptzweck meiner Reise nach der Schweiz war erreicht. Nichts konnte mich bewegen, nicht wieder mit den Tataren mich zu verbinden. Gieng ich ja jetzt nicht mehr aufs Ungewisse; hatte ich ja mein Ziel gefunden und die Ueberzeugung erlangt, daß mein Leben dort mir und Andern nicht nutzlos sein könne, und — der Hauptgrund meines Entschlusses — wußte ich ja nichts, das meinen Bedürfnissen und Wünschen entsprechender gewesen wäre. Den 3. des März 1823 gieng ich über den Rhein und nahm auf einer Anhöhe an Bodensees Ufer, zwischen Bregenz und Lindau, abermals Abschied von der lieben Schweiz. Zu Fuße wanderte ich durch das fruchtbare Baierland über Memmingen und Landsberg nach der Residenzstadt München, wo ich mich des frühern Aufenthalts erinnerte, und noch die Gemäldegalerie, das große neue königliche Krankenhaus und einige andere Merkwürdigkeiten besah.
In Augsburg wandelte mich diesmal nicht die Luft an, die Sonnenflecken zu betrachten; hingegen ergötzte mich die Anschauung einer beträchtlichen Privat-Gemäldesammlung.
Von Nürnberg wählte ich von den beiden mir schon
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bekannten Straßen über Bamberg, Lobenstein, Schleiz und Baireuth, Hof, Altenburg und Borna diesmal, aus Veranlassung eines Reisegesellschafters, letztere, und hatte dabei die erste Erfahrung zu machen, wie sich eine Gesellschaft Menschen, eingeschlossen in einen Kasten und schlafend übereinander geworfen, im Augenblicke des plötzlichen gleichzeitigen Erwachens benimmt. Der ordentliche Bruch eines Wagens hatte mir auf früherer Reise Zeit verschafft, von Eisenach aus die Wartburg zu besteigen und Luthers Dintenfleck zu sehen. Diesmal vor Altenburg umgeworfen, mußte ich mit Rippenstößen und Fußtritten vorlieb nehmen, da ich zu unterst zu liegen kam.
Leipzig, mit seinen schönen Promenaden, kam mir ausser der Meßzeit, ungeachtet der großen Studentenzahl, nicht sehr lebhaft vor. Der kurze Aufenthalt ließ mir mehr nur angenehme Rückerinnerung an frühere Zeit. In gut besetztem Eilwagen fuhr ich über Wurzen und die herrliche Meißnergegend nach dem schönen Dresden. Der angenehmste Aufenthaltort für mich, sowohl in Hinsieht der Stadt selbst, als der interessanten Bekanntschaften, die ich jetzt erneuern konnte. Nachdem ich auch in der Nähe Dresdens einige Gegenden und Schlösser besucht hatte, gieng ich aus der Altstadt über die schöne Elbebrücke, über Bischofswerda, Bauzen, Niesky, Reichenbach und Löbau nach Herrenhut, dem Hauptorte der Brüder-Unität. Ein angenehmer, regelmäßig und schön gebauter Ort, in welchem neben dem Bet- oder Versammlungshause noch mehrere Gebäude sich durch Einfachheit sowohl als durch Schönheit und Größe auszeichnen. Schon früher hatte ich diesen Ort, so wie mehrere andere der Brüdergemeine besucht, als : Königsfeld,
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Neuwied, Zeist, Ebersdorf, Gnadenberg und jetzt wieder Kleinwelke und Niesky.
So wenig ich je wünschte, ein förmliches Mitglied dieser Gemeine zu sein, so gerne hielt ich mich in einem Orte der Brüdergemeine als Gast auf, so daß ich nicht leicht in der Nähe meines Weges einen solchen Ort unbesucht ließ. Die Mitglieder dieser Gemeine haben im Ganzen ein weniger steifes, ängstliches und gezwungenes Wesen, als man gewöhnlich bei denen in der Diaspora (d. h. den hin und her zerstreut Lebenden) bemerken will. Jene haben das Auszeichnende in ihrer äussern Gemeineeinrichtung, und sehen diese von Besuchenden aller Konfessionen und selbst von sogenannten Freidenkern sehr oft gelobt; diese hingegen können sich nur durch angenommene Manieren auszeichnen, und sehen sich meistentheils zurückgestoßen, — ja schon um des Namens willen von denen, die eine Gemeine nie selbst kennen lernten, und die einem frommen und stillen Wesen überhaupt abhold sind, getadelt und wohl gar verachtet.
Wer aus der Lausiz und Schlesien aus armen, schlechten Bauerdörfern in die regelmäßigen, reinlichen, Wohlstand oder doch Ordnung anzeigenden Orte der Brüder-Unität kommt, dem wird’s wohl um’s Herz, und wie Viele würden sich glücklich schätzen, Mitglieder dieser Gemeine zu sein, und für immer da wohnen zu können! Wie viele aber bleiben vorsätzlich oder doch stumpfsinnig im Pfuhl des Elendes liegen; denn ein Herrnhut müßte sich überall nach und nach anlegen lassen.
In den Gemeine-Logis findet der Fremde gute Aufnahme und, besonders mit Empfehlung versehen, auch überall in der Gemeine.
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Die erhebende Schönheit und Einfachheit des Betsaales, die ausgezeichnet gute Vokal- und Instrumental-Musik beim Gottesdienste; das gute Aussehen, besonders des weiblichen Geschlechtes, in reinlicher, doch nicht vortheilhafter Kleidung muß gewiß Jeden ansprechen. Schade, daß man sich insgemein zu sehr mit dem schönen Aeussern begnügt. Es befremdete mich, das erstemal, nach Beiwohnung einer feierlichen Handlung, beim Herausgehen aus dem Betsaal, gefragt zu werden, wie mir die Sache gefallen habe. Alle werden freilich so nicht fragen, und wo ist der Mensch, der nicht zu viel oder zu wenig auf äussere kirchliche Gebräuche hält, sondern da und in allen Dingen die goldene Mittelstraße und den nächsten Weg zum Ziele geht? Vielleicht mögen sich in der Brüdergemeine nach Verhältniß der Anzahl der Glieder mehr wahrhaft christliche und sittlich gute Menschen finden, als in den größern Kirchenpartheien; aber, würde nicht auch die Brüdergemeine bei größerer Ausdehnung an innerm Gehalt verlieren? Und sind es nicht die in größern Kirchen Aufgezogenen, Unterwiesenen und zu neuem Leben sich erweckt Fühlenden, hernach in die Brüdergemeine Uebergetretenen, welche wieder mehr und weniger neues Leben auch unter ältere Mitglieder und in die ganze Gemeine bringen? Wenige treten aus anderm als aus religiösem Bedürfniß, das in der größeren Kirche nicht gewünschte Befriedigung fand, zur Brüdergemeine über. Es kommen also meistens nur solche, die das Bessere suchen, nicht aber leere, kalte, dem Religiösen abgestorbene Gemüther.
Wo mehr Freiheit ist, da tritt das Böse greller hervor; das Gute hat aber auch mehr Anlaß, sich zu bilden und zu üben. Die Brüdergemeine, so wie jede stark bindende Glaubens-
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und Kirchenform, scheint doch nur auf Kosten einer tiefern Erleuchtung und weitern Fortschreitung des menschlichen Geistes sich zu erhalten. Wenige nur können Fesseln tragen, ohne sich am Ende so daran zu gewöhnen, daß sie selbst unvermerkt in knechtischen Sinn versinken, der nicht selbst prüft und forscht, sondern sich lediglich Anderer Meinung hingiebt. Durch eine gewisse hierarchische Verfassung wird der Fortbestand der Brüdergemeine in ihrer jetzigen Form bewacht. Jeder denkt zwar, was er will; aber er hört auf, ein Glied der Gemeine zu sein, wenn er selbstständig und selbstthätig Ueberzeugungen laut werden läßt, die nicht in den allgemein angenommenen Ton passen, der von den Vorgesetzten bestimmt worden, und der auf alle mögliche Weise durch alle Zweige der äussern und innern Verwaltung, durch Erziehung, Lektüre, Predigt, immer neu gestimmt und erhalten wird. — Doch wenn nur Christus verkündigt wird! So mag denn auch diese Gemeine Vielen ein Segen sein.
Einen großen Einfluß auf den Geist der Gemeine müssen die großen Pensions- und Unterrichtsanstalten haben, welche der Gemeine bedeutenden ökonomischen Nutzen gewähren. Die diesen Anstalten gerne anvertrauten Kinder anderer Konfessionen bringen so Manches in die Gemeine, was besonders für die Jugend derselben nicht ohne wichtige Folgen sein kann. Auch da also, wo man es am mindesten vermuthen würde, spürt man das Wehen des Geistes der Zeit, der das Zufällige, die Form, überall unvermerkt umgestaltet. Das Bewegliche wird bewegt werden, und was fallen kann, fallen; die Wahrheit aber und das Gute wird ewig bleiben.
Die Gemeine feierte eben auf dem Hutberge in dem schönen Gottesacker bei Sonnenaufgang mit Musik, Gesang und
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Gebet die Auferstehung des Herrn aus dem Grabe, nachdem Abends vorher im Betsaale das Liebesmahl gehalten worden. Auch diesmal war mir als Gast recht wohl hier; nur ein am Abend im ledigen Brüderhause, wie mir schien, gezwungenes und unter Angst herausgepreßtes Gebet konnte ich aus Mitleiden nicht von Herzen mitbeten.
Von Herenhut machte ich mehrere Umwege durch Schlesien bis Krakau. Ich berührte hin und her die Orte Königshayn, Jänkendorf, Görliz, Bunzlau, Schweidniz, Reichenbach, Peterswaldau, Gnadenfrey, Jordansmühl, Breslau, Ohlau, Brieg, Grotkau, Reisse, Troppau, Ratibor und Riebnitz. Welch trockener Katalog! Aber der meiste Raum dieses Buches gehört den Tataren; die allgemeinen Merkwürdigkeiten der von mir bereisen Orte sind längst bekannt; vieles Merkwürdige, was mir auf dieser Reise begegnete, knüpfte sich an Persönlichkeiten, mit deren öffentlicher Kunde den Betreffenden oft wenig gedient ist.
Bis nach Breslau war die Reise eine Reihe von Genüssen des Wiedersehens und der Freude. Ueber Breslau hinaus nahm sie einen andern Charakter an. Nicht weniger merkwürdig und lehrreich wurde sie, nur beschwerlicher. Sie trat in den grellsten Kontrast gegen den frühern Theil, sowohl was sie selbst, als was den Umgang mit Menschen betraf. Der Abstand würde aber auch zu groß sein, wenn man sich aus Teutschland sogleich unter die Tataren versetzt sähe, und nicht in Polen und Rußland erst vorbereitet würde. — In Troppau ward meiner Nachlässigkeit abermals ein Verweis zu Theil; ich wurde nämlich, wegen Mangel des Viso des österreichischen Gesandten in Dresden, von der Gränze abgewiesen,
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und mußte zurück, um auf preußischer Seite nach Krakau zu reisen.
Krakau. Brody. Bessarabien.
Durch manche Schwierigkeit mich durchwindend, kam ich denn endlich nach Krakau. Ich hatte beträchtliche Strecken zu Fuße zurückgelegt, welches mir den Vortheil gewährte, manche elende Hütte besuchen zu können, das Landvolk in seinem Leben, in Armuth uud Elend kennen zu lernen, und mehr Theil zu nehmen an dem Wohl und dem Wehe der Brüder in der Welt. Wie wenig noch weiß der, der ein Land in Eilwagen durchreist, und nur etwa in großem Städten, in Gasthöfen und auf der Passagierstube sich aufhält — kurz, der nach der Mode reist! Der Fußgänger geht rechts und links von der Straße ab, Merkwürdigkeiten zu besehen; ein hübsches Dorf, ein Schloß, eine Ruine, Naturscenen, Volksthümlichkeit. Und wie viel mehr wird der Muth, die Selbstständigkeit und Selbstthätigkeit eines Menschen in Anspruch genommen, der sich nicht auf die Anordnungen und Einrichtungen verlassen kann, die dem Postwagenreisenden nichts zu sorgen übrig lassen? Der Fußreisende kommt in hundert Fälle und Umstände, in denen er sich selbst helfen muß, und sein Charakter, sein ganzes Wesen geprüft und erprobt wird.
Von Krakau aus reiste ich mit Juden durch Gallizien, über Lemberg und Brody an die russische Gränze,
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nach Radziwilow, von wo ich mit der unter den Juden eingerichteten Extrapost, die eben so schnell geht als die russische und wohlfeiler ist, nach Berditschew fuhr. In dieser Stadt, welche viel Handel treibt, und früher großentheils Eigenthum einiger Schweizerhäuser war, mußte ich mich einige Tage aufhalten. Dann gieng es in einem sogenannten Boote oder halbbedeckten, großen Judenwagen durch einen Theil des Kiowschen Gouvernements und durch Polodien nach Odessa.
Wer nicht die polnische oder russische Sprache kennt, der ist in diesen Gegenden noch recht froh, Juden zu finden; wiewohl sich kein unangenehmeres Reisen denken läßt, als mit diesen schmutzigen, schwarzgekleideten, bärtigen Menschen voll Ungeziefer, durch die man in schlechte Judenquartiere geführt wird.
Aber welche Gedanken erweckt der Anblick dieses Volkes ?! Wer muß nicht erstaunen, ein zahlreiches Volk zu sehen, das schon so manche Jahrhunderte hindurch in allen Umständen, unter Verfolgung und Druck aller Art, als ein ganz abgesondertes sich erhalten, mit all den Eigenthümlichkeiten den merkwürdigen Unterscheidungsszeichen des Glaubens und seines alten, nur noch ein wenig heruntergestimmten, vergröberten Charakter! Wenn man sich erinnert, was dieses Volk ehemals war, und sieht, was es jetzt ist, wer hat dann nicht buchstäbliche Erfüllung aller Drohungen der Propheten Gottes vor sich? Ist es befremdend, aus dem besondern Umstande der Unvermischtheit dieser längst politisch unselbstständig gewordenen Nation die Erwartung abgeleitet zu sehen,
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daß es noch zu einer großen und wichtigen Bestimmung aufbehalten sei? Sollten nicht die alten Orakel dieses Volkes einst an ihm noch, auf eine geistigere Weise, in Erfüllung gehen, vielleicht dasselbe sogar noch in sein Vaterland wieder zurückkehren? Sollte es wohl sich nun nach und nach auflösen und durch getroffene Maßregeln irgend eines Staates sich mit demselben vereinigen und verbürgern? Ihr Vaterland ist Palästina, ihr König der erwartete Messias. Sie bleiben, wo immerhin sie sich aufhalten mögen, Fremdlinge.
Die Beharrlichkeit und der Eifer des Juden, in Beobachtung äusserer religiöser Gebräuche, ist zum Erstaunen. Das Gebet verrichtet jeder zur bestimmten Stunde, auch auf der Reise, während des Fahrens; ja selbst der Fuhrmann, während er die Pferde lenkt, versäumt nicht seine Riemen und sein Schibboleh. Aber tief unter dem Muhammedaner scheint der Jude jetzt zu stehen. Wie nichts achtend und ehrend, wie zerstreut und gottesvergessen zeigt er sich in seinem eifrigst daher geplapperten Gebete! Er spricht zwischenein von andern Dingen, lacht, lügt und schaut auf Alles um sich her. Alles Moralitäts- und Anstandsgefühl verachtend, in der Ausübung der religiösen Vorschriften sowohl als in seinem ganzen Benehmen, zeigt sich der polnische Jude — versteht sich, nicht ohne Ausnahme. Bekanntlich enthält Polen die größte Menge Juden in ganz Europa.
Vor der Stadt Odessa stieg ich am Strande des schwarzen Meeres aus, mich durch ein Seebad von allem jüdischen Anhängser zu entledigen, und dann in’s Lycée Richelieu zu gehen, wo ich Freunde hatte. Von Odessa aus besuchte ich
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die dreißig Werste entfernte teutsche Kolonie Großliebenthal. Ein großes Dorf, in welchem sich das Gebietsamt über zehn evangelische und katholische Kolonien befindet. Von da gieng’s nach der Kolonie Sarata in Bessarabien, in der Gegend von Akkhermann. Am Dnjester, wo ich bei der Ueberfahrt einigen Aufenthalt des Passes wegen erfuhr, war mir die Frau eines Kosakenoffiziers, eine Französin, sehr behilflich. Ueber große Flächen gieng es dann, bei der kleinen Festung Palanka und den sieben Brunnen vorbei, nach der in guter Lage neu angesiedelten Kolonie. Sie ist größtentheils von Baiern bewohnt, die — früher katholisch — aus der Kirche ausgetreten, hier Land erhalten haben und die Freiheit, sich nach Gutdünken eine kirchliche Form zu geben. Ihre Einrichtung ist nach dem Muster der Brüdergemeine; später aber bekannten sie sich zur evangelischen Kirche. Der Geist der Liebe, der unter ihrem frühen Lehrer und in der ersten Zeit herrschte, ward oft gestört, und die Wenigsten sehen sich in ihrer gegenwärtigen äussern, Lage befriedigt. Vielleicht mochten bei den Meisten die Erwartungen von Baiern aus auf Rußland und die Zukunft überhaupt zu hoch gespannt gewesen sein. — Die Kolonie ist regelmäßig angelegt, im einer anmuthigen Gegend, und fängt sich erst an, nach einigen schweren Jahren der AnsiedIung und des Mißwachses zu erholen.
Auf der Rückreife nach Odessa ward ich am Dnjester wegen der Pest beräuchert. Zu unterhaltender Gesellschaft reiste ich von Odessa mit Extra-Post über Nicolajew nach Cherson, wo ich ein paar Tage auf der schönen Citadelle zubrachte.
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Siebzig Werste weiter von Cherson, am Dnjeper, besuchte ich die sogenannte schwedische Kolonie; ein ziemlich verwildertes teutsches Volk, in dem man das Teutsche fast nicht mehr erkennt. Von hier miethete ich einen Wagen und fuhr über den Dnjeper und die weiten Steppen nach der Molotschna zurück.
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Aufenthalt bei den Nogayen-Tataren.
Aufnahme. Beschäftigung. Behandlung. Ali und seine Familie.
Der Tag meiner Ankunft in dem Tatarendorfe Burkud, der 30. des Mai, war ein Tag der Freude. Die wenigsten der Tataren, die mich kannten, hatten mich zurückerwartet. Ali nahm mich mit vieler Liebe auf. Abdullah, sein Sohn, war ein hübscher Knabe geworden, und seine Frau indessen mit einem Mädchen niedergekommen, welches man Kutlukan (von koatlu, stark) nannte. Mit Lust gieng ich an meine Arbeit. bald war ich wieder eingewöhnt. Meine Bemühung war nun hauptsächlich auch auf Erlernung der Sprache und Bekanntmachung mit den Sitten und Gebräuchen der Tataren gerichtet; da ich aber mein Brod mir selbst zu verdienen suchte, und keine Profession oder Handarbeit
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erlernt hatte, so mußte ich mit jede Arbeit gefallen lassen, auch solche, die mich Tage lang ohne Umgang mit Menschen ließ; indem bei den großen Entfernungen der Herden auch Hirten selten zusammentreffen. Dies machte, daß es doch immer langsam mit der Erlernung der Sprache hergieng.
So ruhig und still ich auch unter den Nogayen lebte, und so unbedeutend die Sache war, so mußte es doch einiges Aufsehen machen, da man mich in Bekanntschaften sah, die mich bei den Tataren nicht für einen ganz gemeinen Menschen gelten liessen, und ich etwa Besuche erhielt, die Andern nicht gleichgültig waren. Doch sah ich mich in meinem Aufenthalt nicht gestört, sondern sogar von angesehenen Vor-gesetzten beschützt, wenn auch Einigen ein Leben dieser Art sonderbar und zwecklos erscheinen mußte. Unter den Tataren selbst war die Meinung schwankend und verschieden. Die Einen glaubten, ich könnte wohl ein Spion sein, oder ich werde nach Erlernung der Sprache eine öffentliche Anstellung bei ihnen erhalten; Andere (prophetisch!), ich würde Land und Volk beschreiben, oder ich sei von Hause verbannt, und suche einen Bergungsort; noch Andere, ich wäre ein Pope oder Priester. Die Meisten hielten mich für reich und angesehen, weil sie mich einigemal in teutschem Frack, den nur etwa der Edelmann trägt, und in Verbindung mit bedeutenden Personen gesehen. Nach und nach wurden sie des Rathens und Fragens müde, und wegen der niedrigen Arbeit, die ich verrichtete, irre an mir. Ali selbst wurde oft meinetwegen gefragt, aber er antwortete ihnen immer nach der Wahrheit, daß er mich nie gefragt hätte: „Ich werde dich nie fragen", sagte er, „bleibe nur bei mir!“ und er ließ sich’s gefallen, von einigen Tararen darüber Vorwürfe
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an hören, daß er einen Christen beherberge und mit ihm esse. Bösen Gerüchten über mich wollte er gar keinen Glauben schenken, und zeigte nie das geringste Mißtrauen. Wenn ihm gesagt wurde, die keine Kutlukan, sein Mädchen, sei mein Ebenbild, so ließ er mich nichts destoweniger, da Geschäfte ihn oft von Hause entfernten, Wochen Iang allein mit seiner Frau, und sagte, daß er um so lieber reise, da er mich zu Hause wisse. Es freute mich, ihm die kleine Wirthschaft besorgen zu können, und ihm konnte es ebenfalls dienen.
Meine Arbeit war alle die, welche eine kleine Tataren-Wirthschaft zu Hause und auf dem Felde mit sich bringt; dabei half ich der Frau noch bei ihren Arbeiten, Wasser tragen, Hirse stoßen, mahlen, Felle gerben, kochen, auskehren, waschen, Kühe melken u. dgl. Ich zog jede Arbeit im Hause der mehr anstrengenden Feldarbeit oder Besorgung des wilden Viehes auf der Steppe vor, da ich wohl an Strapazen gewöhnt, aber doch körperlich nicht stark genug war; besonders aber, weil die Hausarbeit mich mehr zu Menschen gesellte. Je nach der Jahreszeit war die Arbeit verschieden. Ali war nicht reich, hatte aber damals doch dreißig Stück Rindvieh und fünf Pferde.
Hier meine Tagesordnung! Des Morgens vor Sonnenaufgang half ich gewöhnlich die Kühe melken oder die Hörner der wilden Kühe oder die Kälber dabei halten. Dann tränkte ich das Rindvieh, und trieb es weit auf die Steppe oder zur großen Dorfheerde. Hierauf tränkte ich die Reitpferde, fütterte und striegelte sie, da Ali auch auf Ietzterem viel hielt. Dann wurde der Stall ausgemistet, das Haus ausgekehrt, die Asche herausgetragen, Feuer von getrocketem Miste gemacht, die Milch gesotten, der frische Mist in dem Hofe, wo des
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Nachts das Vieh lagert, zusammengelesen und zur Feuerung zubereitet, die Kälber getränkt und auf die andere Seite der Steppe getrieben. Nach diesen Verrichtungen gieng’s mit einem Sacke zu Fuße auf’s Feld oder weit weg mit Wagen und Pferden auf die Steppe, um getrockneten Mist zu sammeln und nach Hause zu schaffen; mit Getreide nach der weit entfernten Mühle, oder mit Vieh auf einen Markt zum Verkaufe; in teutsche oder russische Dörfer, um irgend eine Kleinigkeit zu bestellen oder einzukaufen, oder ich trieb mich hin und her auf der Steppe, verlorenes Vieh zu suchen. Da die Steppen so weitläuftig, die Entfernungen so groß sind, so giebt es beständig Arbeit. Um ein paar Nägel oder andere unbedeutende Sachen muß man Meilen weit reiten, da in den Tatarendörfern nichts zu haben ist. Anfangs hatte ich viele Mühe mit dem wilden Vieh. Sollte ich ein Stück suchen oder bei einer Heerde holen, so mußte ich, da das Auge lange nichts davon bemerken kann, weit und breit auf der Steppe herumrennen. Konnte ich endlich in der Ferne einige Haufen Viehes bemerken, so hatte ich nicht das scharfe Auge und die Unterscheidungsgabe der Tataren, zu erkennen, welche von diesen Haufen Pferde, Schaafe oder Rinder wären, und auf welchen ich zureiten sollte. Ich mußte in die Nähe von einem Trupp zum andern reiten. Fand ich meine Heerde und war kein Hirte dabei, so konnte ich unter der Menge des Dorfviehes und der Aehnlichkeit so vieler, das mir nöthige Stück bisweilen nicht erkennen, und brachte auch wohl ein fremdes nach Hause; oder das Vieh wollte mir nicht folgen, da Pferde und Ochsen lieber mit der Heerde weiden, als nach Hause an die Arbeit geben. Wenn nicht das Reitpferd selbst zum Treiben gut abgerichtet war, so
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entlief es mir auf halben Wege, und kehrte nach der Heerde zurück. Oft verirrte ich mich auf diesen wilden Steppen, wenn keine Straße und kein besonderes Zeichen zu sehen war, oder bei Nebel und Schneegestöber, oder bei Nacht, wenn kein Stern leuchtete und kein Wind wehte, nach dem ich mich richten konnte. In großen Kreisen ritt ich herum, wenn ich in gerader Linie zu reiten glaubte, von Kälte oder Hitze, von Hunger und Durste geplagt. — Besonders machten mir die Kälber viele Arbeit, da sie sich noch nicht so zusammenhalten, wie das große Vieh. Selbst der geübte Tatare hat noch viele Mühe mit dem Vieh auf diesen Steppen, wo dasselbe durch keinen Zaun, keinen Graben aufgehalten wird, und sich, besonders zur Winterszeit, bei Sturm und Ungewitter weit herum zerstreut. — Bei der Pflug- und Erntezeit half ich auf dem Feldes; lud Heu und führte nach Hause; dreschte mit Pferden den Waizen aus; strich Ziegel und knetete Mist, der, in Formen geschlagen, zur Feuerung bereitet wird; weidete Tage lang das Vieh auf der Steppe. Bei Hause mußte in einem großen hölzernen Dörfer Hirse gestoßen werden. Besonders giebt es auch viel im Dorfe herumzulaufen, da man bald dies, bald jenes in einem Hause entlehnen muß. — In Zwischenzeiten pflegte ich der Kinder, wiegte oder trug sie, reinigte sie, zog sie an. In der Nacht wechselte ich mit Ali, um Haus und Hof herumzustreifen, da man hier nicht immer ganz sicher sein kann. Kam Ali des Nachts von der Reise, so nahm ich ihm das Pferd ab, fütterte und tränkte es. — Den vielen Gästen, die in’s Haus kamen, wartete ich auf, und bediente sie nach dem Essen mit Wasser und der Tabackspfeife.
Doch genug davon, vielleicht schon zu viel! Es möchte
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manchem Leser fast lächerlich erscheinen, so manche Kleinigkeiten angeführt zu finden. Indessen sind sie doch dem Tataren nicht lächerlich, und in dessen Weise wollte ich ja jetzt leben. Ein eigentliches Wohlgefallen konnte ich freilich an dieser Art Arbeit nicht haben; aber sie galt mir doch gerade so viel, als mir nöthig war, um sie gerne zu verrichten, und ich hätte diese meine Lage unter den Nogayen nicht mit meiner frühern in der Schweiz vertauscht. Nur auf diesem Wege konnte ich die Nogayen kennen lernen, auf der Seite kennen Iernen, die mir besonders wichtig war. Ich war so ganz mit ihnen verbunden, daß sie mir nicht, wie dem Gast und Durchreisenden, Heucheln konnten. Auch hatte ich die Freude, mir bald ihr Zutrauen fast allgemein zu erwerben. Den gleichen Zweck zu erreichen, sah ich für einmal keinen andern Weg vor mir. Mein Wunsch, unter einem unkultivirten Volke leben zu können, war erreicht, und wollte ich auch auf sie wirken, so mußte ich allererst nicht nur gute Worte, etwa um Vortheils willen, d.h. um etwas von mir zu erlangen, oder aus freilich ungegründeter Furcht, sondern ein wahres Zutrauen zu erlangen suchen. So wenig man sich bei'm Nogayen durch besondere Aufmerksamkeit, Gefälligkeit und Nachgiebigkeit beliebt macht, eben so wenig gewinnt man durch einen hochfahrenden, befehlenden Ton, den Viele gegen sie annehmen, und als unentbehrliches Mittel, sich ihrer Achtung zu versichern, ansehen. Dieses bringt nur äusserliche, erzwungene Unterthänigkeit, so wie jenes hingegen Verachtung oder doch Geringschätzung erzeugt.
Ich mußte zuerst ihre Begriffe und ihre Vorstellungsart mehr kennen Iernen. Manche Handlung, die bei uns gelobt wird, bleibt bei ihnen entweder unbeachtet, oder wird als
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Pflicht und Schuldigkeit angesehen, wovon man weiter nicht zu reden habe, ja selbst als Schwachheit und Beschränktheit, als Folge von Furcht. Manche Gewohnheit, die bei uns gut sein kann, oder doch nicht getadelt wird, ist ihnen anstößig, oft unsittlich. So macht Manches einen völlig andern Eindruck auf sie, als es auf uns machen würde, und bewirkt gerade das Gegentheil von dem, was beabsichtigt wurde. Was denn aber einmal einen guten Eindruck gemacht hat, scheint tief einzugreifen, und kann nicht bald wieder ausgelöscht werden.
Ausserordentlich aufmerksam sind sie auf das, was gesprochen wird, und es bleibt ihnen unvergeßlich. Mit der Sprache noch nicht so bekannt, daß ich über alle Gegenstände mich weitläuftig hätte unterhalten können, machten die wenigen Worte um so mehr Eindruck, und wurden nach langer Zeit oft wieder von ihnen hervorgeholt. Ihre Neugierde läßt sie Vieles fragen, und so kann man lehren, ohne eigentlich als Lehrer aufzutreten. Bei der Arbeit, an Festtagen oder nach Feierabend konnte ich mich besonders mit Ali recht viel unterhalten. Er hatte auch öftere Besuche von angesehenen und geringen Nogayen, von Mursen, Essendi’s, Kadi’s, Mollah’s, Adsche’s und Andern. Oft aber wollte und konnte ich nicht viel reden, wenn ich nicht mißverstanden werden sollte; oder ich war nicht aufgelegt dazu, müde oder schläfrig, im Geiste gebunden und träge.
Manche Unterhaltung hätte auch wohl einem Missions-Magazine oder Blatte Stoff liefern können; sie gieng aber, da ich weder Zeit noch Gelegenheit hatte, mir ein Tagebuch zu führen, verloren. Unstreitig hat oft ein löblicher Bekehrungseifer den Aeusserungen der zu Bekehrenden zuviel Accent
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gegeben. Auch ist die Sprache der Morgenländer mitunter Schuld daran. Besonders muß das Jawort des Nogayen nicht bald als Ueberzeugung angenommen werden. „Alei! Alei! (ja, ja) tamam (mehr als gewiß), bir dughr sös, bir akel lakerda! (ein wahres Wort, eine verständige Rede)“ antwortet der Nogaye sehr bald. Aber oft, besonders wenn das Gespräch auf’s Religiöse Bezug hat, thut er es nur, um abzubrechen und auf etwas Anderes zu kommen.
Was den Einfluß auf ihr sittliches Betragen oder auf die Verbesserung ihres wirthschaftlichen und ökonomischen Zustandes anbelangt, so konnte ich mehr nur durch Beispiel zu bewirken suchen, und mußte für erst froh sein, als Christ in einer muselmännischen Familie aufgenommen und gedulden zu sein. So schwer es unter kultivirten Umgebungen ist, Neuerungen zu machen, und so sehr der Reformationseifer überall Anstoß findet, und, mit der besten Absicht, oft nur gegen sich selbst arbeitet, um so viel mehr muß dieses bei einem so unwissenden, von sich selbst eingenommenen, an altherkömmlichen Sitten und Gebräuchen festhaltenden Volke, wie das der Nogayen ist, der Fall sein.
In vielen Dingen, die.an sich gleichgültig waren, muste ich mich, wenn ich auf solche Weise unter ihnen leben wollte, ihnen gleich stellen. Freilich konnten auch diese Dinge schädlich werden, und ich mußte erst durch mehrere Kenntniß von ihren Begriffen und Vorstellungen zur Gewißheit kommen, in wie weit ich dies thun dürfe. Ali kannte mich; er zweifelte nicht an meiner Gesinnung. Viele andere Tataren hingegen hielten mich auf gutem Wege, Muselmann zu werden. Da der Nogaye Nationalsitten und Gebräuche mit den religiösen Vorschriften vermischt, und glaubt, ein Nogaye müsse nothwendig auch Muselmann sein,
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so ist es schwer, ihnen eine Gränze zu bestimmen zwischen Religion und Landessitte. Schon die Kleidung konnte mich bei Vielen zum halben Muselmann machen, und wenn sie sagten: „Nogay boldè!“ (Du bist ein Nogaye) so war dies Manchen eben so viel, als „Sen Muselmann boldè!“ (Du bist Muselmann geworden.) bald wurde der eine, bald der andere Ausdruck gebraucht.
Der Missionar wird darin vielleicht seinen eigenen Maßstab haben. Ich, als Laien-Christ, konnte mit guter Ueberzeugung darin meinen eigenen Weg gehen, und fand es für unumgänglich nöthig, mich so viel möglich ihnen hinzugeben, um in nichts von der Tataren-Familie getrennt zu werden. Bei jeder Gelegenheit suchte ich jedoch zu zeigen, daß es keineswegs an dem sei, ihrem Propheten huldigen zu wollen. Mehrere Vorschläge und besonders das Anerbieten mehrerer reicher Tataren, mir in dem Fall ohne Bezahlung ihre Töchter zu geben, hatte ich abzuweisen.
Mein Hauswirth Ali war arm, und ich in mehrern Stücken nach zu schwach, um ihm ganz die Dienste eines Tataren-Knechts leisten zu können. Deßwegen konnte ich auch keinen Lohn erwarten; aber es wurden mir Kleider, Pelzröcke und die nöthige Nahrung gegeben. Den Mangel der Kraft suchte ich durch Hausarbeit zu ersetzen, was freilich dem Ali wenig helfen konnte, da diese Geschäfte in jedem Fall der Frau obliegen, und also nur diese um so weniger Arbeit hatte. Nach und nach lernte ich auch mehr die Vortheile bei der Arbeit kennen, und kam immer mehr zu Kraft.
Ali sah es gerne, wenn ich Einladungen der Tataren zu Hochzeiten und andern Festen oder Gastmahlen annahm, damit ich mich mit allem bekannt mache. Ich war überall unter
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meinem Vornamen, der auch unter ihnen nicht ungewöhnlich ist, bekannt. So oft ich auch bei Tag und Nacht durch Tatarendörfer ritt und fuhr, so war mir doch nie das geringste Leid wiederfahren. Man wußte aber auch, daß ich ausser meiner ganz gewöhnlichen Tataren-Kleidung, weder Taschenuhr, noch Geld, noch Messer u. dgl. trage. Selbst in meinem Schlafzimmer war nichts zu finden, das die Raubsucht reizen konnte; es blieb immer unverschlossen. Nicht allein zur Thüre, sondern auch zum Fensterloche konnte man ungehindert hinein. Auf die Treue und den Beistand meines Wirthes konnte ich mich ganz verlassen. Nicht nur hätte er jeden Bissen mit mir getheilt, sondern gewiß selbst sein Leben für mich gelassen. Alle übrigen Tataren, auch die Feinde Ali’s, waren mir gut, und ich konnte, wenn ich auf der Steppe in irgend etwas Hülfe nöthig hatte, auf sie zählen, wenn sie nur immer mir Hülfe leisten konnten.
Dem sklavisch behandelten weiblichen Geschlechte suchte ich mit Absieht gerade die Achtung wie dem männlichen zu erweisen. Weder Anstoß noch Verachtung war die Folge. Auf der Straße ließ ich Weiber, gegen Gewohnheit, auch vor mir vorüber gehen, indem ich mit der Hand das Zeichen gab, nicht stille zu stehen und auf mein Vorübergehen zu warten. Auch daran gewöhnte man sich, daß ich Arbeit verrichtete, welche, von den Männern verachtet, nur Weibern oder Sklaven zukommt. Ali war anfangs nicht wohl damit zufrieden, weil er Vorwürfe von andern Tataren erwartete, daß er mich solche Arbeit thun heiße; als aber bald bekannt wurde, daß ich dies freiwillig thue, so ließ er es gerne zu, und sagte : „Nun Daniel, wenn du es eben thun willst, so ist es mir auch ganz recht! Du weißt, die Frau
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hat zu viel Arbeit, Dienstmägde und Sklaven sind nicht zu haben, und Tataren-Knechte wollen solche Arbeit nicht thun.“
War Ali abwesend, so aß ich auch mit der Frau aus einer Schüssel, wiewohl sie sonst nicht mit Männern, selbst nicht mit dem Gatten speisen dürfen.
Mit meiner Gesundheit gieng es im Ganzen sehr gut; nur Augenkrankheit plagte mich, und bei großer Hitze und anstrengender Arbeit ward mir oft schwindlicht. Bei der Heuernte in nassen Grase bekam ich Löcher an den Füßen, welche aber bald wieder heil wurden. Einigemale mit Pferden gestürzt und von wilden Pferden beim Fange geschlagen, kam ich doch immer noch glücklich dabei weg.
An die Speise der Tataren gewöhnte ich mich bald, so daß ich in kurzer Zeit das Pferdefleisch dem Schaaffleische vorzog. Aber das Essen wollte bei der Art zu sitzen nicht recht anschlagen. Der zusammengepreßte Unterleib war bald angefüllt; ich glaubte mich sitzend satt, und fand mich aufs stehend noch Ieer. Das Sitzen überhaupt machte mir im Anfang einigen Schmerz in den Knochen; nachher aber fand ich es recht bequem. Auch die kurzen Steigbügel verursachten mir zuerst bei anhaltendem Reiten Schmerz, wiewohl man, daran gewöhnt, wenn nicht schön, doch sehr bequem und fest sitzt.
Die täglichen Strapazen, Nässe, Kälte, Hitze, Durst, Mangel an gutem Wasser, oft auch — gegen den Willen des Wirthes — Mangel an nöthiger Nahrung, schlechtes, hartes Nachtlager, alles was im Leben auf solchen Steppen und bei einem rohen Volke dem verzärtelten Städter Schweres bringen kann, war doch noch recht wohl zu ertragen. Aber die Menge Ungeziefers, das den Nacken und Rücken zerfrißt, und selbst bei großer Müdigkeit und Schläfrigkeit des Nachts kaum schlafen
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läßt, und dem man im Umgang mit Tataren und Tatarenkindern nie ganz los werden kann, so wie die große Unreinlichkeit der Speisen waren von den äussern Umständen meiner jetzigen Lage die unangenehmsten und beschwerlichsten. — Uebrigens machte mir der im Grunde doch unglückliche Zustand dieses Volkes, ihr trost- und freudenloses Dahinleben, sodann auch die Trennung von Geliebten in Teutschland und der Schweiz, manchen Schmerz, so sehr ich mich sonst an gewünschter Stelle fühlte.
Eben dieses Sehen und Mittheilnehmen an dem Elend eines Volkes schloß mich um so inniger an selbes an. Es war ein Trost und eine Freude für mich, wenigstens mitleiden zu können, wie ich es, ohne selbst gesehen und erfahren zu haben, nicht im Stande gewesen wäre, so viel Mitleid auch das bloße Hören von dem Zustande der muhammedanischen und heidnischen Welt in uns anfachen mag. Ich freute mich, zur Verbesserung ihres Schicksals, wenn auch in noch so geringem Maße, beitragen zu können, und zu sehen, daß die hohe Regierung so sehr für das Wohl auch dieses ihr untergebenen Volkes sorgt. Guten Fortgang ihren guten Absichten!
Da ich bei den Tataren keine Gelegenheit hatte, nach der Schweiz zu schreiben, so ließ mich Ali oft in das nur zwei Meilen entfernte teutsche Dorf Ohrlof reiten, wo ich immer mit gastfreundlicher Liebe aufgenommen wurde. Unter diesen Teutschen lernte ich manche vortreffliche, achtungswerthe Menschen kennen, deren Umgang mir zur Freude und zum Nutzen gereichte.
Ali war immer darauf bedacht, mir meinen Aufenthalt angenehm zu machen. Er behandelte mich nicht als Diener, sondern als Freund und Bruder, und gab mir viele Beweise
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seiner Liebe. Hier nur ein Beispiel! — Einst verkaufte er auf einem entfernten Markte zwei junge, schöne, sich ganz ähnliche Ochsen, die ich oft geweidet hatte. Da Ali fortgieng, sagte ich auf dem Markte zu einem neben mir stehenden Tataren, als von diesen Ochsen die Rede war, daß ich diese Thiere ungern verliere. Der Tatar sagte dies ohne mein Wissen, nachdem wir nach Hause zurückgekehrt waren, meinem Wirthe Ali, welcher sogleich den Käufer aufsuchte, ihm den Erlös nebst zehn Rubel Reuekauf gab, die Ochsen zurück erhielt, und nach einigen Tagen solche mit freudigem Lächeln vor’s Haus führte und mir sagte: „Sieh Daniel! da hast du deine Ochsen wieder; laß dir doch nicht leid sein!“
Zutrauen zeigte er mir unter Vielem auch darin, dass er mich bei einem — Mädchenhandel gebrauchte. Er wollte sich zu seiner jungen Frau noch eine zweite anschaffen. Aus der Krimm kamen zwei Mädchen mit ihren Eltern in’s Dorf, um verhandelt oder verheirathet zu werden. Da diese als nicht zum ächten Stamm der Tataren gehörend von den Nogayen angesehen sind, und wohlfeil verkauft werden müssen, so schickte mich Ali mit einem kleinen Geldstück in das Haus, wo diese Familie sich aufhielt, um diese Mädchen zu besehen, und ihm Bericht zu erstatten, da der Werber selbst sie nicht sehen durfte. Im Vorhause gab ich den Aeltern die Silbermünze, worauf mich diese in’s innere Zimmer führten, wo die Mädchen waren, welche, wie mir schien, ihr Schicksal mit Ergebenheit und ohne Sorge erwarteten. Steif und schüchtern saßen sie in ihrem Putze da, sich zu zeigen. Man ließ mich eine Zeitlang allein bei ihnen. Nach einigen Fragen heiterten sich ihre Gesichter auf. Es war ihnen etwas Neues, freundliche Worte und zwar in gebrochenen Tatarisch zu
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hören. Sie waren eben nicht hübsch, die eine dreizehn, die andere siebzehn Jahre alt. Ali aber schien zufrieden, daß ich ihm die Frage, — ob sie fett wären und schwarze Haare hätten, mit ja beantworten konnte. Die Mädchen hatten viele Werber, Ali wurde überboten, und sie sind nun in dem Dorfe Burkud verheirathet. Ali kaufte sich nun eine ziemlich bejahrte Wittwe, die er um geringen Preis — um einige Stücke Viehes erhielt. Sie hieß Kenschapai, wurde aber von der jungen Frau erbärmlich geplagt und ganz als Sklavin behandelt, so daß sie auf Mittel dachte, ihres neuen Gemahls und ihrer jungen Gebieterin los zu werden. Da sie nicht weglaufen durfte, so bestahl sie ihren Mann, welcher sie dann auch sogleich aus dem Hause jagte, und, nach dem für einen solchen Fall üblichen Rechte, das Bezahlte mit kleinem Schaden zurück erhielt. Ali liebte diese Wittwe nicht. Am so leichter ließ er sich bewegen, sie fortzuschicken, da er beständig Streit im Hause sah. Tasche wünschte wohl eine Sklavin, aber nicht ihrem Manne eine zweite Frau, und wollte sich nicht gerne in die Sitte der Vielweiberei fügen.
Einigemale kamen Ali und ich hart aneinander. Da die Frau sehr nachlässig war, so gab es oft Prügel. Es war mir nicht möglich, dieses ruhig anzusehen; denn er schlug zu arg und schonungslos, oft bis aufs Blut, mit einem Hammer oder was ihm eben zur Hand kam, gewöhnlich mit der Kantschu oder der dicken, steifen Peitsche. Ich stand zwischen ein, und dies konnte Ali nicht gefallen. „Mische dich nicht in diese Sache, sondern bleibe bei deiner Arbeit!“ sagte er. „Du kennst unsere Weiber nicht; sie folgen nicht ohne Schläge. Sie lieben uns nicht, und können uns nicht lieben, weil sie gekauft werden. So sollen sie uns denn fürchten, oder wir
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sind sammt unserer Hausherrschaft verloren.“ Er lobte unsere Art zu heirathen und unsere Frauen. — Um meiner zu schonen, wurde ich, so oft er für gut fand, die Frau zu züchtigen, unter irgend einem Vorwand in ein anderes Haus des Dorfes geschickt, etwas zu holen oder zu bestellen, und ich hörte es erst nachher, oder sah dann wohl die Frau blutend. Diese war mir wenig erkenntlich für meine Theilnahme, verwunderte sich über meine Weichherzigkeit, und fragte, was mich denn dieses bekümmere, und was mich die Sache angehe? Sie schien eine tüchtige Tracht Schläge nicht viel höher anzuschlagen, als bei uns etwa ein derber Verweis, ein Wortwechsel aufgenommen wird. Der Hausfriede war eigentlich dadurch nicht gestört; denn in einigen Stunden waren sich beide wieder so gut, als ob nichts vorgegangen wäre.
Tasche war wieder mit einem Mädchen niedergekommen, welches Dauwletkan (die Glückselige) genannt wurde, welches aber nach einem halben Jahre starb. Abdullah und KutIukan blieben meine Freude. Ali zeigte sich mir, bei aller Heftigkeit des Temperaments, immer mehr als einen vor Allen, die ich kennen lernte, ausgezeichnet redlichen und wackern Mann, der auch überall geachtet und wegen seines Verstandes und seiner Erfahrungen von Vielen zu Rathe gezogen wurde. Er ist guter Muselmann, aber noch eifrigerer Tatar, der mehr an dem Volksthümlichen als an dem Islam hängt. Er liebt väterlich herzlich seine Kinder, und nimmt sich Nothleidender und Bedrückter mit großer Wärme aus allen seinen Kräften an.
Möge der wackere Ali, und mögen die Seinigen gesegnet sein!
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Ueber die am Asowschen Meere angesiedelten Nogayen-Tataren.
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Zeichnung 2: Tatarische Wirtschaft
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Aus der Geschichte der Nogayen-Tataren.
Die Geschichte eines noch unkultivirten Volkes, das, ohne eigenen Geschichtschreiber, seine Schicksale und Thaten nur durch einige Ueberlieferungen aufbehalten hat, kann nicht anders als dürftig sein. So verhält es sich mit der Geschichte der Nogayen.
Die jene am Asowschen Meere angesiedelten Nogayen-Tataren stimmen darin mit einander überein, daß sie aus der Dschagatai, einem Theil der freien Tatarei, über die Wolga an’s Asowsche und schwarze Meer und bis über die Donau gekommen seien, ein Theil sich aber dem Kaukasus zu nach dem Kuban und Therek gewendet habe. Sie waren demnach einst ein Wandervolk, gehörten im eigentlichen Sinne zu denen, die man Hama xobii, d. h. auf Wagen Iebende Völker nannte, die all ihr Hab und Gut und selbst die Hütte auf den Wagen nehmen, und von einem Orte zum andern ziehen. Sie halten sich insgesammt, so wie die Araber, von denen sie ihre Religion erhalten haben, für Nachkömmlinge Ismaels, des Sohnes Abrahams von seiner Magd Hagar, und für unvermischte Tataren, was sie allen übrigen
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Stämmen , besonders den krimmschen Tataren, nicht zugeben wollen. Im Widerspruch mit dieser unvermischten Tatarenabstammung wollen Viele ihr Abkommen von der Familie des mongolischen großen Eroberers Dschengischan herleiten, der nach ihrer Meinung durch ein Mädchen von der Sonne gezeugt worden.
Der Name Nogay oder Nagay soll unstät, flüchtig, ohne Glück bedeuten; die meisten Tataren schreiben jedoch die erste Sylbe mit nun und wo, nicht, wie es in diesem Fall sein sollte, mit nun und Elip oder dem hö, wie z. B. in dem Wort napak, unrein. Freilich wäre der Ausdruck: unstät, sehr charakteristisch für dies Volk in seinem frühern Zustande. Es könnte auch sein, daß ihm der Name Nogay von seinem Feldherrn dieses Namens beigelegt worden, welcher sich mit seiner Horde von der goldenen oder Kaptschakschen am schwarzen Meere unabhängig gemacht hatte. Das Wort Tatar wird von den Nogayen nicht mit einem ré (r) in der Mitte geschrieben, sondern nur am Ende mit einem solchen, also nicht tartar, sondern tatar, eine Schreibart, die immer mehr als die richtige anerkannt wird.
Die Nogayen werden von Andern auch die Mankat genannt, welches so viel als Stumpfnase heißt. Wirklich finden sich unter ihnen nicht eben sehr viele ganz mongolische Gesichter und kalmückische Nasen , aber eine auffallende Anzahl Menschen beider Geschlechter ohne Nasen, welche von den Tataren Manka burun genannt werden.
Zu den eigentlichen Tataren in Rußland werden die kasanschen, astrachanschen, krimmschen und sibirischen gerechnet; die Nogayen hingegen werden zu einem besondern Stamme des zweiten Hauptzweiges der tatarischen Völkerschaften gezählt.
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Man schätzt die Anzahl der Letztern auf etwa 500,000 Familien oder Kessel. Von diesen sind nur etwa 60,000 Seelen am Asowschen Meere angesiedelt; die übrigen wohnen in dem nördlichen Theile der Halbinsel Krimm, über der Donau, in Bessarabien, in der Bulgarei, oder nomadisiren in der astrachanschen Steppe und am Kuban und Therek, wo man auch die sogenannten Kara- oder Schwarz-Nogayen und in dem kaukasischen Gebirge die Atakaier findet.
Man glaubt gewöhnlich die Nogayen mit den andern tatarischen Völkern von den alten Skythen und Hunnen abstammend, was jedoch einen beträchtlichen Unterschied macht. *) Gewiß ist, daß sie, so wie die Türken, ein tatarischer Stamm sind, aber sehr mit Mongolen vermischt wurden. Da um das Jahr 500 bis 600 nach Christi Geburt, die Bulgaren (ein Tatarenstamm , der auch von den Skythen oder Hunnen hergeleitet ist), unter den Avaren zinsbar, zum Theil die Gegenden von der Wolga bis an den Dnjeper bewohnt hatten, so ist nicht zu bestimmen, ob die Nogayen nicht damals schon unter dem Namen Bulgaren in jenen Gegenden hausten , oder ob sie um’s Jahr 550, nach Einnahme der Tatarei durch den mongolischen Eroberer Djesabul mit dessen Horden bei ihrem weitern Zug nach dem Mäotis (Asow’schen Meere) fortgezogen, oder gar erst unter Dschengischan und dessen Nachfolgern dahin und an das schwarze Meer gekommen sind.
Cuvrat, Chan der Bulgaren, soll von 634 bis 660
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*) Strenge geschichtliche Untersuchungen können begreiflich in unserm Buche nicht Platz finden.
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sein Volk von der Herrschaft der Avaren befreit, und am dem Mäotis die Ugern (nach einigen gleichbedeutend mit Ungarn) unterjocht haben, um’s Jahr 680 aber von den Chazaren (ebenfalls ein Tatarenstamm) überwältigt worden sein; da dann diese ihr Gebiet über Taurien und bis an den Bug ausgedehnt, und noch um's Jahr 800 besessen haben. Um 866 bis 885 kamen von Turkomannien her über die Wolga die Kumanen und Uzen, und vertrieben dort die Petschenegen, welche hingegen 888 die Ungarn (kalmükischen oder vielleicht finnischen Ursprungs) aus dem Lande der Chazaren verdrängten. Die Ungarn flüchten sich gegen Westen nach ihren jetzigen Wohnsitzen. Im Jahr 890 errichten die Bulgaren mit den Petschenegen einen Bund. Im Jahr 965 löst sich das große Chazaren-Reich auf, indem es von dem schnell anwachsenden Reiche Ruriks (Rußland) überwältigt wird. Im Jahr 968 erobern die Russen auch das Reich der Bulgaren, das aber 971 bis 976 eine Provinz des griechiichen Kaiserthums wird, und 1015 bis 1018 seine Selbstständigkeit völlig verliert. Flüchtige Bulgarenhaufen siedeln sich an der Kama an. In 1061 brechen die Polowzer (Kumanen) von der Wolga her in das getheilte und dadurch geschwächte russische Reich ein, und lassen sich in den Gegenden des Mäotis und schwarzen Meeres nieder. Im Osten bereitet sich nun die große Katastrophe vor. Dämutschin, Chan von 40,000 Zelten, wird 1206 unumschränkter Gebieter aller Mongolen-Horden, und läßt sich durch einen Priester zum Dschengischan, zu einem von Gott gesandten Weltherrn ernennen; er macht Eroberungen in China, Indien, und unterwirft sich auch 1211 die westliche Tatarei, die große und kleine Bucharei. — Sein Sohn Dschudschi zieht 1220 mit einem
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Heere Mongolen und Tataren nordwärts um den Kaspischen See, und dringt über die Wolga in’s Land der Kumanen ein. Das südliche Rußland wird 1224 durch die Mongolen schrecklich verheert. Diese Mongolen wurden die goldene Horde genannt, und da die Nogayen behaupten, daß sie mit dieser Horde und als ein Theil derselben nach dem Asowschen und schwarzen Meere gekommen seien, so wird sich wohl von dieser Zeit ihre Geschichte in Rußland datiren.
Die Eroberungen der mongolisch-tatarischen Horden wurden unter mehrern Chans fortgesetzt, fast alle bisherigen Formen umgestaltet. Dschengischans Enkel, Batu, kommt mit Heeresmacht in das Land zwischen dem Don, der Wolga und dem Jaik, erobert 1236 das Bulgarenreich an der Kama, und macht 1237 auch den Großfürsten von Rußland zum Knechte der Horde von Kaptschak oder der goldenen Horde, deren Chan er war. Von 1255 bis 1266 ist Bereke Chan von Kaptschak. Unter ihm wird der Islam eingeführt, und geschieht der Einbruch der mit mongolischen Horden vereinigten Bulgaren in’s oströmische Kaiserthum.
Der Feldherr Nogay oder Nogaja macht sich 1261 mit seiner Horde am schwarzen Meere von der großen goldenen Horde unabhängig. Die Horde des Nogay mag von ihm den Namen erhalten haben, und bestand aus den mit Dschudschi oder Batu-Chan eingebrochenen mongolisch-tatarischen Horden, vielleicht auch mit Bulgaren und Kumanen vermischt. Nogay erobert von 1281 bis 1285 das walachisch-bulgarische Reich. Smilzus wird als lehnpflichtiger Fürst von ihm eingesetzt. In den Jahren 1287 bis 1291 fällt Tula-Boga, Chan der Kaptschak im Kriege mit Nogay, und 1276 bis 1294 wird Dimitri I., Großfürst von Rußland, auf Veranlassung
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des Chans von Kaptschak vertrieben; doch Nogay, Chan der Horde am schwarzen Meere, führt ihn endlich siegreich zurück. Im Jahr 1292 verdrängt Tzaka, des Nogaya Sohn, den Smilzus. Von 1291 bis 1313 macht Toghtagu- Chan einen glücklichen Feldzug gegen Nogaja. Er bemächtigt sich des größten Theils des Gebiets am schwarzen Meere, nachdem er den Nogaja erschlagen hat, und macht dessen Sohn Izaka zinsbar. Astrachan fällt 1375 von der goldenen Horde ab, und 1389 wird das vormalige Bulgarenreich Eigenthum der immer mächtiger werdenden Osmanen. Von Osten dringt der Weltstürmer Timur 1395 herein, der das Chanat so erschüttert, daß es sich zusehends auflöst. Hadschi-Kerai wird 1441 der goldenen Horde ebenfalls abtrünnig, und errichtet in der Krimm ein eignes Chanat. In 1486 reißt sich auch Kasan los. Unter Ahmed-Chan, von 1472 bis 1481‚ sinkt die mongolische Herrschaft in Kaptschak noch tiefer. In 1474 werden die Genuesen von den Türken aus der Krimm vertrieben, nachdem sie lange Zeit die meisten Seehafen der Halbinsel besetzt gehabt hatten. Nach der völligen Niederlage und dem Tod Ahmeds durch die Nogayen 1481 erfolgte das Ende der Mongolenherrschaft über Rußland, und die Reste der Mongolenhorde ziehen sich an die Wolga. Um 1500 wird Scheamed, der letzte Nachkomme Ahmeds, von Mengheli-Kerai, dem Chan der Krimm, geschlagen und vertrieben. In 1506 geschehen Verheerungszüge der krimmschen Tataren bis Minsk. Alexander schlägt sie. In 1520 geschieht abermal ein Einbruch in das russische Reich durch vereinte Tatarenhorden aus der Krimm und Kasan. Besonders anhaltende Fehden führten die krimmschen Tataren mit den Polen, bei welchen sie viele Gefangene
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machten, und solche als Sklaven behielten. Immer ungeheurer dehnt sich Rußland, besonders unter Iwan Wasiljewitsch II. Nun fiel Astrachan den Russen anheim. Der Fortschritt der Kinder Asiens war mächtig gehemmt. Mehr als ein Jahrhundert später (1680) wurde auch die Ukraine, der Wohnsitz der Kosaken, erobert. Nochmals regten sich die Tataren im Kriege Rußlands mit den Osmanen, 1734. Von den letztern unterstützt, machen sie Einfälle in das russische Reich. — Krimm Ghieri Chan schickte 1760 von Budschiak (jetzt Bessarabien) Theile der Jedischkulschen und Akkhermannschen oder Bjelgorodschen Horde der Nogayen nach der Krimm. Von diesen zieht sich ein Theil an die nördlichen Ufer des Asowschen Meeres, ein anderer über die Meerenge Jeni-Kalä nach dem Kuban und Therek. Um 1770 flüchten die sogenannten kundorowskischen Nogayen von den Kalmüken, unter denen sie bisher gewohnt, auf die Wolgainseln in der Gegend von Astrachan. Unter dem Zepter der großen Katharina erobert 1771 Dolgoruky die Krimm, und es wird ein Vertrag mit den Tataren geschlossen. Damals befand sich ein Theil der Horde Dschambuiluk am niedern Manitsch, ein größerer am obern, die Horde Jedischkul am niedern Kuban und die Horde Akkhermann oder Bjelgorod gegen Taman und Temruk zu. Diese letztgenannte Horde, aus der Bulgarei stammend, war schon in dieser Zeit diejenige, welche gewohnt war, in Hütten zu wohnen. Im J. 1774 wird zwischen Rußland und der Pforte der Friede zu Kutschuk-Kainardschi geschlossen, und die Unabhängigkeit der Krimm anerkannt. Im J. 1779 wird Sahin Gherai, als Chan der Krimm, auf Rußlands Verwendung auch von der Pforte anerkannt; aber schon 1783
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wird die Krimm und Kuban russisch, Cherai im Pension gesetzt, und 1784 die förmliche Vereinigung der Krim mit dem russischen Kaiserreiche anerkannt. Hierauf erfolgte eine starke Auswanderung der Tataren, die denn doch lieber in der Schutzverwandtschaft mit den Osmanen, ihren Glaubensgenossen, gestanden waren. 1789 wird Galaz, Akkhermann und Bender erobert; 1792 mit der Pforte zu Jassy Friede geschlossen. Rußland behält Oczakow, mit dem Landstrich zwischen dem Dnjeper und Dnjester. Die am östlichen Ufer des Asowschen Meeres vom Kuban bis zum Don nomadisirenden Nogayen müssen den von Rußland dorthin verpflanzten Zaporoger-Kosaken weichen.
Die Nogayen-Tataren, unzufrieden unter türkischer Herrschaft und unter den krimmschen Chanen, begaben sich größtentheils freiwillig unter Rußlands Schutz. — Bei der Einnahme der Krimm durch die Russen bildeten Nogayen-Horden die Vortruppen der Armee, plünderten, sengten und brennten, wo sie in der Halbinsel hinkamen.
Theile der Jediskanschen oder Jedißanschen, Jediskulschen und Diembuilukschen oder Dschamboilukschen Horde der Nogayen, welche freiwillig unter Rußland getreten waren, und bisher nomadisirten, wurden nun mit besondern Privilegien am Asowschen Meere angesiedelt, und wohnten zum Theil in Kibitgen oder Nomadenhütten, zum Theil in Erdhöhlen.
Nachdem sie hier mehrere tararische und russische Anführer gehabt, wurden sie im Jahr 1808 unter ihrem Chef, dem Grafen Dumaison, förmlich angesiedelt, und bauten sich Wohnhäuser. Andere Nogayen, welche sich Rußland unterwerfen mußten, wurden zwischen der Molotschna und
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Perekop in der Steppe angesiedelt und unter die allgemeinen Landesgesetze gestellt. Das Nomadenleben hörte nun in diesen Gegenden auf, und nur am Kuban und Therek wurde es noch von Nogayen fortgefetzt. Im Jahr 1804 siedelten sich die ersten Teutschen in ihrer Nähe an, und das Land ward abgetheilt.
Man findet also die Nogayen bisher immer als Nomadenhorden und als ein weit und breit räuberisch umherziehendes, wildes und rohes Volk, das sich von den mongolisch-tatarischen Horden der Kaptschak oder goldenen Horde losgerissen, dann diese bekriegt, und mit Rußland gegen die Mongolen gehalten hat. Man sieht dies Volk später in beständigen Kriegen und Einfällen in Polen und Rußland, von Türken begünstigt, endlich wieder gegen diese und den krimmschen Chan sich empörend, Rußlands Schutz suchend und mit den Russen die Krimm verheerend.
Man trifft sie durch einen langen Zeitenlauf hinab sehr zerstreut bald am Asowschen und schwarzen Meere, bald an der Wolga, am Kuban und Therek, bald in der Krimm, in der Bulgarei oder Budschiak-Tatarei, und an der Donau an. Was nicht unter Rußland stehen wollte, zog über diesen Fluß nach Bulgarien oder Rumilien, unter türkische Hoheit.
Durch den oftmaligen Wechsel ihres Wohnortes und beständiges Herumziehen wird es erklärlich, daß so viele der Nogayen, die jetzt am Asowschen Meere angesiedert sind, Bekannte und nahe Verwandte eben sowohl an dem Kuban und Therek, als auch in Bessarabien und über der Donau haben, und daß sie überhaupt ein sehr gemischtes Volk sein müssen. In frühester Zeit mit Mongolen-Horden vermischt, welche unter den großen Eroberern die Tatarei eingenommen,
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durch dieselbe gezogen, und auf ihren weitern Zügen Tatarenheere mitgenommen hatten, fanden sie dann in den eroberten Ländern am Asowschen und schwarzen Meere Chazaren, Kumanen und andere Völker, mit denen sie sich zum Theil vermengen. Auch auf ihren fernern Nomadenzügen mußte sich das Volk der Nogayen immer da, wo es sich theilweise aufhielt, durch Aufnahme anderer Völker in ihre Horde oder doch gewiß durch Heirathen mit gewonnenen Sklavinnen auf seinen vielen Kriegszügen ausserordentlich vermischen, mit Russen, Polen, Kosaken, Bulgaren, Walachen, Türken und kaukasischen Völkern, mit Kalmüken und krimmschen Tataren, mit welch letztern beiden, unter sich so sehr verschiedenen Völkern sie sich jetzt noch vermischen.
Ungerne gewöhnten sich die Nogayen an feste Wohnplätze. Graf Dumaison konnte nur mit großer Geduld und Strenge zu dem Ziele kommen, endlich Alle angesiedelt, und die Nomadenhütten verlassen zu sehen. Dieser rechtschaffene, uneigennützige Chef that alles Mögliche zur Verbesserung der Nogayen und ihres Zustandes, und brachte es auch wirklich während der Zeit seiner Verwaltung und Leitung bis zum Jahr 1820 sehr weit mit diesem Volke. Leider wurden seine Verdienste von dem größten Theil der Nogayen nicht erkannt, noch geschätzt, sondern mit Undank und Verläumdung belohnt. — Der Nogaye, unstät und flüchtig, dem Ackerbau und der Feldarbeit abgeneigt, wünschte sich den Nomadenstand zurück, und rühmte nun wieder die alte Zeit, den Sultan und Chan. Es geschahen Versuche zum Aufstand. Einmal war es schon dazu gekommen, daß Viele sich Nomadenhütten angeschafft, Hausgeräthschaft und alles, was ihnen auf einer Reise nicht dienen konnte, gegen Zugvieh und Wagen vertauscht hatten,
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um in Masse aufzubrechen, das Land zu verlassen, und nach Osten zu ziehen. Später hielten sie einmal um Erlaubniß an, weiter ziehen zu dürfen, welches ihnen aber verweigert wurde.
Nach und nach von russischen und teutschen Kolonien eingeschlossen, gewöhnten sie sich immer mehr an ein ruhiges Leben. Die Hoffnung, früheres Nomadenleben noch einst wieder ergreifen zu können, schwindet mit dem Erscheinen neuer Generationen und dem Absterben derer, welche sich jener Zeit noch zu erinnern wissen, ober selbst noch als Nomaden gelebt hatten.
Die Raubsucht hat keinen so freien Spielraum mehr; die Jagdliebhaberei nimmt ab, und ihre Hauptbeschäftigung, die Vieh-, besonders Pferdezucht, wird immer mehr dem vortheilhaftern Feldbau Platz machen.
Auf Veranlassung des Todtschlags vier teutscher Kolonisten durch Nogayen wurden sie Alle, mit Ausnahme der Mursa’s oder Edelleute, entwaffnet, selbst ihres Streithammers oder Streitbeils, Relep, und zum Theil auch ihrer Messer beraubt.
Nach dem Jahr 1820 wurde die Stelle eines Chefs der Nogayen provisorisch durch einen russischen Major besetzt, und Graf Dumaison lebt zurückgezogen auf seinen Gütern an der Alma in der Krimm.
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Verfassung. Die Mursa’s oder Edelleute. Die Kadi’s oder Richter.
Die im Melitopolischen Kreise des Gouvernements Taurien, am nördlichen Ufer des Asowschen Meeres angesiedelten Nogayen-Tataren stehen unter der Gouvernements-Regierung in Symferopol in der Krimm und unter dem Nieder-Landesgericht in der Kreisstadt Orechow. Der Chef dieser Nogayen, der seinen Sitz in Nogayzg oder Djalaugatsch, dem Hauptorte des Gebietes, hat, und Naschenlik genannt wird, bestraft nur kleine Verbrechen; größere kommen vor das Nieder-Landesgericht. Das Gebiet hat vier KaIualer (Oberschulzenämter), unter denen die Achsakaler (Dorfschutzen) stehen, welches sämmtlich Tataren sind. Letztere haben in ihren Dörfern noch die Onbaschis (Zehner) unter sich, welche die Besorgung der Postpferde auf sich haben. Die Kartler, d. h. Aeltesten in den Dörfern, werden bei Streitigkeiten von den Dorfschulzen zu Rathe gezogen.
Die Abgaben sind nicht bedeutend, und von der gewöhnlichen Rekrutirung sind sie frei.
Sie sind, wie schon gesagt worden, sämmtlich entwaffnet. Nur die Mursa’s oder Edelleute haben die Ehre, den kleinen Säbel (Kenschal) zu tragen.
Wer sollte wohl eine Spur von Kastengeist oder gar einen Adelstand vermuthen bei einem Nomadenvolke? Und doch giebt es einen höhern und niedern Adel unter den Nogayen, der sich nicht durch Heirathen mit dem gemeinen Volke vermischt.
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Er genießt jedoch jetzt keine besondern Vorrechte mehr als das oben benannte. Jeder Wirth, auch der ärmste, hat eben so viel Land und Recht als der Mursa oder Mirsa. Aber ohne ein Vorrecht oder einen Vorzug verlangen oder behaupten zu können, wissen sie dennoch bei’m Volke noch alte Sitten geltend zu machen und sich mancherlei anzumaßen. Will z. B. ein Mursa heirathen, so tragen die Nayayen durch Gaben zur Bezahlung des Mädchens bei. Reitet ein Mursa aus, so ist es gewöhnlich in Begleit von einem oder mehrern Tataren, die ihn umgeben oder hinter ihm herreiten. Ein Jeder rechnet es sich zur Ehre, einem Mursa einen Dienst zu erweisen; jedoch darf er ihn nicht zu viel kosten. Der Mursa giebt sich ein besonderes Ansehen, und benimmt sich recht lächerlich stolz. Da sie mehr auf den Schein wenden, bessere Wohnung und Kleidung haben wollen als Andere, zudem sich der Arbeit schämen, zu der sie keine Unterthanen haben, und keine Sklaven halten dürfen, so sind sie gewöhnlich um so viel ärmer an Geld und an Vieh. Einige aus ihnen haben im Jahr 1812 Dienste bei der Armee geleistet, und Mehrere tragen kupferne Ehrenmedaillen.
Die Kadi’s sind Richter, die noch als Ueberrest des frühern politischen Zustandes dieses Volkes dastehen, und nur noch von diesem, nicht aber von der Regierung anerkannt sind. Sie werde in schwierigen Fällen, bei Streitigkeiten oft zu Rathe gezogen, und ihr Ausspruch oder Entscheid wird meistens von den Partheien angenommen. Sie sind meist sehr habsüchtig, und wer mehr zahlt, hat gewöhnlich recht. Als beredte und verschmitzte Männer, die alles zu ihrem Vortheil zu drehen wissen, stehen sie in großem Ansehen. Der Nogaye fürchtet sich so sehr vor den russischen
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Gerichten; daß er die Sache immer lieber von den Dorfältesten, den Schulzen. oder den Kadi’s entscheiden läßt.
Das Aeussere des Nogayen.
Körperbau. Gesichtsbildung. Sinnenschärfe.
Die Nogayen-Tataren sind im Ganzen von mittelgroßem, untersetztem und starkem Körperbau, knochicht, mit starker Schulter und Brust, mehr hager als beleibt, sehr selten mit dickem Bauche; überhaupt mehr tatarisch als kalmükisch. Ihre Stellung ist gerade und edel. Sie tragen sich gut. Ihr Gang ist nicht schwerfällig und phlegmatisch, wie derjenige der Türken. Sie zeigen ein gewandtes, anstelliges Wesen, wozu die Behandlung des wilden Viehes und das viele Reiten nothwendig auch beitragen muß.
Die Farbe ihrer Haut ist meistens gelbbraun, was auch zum Theil daher kommen mag, daß die Kinder oft lange nackt gehen, und der Einwirkung der Luft und der Sonnenstrahlen ausgesetzt sind. Bei vielen ist die Farbe fast schwärzlich, welches bei ihnen die Arab (Arabische Farbe) heißt. In hohem Grade sind dies besonders die kundorowskischen auch Kara oder schwarzen Nogayen, welche zum Theil auf den Wolgainseln wohnen, zum Theil in den Steppen zwischen der Wolga und dem Manitsch und bis gegen den Therek nomadisiren. Die Gesichtsbildung des Nogayen ist im Ganzen angenehm. Das Auge zeigt, wie bei den meisten Völkern wärmerer
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Gegenden, nicht einen kalten, sondern einen feurigen Charakter. Es ist dasselbe sehr scharf und lebendig, in Uebereinstimmung mit der Farbe des Haares und der Haut, meist braun, selten grau; nicht groß, aber auch nicht so klein, wie das der Kalmüken. Die Nase hat auch nicht das Platte der Nasen jenes Volkes, noch weniger aber das Starkgekrümmte oder Gebogene der armenischen oder die sogenannte Habichtsnasenform. Auffallend viele finden sich, wie schon früher bemerkt, von beiden Geschlechtern ohne Nasen, welche von den Tataren Mankaburun oder Stumpfnasen genannt werden.
Die Ohren stehen ziemlich vom Kopfe, aber nicht so stark als bei dem Kalmüken, und sind auch nicht so groß. Der Mund ist mittlerer Größe, doch mit ziemlich starker Lippe.
Die Zähne sind fast durchgehends bei beiden Geschlechtern ohne Mackel, gut angereiht und so weiß wie Elfenbein.
Die Haare sind beim männlichen Geschlechte von brauner oder schwarzer Farbe. Seltene Ausnahmen sind weißblonde und röthlichte. Der Bartwuchs ist schwach.
Am meisten zeigt sich mongolische Vermischung an den stark seitwärts vorstehenden Backenknochen. — Der Hals ist gewöhnlich etwas dick, und bei ältern Personen faltig und barthäutig, fast schuppicht, weil er meistens der Sonne und allem Einfluß der Witterung ausgesetzt ist. An diesem Theil ist der Tatar vor den scharfen Bissen des kleinen Gewildes und im Innern des Halses vor Geschwulst und Weh gesichert. In den Armen besitzt der Nogaye eine große Kraft. — Die Füße sind nicht immer ganz gerade, was unstreitig von ihrer Art sowohl im Hause als zu Pferde zu sitzen herrührt. Doch ist dies nicht so sehr bemerkbar als bei'm Türken.
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Wenn bei der körperlichen Beschaffenheit und Bildung des Tataren ein großes Gemisch von mongolischer und kaukasischer Race sich zeigt, so ist dies noch mehr bei’m weiblichen Geschlechte der Fall; oft aber sieht man unter diesem Geschlechte die beiden Racen ganz getrennt, also ganz mongolische und kalmükische Formen und auch wieder die regelmäßigen, zarten und schönen Züge und Verhältnisse der kaukasischen Varietät.
Man findet auch jetzt noch wirklich kalmükische und tscherkassische Weiber. Seit ihrer Ansiedlung jedoch stehen die Nogayen in keiner Verbindung mehr mit kaukasischen Völkern, und nur selten wird noch eine Kalmükin zum Weibe genommen. Mehr vermischen sich jetzt die Nogayen mit den krimmschen Tataren.
Das weibliche Geschlecht, zu frühe verheirathet und zu wenig geschont, verblüht sehr bald. Man findet viele regelmäßige, schöne Züge, aber selten eine gesunde, frische Gesichtsfarbe. Die Hautfarbe ist meistens bräunlich, doch auch oft sehr weiß. Die Haare sind, mit sehr wenigen Ausnahmen, schwarz und stark. Von Kalmüken Abstammende zeichnen sich durch starken Gliederbau aus, die von Tscherkessen durch zarten Bau, langen Hals, kleine Hände und Füße, schöne Augen und Augenbraunen und kleinen Mund.
Die Haltung der Nogayin ist meistens steif, wozu sie vornämlich ihr übertriebener Kopfputz nöthigt. Der Gang ist langsam und schwerfällig, welches zum Theil von krummen Beinen und der Art Beinkleider, die sie tragen, oder auch von ihrer Trägheit und wenigem Selbstgefühl herkommt. So sehr sie zu gefallen suchen, und sich in ihrem Putz ein Ansehen geben wollen, so drückt sich doch in ihrem ganzen Wesen
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und Benehmen Gleichgültigkeit und ihr sklavischer Zustand nur zu deutlich aus.
Die orenburgischen, kasanischen, so wie die krimmschen Tataren, haben eine hellere Gesichtsfarbe als die Nogayen. Die krimmschen Gebirgstataren sind aber von den Tataren des nördlichen und flachen Theils der Halbinsel auch wieder verschieden; denn diese haben sich schon mehr mit den Nogayen vermischt, und sind zum Theil selbst aus diesem Stamme.
Bei dem Steppen bewohnenden und einfach lebenden Nogayen findet man Gehör und Gesicht ausserordentlich und zum Verwundern geschärft, wie denn auch ihre Stammracen sich in diesen beiden Sinnen auszeichnen, die kaukasische in der Vollkommenheit des Gesichts und die mongolische in der des Hörsinnes. Geruch, Geschmack und Gefühl hingegen sind ziemlich stumpf. Der Nogaye, von Kindheit auf an Tabakdampf, Mistkohlenrauch, mit dem die Hütte so oft bis zum Ersticken angefüllt ist, gewöhnt, muß nothwendig an der Feinheit des Geruchorgans leiden. Der Geschmack kann nicht anders als sehr verdorben und stumpf sein, da schon das Kind durch den Genuß allerlei unnatürlicher Dinge und durch Erde die Empfindsamkeit und Reizbarkeit des Geschmacksinnes verderbt, und an alles sich gewöhnt. — Durch rohe Behandlung des Körpers und Abhärtung desselben an der brennenden Sonne, in Kälte und Nässe, so wie durch keine ganze körperliche Lebensweise, verliert er alles feinere Gefühl; ziemlich empfindsam ist er jedoch für die Kälte.
Wie sehr geübt sind hingegen Aug und Ohr! Dem Falkenauge des Tataren entgeht nicht leicht etwas. In sehr großer Entfernung erkennt er unter anderm Vieh das seinige an Gestalt und Farbe. Wo man nur schwarze Punkte zu sehen
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glaubt, da weiß er auch gleich schon, ob da Pferde, Rinder oder Schaafe sind, Das Steppenleben dient freilich dem Auge zu einer besonders guten Uebung. Der Kurzsichtige, der nicht bald die besondern Gegenstände auf der Steppe erblickt, ist sehr übel daran. Dem scharfen Auge entspricht eine scharfe Unterscheidungsgabe. Der Nogaye erkennt aus der größten Heerde selbst der sich oft so sehr gleichenden Schaafe mit Leichtigkeit die seinigen vor andern, und Hirtenjungen unterscheiden und erkennen ein jedes Schaaf ihrer Heerde ohne irgend ein besonderes Zeichen, bloß an der Physiognomie des Thieres. Die ungeheure Menge von Gegenständen, mit denen der gebildete Europäer sich beschäftigt, übt zwar seinen Formensinn im Allgemeinen; aber auch bei ihm ist derselbe nur für die Art von Gegenständen besonders entwickelt, mit denen er sich vorzüglich abzugeben hat, und selten steigt seine Fertigkeit diesfalls auf so hohen Grad, wie bei Nationen von weit einfacherm Geschäftskreise. So hört auch des Nogayen Ohr aus großer Weite das geringste Getöse, und unterscheidet das Blöcken und Wiehern seines Viehes vor jedem andern.
Des Nogayen Inneres.
Temperament. Charakter.
Bei der großen Verschiedenheit und dem Gemische des Nogayischen Volkes läßt sich nicht leicht seine Charakteristik aufstellen. Leichter ist dies bei seinen Stammverwandten,
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den Türken, welche unvermischter geblieben sind. Der Tatar hat nicht das Phlegmatisch-Cholerische des Türken, sondern ist mehr sanguinisch-cholerisch. Er ist beweglicher, schneller als der Türke; demungeachtet gutmüthiger. Wenn man ihn auch zanksüchtig und schneller zum Streit bereit findet, als jenen, so ist er doch nicht so hochzürnend und rachsüchtig. Er ist weniger großmüthig und edel handelnd, als derselbe, weil er vielleicht auch weniger stolz ist. Freilich hat der Nogaye auch seinen Stolz; aber dieser ist nicht so tief in ihn gewurzelt, und beruht weniger auf versönlichem Gefühl, als auf dem Andenken an die Nation, ihre Abkunft, ihre frühern Großchane und an ihr früheres freies Nomadenleben. Er ist stolz auf den Namen Nogaye.
Träge kann der Nogaye nicht genannt werden. Wenn er auch oft müßig ist, so ist er’s im Gefühle der Zufriedenheit mit dem, was er bereits erworben hat, und weil seine wenigen Bedürfnisse ihm manche ruhige Stunde lassen, in der wir und ohne Genuß absorgen und abarbeiten, und wozu wir genöthigt sind, wenn wir anders die vielen Bedürfnisse befriedigen wollen, die wir entweder nicht entbehren wollen, oder in deren Rücksicht wir uns von der Meinung beherrschen lassen. Des Nogayen wesentliches Bedürfnis ist Ruhe nach der Arbeit. Er glaubt nicht, daß der Mensch lebe, um arbeiten zu können, sondern, daß er arbeite, um leben zu können. Freilich trägt auch bei ihm, wie bei den Anhängern des Islam überhaupt, der Fatalismus auch viel zu einer schädlichen Unthätigkeit in gewissen Dingen bei. Im Ganzen kann man jedoch nicht sagen, daß der Nogaye wenig arbeite. Die Ruhe verschafft er sich, indem er das, was gethan sein muß, schnell und mit Eifer besorgt.
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Den Muth, den der Nogaye in frühern Zeiten als Krieger gehabt haben muß, scheint er verloren zu haben. Er fühlt sich nun einmal als der Ueberwundene und Entwaffnete. In seiner National-Eigenthümlichkeit dem Ueberwinder fremd, wird er denselben desto mehr fürchten. Ein kleiner Trupp Kosaken muß natürlich dem Unbewaffneten Schrecken einzujagen vermögen.
Bei Geldgier und Eigensucht zeigt der Nogaye dennoch eine seltene Treue und Biederkeit in seinem Charakter; so wie er mit Verschlagenheit und Heuchelei doch eine gewisse Aufrichtigkeit paart. Was er den einen Tag läugnet, gesteht er den andern wieder ein. Lüge scheint ihm nicht Sünde zu sein. Um so weniger hart kommt es ihn an, sie einzugestehen und zurückzunehmen. Seiner niedrigen Bildungsstufe ist, wie überall, eine beträchtliche Wankelmuth in allem Thun und Lassen eigen. Dadurch wird es etwas schwer, ein bestimmtes Urtheil über seinen Charakter zu fällen.
Der Nogaye ist unreinlicher als der krimmsche und kasansche Tatar, doch nicht so unreinlich als der Kalmüke. Die Unreinlichkeit erstreckt sich aber mehr auf die Speisen, als auf die Kleidung. Ja auch bei'm Essen scheinen sie, nach ihrer Art, nicht ganz gleichgültig zu sein; nur ist ihre Forderung diesfalls bald befriedigt, und sie zeigen ihr Reinlichkeitsbedürfnis und ihre Begriffe davon auf eine freilich von uns sehr verschiedene Weise. Was dem Nogayen unreinlich erscheint, das wird er auf jede Art zu beseitigen suchen, und auf seine Weise mit aller Mühe reinigen. Nachlässiger findet man darin das weibliche Geschlecht als das männliche. Wie äusserst schwankend ist freilich auch an sich der Begriff von Reinlichkeit! Der Holländer beschuldigt den Teutschen
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und Franzosen großer Unreinlichkeit, und gerade so der krimmsche Tatar den Nogayen, und dieser wieder den Kalmüken.
Der Nogaye ist im Ganzen mißtrauisch und verschlagen, und ist es vielleicht jetzt mehr als in seinem Nomadenstande, Er verspricht viel, und hält wenig. Er schenkt wenig, und erwartet dreimal mehr dafür. Er ist ziemlich lenksam, in vielen Stücken jedoch sehr in alte Sitten und Gebräuche und mancherlei Vorurtheile eingewurzelt und stolz darauf. Das Meiste hievon ist nur Folge der Unwissenheit, und kann nicht eigentlich seinem Charakter gelten!
Was eigentlich die Grundzüge des Charakters der Nogayen sein mögen, wage ich nicht bestimmt zu bezeichnen, indem ich fürchte, das, was mehr nur durch jetzige Verhältnisse und Umstände herbeigeführt worden, mit Ursprünglichem zu verwechseln. Der Charakter eines Volkes gestaltet sich ja so sehr nach den Umständen und der Lage, in die ein Volk tritt, nach der politischen Verfassung, nach der Religion und nach den Fortschritten der Aufklärung und Kultur, u.s.w.
Verstand und Gedächtniß.
Beide Kräfte finden sich im Durchschnitt bei dem Nogayen in gehörigem Maße. Er faßt leicht, und vergißt das einmal Gehörte nicht bald. Er ist zwar sehr unwissend, und seine höhern Geisteskräfte sind wenig ausgebildet; aber im Urtheil über Dinge, über die zu urtheilen dem bloß natürlichen,
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gesunden Menschenverstand zukommt, zeigt er sich gewandt.
Es ist bemerkenswerth, wie der Nogaye sich bei den meisten ihm zustoßenden Vorfällen und widrigen Begegnissen sogleich Rath und Hülfe, und zwar mit den einfachsten Mitteln zu schaffen weiß. Er lernt von Jugend auf mit Wenigem sich behelfen, und auf das Geringste, was ihm dienen kann, aufmerksam zu sein. Wie verlegen, rathlos, an Hülfe fast verzweifelnd, steht der gebildetere Abendländer, selbst der geübte Reisende, Kutscher , Landwirth, Handwerker auf der öden Steppe, nachsinnend oder verwirrt beim Bruche seines Wagens oder bei irgend einem andern Unglück! Er sieht nichts um sich her, was ihm dienlich sein könnte. Es fehlen ihm so viele Dinge, die ihm unentbehrlich geworden sind, um sich in solchen Fällen behelfen zu können, und er erfährt, daß der Mensch, je mehr er gewöhnlich hat, desto minder mit Wenigem auskommt. Kommt ein Tatar dazu, so muß jener erstaunen und sich schämen, zu sehen, wie dieser ohne künstliche Werkzeuge, auf die einfachste, verständigste Weise, oft ohne sich einen Augenblick bedacht zu haben, das dienliche Mittel erkannt, gefunden und angewandt hat, und durch irgend einen guten Handgriff, oder mit dem Messer, das er bei sich trägt, mit einem Holzsplitter, einer Handvoll Steppengras, einigen Haaren vom Schwanze des Pferdes, einem Stücke vom Wagen dasjenige zuwege bringt, was Andern unmöglich schien. — Erstaunt und beschämt habe ich teutsche Bauern und Reisende gesehen, denen so schnell aus ihrer Verlegenheit geholfen worden. Was muß dann der Tatar denken von dem, der ihn zu andrer Zeit wohl gar dumm genannt hat?
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An den Nogayen, so wie an allen alten Steppbewohnern ist auch zu bewundern, wie sie sich allezeit und überall auf der Steppe orientieren können, und sehr selten sich verirren; überall sich zu finden wissen, ohne etwas besonders Bemerkbares, etwa eine Erhöhung, einen Baum, einen Grabhügel u. dgl. zu haben, wonach sie sich richten könnten. Eine Helle am Himmel, der geringste Wind, dessen Richtung der Nogaye auffaßt, Sonne, Mond, Gestirne sind ihm dazu hinreichend. Ja selbst bei finstrer Nacht, bei Nebel, auf Schneeboden und bei Schneegestöber, wo keine Spur von irgend einem Wege oder Zeichen ist, weiß er sich doch gewöhnlich so zu finden, daß man fast glauben möchte, er besitze eine Art von thierischem Instinkt. Es zeugt von einer durch die wenigen Gegenstände, von denen sie angesprochen wird, sehr geschärften Beobachtungsgabe.
Das Orts- und Zahlgedächtniß des Tataren ist ausserordentlich scharf. Gehörtes wiederholt er nach sehr langer Zeit wörtlich. Besonders hat er auch das in einem hohen Grade mit andern Menschen gemein, daß er ein ihm gethanes Versprechen nie vergißt.
Sittlichkeit.
Das Volk der angesiedelten Nogayen-Tataren kann, so wie es sich dem Beobachter nach Verhalten und Leben zeigt, nicht als sittenlos und verdorben in Vergleich mit dem allgemeinen Zustande der Menschen genannt werden; im Gegentheil,
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man muß, sich wundern, daß es nicht viel schlimmer steht. Freilich muß hier Sittlichkeit und Gesittung scharf unterschieden, und fast alles, was bloß die Etiquette und der Modeton der civilisirten Welt an Komplimenten, Höflichkeiten u. dgl. mit sich bringt, ausgeschlossen bleiben. Sodann muß man dies Volk von seinem Standpunkt aus betrachten, nach dem, was bei ihm für recht und gut, für sittlich und anständig gilt oder nicht. Uebrigens wird Niemand, der den Einfluß des Islams auf Charakter und Sittlichkeit nur einigermaßen kennt, von dem Nogayen, als einem Muselmann , ein feines Sittlichkeitsgefühl erwarten. Die Lehren des Korans sind nicht geeignet, dies Gefühl zu erwecken, sondern eher, es abzustumpfen und zu unterdrücken, wenn sie auch im Stande sind, den Menschen vor völliger heidnischer Versunkenheit zu bewahren, und hin und wieder guten Einfluß auf ihn zu äussern. Wie weit ist der Islam entfernt, Liebe zum Schöpfer und zu den Mitmenschen zu erwecken, was doch der Grund und das Fundament wahrer Sittlichkeit sein muß, die nicht Schein, sondern Wesen ist! Wenn der Mensch, wie der Islam nur beibringt, darum barmherzig ist und Gutes thut, um wieder Gleiches zu nehmen oder zu erhalten, und wenn er sich der Rache enthält, damit er nicht seine Schuldigkeit, sondern ein gutes Werk gethan zu haben glaubt; wenn er so in Selbstgefälligkeit und Eigengerechtigkeit lebt, so ist ja damit noch von keinem geläuterten sittlichen Gefühl die Rede.
Der Koran schmeichelt der groben Sinnlichkeit, und giebt den Lüsten des Fleisches Raum. Die Moral, die er predigt, ist sehr seicht und oberflächlich. Ihr zufolge darf sich der Mensch gut nennen, wenn er, bei Beobachtung der
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Ceremonien der Religion, nur nicht ein Dieb und Mörder ist; ja auch dies kann noch entschuldiget werden, wenn den Feinden des wahren Glaubens dadurch Abbruch geschieht. — Ob der Muhammedanismus einen mehr schädlichen als nützlichen Einfluß auf die Sittlichkeit habe, ist gar nicht in Frage zu stellen. Wer will indessen ausmitteln, wie viel oder was gerade dem Einflusse des Islam zuzuschreiben ist? Genug, der Nogaye zeigt sich noch nicht so gar verdorben, und wüßte er sich den feinen Anstrich der äusserlich gebildeten Welt zu geben, würde er sein Gutes so herausheben, und vor Andern glänzen machen wollen und können, das Böse hingegen so raffinirt betreiben, als es bei uns im Ganzen der Fall ist, so würde er selbst in der christlich genannten Welt nicht hinter dem großen Haufen zurückstehen‚ sondern sich sogar vortheilhaft auszeichnen. Der Koran giebt wenigstens dem Menschen noch mehr Antrieb zum Guten, als die Lehre des Atheisten oder des Läugners der Unsterblichkeit.
Wenn auch manche üble Gewohnheit unter den Tataren herrscht, so werden doch auch andere altherkömmliche Sitten, die ihr Gutes haben, beibehalten. Selbst die eben nicht guten und löblichen Sitten, welche in der Behandlung des weiblichen Geschlechtes und im Umgange mit demselben statt finden, haben doch noch das Gute, daß sie von vielen Ausschweifungen zurückhalten, die unter uns so sehr in Schwange gehen, und schon so oft ihre elegante Rechtfertigung gefunden haben.
Auch der Nogaye hat ja in sich die große moralische Triebfeder jedes Menschen, das Gewissen. Wer auch da nicht folgen will, den bestimmt etwa die Furcht vor den menschlichen Gesetzen, vor der Strafe der Oberkeit. Der Nogaye
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hat eine große Furcht vor Geldstrafe und Gefängniß, vor der Knute und vor Siberien. In den Gefängnissen der benachbarten Kreisstädte findet man verhältnißmäßig immer viel mehr Russen als Tataren, und man reist im Ganzen in den von Tataren bewohnten Gegenden sicher.
So schädlich dem Nogayen in vielen Stücken das Festhalten am Islam und der Eifer für denselben, so wie sein von frühern Zeiten her noch tief eingewurzelter Hang zum ungebundenen, herumziehenden Leben ist, so ist er doch für das Gute empfänglich, und es wäre nur zu wünschen, daß er an seinen christlichen Nachbarn ein besseres Beispiel hätte. Es ist wenigstens zweifelhaft, ob er, in mehrerm und näherm Umgange mit Christen als früher, hinsichtlich der Sittlichkeit gewonnen habe. Den Mennoniten mag der Vorwurf eines schlechten. Beispiels am wenigsten treffen.
Was der Sittlichkeit der Nogayen schadet, ist daß so viele junge Leute als Tabunschiks (Pferdehirten) Armeniern dienen‚ gewöhnlich weit und breit auf Märkten herumziehen, und nach mehrjährigem Dienste als Taugenichtse, Diebe und Wollüstlinge zurückkommen.
Was sehr selten, fast unerhört bei den Nogayen und überhaupt bei Muselmännern ist, das ist der Selbstmord. Das härteste Schicksal trägt der Nogaye mit Geduld. Er sucht dem, was ihn trifft oder noch treffen möchte, nicht durch den Tod zu entgehen, vornämlich weil er nicht glaubt, dass er jenem dadurch entgehen könnte.
Wenn man bei uns gerne besser erscheint ober zu scheinen sucht, als man ist so zeigt sich hingegen der Tatar mehr im Guten und Bösen, wie er wirklich ist. Er selbst kennt sein Gutes nicht, und ist besser, als er sich selbst glaubt. Den
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größten Werth setzt er mehr nur in die Beobachtung einiger religiösen Gebräuche. Vieles hingegen, was bei uns gelobt und gerühmt wird, und wobei man sich wohl schon recht gut und tugendhaft dünkt, wird von ihm geübt und gethan, ohne daß es Aufsehen erregt, oder daß er solches dadurch zu erreichen suchte, und etwas darauf sich zu gute thäte; sondern er hält es lediglich für seine Pflicht und Schuldigkeit. Was bei uns so oft nur um des Lobes willen geschieht, das thun sie, ohne daß darüber weiter ein Wort gesprochen wird, ganz ungezwungen und unerkünstelt, als müßte es so sein. So Manches, was bei uns unanständig und unsittlich ist, das ist es ihnen nicht; aber auch umgekehrt sind ihnen viele unserer Sitten ärgerlich, und würden als unanständig angesehen.
Zanksucht.
Der Nogaye ist zanksüchtig, muß man wohl denken, wenn man die Männer sich so oft über Kleinigkeiten streiten, zanken, abscheulich schelten, ja wohl bis auf's Blut prügeln sieht, und wenn die Männer so oft ihre Weiber prügeln. Aber wo ist nicht Zank und Streit, wenn von einem ganzen Volke die Rede ist?! Freilich zeigt sich die Zanksucht des rohen Nogayen anders, als die gebildeterer Völker. Was uns Kleinigkeit zu sein scheint, muß bei ihnen, nach ihren Umständen und nach ihrem Vermögen, nach ihren Begriffen von Werth und Unwerth wichtig, groß und bedeutend erscheinen. Auch ist zu erwägen, daß bei ihnen eine Tracht Schläge, ein
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blaues Auge, ein Loch im Kopfe nicht höher angeschlagen wird, als bei uns ein derbes, hartes, beleidigendes, die Ehre reizendes Wort. Ich bin überzeugt, daß die Nogayen dabei im Herzen weniger böse sind als diese, und es sich gegenseitig leichter und schneller vergessen. Spricht man mit ihnen darüber, so merkt man, daß sie sich verwundern, als zanksüchtig angesehen zu sein, und der Beleidigte oder Geschlagene selbst erstaunt, wenn man ihm Beileid bezeugt oder sonst von der Sache Aufhebens macht. Während des fürchterlichsten Zankens und Prügelns geht der Eine in’s Haus, zündet ruhig sein Pfeifchen an, und geht dann auf’s Neue auf den Gegner los. Ist die Schlägerei zu Ende, so behält Jeder seinen geschwollenen Kopf, und es wird selten noch etwas von der Sache gesprochen. Man kommt wohl am nämlichen Tage oder bald nachher wieder zusammen, ohne sie im geringsten zu berühren, und ist sich wieder gut. So ist es auch mit den Weibern, wenn sie geprügelt werden. Dies bringt eben nicht mehr Unfriede in’s Haus, als auch anderwärts gefunden wird, wo nur Wortwechsel und Verweise vorkommen. Das Weib sieht es als einen wenig bedeutenden Vorfall an, oder wohl gar als hätte der Mann eben nicht mehr als seine Pflicht erfüllt. Unfriede zwischen Mann und Weib ist unter den Nogayen vielleicht im Ganzen weniger als bei uns zu finden. Freilich ist es auch hier nicht überall gleich; aber im Allgemeinen ist der Hausfriede nur im Augenblicke des Zanks gestört, der dann weiter keine schlimme Folgen, Mißmuth, Kümmerniß, Rachsucht oder Haß nach sich zieht. Unfein ist allerdings die Art dieses Streites. Am Abend hört man oft an mehrern Theilen des Dorfes zugleich ein Gelärm und Schelten. Man balgt und schlägt sich, umgeben von einem Kreise von Zuschauern,
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die nicht bald, nur etwa wenn es zu arg werden sollte, sich darein mischen, und den Streit zu schlichten suchen. Auch Weiber ringen öffentlich mit einander, Ich sah auch wohl zwei Männer sich schlagen und neben ihnen ihre Weiher sich die Kleider zerreissen, einander zu Boden werfen und jämmerlich im Gesicht mit den Fäusten zurichten.
Ist der Streit bedeutender, so thum sich die Aeltesten des Dorfes oder der Dorfschulze hinzu, und die Sache wird verhandelt. Man sieht in Zeiten, die wenig Arbeit auferlegen, sehr oft halbe Tage lang einen Haufen Tataren vor einem Hause auf ihren Füßen sitzend, die Pfeife schmauchend, den Bart streichend und Allah, Allah sagend, in Gesprächen und Erzählungen über eine Streitsache zubringen. Namentlich giebt auch der Weiberhandel viel Anlaß zu Streit. Viel Zank entsteht wegen der Viehweide, besonders auch mit Nachbarn, da die Gränze nur sehr schlecht bezeichnet ist, und die oft hirtenlosen Heerden auf fremdes Land kommen. Auch dem geduldigen und gutmüthigen Menschen giebt das Steppenleben viel Veranlassung zu Uneinigkeit mit Andern. Die Cisternen oder Brunnen geben ebenfalls, wie schon ehemals zwischen den Hirten Lots und Abrahams, viel Stoff zu Streit, da oft großer Mangel an Wasser ist, und eine beträchtliche Heerde Vieh, die getränkt werden muß, einen oder mehrere Brunnen erschöpfen kann.
Raubsucht.
Die Nogayen-Tataren stehen ins Allgemeinen in einem sehr übeln Rufe. Ueberall werden sie in der Ferne als raubIuftige,
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wohl gar als mörderische Menschen verschrieen. Nur die nächsten Nachbarn wissen davon am wenigsten. Es mag jener Ruf wohl aus früherer Zeit herkommen, da die Horde der Nogayen-Tataren vor andern sich durch Wildheit und Raubsucht auszeichnete. Sie machten Streifzüge bis tief in Polen und Rußland hinein, plünderten, mordeten und wütheten auf die fürchterlichste Weise, und schleppten besonders viele Gefangene als Sklaven mit sich fort. Seitdem sie aber unter Rußland stehen, hat es sich sehr geändert, besonders bei den nun angesiedelten Nogayen-Tataren, wiewohl noch immer etwas von ihrer früheren Raubsucht in ihnen mag zurückgeblieben sein. Zum Theil durch Furcht gehalten, gewöhnen sie sich immer mehr an ein ruhiges und arbeitsames Leben, das ihnen das nöthige Brot verschafft. Rohe Sitten und Charakter mildern sich, je mehr sie dem Ackerbau sich ergeben, und ein weniger wildes, unstetes Leben führen, als es im Nomadenstande und überhaupt bei Pferdezucht und Herumziehen auf Märkten der Fall ist. Die Lage, die Verfassung eines Volkes ist die Form, in welcher seine Sitten sich ausprägen. Macht unser Teutschland zum Nomadenvolk, und ihr werdet es bald, mit einigen wenigen Eigenthümlichkeiten, den Tatarencharakter annehmen sehen! — Warum sollte der Nogaye raubsüchtig genannt werden vor Andern, da doch auch unter uns Diebe und Mörder, volle Zuchthäuser und Gefängnisse sind? Möchte man doch einmal von der Meinung zurückkommen, daß es in Rußland und ganz besonders unter den Tataren so sehr diebisch zugehe, und man in Abendländern (etwa in Italien?) sicherer wohne und reise.
Mord ist sehr selten, und wenn auch ziemlich häufig Vieh gestohlen wird, so ist es damit doch gewiß nicht schlimmer
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als, bei gleichen Umständen und gleicher Gelegenheit dazu, auch in Deutschland und andern Ländern der Fall wäre.
Man muß sich unter den Nogayen ein Volk denken, das gewohnt war, diese Steppen und die Weide überall als Eigenthum anzusehen, und das sich in seinem Besitze beschränkt fühlt. Wenn der Tatar auf einer erhöhten Gegend auf russische und teutsche Dörfer blickt, so sagt er mit Bewegung: „Sieh, all dies Land war unser! Da wohnten und weideten wir. Damals waren wir reich und hatten unsere Lust!“ Nimmt man noch dazu, daß diese ihnen abgenommene Länder von Christen, von Ungläubigen, bewohnt werden, dann wird man ungefähr beurtheilen können, wie in ihren Augen ein Pferdediebstahl erscheinen muß. Man wird sich dann nicht wundern, daß, wie unter uns, so auch unter ihnen Diebe sich finden.
Die Tararen bestehlen sich sowohl unter einander als auch, wiewohl häufiger, ihre Nachbarn. Sie zeigen bei ihren Diebstählen Gewandtheit und Klugheit. Selten mißlingt ihnen der Streich. Sie brechen Nachts in die Ställe der Teutschen, machen mit den gestohlenen Pferden mancherlei Umwege in ihr Dorf, um die Spur der Pferde in Bächen und auf verschiedenen Strassen und im Sande zu verwirren. Im Dorfe angekommen, sucht man die besten aus ihnen weit weg zu transportiren und zu verkaufen; gewöhnlich aber werden alle geschlachtet, abgeledert, zerstückt, eingesalzen, und das Fell wird in die Erde verscharrt.
Will der Nogaye gestohlenes Vieh verkaufen, so findet er auch unter Russen und Teutschen der Hehler und Abnehmer genug.
Im Ganzen kann dem Nogayen eher etwas anvertraut
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werden als dem gemeinen Russen. Der Tatar, der sich Kleinigkeiten zu stehlen erlaubt, wird eine ihm anvertraute größere Summe mit Sorgfalt und Treue verwahren und zurückstellen. Beispiele dafür sind viele vorhanden. In dem Hause, wo ein Fremder einmal aufgenommen worden, darf er dem Wirthe mit völliger Ruhe seine Habseligkeiten anvertrauen.
Der Nogaye bei seinen russischen und teutschen Nachbarn.
Kommen Nogayen als Gäste, eingeladen oder uneingeladen, zu Teutschen und Russen, so Iobt er deren Klugheit und Geschicklichkeit, die schöne Einrichtung und Leitung der Wirthschaft, und zählt sich und sein Volk zu den Ochsen und Eseln. Hat er ihnen aber den Rücken gelehrt, so lacht er und spricht ganz anders. „Der Teutsche versteht nichts“, sagt er, „er weiß nicht mit Pferden umzugehen; er kann keine rechte Butter, er kann keine Djughrt machen. Wohl sind’s eben nur — Christen, keine Muselmänner.“ — Am wenigsten gefällt den Nogayen der Anzug der Teutschen. Sie lachen über die Hauben, welche die teutschen Frauen tragen, und über die nackten Waden, die sie sehen lassen, über die engen Iedernen Beinkleider der Männer, und wenn sie einen Mann sehen, der vom Weibe beherrscht wird, die mit ihm zankt und ihn beschilt. Er ärgert sich, wenn der Christ über schlechte Witterung, Mißwachs, Heuschreckenplage, Krankheit klagt,
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wenn er in dessen Hause Gemälde und Bilder sieht, und er rühmt sich dann, einen Gott zu haben, der sich weder zeichnen noch aufhängen läßt.
Milch ist das, was der Nogaye bei Teutschen am liebsten genießt. Brod nimmt er auch an, wenn es nicht mit Fett oder Butter gebacken und nicht mit einem Messer zerschnitten wurde, mit dem man auch Schweinfleisch geschnitten hat. Kuchen und Fleisch ißt er in der Regel nicht; erstere, weil sie mit Schweinfett könnten bereitet sein; letzteres, weil es nicht von einem nach ihrer Weise geschlachteten Thiere kommt. Es giebt aber junge Tataren, welche sich über alles wegsetzen und, wenn es ihnen nur nicht gesagt wird, selbst Schweinfleisch essen, sich stellend als kennten sie es nicht.
Die Neugierde und Zudringlichkeit des besuchenden Nogayen ist sehr groß, besonders aber der Weiber, denen die einfachen Bauernhäuser wie Paläste vorkommen. Sie wollen alles betasten und alles haben. Ihre besondere Aufmerksamkeit erregen Spiegel und Wanduhren, und sie bitten sich auch wohl solche ohne Bedenken zum Präsent aus. Die Lebensart der Teutschen und Russen, namentlich den Gebrauch der Tische und Stühle, finden sie sehr unbequem.
Da bei den Teutschen Einige sich mit Heilung von Krankheiten befassen, so kommen Nogayen mit Weibern und Kindern als Patienten; doch gewöhnlich erst dann, wenn das Uebel zu weit gegriffen hat oder zu tief gewurzelt ist, und alle ihre Hausmittel und Zauberkünste nicht anschlagen wollten. Zudem bezahlen sie nicht gerne, und brauchen die gegebenen Mittel selten nach Vorschrift. Hinderlich ist hiebei auch ihre geringe Bekanntschaft mit der russischen und die Unkunde
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der Teutschen in der tatarischen Sprache. Demnach ist von solchen Kuren wenig zu erwarten.
Als Arbeiter sind die Nogayen von Teutschen und Russen gesucht. Sie arbeiten schneller und besser als der Russe, und werden deßhalb von den Teutschen vorgezogen. Sie werden hauptsächlich zur Heuernte, zum Dreschen mit ihren Pferden und zur Reinigung des Waizens gemiethet. In der Erntezeit werden sie täglich nebst Kost mit 60 Kopeken bis ein Rubel Banco, d. h. mit 20 bis 30 Kreuzer rhein. bezahlt, was immer nicht wenig ist, aber gegeben werden muß, weil des Landes viel, der Hände wenig sind, und fast Keiner ohne eigene Wirthschaft und Beschäftigung ist. — Als Schaaf- und Pferdehirten sind die Nogayen ebenfalls gesucht, da sie nicht träge und sehr aufmerksam sind, und mit Pferden sehr gut umzugehen wissen.
Als Bettler kommen sie ziemlich häufig in benachbarte Dörfer, und werden selten leer abgewiesen, obgleich sie nicht mit allem zufrieden sind. Am liebsten empfangen oder nehmen sie Geld, dann Mehl oder Waizen, weniger gerne Brot oder Fleisch.
Kommen sie als Gäste auf Besuch, als Bettler oder Arbeiter in die teutschen oder russischen Dörfer, so ist sehr selten, daß etwas gestohlen wird. Hiezu kommen sie eigens, und zwar um Vieh, besonders Pferde, zu stehlen. Einbruch in die Wohnhäuser kommt, so wie Straßenraub, nur selten vor. Die Nachbarn sind im Ganzen mit den Nogayen sehr zufrieden, und wünschen nur, daß die Stelle eines Chefs dieser Tataren immer mit einem uneigennützigen und für’s Allgemeine wohl bedachten Manne besetzt sein möchte.
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Erziehung und Kinderzucht.
Kinder (balaler), besonders Knaben, werden für einen Segen Gottes gehalten. Bei Geburt eines Knäbleins (ughl) ist größere Freudenfeier, als bei der eines Mädchens. Doch werden diese von Vielen vorgezogen, weil sie Geld und Gut einbringen. Hier gilt der Spruch: Viel Mädchen geben Reichthum. Bei den Geburten wird von Verwandten und Bekannten gratuliert, und bei einem erstgebornen Sohne ein überaus großes Fest gefeiert. In der Namengebung bindet die Aeltern keine Sitte; doch wird etwa ein Priester zu Rathe gezogen. Wer die Freude der Geburt eines Kindes einem Bekannten zuerst auf der Straße anzeigt, erhält von diesem ein kleines Geschenk. Es wird vom Vater ein Schaaf geopfert und ein Gastmahl gegeben.
Viele Umstände werden übrigens mit dem Kinde nicht gemacht. Es wird, auch bei vermögenden Aeltern, nur dürftig eingewickelt. Diesfalls mehr zu thun, hält man nicht für nöthig. Im Ganzen findet man den babasi oder atasi (Vater) mehr für das physische Wohl des Kindes besorgt, als die anasi (Mutter), oft überhaupt bei ihm mehr zärtliche Liebe. Mit einigen Ausnahmen sind die Mütter als solche im Ganzen ziemlich gleichgültig. Die Mutter weiß, daß sie das Kind nur säugen und aufziehen kann, aber weiter keine Stimme in Hinsieht seines künftigen Lebensschicksals und seiner Bestimmung hat. Die morgenländische Sitte bringt es also mit, daß die Mutter das Kind nicht in dem Sinn, wie bei uns, auch als ihr Kind betrachten kann. Es fehlt jedoch nicht ganz
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an vernünftigen Männern, welche in gewissen Fällen ihre Frau zu Rathe ziehen.
Die Wiege (besegg) wird vom Vater verfertigt, und hat auf ihrem Boden ein rundes Loch, welches auch durch das Unterbettchen ausgenäht ist. In dieses wird ein kleiner irdener Topf gestellt, in welchen das Kind bei Tag und Nacht die Bedürfnisse befriedigt. Das Kind liegt auf diese Weise beständig trocken; der Leib und besonders die Füße müssen aber ziemlich stark mit der Decke zugebunden werden, wobei dann für Knaben und Mädchen noch eine eigene Vorrichtung statt hat von zugeschnittenen Markknochen oder Schilfrohren, die als Kanäle dienen, und an ihrem Ort zwischen den Füßchen festgebunden sind.
Die Mütter säugen ihre Kinder sehr lange. Ein zwei- oder dreijähriges Kind nährt sich noch wohl nebst dem Kleinern an der Mutter Brust. Ist das Kind größer, so wird ihm der Babai, ein Brei von zerriebenen, gerösteten Hirsen, mit Milch vermischt, gereicht. Da die Mutter nicht wenig Arbeit hat, so sehen sich die Kinder bald sich selbst überlassen. Sie lernen sehr schnell kriechen und sitzen, weniger schnell geben, da man sich deßhalb mit ihnen wenig Mühe giebt. Ganz besonders schnell lernen sie selbst essen. Dem kleinen Kinde, das noch kaum sitzen kann, giebt man schon eine hölzerne große Schüssel mit Hirsengrütze nebst hölzernem Löffel hin, und läßt es damit spielen oder davon essen. Es gießt begreiflich oft die Milch aus, und zerstreut mit den Händen die Grütze im ganzen Zimmer. Man giebt ihm auch wohl Stücke Fleisch und Fett, die es jedoch noch nicht essen kann, sondern meist auf dem nackten Erdboden des Hauses herumschmiert, mitunter daran Ieckt und saugt, woduch es sich
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also gewöhnt, mit dem Fette Koth und Erde zu essen, so daß man sich nicht wundern muß, sie in spätern Jahren ganze Stücke Erde wie Brod essen zu sehen, und daß der Erwachsene sich nichts daraus macht, wenn die Speise mit Erde oder Unreinigkeiten gemischt ist. Der Gesundheit des Kindes, welches alles ergreift und ißt, was nur zu schlingen möglich ist, muß dies sehr nachtheilig sein, und ist gewiß eine Hauptursache, daß nach Verhältniß so viele Kinder im den ersten drei Jahren sterben, und daß so wenige Tataren eine ganz frische, gesunde Gesichtsfarbe haben. Dazu kommt noch schlechte Bedeckung der Kinder bei Nässe und Kälte, die ungesunde Luft in allzustark geheiztem Zimmer, oder das zu nahe Sitzen um das große Feuer im Vorhause.
Sobald das Kind selbst essen kann, so erhält es keine andere als die Speise, welche auch von Erwachsenen gegessen wird, und die gewöhnlich für die kleinen Magen so wenig verdaulich ist, daß das Kind sie oft bald wieder von sich geben muß.
In der Wiege läßt man das Kind nicht lange, sondern die Eltern nehmen es sobald möglich zu ihnen auf die Matratze. Ein leinenes rothes Hemde ist die gewöhnliche Bedeckung des Sommers; doch gehen auch wohl Mädchen bis in’s fünfte Jahr ganz nackend, Knaben oft bis in’s zehnte. So sieht man sie sich im Kothe wälzen oder den brennenden Sonnenstrahlen ausgesetzt. — Im Winter ist die Kleidung ein Pelzrock und eine Pelzmütze. Für die Füße wird selten mit ein Paar rothen Schuhen gesorgt; Strümpfe werden nicht getragen. — Mädchen sind im Ganzen mehr beaufsichtigt und geschont, als Knaben.
Am Hause machen die Kinder viel Unordnung. Weil sie
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kein eigenes Spielzeug haben‚ so verunreinigen sie alles, was sie im Hause finden. — Mit dem Messer oder einem Hammer machen sie Löcher in den Ofen, der dann wieder ausgebessert werden muß. Sie graben tief, wie Hamster, die Erde im Zimmer auf, zerschneiden die Kleider, verderben und zerstreuen die Speisen, schleppen, was sie können, auf die Steppe hinaus, und bringen es nicht mehr nach Hause zurück. Ein brennendes Licht, vom Kinde ergriffen, darf ihm nicht bald genommen werden. Es soll Glück dem Hause geben oder bedeuten. Kurz die Kinder treiben viel Unfug. Den Aeltern kommt dies aber nicht so vor, und man wehrt dem Kinde nicht oft etwas, sondern läßt ihm so viel möglich den Lauf und die Freiheit.
Mädchen werden zum Nähen, Wirken, Spinnen und Kleidermachen angeleitet und im Ganzen gut gehalten, damit sie Ansehen bekommen und gut angebracht oder verkauft werden können. Sie gehen nicht sehr oft aus den Häusern und dann meistens mit Gespielinnen. Die Knaben helfen frühzeitig beim Vieh, und lernen sehr bald reiten. Ein kleiner Knabe (oghlan) schwingt sich auf's Pferd, indem er das Halshaar zu erreichen sucht, dann an den Knieknöcheln des Pferdes sich anstemmt, und so, als in einem Steigbügel, mit Schnelligkeit auf den Rücken steigt. Der erstgeborne Knabe hat, nach alter Sitte, große Vorrechte, und bleibt das Haupt der übrigen Brüder.
So wenig ängstlich man für das Physische des Kindes sorgt, so geschieht noch weit weniger für sein psychisches Wohl. Man läßt es so dahin leben und aufwachsen, wie es eben die Natur mitbringt. Die Aeltern fordern weiter nichts, als daß das Kind in den nöthigsten Dingen ihnen Folge leiste.
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Künstliche Bildungsmethoden oder systematische Erziehungsweisen kennt begreiflich der Tatar nicht. Er ist nie verlegen, wie er denn wohl seine Kinder zu behandeln habe. Dessen ungeachtet findet man, in Vergleich mit Kindern gebildeter Aeltern, wenig Unarten und Launen bei den Tataren-Kindern, und man muß sich (nach den gewöhnlichen, zum Theil sehr unrichtigen Begriffen) wundern, sie, so aufgewachsen, in ältern Jahren nicht viel wilder, unartiger und unsittlicher zu sehen. Aber bei wenigen Geboten und Verboten hat ja das Kind auch um so viel weniger Reiz zur Uebertretung.
Die Kinder werden nie angehalten, den Aeltern für Speise, Kleidung u. dgl. zu danken. Es scheint dies weder den einen noch den andern je in den Sinn zu kommen.
Die Mütter sind gewöhnlich weniger nachsichtig gegen die Kinder als die Väter. Diese nehmen auch immer das Kind gegen die Mutter in Schutz, wenn diese etwas verweigern oder bestrafen will.
Der Tatar sieht gerne, wenn die Kinder frühzeitig sich balgen und oft mit einander ringen, und zeigt ihnen dabei alle Vortheile. Feines sittliches Gefühl wird bei ihrer Erziehungsweise und der Art, wie Alt und Jung beider Geschlechter unter und neben einander lebt, nicht erweckt. Der Geschlechtstrieb wird frühe wach; die Schamtheile werden durch Ziehen, Reissen und Reizen geschwächt und gefühlloser. Die Kinder treiben allerlei Unfug; doch vielleicht weniger als es unter gebildetern Völkern geschieht, und von weniger schlimmen Folgen begleitet.
Von einem Religionsunterricht ist keine Rede. Die Aeltern unterweisen jedoch in dem, was ihnen nöthig scheint,
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und dieses besteht darin, daß man das Kind frühe die Worte: Bir Allah! (Ein Gott), lehrt und sie ihm vorsagt; oder auch das muselmannsche Glaubensbekenntniß : Allah birder wo Mahomed ressül Allah! (Es ist nur ein Gott, und Mahomed ist Gesandter Gottes.) — Sie werden gefragt: Wer bist du? oder wessen Knecht bist du? worauf geantwortet werden muß: Allah kulim (Ich bin Gottes Knecht). Wer hat dich erschaffen? Allah djeratdim (Ich bin von Gott erschaffen) und dergleichen mehr.
Die Schulen.
Schulen sind Pflanzstätten des Guten oder auch des Bösen, je nach ihrer Beschaffenheit. Soll auf den religiösen, moralischen, intellektuellen und physischen Zustand eines Volkes tief eingewirkt werden, so muß der Einfluß hauptsächlich auf die neue Generation, auf die Jugend, in den Schulen geschehen; es muß bei'm: Keim und bei der Wurzel des neuen Geschlechts angefangen werden! Mit diesem Gemeinplatz soll hier nur der Behauptung eine Unterlage gegeben sein, daß man Schulen als das eingreifendste Mittel der Civilisation unkultivirter und wilder Völker anzuerkennen habe, was bisher an den verschiedenen Völkern der Erde sich bestätiget hat.
Bei den Nogayen aber steht es in dieser Hinsicht noch übel, da die Sochta’s- oder Schulen in den Händen der Mollah’s oder muhammedanischen Priester sind, denen es nur
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daran gelegen ist, das Volk in Unwissenheit, Aberglaube und Fanatismus zu erhalten, und von selbem Geld zu beziehen, um in Unthätigkeit leben zu können. Die Mollah’s oder Priester und Schullehrer sind selbst sehr unwissend, indem sie weder die türkische noch arabische Sprache, in welcher ihre Religionsbücher abgefaßt sind, recht verstehen und lehren können. Der ganze Unterricht beschränkt sich darauf, die vorhandenen Schriften, den Koran und Auszüge aus demselben oder Erklärungen desselben zu Iesen. Wenige Schüler bringen es so weit, diese Schriften auch übersetzen und verstehen zu lernen. Bei den Meisten bleibt es bei'm Auswendiglernen einiger der gewöhnlichsten und nöthigsten Gebete, ohne deren Sinn zu verstehen.
In jedem Dorf ist eine Schule, in einem armseligen Lokale, meist unter der Erde, oder doch in einer elenden Erdhütte. Höchst selten wird auch etwa ein Mädchen zur Schule geschickt; selbst von den Knaben sind es hauptsächlich nur diejenigen, welche zu künftigen Priestern bestimmt sind, von denen die Schule besucht wird. Als Strafe werden den Schülern Schläge auf die Fußfohlen gegeben -- die türkische Bastonnade. -- Am Abend wird vor der Schule von allen Zöglingen ein Gebet mit lautem Geschrei in singendem Tone hergesagt. Sie schreien dabei so viel die Kehle vermag. Dieser deklamatorische Gesang ist das Ziel, wonach besonders die Mollah’s streben, und in welchem man sich sehr übt. Wer sich hoch ausbilden will, der geht zu besserer Lerngelegenheit nach der Krimm, wo die Schulen ordentlich bestellt und mit Lehrern besetzt sind, die in Konstantinopel ihre Bildung erhielten. Die Priester sind gewöhnlich für ihre Mühe von den Aeltern jedes Schülers mit Waizen, Hirse oder mir einem Stück
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Vieh bezahlt. Die größern Schüler oder Sochtaler zeichnen sich durch Stolz, Ungebundenheit und Grobheit, trotz den Burschen unserer Universitäten, aus. Am Freitag wird kein Unterricht ertheilt, denn es ist der Sabbat der Muselmänner.
Die Regierung hat die Nothwendigfeit und Wichtigkeit der Anlegung besserer Schulen schon lange eingesehen, und hat nun kürzlich im Hauptorte des Nogayen-Gebietes eine Schule errichtet, in welcher künftige Schullehrer für die Dörfer, so wie gebildetere Dorfschulzen und Gebietsschreiber erzogen werden sollen.
Sprache.
Die tatarische Sprache hat viel Aehnlichkeit mit der türkischen, welche auch tatarischer Abkunft, nur ausgebildeter und weicher ist, wiewohl auch diese Sprache eben nicht zu den weichsten gehört. Die Morgenländer haben verschiedene Sprüchwörter, wodurch sie den Charakter der arabischen, persischen und türkischen Sprache, zu welch letzterer auch die tatarische gezählt werden kann, bezeichnen. Die arabische, heißt es, überrede, die persische schmeichle, die türkische strafe; arabisch habe im Paradiese die Schlange unsere Stammmutter angeredet, persisch haben Adam und Eva sich von Liebe und Gegenliebe unterhalten, türkisch habe der Engel gesprochen, als er den ersten Aelten das Paradies versagen müssen. Das Krimmisch-, so wie das Orenburg-. und Kasanisch-Tatarische, weicht von dem nogayischen Dialekt ab, welches ein
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wahres Patois des Tatarischen und ein Gemisch mehrerer anderer Sprachen ist. Die nogayische Sprache ist nicht reich, und tönt dem Ohre hart und roh. Mit der Annahme des Islam, des Korans und der arabischen Schrift sind auch die meisten Worte, welche aufs Religiöse Bezug haben, aus der arabischen Sprache aufgenommen worden. Ueber andere Gegenstände finden sich auch viele türkische Worte, so daß man, ohne mit Arabisch und Türkisch bekannt zu sein, nicht über alles sich auszudrücken vermag. Die tatarische Sprache ist überhaupt schon deßwegen schwer zu erlernen, weil sie nicht, wie die türkische, in grammatikalische Regeln gebracht ist. Man kann sich jedoch, der Verwandtschaft wegen, zum Theil an die Regeln dieser letztern Sprache halten. Es finden sich auch persische Worte in der tatarischen Sprache, und seit ihrer mehrern Verbindung mit Russen sind auch viele russische Worte aufgenommen worden.
In dem Gebiete der Nogayen selbst findet unter den drei Hauptstämmen, dem Jediskanschen, Jediskulschen und Djembuilukschen, eine ziemliche Verschiedenheit des Accentes statt. Merkwürdig ist, daß sich in der ungarschen oder magyarschen Sprache sehr viele tatarische Worte finden.
Um den Geist der nogayischen Sprache und ihren Unterschied von der türkischen einigermaßen zu bezeichnen, folgen hiemit einige türkische Sprüche in’s Nogayische übersetzt. Die Nummern haben auf beifolgende lithographirte Tafel Bezug.
1) Alimleröng sösi k'bi der ösi. Weisen der Worte gleich sind ihm selbst. Oder: Das Inwendige des Weisen ist mit seinen Worten einstimmig.
2) Katschan sorlu bir adam kasmet étersa ischöngda chair bolmes. Wann gezwungen ein Mensch Dienst thut Arbeit
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seiner in Glück ist nicht. Wenn ein Mensch nur gezwungen dient, so ist es nicht möglich, daß seine Arbeit gut gemacht sei.
3) Nasihat eschetdöng k'bi êmel ilè. Lehre gehört wie Werk mit. Sobald du eine Lehre verstehst, so setze sie auch in Ausübung.
4) Senè bir Adam end'schider anöng kusurinè bagaschla merhamet bolasun. Dich ein Mensch beleidigt seine Fehler ihm vergebe, Barmherzigkeit werde dir. Wenn ein Mensch dich beleidigt, vergib ihm seine Fehler, damit du Barmherzigkeit erlangest.
5) Süd ilè geren chui d’schan ilè tschekar. Milch mit eingesogenes Böse Seele mit weggeht. Mit der Milch eingesogenes Böse geht nur mit der Seele fort.
6) Saberlek insané här müradinè virdiler. Geduld Menschen den jedem Ziele seiner führt. Die Geduld bringt den Menschen zu jedem seiner Ziele.
7) Kusel nijet etmeschsen allah birè. Schön Entschluß gemacht hast du Gott helfe. Du machst gute Entschlüsse; Gott helfe dir.
8) D’schan wo d’schrok dan teinria kulluk ilè. Herz und Seele von Gott Dienst thue. Diene Gott von ganzem Herzen und von ganzer Seele.
9) Akellulak boder bir söiliup ikè dinlemek. Weisheit diese ist einmal reden zweimal hören. Das ist die Weisheit, einmal zu reden und zweimal zu hören.
10) Gairileröng sutschnè söilèma sira seneggene da söilerler. Andern des Fehlern spreche nicht weil deinigen den mehr sprechen man wird. Sprich nicht von den Fehlern des Andern, weil man auch von den Deinigen sprechen wird.
Die Buchstaben des Alphabeths spricht der Nogaye auf
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Abbildung 3: Arabisch-Türkische Sprüche
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folgende Art aus: Elip, bé, thé, sé, djüm, ha, ché, dall, dsall, ré, äsé, sönn, schönn, sad, dsad, thi, si, äin, ghäin, fö, kap, kep, lam, mim, nun, wo, hö, lamelip, ja.
Das ghäin ist in mehrern tatarischen Worten, z.B. in sitschghan, Maus,— kaghat, Papier, — asghana, ein wenig, schwer auszusprechen , und klingt fast wie ein R an dem angestoßen wird.
Das kep kommt bald als k, bald als hartes g vor, und in vielen Worten als das sogenannte Mankakep als g durch die Nase, bei den Türken fast wie n. Das schönn wird bei den Nogayen oft in sönn, das bé in mim verwandelt.
Von den 28 Buchstaben des Alphabets (das Doppel l oder lamelip nicht mitgerechnet) ist nur das Elip beständiger Selbstlauter. Die Buchstaben äin, wo, hö und ja sind bald Mit-, bald Selbstlauter, die übrigen alle Mitlauter.
Eigentlich sind, wie in der türkischen Sprache, 8 Selbstlauter, welche aber nur durch kleine Striche und Zeichen, die den Buchstaben beigesetzt werden, angedeutet sind. Was das Lesen sehr erschwert, ist, daß diese Zeichen gewöhnlich nicht beigeschrieben sind, sondern nur gedacht werden müssen, was oft ein Wort zweideutig machen kann.
Wie die Türken, so gebrauchen auch die Tataren nur ein Geschlecht. In der vielfachen Zahl wird dem Worte ein ler angehängt, z. B. atasi, der Vater, atasiler, die Väter; koi, Schaaf, koiler, Schaafe, u. s. w. Um ein Handwerk oder Gewerbe anzudeuten, wird dem Worte ein d’schi angehängt, z. B. balik, Fisch, balik d’schi, Fischer, und wenn vom Gewerbe selbst die Rede ist, noch lek beigefügt, balik d’schi lek, der Fischerberuf. Auch wird dies lek beigefügt, um aus den Beiwörtern Hauptwörter zu bilden,
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z. B. aus Freund Dost, Freundschaft Dost lek. Um den Besitz einer Sache anzuzeigen, wird lu angehängt, z.B. d’schan, die Seele , d’schanlu beseelt , auch schahär, die Stadt, schahärlu, der Städter; ada, die Insel, adalu, Insulaner.
Da die Tataren, ausser etwa dem Punkt, keine orthographischen Zeichen haben, so unterscheiden sie das Fragende durch Anhängung der Sylbe ma, z.B.: Ist er gekommen? keldèma; Ist dies schön? igèma; Hast du gehört? ésset dèma.
Bei der Deklination können acht Fälle angenommen werden, als:
Adam, der Mensch.
Adamöng, des Menschen.
Adama, dem Menschen.
Adami, den Menschen.
Ja adam, o Mensch!
Adamdan, von dem Menschen.
Adamga, nach oder zu dem Menschen.
Adamda, in dem Menschen.
so chatun, die Frau; haiuan, das Thier, u. s. w.
Der Infinitiv des Zeitworts endet sich mit mek, z.B.: sümek, lieben, atmek, werfen,
Aterim, ich werfe.
Atersen, du wirfst.
Ater, er wirft.
Ateres, wir werfen.
Atersönges, ihr werfet.
Aterler, sie werfen.
Sie haben aber nicht nur dies einfache, sondern auch ein zusammengesetztes Präsens:
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Atiêterim, ich bin im Werfen, ich bin in der That des Werfens, atiêtersen, atiêter, atiêteres, atiêtersönges, atiêterler.
Um das Nichtsein oder Nichtthun einer Sache anzuzeigen, wird ses oder mä angehängt, z. B.: kur, sehen, kurses, blind; din, der Glaube, dinses, ungläubig; bolde, genug, bolmä, es reicht nicht zu, es ist nicht genug.
Das verneinende Zeitwort hat eben so das mä eingeflickt, z.B.
Atmäim, ich werfe nicht,
Sümäim, ich liebe nicht, u. s. w.
Die Zahlen sind folgende: 1 bir, 2 ike, 3 ütsch, 4 dörd, 5 besch, 6 alti, 7 djedi, 8 sikes, 9 thukus, 10 onn, 11 on bir, u. s. w., 20 djerma, 30 oltus, 40 kark, 50 illé , 60 altmesch, 70 getmesch,, 80 sixin, 90 tuxun, 100 djüs, 1000 bing. Man bedient sich aber, so wie in andern morgenländischen Sprachen, in einigen Fällen auch der Buchstaben, um Zahlen anzudeuten, und zwar folgender Weise : 4 elip, 2 be, 3 dschüm, 4 dall, 5 hö, 6 wo, 7 ré, 8 ha, 9 thi, 10 ja, 20 kep, 30 lam, 40 mim, 50 nun, 60 sönn, 70 äin, 80 fö, 90 sadd, 100 kap, 200 äsé, 300 schönn, 400 té, 500 sé, 600 ché, 700 dsall, 800 dsadd, 900 si, 1000 ghäin, 2000 be und ghäin, 3000 dschüm und ghäin, 10,000 ja und ghäin, 100,000 kap und ghäin.
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Begrüßungen, Danksagungen, zärtliche Ausdrücke, Schimpfworte, Namen von Nogayen, besondere Redegebräuche.
Die gewöhnliche Begrüßung ist: Salam alei kum! Friede sei mit Dir! — Der Begrüßte erwiedert mit: Alei kum selam, hinwieder dasselbe! oder sau bol (türkisch saghol) sei gesund! oder: Allah rasse bosen, auch olsun! Gottes Wohlgefallen mit dir, Gott sei dir gnädig! Begrüßungen, die schon bei den alten Juden gebräuchlich waren.
Früh Morgens grüßt man mit: Sabah chair olsun, glücklicher Morgen, dein Morgen sei glücklich! Die Erwiederung ist: Akebet chair, dein Ende sei glücklich! Eben so antwortet man auf den Wunsch eines guten Abends oder achscham chair.
Dem Niessenden wird ebenfalls mit chair ollen Glück gewünscht. Vor Schlafengehen sagt man: Kesch jachsché, gute Nacht! Auf eine Reise: Jachsché djolga war, mögest du auf richtiger Straße gehen! möge dein Gang gut sein! Auf Reisen sich Begegnende sagen: Ogurol,. deine Reise sei glücklich! reise mit Glück!
Für etwas dankend: Allah rasse bosen, allah rasse olsun, oder bereketwersen, Segen sei dir gegeben! Gott gebe dir Ueberfluß! Auf die Fragen: kefeima, bist du gesund? oder toiduma, bist du satt? wird geantwortet: Allah schugger, Gott sei Dank! Der Wirth sagt nach dem Essen den Gästen : As bosen, wohl bekomm’s; ne djaparsen, was schaffst, was machst du? Nachfrage nach Wohlbefinden ist
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noch: Aman sen ma? welches sagen will: bist du sicher? mit allem Eins, frei von Leiden?
Kosch kelde, willkomm! sei willkomm! Der Weggehende von Andern sagt: Saghlok men thur, oder saghlok men gal, ich stehe auf; ich gehe; sei gesund! mit Gesundheit! Der Andere sagt: Saghlok men war, geh von mir mit Gesundheit!
Ausruf : Gott bewahre uns! Allah kustermes. Nach überstandenem Unglück und Lebensgefahr: Baschöng sau oder sagh bosen, daß dein Kopf gesund sei! Gut, daß du mit dem Leben davon gekommen!
An Liebesäusserungen und Schmeichelworten scheint ihre Sprache nicht reich zu sein. Die gewöhnlichen Ausdrücke sind; Djanem, mein Herz, mein Seelchen! Kusem, mein Auge! Ike kusem, mein Doppeläuglein, mein Zweiäuglein! Djaurim, mein Kleinchen, mein Thierchen! Dostim, mein Freund! Karndaschem, mein Bruder! Akam, mein Alter, mein Bekannter ! Djiget, ein Jüngling, wird mehr nur gebraucht, um einen guten liebenswürdigen Jungen anzudeuten. Das Wort saulem (saghlem) wird einem guten Kinde als Schmeichelei gesagt.
Namen der Nogayen sind unter vielen, bei Männern: aschure (der Ueberzählige), saluat (der Zeiger, Zeigefinger), sanduk (Kiste), tölke (Fuchs), amet (Vetter), dieja (Fußgänger), kokan, jalgasa, betisch, kartakai, karakai, mengleul, aschemarat, mambet, ötausch, kenschakai, dienakai, kosalé, bilel; viele aus dem Arabischen, z. B.: Aubukir (abu beker), Abulkader, Abulkrim, Abdullah, Alismann (al Osman); andere aus dem Hebräischen, als: Ibrahim (Abraham), Daud (David), Danil (Daniel), Elies u. s. w.
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Einige weibliche Namen; Sarabai, Urslukan, Kokui, Kenschapai, Saramai (Gelbbutter), Karaschasch (Schwarzhaar), Salimé (Salome), Mariem (Maria).
Die gewöhnliche Art sich auszudrücken, um etwas feierlich zu bestätigen, ist, daß das Wort Allah nachdrücklich oder auch wiederholt ausgesprochen wird; oder auch die Worte : Bir Allah (Ein Gott), was so viel sagen will, als: Bei meinem Gott! auf den Einen Gott! auf meinen Glauben, als Muselmann. Mit Lachen oder Geringschätzung wird der Tatar den Namen Gottes nie aussprechen. Er macht immer eine ernste Miene dazu.
Bei jedem Anfang einer Arbeit, wenn der Tatar zu Pferde steigt, einem Stück Vieh den Hals abschneidet, wenn die Frau den Kessel vom Feuer hebt, kurz vor allem wird das Wort: B’smil Allah! (im Namen Gottes! mit Gott!) halblaut ausgesprochen. Im Namen Gottes wirft sich der Pferdedieb in den Sattel, und führt seine Beute neben sich fort. Man glaubt dadurch dem Geschäft den Segen zu ertheilen.
Gewöhnliche Redensart, um die Unwissenheit des Menschen zu entschuldigen und Gottes Allwissenheit und Vorherbestimmung anzuzeigen, ist: Allah biller! (Gott weiß!) Dies führen sie sogleich im Munde, wenn sie auf Abwendung eines vielleicht nahen Unglücks aufmerksam gemacht werden, oder wenn man ihnen die Schuld eines Unglücks beimessen will. „Ich weiß nicht, — das kann ja nur Gott wissen, — das ist nicht meine Sache!“ — Nach einem Unglück oder Verlust, verschuldet oder nicht, sagen sie mit der größten Kaltblütigkeit und Gelassenheit: Allah birdé, Allah aldé! (Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen!)
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Ein Ausruf der Klage und des Leids ist: Bai wai, o weh! o weh! welches oft wiederholt wird. Ausdruck des Erstaunens, Bewunderns: Anarsch, sieh! sieh! — Allerliebst; ei, wie schön! afelen oder aferin. Das Wiegenlied für die Kinder ist ein beständiges Wiederholen der Worte: Eidi eidi eidi o!
Will der Nogaye etwas verneinen, so gebraucht er oft anstatt des jok (nein) oder dughl (nicht) ein Schnalzen mit der Zunge, in der Art, wie bei uns etwa von Kindern die Bejahung ausgedrückt wird. Um Vieh anzutreiben, wird das Wort: haida! wiederholt gebraucht, für Pferde tschu!
Für den Ausdruck der Gesammtheit ohne Unterschied (alles ineinander gerechnet) oder auch der bloßen Indifferens (wie dem auch sei; es sei dem so oder nicht), wird das Wort wiederholt, das zweitemal aber mit einem m angefangen, z. B.: will man bei koi, Schaaf, sagen: die Schaafe alle in einander gerechnet, ohne auszulesen, alles was zur Heerde gehört, so sagt man: koi moi. Oder will man bei kasan, Kessel, sagen: alles was zur Küche gehört, Geräth um Geräth, so wiederholt man das Wort Kessel, und sagt: kasan masan. Will man bei’m Worte cherses, Dieb, sagen: Er mag ein Dieb sein oder nicht, so wird es ebenso wiederholt und gesagt : cherses-merses. Fängt sich das Wort selbst mit m an, so nimmt man einen andern Buchstaben für die Wiederholung, z. B. mal, Vieh, die Habe, das Vermögen; so sagt man mal bal, alles, was ich habe, mein ganzes Vermögen, u. s. w. Noch ist der Nogaye bisher in der Anredeform beim einfachen und einzig natürlichen Du (sen) geblieben, wogegen der auch orientalische Türke von uns Occcidentalen
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den Gebrauch der dritten Person angenommen hat.
Allah bilmes wird von einem Menschen gesagt, der Gott nicht kennt, oder nichts von ihm wissen will; Allah sümes von Jemand, der Gott nicht liebt, seinen Willen nicht thun will; Allah kurkmes, ist einer, der Gott nicht fürchtet. Allah sogh sen heißt: Gott schlage Dich!
Die gewöhnlichen Schimpfworte des Nogayen sind: jauer (türkisch gauer), Abtrünniger, Ketzer; kaper (türkisch kafer) , Ungläubiger; Kafer auch imanses, Ungläubiger; djarames, Taugenichts; kopek, Hund; schoschghan, Schwein; boga, Stier; eschegg, Esel; oinasch, Hure; tendek, Verrückter, Wahnsinniger; sepi, sefi, Narr‚ dummer Junge; schaitan, Satan; tschingenä, Zigeuner, in derselben Bedeutung, wie bei uns das Wort Jude gebraucht wird, um einen betrügerischen oder habsüchtigen Menschen zu bezeichnen. Eine häßliche, vielgebrauchte Redensart unter den Türken und Tataren ist: das ana senè segg sen, beschlafe dich selbst!
Als Schimpfwort wird gebraucht: Sen memse, nemdsché, du bist ein Teutscher; Sen orus, sen kasak, du bist ein Russe. Ein Zeichen der Verachtung und des Unwillens wird häufig, wie schon in alter Zeit Gebrauch war, durch starkes und lautes Ausspucken auf die Erde gegeben, oder gar, wie auch 5. Mose 25, 9. vorkommt‚ durch Spucken nach dem Gegenstande der Verachtung, wobei der Nogaye das Wort pfuu Ianggedehnt ausspricht.
Im Ganzen finden sich ausserordentlich viele einsylbige Worte im Tatarischen. Der Nogaye kürzt dann noch in seinem Dialekte viel ab, und verstümmelt die Worte. Im Türkischen und Tararischen kann oft in der Aussprache sehr
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schwer der Unterschied gewisser gleichlautender Worte bemerkt werden; aber sie werden ungleich geschrieben, z. B.: kus, der Vogel, das Auge; kesch, die Nacht, der Winter; dis, der Zahn, das Kniee, geschwind, schnell — fast gleich in der Aussprache, aber mit kap und kep, mit dall oder té geschrieben.
Da der Nogaye viel mit Russen zu thun hat, und ihre Märkte besucht, so sprechen die meisten der Männer etwas Russisch, Einige auch Türkisch oder etwas Arabisch, Andere Kalmükisch, Tscherkessisch; Teutsch hingegen wird nur hier und da ein einzelnes Wort gehört, da die teutschen Kolonisten immer Russisch mit dem Nogayen sprechen.
Schrift.
Die Nogayen, spät erst auf den geringen Grad ihrer jetzigen Kultur gelangt, nahmen zur schriftlichen Bezeichnung ihrer Sprache die Formen von dem Volke an, von welchen ihre Religion stammt. Sie bedienen sich der arabischen Buchstaben mit einigen Veränderungen, lesen, wie die meisten Orientalen. (Hebräer, Araber u. a.), von der Rechten zur Linken, und schreiben auf eben diese Weise. Das Papier kaufen sie von Russen und Teutschen, glätten es aber gewöhnlich vor dem Gebrauch. Sie schreiben auf den Knieen, meistens ohne Unterlage. Die Federn werden von feinem Rohr (kamsch) geschnitten. Die Tinte (sia) machen sie sehr dick von Sepia, dem Safte des
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Tintenfisches‚ oder von verbrannter und zerriebener Hirse, mit Gummi und Wasser vermischt.
Der Engel Gabriel soll dem Mahomed den Koran vorgesungen haben, und deßwegen wird auch alles, was reilgiöse Schrift ist, in singendem Tone gelesen, und die letzte Sylbe einer Phrase sehr in die Länge gezogen und ausgehalten. Die meisten ihrer Schriften. (k'tabler) sind religiösen Inhalts, und es finden sich ausser dem Koran und den Auszügen aus demselben, oder Erklärungen, nur einige wenige geschichtliche Schriften, welche Tauarik’s oder Jahrbücher genannt werden. Gedruckte Schriften haben in ihren Augen weniger Werth als geschriebene; doch findet man auch einen in Konstantinopel gedruckten Alkoran unter ihnen. Die schottisch-englische Mission hat in Astrachan das Neue Testament, das erste Buch Mose und einige andere Schriften in tatarischer Sprache drucken lassen und verbreitet, von denen auch einige in die Hände der angesiedelten Nogayen gekommen, aber jetzt nur sehr selten noch bei ihnen gefunden werden, da die Mollah’s bemüht sind, diese Schriften den Laien verdächtig zu machen. Sie werden ohnehin von Wenigen verstanden, weil dazu die Kenntniß der persischen und türkischen oder doch wenigstens der arabischen Sprache erfordert wird, und der Dialekt von dem der Nogayen bedeutend abweicht. Auch die Form der Buchstaben ist Vielen ein Hinderniß, diese Schriften auch nur lesen zu können, da sie so wenig mit der in ihren Manuscripten gebräuchlichen übereinkommt.
Da die Vokale bei den Schriften der Nogayen selten beigesetzt sind, so wird schon dadurch das Lesen derselben sehr erschwert. Die größte Schwierigkeit aber liegt darin, daß die Sprache noch nie keine gelehrte Zurechtsetzung erfahren
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hat, d. h. daß die Nogayen selbst nicht oder nur geringen Theils nach festen Regeln schreiben, sondern sowohl in der Rechtschreibung einzelner Wörter als auch in deren Zusammensetzung sehr von einander abweichen. Wer irgend einmal versucht hat, in Provinzialdialekten zu schreiben, der weiß, wie sehr man in solchen Fällen mit den Willkührlichkeiten der Aussprache und der Zusammensetzung, sowie mit der Unbestimmtheit so mancher Formen überhaupt zu kämpfen hat, und wie schwer es ist, sich eine Grammatik des Dialekts noch schaffen zu müssen. Wie wenige Nogayen sind im Stande, ihre eigene Sprache, die ein noch sehr ungebildeter Dialekt ist, auch nur erträglich zu schreiben! Wie viele Verwechselungen müssen, bei der Aehnlichkeit der Aussprache mancher Buchstaben, vorfallen! Besonders verwechseln die Tataren den Gebrauch des dschüm mit ja, des kap und ghäin mit kep, und der verschiedenen s, als: sè, sall, äsè, sönn, sadd, dsadd und si. Anstatt des persischen pai ädschè gebrauchen sie das bé, statt dem d’schüm ädschè das d’schüm. Doch wenn man auch nur die große Verschiedenheit der bloßen Formen der Buchstaben und die Art, wie sie mit andern in Verbindung gesetzt werden, betrachtet, so muß man einsehen, daß das Lesen nicht leicht ist. Die Buchstaben hö und mim haben vor allen andern besonders sehr viele und verschiedene Formen. Der Unterschied des sönn und schönn (s und sch) wird oft nur durch einen Strich angezeigt. *)
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*) Aus diesen Schwierigkeiten geht der kleine Uebelstand hervor, daß die nogayischen Benennungen in diesem Buche nicht durchweg nach der Rechtschreibung, sondern bisweilen mehr bloß nach der Aussprache geformt erscheinen.
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Um den Unterschied zwischen der Form der Buchstaben des gewöhnlich arabisch-tatarischen Alphabets und den Handschriften zu zeigen, sind hier zwei kleine Proben, die eine von einem Nogayen-Tataren, die andere von einem Türken auf der Kanzlei in Konstantinopel nebst dem Alphabet beigegefügt. Selbst ein in der türkischen und tatarischen Sprache Geübter wird diese Handschriften, wovon letztere sehr gut geschrieben ist, kaum lesen können. Die Türken haben ein eignes Alphabet der Kanzlei; ein anderes in Briefen; ein anderes in den Gerichten; ein anderes in wissenschaftlichen Aufsätzen, ein anderes in Rechnungen u. s. w. Wer das Eine recht fertig liest, kann darum noch nicht ein Wort in den Andern lesen.
Die Zahlen der Nogayen, wo sie nicht, wie oben gesagt, Buchstaben dafür gebrauchen, sind ebenfalls die arabischen.
Die Tataren lieben in ihren Schriften allerlei Schnörkel und Verzierungen, die aber, mit unseren neuesten kalligraphischen Arbeiten verglichen , freilich nichts weniger als geschmackvoll sind. Auch lieben sie vergoldete und bunte, besonders rothe Buchstaben. Die Ueberschrift oder der Anfang eines Kapitels ist gewöhnlich mit rother Tinte geschrieben.
Abbildung 4: A. Handschrift eines Türken.
Abbildung 5: B. Handschrift eines Tataren.
Abbildung 6: Form des Arabisch-Tatarischen Alphabets u. der Ziffern
Zeitrechnung.
Die Tataren zählen, wie alle Muselmänner, ihre Jahre von der Hedschra (Flucht Muhammeds nach Medina) im Jahr nach Christus 622 an, so daß das Jahr 1829 das
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Jahr 1245 nach der Hedschra ist. Ihre Jahre sind Mondenjahre. Sie zerfallen in zwei Haupttheile; in Sommer und Winter, und in 12 Monate, nämlich: 1) üschai, 2) birdentogan, 3) koralai, 4) toxan, 5) dschellé, 6) sarthams, 7) karagas, 8) akrap, 9) kaus , 10) tukusai, 11) djedéai, 12) beschai. Wegen Ihrer Festtage richten sie sich, wie alle Muselmänner, nach dem arabischen Kalender, in welchem die Monate folgendermaßen benannt sind: 1) dschimaniellachar, 2) redscheb, 3) schaban , 4) ramasan, 5) schawal, 6) sulkade, 7) sulhedsché, 8) muharrem, 9) safar, 10) ra-bi-el-awal, 11) rabi-el-achir, 12) dschomada el-ule.
Neben dieser Zeitrechnung haben die Nogayen noch die alt-Mongolische aus ihrem Heidenthume zum Theil. Beibehalten, nach welcher eine Periode von 12 Jahren, so wie die zwölf Monate des Jahres und die Tagesstunden, mit den Namen von zwölf verschiedenen Thieren bezeichnet werden, nämlich: 1) sitschghan, die Maus, 2) sighr, die Kuh, 3) bars, der Dachse, 4) koian, türkisch thuischan, der Haase, 5) olu, die Wasserjungfer, 6) djellan, die Schlange, 7) djelka, das Pferd, 8) koi, das Schaaf, 9) mischen, ein schwarzer Käfer mit roth gezeichneten Flügeln (dessen Name ich nicht kenne, der aber in jenen Gegenden sehr häufig ist, und sich an Häusern‚ in den Wänden oder unter Holz und Mist aufhält); 40) thauk, die Henne; 11) jtt, der Hund; 12) thongs, das Schwein. Die Kalmüken haben statt dem Dachs den beber; Tiger; statt der Wasserjungfer den Drachen esder; statt des mischen den Affen, maimun; und anstatt der Henne den Hahn choras. – Mit dem Jahr 1828 fieng sich wieder eine neue zwölfjährige Periode der Tataren mit der Maus an. Für das menschliche Leben werden
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im Ganzen 6 Perioden von 12 Jahren angenommen, Die ersten drei sind der kleine Cyclus, — die andern spätern drei und was noch darüber ist, der große. Der eigentliche mongolische Cyclus enthält 60 Jahre, in welchem die 12 Thiernamen fünfmal umherlaufen. Diese 5 Zeiträume werden mit ihren 5 Elementnamen benannt, als: Holz, Feuer, Erde, Eisen und Wasser. Wenn der Tatar nach seinem Alter gefragt wird; so sagt er nur, z. B.: Ich bin im kleinen Haasen, im kleinen Schaaf, oder ich bin in der großen Schlange, im großen Schaaf u. s. w. geboren, und es wird dann dem Fragenden überlassen, zu urtheilen, in welchem Drittheil des angegebenen Cyclus er sich befinde. Sagt mir Jemand in dem Kuhjahr: (1829), daß er in dem kleinen Pferd geboren sei, so muß er entweder im achten, zwanzigsten oder zwei und dreißigsten Jahr seines Alters sein; sagt er im großen Pferd, so muß er im vierundvierzigsten, sechsundfünfzigsten oder achtundsechszigsten Jahre gehen. Oder wenn noch das Wort kart (alt) beigefügt wird, so ist er im achtzigsten Lebensjahre. Wer im Jahr 1829 im achtunddreißigsten Lebensjahre geht, der ist in der kleinen Maus geboren; wer im Fahr 1829 im fünfundsechszigsten Jahr geht, der ist in der großen Henne geboren, u. s. w. Nach dieser Zeitrechnung fängt sich das Jahr mit dem savan oder Pfingstfest an.
Da die Tataren sehr oft die russischen Märkte mit ihrem Vieh beziehen, so sind sie genöthigt, sich deßhalb nach dem russisch-griechischen Kalender zu richten; jedoch wissen sie davon nichts als einige der Hauptfeste, nach denen sich diese Wirte richten.
Sie rechnen ferner nach Wochen oder sieben Tagen,
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wovon der djüman kuni ihr letzter ist, und der auch gefeiert wird. Den Tag theilen sie in kuntughde, Sonnenaufgangszeit; k'slukboldè, dritte Stunde des Tags oder neun Uhr; tüss boldè, Mittag; üleboldè, neunte Stunde oder drei Uhr Nachmittag, auch ekenleboldè, Vorabend, Vesper; dann achscham boldè, Abend, oder kunkauschdè, Sonnenuntergang, zwölfte Stunde — Abend, sechs Uhr; djatseboldè oder keschboldè, Nacht, acht Uhr; kaldjattè, zehn Uhr; dönertassè boldè, Mitternacht; tanghatè, Morgendämmerung.
Das Wort sadt oder Stunde bezeichnet oft eine sehr unbestimmte Zeit. Bald, sogleich, im Augenblick wird bei ihnen auch mit den Worten bir sadt (in einer Stunde) ausgedrückt.
Uhren oder andere künstliche Zeitmesser haben sie keine. Die Himmelslichter sind ihre Uhren; namentlich die Sonne, woran sie sehr genau die Tageszeiten unterscheiden können. Auf Minuten und Sekunden aber kommt bei ihnen nichts an.
Geld, Maaß und Gewichte.
Der Nogaye liebt nach früherer Gewohnheit noch immer den Tausch, nimmt aber auch recht gerne baares Geld und selbst Staatspapiere an. Sie haben das russische Kupfer- und Silbergeld, von der Kopeke bis zum Silberrubel, welcher den Werth von einem Reichsthaler und zwei Groschen oder von etwa zwei Gulden rheinisch hat. Den Silberrubel nennen sie dördluk oder Vierer, weil er vier Rubel Sanco enthält.
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Das russische Papier oder die Assignaten, oder Pomaschgen, nennen sie kaghet akscha, Papiergeld. Für die Reise nach Mekka wechseln sie oft mit großem Verlust Dukaten ein, welche sie schlechtweg altun para Goldstücke nennen.
Die türkischen Münzen werden immer seltener, sind ausser Kurs, aber doch sehr gesucht und geschätzt, und werden von den Mädchen als Putzwaare an die Mützen gehängt; russisches Silber und Gepräge hat bei ihnen zu diesem Behuf weniger Werth.
Ihr Längenmaaß besteht in der Spanne (bir kohl), so viel als die Hand und der Zeigefinger bis zum mittlern Gelenke mißt; dann das Klafter (kulatsch), oder die Länge der ausgebreiteten Arme. Sie kennen auch das russische Ellenmaaß, die Arschine, von 28 Zoll Länge, und den Faden von 3 Arschinen oder 62/3 Fuß rheinländisch. Zur Bezeichnung der Länge eines Weges haben sie das Wort schacher oder Ruf — eine Strecke, so weit als die Stimme eines Mannes gehört werden kann, welches ungefähr mit der russischen Werst übereinkommt, und von welcher sieben auf die teutsche Meile oder 104 auf den Grad des Aequators gehen. Die türkische Agadsch, oder keine Meile, ist wenig mehr gebräuchlich.
Die russische Dissentine oder Dessjätine, welche 2400 Quadrat-Saschinen oder 3717 Quadrat-Toisen, circa 4 Juchart oder 43/10 Morgen rheinländisch enthält, und nach welcher ihre Ländereien abgemessen und vertheilt sind, ist den Nogayen selbst wenig bekannt, da sie sich um den Inhalt oder die Größe ihrer Länder wenig bekümmern und zu bekümmern haben, kein Land kaufen, und Pachtgelder für Weide auf Kronsboden nicht nach der Größe des Landes,
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sondern nach dem Stück Vieh bezahlen, welches die Weide benutzt.
Als Gewicht haben sie den Kantar, die Oka und Drachme; der Kantar hält 44 Oka’s, die Oka 400 Drachmen.
Getreidemaaß ist das russische Tschetwert, zu 8 Pud; das Pud zu 40 Pfund. Ein Tschetwert hält etwa 1½ Malter, und hat 8 Temerle oder Märeke, welche mit einem starken Viertel übereinkommen. Als flüssiges Maaß gilt ebenfalls die Oka.
Musik, Spiele, Vergnügen.
Wiewohl der Nogaye kein feines musikalische Gehör hat, so liebt er doch sehr die Musik; er ist zufrieden, wenn es nur recht grell und laut tönt. Bei Gastmahlen, besonders wenn die Bosa getrunken wird, ist gewöhnlich ein Tatar, der den Gästen das Getränk austheilt, und zugleich die Anwesenden mit Gesang unterhält. Oft hört man den über die Steppe reitenden Nogayen einen Gesang anstimmen, der etwas mit den Schweizer - und Tiroler - Kuhreigen gemein hat. Ein Ton wird oft sehr lange ausgehalten und von dem tiefsten geht es sogleich zum höchsten über. Auch wird, wie schon bemerkt, beim Abendgebete der Schüler vor der Schule Iaut gesungen, und auch in singendem Tone gelesen. Der Gesang hört sich besser, als die Musik ihrer Instrumente. Sie haben eine Art Leyer oder Laute, welche aber nur zwei Saiten hat, und Kuba (von den Kalmüken balalaika)
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genannt wird; Ferner die Dabula, eine Art türkischer Trommel. Hirtenknaben spielen auf selbst verfertigten Flöten (caval). Auch die Maultrommel ist bekannt. Zigeuner ziehen mit Dudelsäcken, Pfeifen und Cymbeln in den Dörfern herum, wobei Zigeunerinnen Tänze (biè) aufführen, bei welchen man sich nicht von der Stelle bewegt, sondern nur durch verschiedene Stellungen und Bewegungen des Kopfes, der Arme und Füße die Zuschauer unterhält. Von den Nogayen selbst oder ihren Weibern werden keine Tänze aufgeführt, wenigstens nicht von letztern, die man auch nie singen oder Instrumente spielen hört. Das weibliche Geschlecht hat überhaupt nur wenige Vergnügungen und Genüsse. Es bestehen diese fast einzig im Gesellschaften und in den seltenen Spazierfahrten in benachbarte Dörfer, zu Fuß oder auf Wagen, von Ochsen gezogen. Sich in ihrem größten Putze zu zeigen, ist den Mädchen und jungen Weibern, eine Pfeife Taback den alten das größte Vergnügen. Jungen Mädchen werden an Festtagen Schaufeln errichtet.
Vergnügen der Männer sind das Spazierenreiten, der Besuch fremder Märkte, die Wolfs- und Haaseniagd, das Beisammensitzen und Erzählen alter Geschichten aus ihrem frühern Nomadenleben oder auch der Tagesgeschichten, verbunden mit dem herrlichen Genuß des Tabackrauchs, Einziges Spiel zur Verstandesübung ist das überall im Orient bekanne Schach. Es wird wie bei uns gespielt und heißt schatrantsch; die Figuren sind aber so elend aus Holz oder Knochen geformt und so schmutzig, daß die zwei Partheien oder auch selbst die verschledenen Figuren (ausgenommen etwa der König) kaum von einander zu unterscheiden sind. Die Namen der Figuren sind: roch, der Streitwagen (Läufer),
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at, Pferd (Springer); fil oder pel, der Elephant (Thurm); mirsa oder vezir, Edelmann (Königin); schach oder schah, König; piiadè, Fußgänger, gemeiner Soldat (Bauer).
Junge Tataren vergnügen sich mit Wettrennen und Ringen, Spielen mit Knochen, welche sie mit Stockschlägen in die Höhe springen lassen, denen sie einen auf die Erde gezeichneten Kreis als Ziel setzen. Die kleinen Knaben haben einen kleinen Knochen (asegg), mit welchem sie verschiedene Spiele treiben‚ und auch den Schnurrtopf oder Kreisel (tändruk). Man macht sich auch eine Art Pfeil, der an einem Ende einen Kochen, am andern eine Vogelfeder hat, und in die Höhe geworfen wird.
Die Nogayen klein und groß belustigen sich eben so sehr als wir, wiewohl sie die vielen und mannigfaltigen Spiele und Vergnügungen, die sich bei uns finden, nicht kennen; ja man kann sagen, um so mehr, als sie zufriedener mit dem Wenigen und ihre Vergnügungen von der Art sind, daß sie sich Jeder leicht verschaffen kann.
Großes Vergnügen macht man den Tatarinnen mit Spiegeln, Scheeren, mit Moschus, Näh- und Stecknadeln, Bändern, Muscheln, türkischen Silbermünzen, Fingerringen, Fingerhüten, mit Schwämmen, welche sie statt der Bürste gebrauchen, mit Stambul savon oder Seife, — aber nicht mit deutscher oder russischer.
Kommt ein Tatar vom Markt, so bringt er gewöhnlich etwa ein Geschenk mit für Frau und Kinder: Leinwand, Haselnüsse u. dgl.
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Religion.
Die Noayen, als Heiden mit den Mongolen-Horden aus dem mittlern Asien an die Ufer des Asowschen und schwarzen Meeres gekommen, traten erst da um's Jahr 1260 unter dem Chan von Kaptschak, Bereke, von Heidenthum zum Muhammedanismus über, und gehören, so wie die Türken, zur Sekte der Sunniten. Sie verachten die Schiiten, zu denen vornämlich die Perser gehören‚ welche von den Tataren kisil-baschler, Rothköpfe, genannt werden. Die Nogayen sind jedoch im Ganzen weniger strenge und fanatisch als die Türken.
Die Muhammedaner sind Monotheisten, das heißt: sie glauben an einen Gott. Weit entfernt, irgend einem Menschen göttliche Verehrung zu schenken, schätzen und ehren sie Muhammed als den größten Propheten; nach ihm auch Christus, die alten jüdischen Propheten, Moses und die Erzväter. So Vielen die Lehre Muhammeds aus Schriften bekannt sein mag, so findet man doch im Ganzen noch große Unkenntniß dieser Lehre und der muhammedanischen Religion überhaupt. Was ich also davon anführe, wird freilich Vielen eine alte, bekannte Sache sein, Andern hingegen vielleicht nicht überflüssig scheinen.
Muhammed nannte seine Religion — von ihrem Inhalte, der auf eine Ergebung an Gott dringt — den Islam und die Bekenner dieser Religion Moslemer, Moslemiten, Muselmänner. Nach dem Stifter der Lehre nennt man sie am gewöhnlichsten Muhammedaner.
Der ganze Islam wird in die Glaubenslehre, welche
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Iman heißt, und die Sittenlehre, die der Din genannt wird, eingetheilt.
Die erstere enthält folgende Sätze: Es ist nur Ein Gott.
Gott regiert die Welt, und sorgt für ein jedes Individuum in der Welt.
Gott hat das Gute und das Böse mit einem unbedingten Rathschlusse vorher bestimmt.
Der Mensch ist durch Betrug des Satans gefallen.
Gott hat nach diesem Falle den Menschen seinen Willen bekannt gemacht, und ihn unterschiedlichen Propheten schriftlich mitgetheilt.
Es giebt Engel, die Gott zur Ausrichtung seines Willens braucht.
Zwischen dem Guten und dem Bösen ist ein wesentlicher Unterschied.
Die Welt hört auf, und die Todten werden auferstehen.
Es ist ein künftiges Gericht, an welchem jedes Gute belohnt und jedes Böse bestraft werden soll.
Es ist eine Ewigkeit für die Frommen und für die Gottlosen.
Die Sittenlehre besteht aus folgenden Sätzen:
Die Natur der Frömmigkeit ist Selbstverläugnung und völlige Ergebung des Herzens an Gott.
Die Unterlassung aller schändlichen Ausbrüche der Leidenschaften ist ein Beweis, daß sich das Herz an Gott ergeben habe.
Die Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Leben, die Leutseligkeit und Mildthätigkeit sind Beweise, daß sich das Herz an Gott ergeben habe.
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Das Gebet, die Mittheilung der Almosen, die Reinigung, das Fasten und die Wallfahrt nach Mekka sind Beweise, daß sich das Herz an Gott ergeben habe.
Die Muhammedaner theilen sich in die Sunniten und Schiiten, welche unter sich wieder in eine Menge verschiedener Sekten zerfallen.
Die Schiiten verwerfen Abubeker, Omar und Osman, die drei ersten Kalifen, als Machträuber und Eindringer.
Die Sunniten erkennen und ehren sie es rechtmäßige Imans.
Die Schiiten ziehen Ali dem Muhammed vor, oder achten wenigstens beide gleich.
Die Sunniten geben nicht zu, dass Ali, noch sonst einer der Propheten, dem Muhammed gleich sei.
Die Schiiten werden von den Sunniten der Verfälschung des Korans und der Vernachlässigung seiner Vorschriften beschuldigt.
Den Sunniten wird dieselbe Beschuldung von den Schiiten zurückgegeben.
Die Sunniten nehmen die Sonna oder das Buch der Ueberlieferungen von ihrem Propheten als von kanonischem Ansehen an.
Die Schiiten verwerfen sie als apokryphisch und keinen Glauben verdienend.
Die in Arabien neu entstandene Sekte der Wahabs bekennt sich zu dem Glauben, den Scheik Muhammed Abd-ul-Wahabs Sohn Iehrte. Auf göttliche Eingebung sich berufend,
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lehrte er auch den einzigen Gott, verwarf aber alle im Koran enthaltenen Traditionen und nannte Muhammed nur einen von Gott geliebten Menschen. Die Sekte hat sich ausserordentlich ausgebreitet.
Das Glaubensbekenntniß, welches im Jahr 1803 in Skutari gedruckt wurde, lautet also:
1) Ich glaube an den einzigen Gott, an seine Eigenschaften, nämlich: Daß er allbelebend und allwissend, allhörend und allsehend sei. Sein Wille ist allwirkend. Er ist allmächtig. Sein Wort ist der Koran. Er hat alles, was da ist, geschaffen.
2) Ich glaube an seine Engel, Gabriel, Israel auch Azrafel.
3) Ich glaube an die den Propheten vom Himmel gesandten Bücher und an die Propheten von Adam bis Muhammed, und an die Bücher des letztern an seine Gemahlinnen und Kinder. Ich glaube an die Zeit seiner Geburt, seines Lebens, seiner Sendung und seines Todes; am die Vortrefflichkeit seiner Jünger, Abu-Beker; Omar, Osman und Ali.
4) Ich glaube an das Gericht des Grabes, an die Zeichen des jüngsten Gerichts; an die Auferstehung und das jüngste Gericht; an die Waage; an die Brücke; an die Wasserstücke des Paradieses; an das Paradies und die Hölle; an die ewige Vorherbestimmung und das Geschick; an den wahren Glauben oder Islam, in Worten und Werken; an die Einheit des wahren Glaubens und des auserwählten Volkes.
Wie mancher Muselmann glaubt mit treuem Festhalten
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an dieses Glaubensbekenntniß seine Sache gethan zu haben! Wie wenige werden in den Geist des Korans selbst eindringen, und in diesem Buche selbst die Schlaken vom Golde zu trennen fähig und frei genug sein: Doch, bei uns ist es diesfalls nur ein Weniges besser. Wir haben auch Glaubensbekenntnisse und Uebereinstimmungsformeln und Schibboleths aller Art, die die Vergleichung mit dem Evangelium, für dessen Kern sie gelten sollen, oft nicht besser aushalten als obiges Symbolum der Muhammedaner eine Vergleichung mit dem Koran.
Worte des Korans.
Ihr sollt nur den Einigen wahren Gott anbeten. Gegen eure Aeltern und Verwandten; gegen die Armen und Waisen sollt ihr euch gütig erzeigen; mit andern Leuten gute Dinge sprechen; ohne Unterlaß beten. Gerechtigkeit ist, daß man recht glaube an Gott und den jüngsten Tag; den Engeln glaube; der Schrift und den Propheten; daß man aus Liebe zu Gott von seinem Vermögen gebe den Verwandten, den Waisen, den Armen, den wandernden Pilgern, den Bettlern; gefangene Sklaven löse, das Gebet gehörig thue, gern Almosen austheile, über seine Bündnisse treu halte, im widrigen Begebenheiten, Unglücksfällen und unter den Gewaltthätigkeiten des Krieges geduldig sei; daß man erquicke diejenigen Seelen durch erfreuende Verkündigungen, die, wenn der Name Gottes genannt wird, in Ihrem Inwendigen
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bewegt werden, die ihre widrigen Umstände und Schicksale mit Geduld ertragen.
Es ist kein Gott als Er, der Schöpfer aller Dinge. Alles steht unter Gottes Regierung. Was im Himmel und auf Erden ist, das ist sein. Seine Macht, im Himmel und auf Erden zu thun, was Er will, könnet ihr nicht verringern, und Niemand wird euch helfen und schützen können, wenn Gott euch nicht hilft, wenn Er euch nicht schützt. Gott ist’s; der die Menschen schafft, und Er ist's, der sie auferwecken wird. — Wem Gott gnädig ist, dem ist Er recht gnädig. Er ist der Erste und der Letzte, der sichtbare und der Unsichtbare. — Gott ist allmächtig. Wenn er spricht: „Es werde“ so wird’s Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Gott ist, der alles sieht und alles weiß. Es fällt kein Blatt vom Baume, ausser Er weiß. es. Es ist kein Saamenkörnlein in der finstern Furche der Erde, weder etwas Grünes, noch etwas Dürres, welches nicht in dem Buche der Allwissenheit bemerkt wäre. Es ist Ihm einerlei, man verfehle einen Gedanken, oder man drücke ihn mit Worten aus. Nichts kann Ihm verborgen bleiben, Gott ist bei allen Handlungen gegenwärtig. Gott ist unendlich reich und höchst vergnügt in sich. Er bedarf des Beistandes seiner Geschöpfe nicht. Seit ihr undankbar gegen Ihn, so hat Er keinen Schaden davon. Gleichwohl kann Er reine Undankbarkeit an seinen Knechten dulden.
Gott ist der Allbarmherzigste. *) Gott läßt sich lenken uns ist erbarmend. Verzweifelt an der Barmherzigkeit
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*) „Im Namen Gottes, des Allerbarmers!“ — ist eine sehr gebräuchliche Formel in muhammedanischen Religionsschriften.
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Gottes nicht! Gott vergiebt euch alle eure Sünden. Er ist gütig und vergiebt gerne. Gott ist unendlich groß, und seine Weisheit hat keine Gränze. Kein Insekt kriecht so unbemerkt auf der Erde, für dessen Erhaltung Gott nicht sorgt, dessen Aufenthalt, dessen Lage Gott nicht kennt. Das Gute, das ihr thun werdet, das erzeiget ihr euern Seelen selbst, und mit dem Bösen, womit ihr schaden wollet, schadet ihr euch selbst. Durch gute und böse Schicksale wollen wir euch zu eurer Läuterung prüfen. Laßt euch nicht dahin reisen von dem Leben dieser Welt, noch täuschen von dem Betrüger, dem Satan. Ohne den Willen Gottes kann keine Seele glauben. Will der Satan dich von den heiligen Geboten abziehen, so fliehe zu Gott, der alles hört und weiß. Meidet beides, die innern und äussern Sünden. Gott wird keinen Menschen über sein Vermögen angreifen. Gott liebt die Bußfertigen und die, die reines Herzens sind. Wem Gott sein Licht nicht leihet, der wird nie erleuchtet werden. Die wahre, vor Gott geltende Religion ist allein die völlige Ergebung an Gott. Gott sind wir mit allem, was wir sind und haben, verpflichtet. Was ihr auch immer Gutes besitzet, das ist gewiß von Gott. Vertraue Gott, denn Gott liebt die, die Ihm vertrauen. Hilft euch Gott, so seid ihr unüberwindlich. Gott sieht huldreich auf seine Knechte herab, die zu Ihm beten: „Vergieb uns unsere Sünden!“ Wer gegen Gott dankbar ist, der befördert durch die Dankbarkeit das Heil seiner Seele. Erinnert euch der Gnade, welcher Gott euch gewürdigt hat. Von dem Rande des höllischen Abgrundes, an dem ihr standet, hat Er euch errettet. — Nimmst du es wohl wahr, dass sich der ganze Himmel und die ganze Erde im Lobe Gottes vereiniget? Auch die Vögel loben Ihn. Jedes Geschöpf hat
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sein eigenes Gebet und sein besonderes Loblied. Denke in deinem Herzen an Gott mit demüthiger Furcht. Verherrliche du den Namen deines Herrn. — Denen, welche Gott fürchten und einen kindlichen Sinn gegen Ihn haben, wird es allemal wohl gehen. — Denen, die hier Gutes thun, soll es dort wohl gehen, und die Erde ist ein so geräumiger Schauplatz, daß man allenthalben Gutes thun kann. Erweiset Niemanden Unrecht. Begehret das Vorzügliche nicht, das Gott dem Einen oder Andern unter euch verliehen hat. Gott liebt keinen Menschen, der stolz ist. — Beleidiget die nicht, die euch geboren haben. Ueberwinde das Böse mit Gutem. Wer die Ungerechtigkeit vergiebt und sich versöhnt, der hat Belohnung von Gott zu erwarten. Die, welche Werke der Barmerzigkeit verrichten in der Absicht, um von den Leuten bemerkt zu werden, haben den Satan zum Mitgenossen. — Leute aber von jenen Empfindungen sind auf dem richtigen Wege, und das ist eine Wirkung der Gnade und Liebe Gottes. Wer sich zum Glauben will erwecken lassen, dem wird Gott dazu beförderlich sein.
Worte des Korans. (Fortsetzung)
Der Koran ist gerade so beschaffen, daß er von keinem Andern hat verfertigt werden können, als von Gott. Er bekräftigt die ältern Offenbarungen, und erklärt das Gesetz und Evangelium. Die wahren Gläubigen pflichten Gott und seinem Gesandten mit Unterdrückung aller Zweifel bei. Die
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wahren Gläubigen fechten für die wahre Religion mit Gut und Blut. Streitet wider die Ungläubigen so lange, bis alle Trennung zur Abgötterei aufgehört hat und die wahre Religion allgemein wird. Rüstet euch wider sie zum Kriege, so gut als ihr könnt, daß ihr den Feinden Gottes, die auch eure Feinde sind und andern, die ihr zwar nicht kennt, die aber Gott bekannt sind, furchtbar werdet. Mit einer peinlichen Strafe wird Gott euch belegen, sofern ihr euch weigern solltet, in den Krieg zu ziehen, der zur Ausbreitung der Religion geführt wird. — Wenn ihr in einem Krieg auf die Ungläubigen stoßt, so hauet ihnen so lange die Köpfe ab, bis ihr eine große Menge von Feinden niedergesäbelt habt. Jede Aufopferung für die Religion soll euch belohnt werden. — Bringt die Götzenknechte um, wo ihr sie findet, oder nehmt sie gefangen, und stellt ihnen nach auf alle Art. Du sollst das Paradies verheissen und mit der Hölle drohen, so daß sie glauben müssen an Gott und seinen Gesandten. O wahrhaftige Gläubige, unterhaltet mit keinem Menschen, der eurer Religion nicht zugethan ist, einen vertrauten Umgang! Haltet mit den Juden und Christen keine Gemeinschaft. Wer sich aber mit ihnen in Vertraulichkeit einläßt, der wird sich nach ihnen bilden. Wenn du Leute findest, welche Lust haben, über unsere Religion zu streiten, so sondere dich von ihnen so weit und so lange ab, bis sie von andern Dingen sprechen. — Ungläubige Völker liegen ausser dem Gebiete der göttlichen Barmherzigkeit. Gott will die Sünde der Abgötterei nicht vergeben. Alle andern Laster will er vergeben. — Alle die sind Ungläubige, welche behaupten: Christus, der Sohn der Maria, sei gewiß Gott. Christus ist nicht so hoffärtig, daß er sich weigern sollte,
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ein Knecht Gottes zu sein. Christus, Maria Sohn, ist weiter nichts als ein Gesandter. Die Christen sagen: Gott habe einen Sohn gezeugt. Für Gott schickt sich’s nicht, einen Sohn gezeugt zu haben.
Betet nicht, Gläubige! so lange ihr trunken seid. Wird jemand gesetzwidrig ermordet, so ist sein nächster Anverwandter zum Bluträcher mit Befugnissen wider den Mörder bestellt. Er darf aber kein anderes Blut vergiessen, als das Blut des Mörders. Die Rache, welche ihr den Verbrecher empfinden lasset, sei der Ungerechtigkeit gemäß, die er euch zufügte.
Eure Weiber sind eure Aecker. Geht zu eurem Acker hin, wie ihr wollt. Mit gleicher Liebe könnt ihr freilich nicht alle eure Weiber lieben, so sehr ihr es euch auch angelegen sein Iasset; nur trennet euch nicht von dem Weibe, welches ihr weniger liebt, als ein anderes, unter Aeusserungen von Haß und Abscheu, sondern laßt sie lieber in Absicht auf eure Neigung in Ungewißheit. Denjenigen Weibern, von denen ihr fürchten könnet, dass sie unredlich handeln, gebt Verweise; enthaltet euch ihrer, und peitschet sie.
Wer ein unbedachtsames Wort in einem Eide hat fallen Iassen, der soll, wenn er den Eid aussöhnen will, zehen Arme speisen oder kleiden; oder einen Sklaven lösen, oder drei Tage fasten.
Zu denen, die einen richtigen Gottesdienst üben, sollen die Engel in der Stunde des Todes herniedersteigen, und zu ihnen sagen: „Fürchtet euch nicht; betrübet euch nicht; sondern freuet euch auf das Paradies, welches euch verheissen ist!“ Hier werden sie an Tischen sitzen, und von allerlei Speise und Getränk so viel erhalten können, als sie haben wollen. In ihrer Gesellschaft werden Mädchen sein mit
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großen schwarzen Augen, den Perlen gleich, die noch in ihren Muscheln liegen. Schön werden sie sein. Die würdigsten und schönsten Mädchen werden daselbst sein. Noch hat ihnen kein Mensch beigewohnt, nicht einmal ein Geist. Sie werden mit Mädchen umgehen, deren Brüste in die Höhe sich heben, und die mit ihnen von gleichem Alter sind. — Was die paradiesischen Mädchen betrifft, so haben wir sie auf die besondere Weise geschaffen, daß sie in ihrem Ehestande nie aufhören werden, Mädchen zu sein. Und wir haben sie mit allen Reizen versehen, welche ihnen die Zuneigung ihrer Ehemänner erhalten können. Flüsse sind in dem Paradies von einem Wasser, welches nicht verderben kann, — Flüsse von Milch, — Flüsse von Wein, der lieblich in die Kehle geht, — Flüsse von dem reinsten Honig. Die Gläubigen werden Kleider von feiner grüner Seide tragen. Jünglinge, die nie aufhören werden, Jünglinge zu sein, werden zu ihrer Bedienung um sie hergeben mit Trinkschalen und Bechern voll Weins, der immer zufließt, und nach welchem ihnen weder der Kopf wehe thun, noch der Verstand benebelt werden wird. Auf Polstern werden sie gegen einander über sitzen. — Die da glauben und gute Werke thun, die sollen für ihre Verrichtungen doppelt belohnt werden, und sicher wohnen in den höchsten Zimmern des Paradieses. — Die Ungläubigen sollen die höllische Gesellschaft vermehren, und ewig in der Hölle bleiben. Durch diese Vorstellung schreckt Gott seine Knechte von der Sünde weg.
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Ueber den Islam.
Der Koran, der so manche schöne Stelle, die jedoch fast wörtlich der Bibel entnommen ist, enthält, hat doch des Schädlichen noch weit mehr. Besonders ist dies der Fall bei den vielen Auslegungen desselben, an die man sich hauptsächlich hält. — Das Schädliche hat am meisten Eingang, und das Gute wird übersehen. Anstatt die darin vorkommenden guten Lehren zu beobachten, begnügt man sich mit einer um so genauern Erfüllung äusserer Formen und Ceremonien, und überläßt sich übrigens im Gefühle der Schuld — der Barmherzigkeit Gottes.
Da der Koran der Sinnlichkeit schmeichelt und Vorschub thut, und mitunter auch schöne Lehren enthält, so muß man sich nicht wundern, daß der Islam eine solche Ausdehnung und so großen Anhang erhalten, zumal da er zu einer Zeit aufkam, als das Christenthum so sehr im Verfalle war, daß man im Islam das Bessere zu finden glaubte. Das christliche Leben erlag damals unter einem Formenzwang, der eine Folge ärgerlicher, zum Theil sinnloser Streitigkeiten gewesen war. Muhammeds Lehre war ungleich viel einfacher. Man glaubte sich zu ihr, wie zu einem hellen, freien Punkt hinüberretten zu können. Weniger mag es zu entschuldigen sein, daß es jetzt noch solche Christen giebt, welche den Muhammedanismus vertheidigen und wohl gar der christlichen Religion vorziehen. Wie viele tausend sogenannte Christen halten von Christus eben nicht mehr, als der Koran lehrt! Wie viele schätzen ihn nicht einmal so hoch, wie
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dieser, halten ihn nicht einmal für einen großen Propheten Gottes, sondern für einen Betrüger oder doch Betrogenen, und die Menge der sogenannten Deisten halten von ihrem Gott nicht halb so viel als der Muselmann. Sie schämen sich ihres Gottes, oder glauben sich der Mühe überheben zu dürfen, ihm öffentlich zu huldigen, öffentlich mit Gebet zu ihm zu kommen, wie der Muselmann.
Muß man sich wundern, daß der in Umwissenheit auferzogene Muselmann, dem von Kindheit an Liebe zu seiner Religion, Achtung vor derselben und hingegen Haß und Abscheu gegen Anders-Glaubende, gegen Christen als Ungläubige, von der Stammreligion der Erzväter Abtrünnige, theils durch die Aeltern, theils durch Priester tief eingepflanzt worden ist, eifrig in seiner Religion, sich nicht leicht aus derselben entwegen läßt, und in seiner Rohheit und Unwissenheit jeden Versuch zu seiner Bekehrung zum voraus von sich weist!? Er ist meistens nicht in der Lage, den wahren Geist des Christenthums in dem Leben der Christen, mit denen er in Berührung tritt, kennen lernen zu können. Mag er denn, unbekannt mit dem reinen Evangelium, eine Religion verachten, an welcher manche ihm bekannte Angehörige derselben selbst so wenig halten, daß sie, sei es um äussern Vortheils willen oder aus wirklicher Ueberzeugung, das Christenthum mit dem Islam vertauschen! Können dem Muselmann wohl die vielen Renegaten, oder das Leben und die Religion der Griechen, Armenier und Franken, die Versunkenheit in einen Gott wenig ehrenden Bilder- und Ceremoniendienst der einen, oder der fade Unglaube und Indifferentism einer andern Partei der sogenannten Christen die
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christliche Religion achtungs- und die Theilnahme an derselben wünschenswerth machen?
Wenn der Nogaye um sich herum Christen sieht, die sich Griechen, Armenier, Katholiken, Evangelische, Mennoniten, Duchoborzen und Malokaner nennen, was kann er anders denken, als daß es mit den Christen, wenn nicht schlimmer, doch eben auch nicht besser stehe als bei ihnen, die sich auch Sunniten und Schiiten nennen. Zudem, wie viel würdiger, vernünftiger ist, im Ganzen betrachtet, das Benehmen und die Gottesverehrung des Muselmanns als — man darf sagen des größern Theils — derer, die sich Christen nennen, zumal in den größern Kirchen! — Auch der Muselmann klagt über Verfall der Religion, ist aber seinerseits noch nicht so weit abgefallen, wie im Allgemeinen der Christ. Selbst was die Toleranz anbelangt, dürfte die Christenheit sich wenig über die Bekenner des Islam erheben.
Was den Muhammedaner vor allen heidnischen und christlichen Völkern auszeichnet, ist seine große Abneigung vor Bildern. Der Koran verbietet, irgend ein lebendes Wesen abzubilden. In ihren Moscheen und Häusern werden weder Menschen- noch Thierdarstellungen gefunden. Die Nogayen sahen es nicht gerne, wenn ich dem kleinen Abdullah auch nur leblose Gegenstände zeichnete, da sie selten den Gegenstand erkennen, das Papier auf allen Seiten herumdrehen, und fürchten, es möchte das Bild (sürêt) eines lebenden Wesens sein. Da sie keine andere Bilder als die in griechischen, armenischen und katholischen Kirchen sehen, so haben sie die Vorstellung, daß alle Bilder nur zum Zweck der Anbetung verfertigt würden und sonst zu nichts anderm dienen können. Sobald man sie jedoch überzeugen kann, daß nicht dies
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die Absicht dabei sei, so lassen sie sich selbst ihr Porträt abnehmen.
Ueber religiöse Gegenstände unterhalten sich die Nogayen gerne, streiten aber mit Fremden nicht oft, sondern bejahen entweder alles, oder brechen ab mit dem Worte: „Wir wollen nicht streiten, sondern lieber schweigen!“
Dem Judenthum, wie es jetzt im Allgemeinen beschaffen ist, scheint der Muhammedanismus nicht nachzustehen, und vor dem gröbern Heidenthume hat er mit der jüdischen und christlichen Religion das voraus, daß weder Menschenopfer, noch sonst irgend ein unsittlicher oder der menschlichen Gesellschaft geradezu schädlicher Gebrauch durch ihn vorgeschrieben ist.
Ob es schwerer ist, den Muhammedaner als den Heiden von der Vorzüglichkeit des Christenthums und von der Nothwendigkeit des Glaubens an den Mittler und Heiland Jesus Christus, um mit Gott versöhnt, vereinigt, und dadurch selig zu sein, zu überzeugen, möchte ich gerne ohne weiters mit Nein beantworten. Ich halte das Eine oder Andere weder für schwerer noch für leichter.
Das Aeussere der christlichen Religion und Kirche kann freilich den Heiden mehr anziehen, als den Muhammedaner, der, wie schon bemerkt, in Hinsicht der äussern Gottesverehrung sich über den Christen fast notwendig erhaben fühlen muß, da er in Unkenntniß ihres geistigen Lebens nur das Aeussere der christlichen Kirche betrachtet, und darin sogleich vieles ihm Aergerliches und ihn Abstoßendes antrifft. Dieses Gefühl macht dann auch, daß er in sich der Predigt des Evangeliums mehr Hindernisse in den Weg legt, als der Heide. Noch kommen manche politische Umstände dazu, die
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es schwer machen, unter Muhammedanern als öffentlicher Lehrer des Evangeliums aufzutreten, Umstände, welche sich war z. B. auch bei den Tschinesen und Japanern, dagegen aber bei manchen andern heidnischen Völkern nicht finden. Ich halte auch dafür, daß es, menschlich zu reden, sehr schwer halten muß, den Muhammedaner zum Profelyten irgend einer der jetzt bestehenden äussern Kirchen der Christenheit zu machen; weniger schwer dann, abgesehen von allen äussern Unterscheidungszeichen der christlichen Kirchen und Gemeinden, Confessionen und Sekten, ihn von der Unzulänglichkeit seiner Religion oder seines Glaubens zu seiner innern Beruhigung und Beseligung zu überzeugen und ihm dagegen klar zu machen, daß nur in Christus, dem Mittler, Heiligkeit und Gerechtigkeit, Friede mit Gott und Seligkeit zu finden sei. Diese Ansicht auseinanderzusetzen, dürfte wohl hier nicht Raum sein. Allerdings giebt es Thatsachen, die ihr zu widersprechen scheinen. Jeder aber wird wenigstens so viel zugeben, daß es gleichen Werth haben kann, da, wo es schwer ist, wenig, als da, wo es leicht ist, viel gewirkt zu haben, und daß das Wenig oder Viel doch immer nur uns Menschen also erscheint, das Kleine und Wenigscheinende aber in seinen Folgen wichtiger sein kann, als das Großscheinende.
Bemerkenswerth war mir, um hier nur von meinem Wirthe Ali zu sprechen, daß er die Fehler derjenigen, die er nicht als bloße Namchristen kannte (von diesen wollte er schon in jedem Fall nichts wissen), hervorsuchte, und mir dieselben oft vorhielt, um dadurch den Werth des Christenthums herabzusetzen, wodurch er freilich, kindisch genug, gerade den Beweis gab, daß er von dem Christen mehr und Besseres erwarte, als vom Muselmann. Er glaubte mir dann
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auch, daß das Christenthum das Mittel, Christus der Weg zum Guten sei; daß der Christ sich freue, durch dieses Mittel und auf diesem Wege das Ziel der Vollkommenheit erreichen zu können, aber zwischen Anfang und Ende noch mancher Kampf zu bestehen sei und nur der Glaube den Sieg behalte.
Ali fühlte wohl, daß das Wort Gottes ein Schwert sei, scharf und tiefgreifend, und er sagte mitunter: „Wenn man vom Koran spricht, so ist es, als ob ich einen dicken Pelz anhätte, und er klopft mir nur diesen aus; das Evangelium aber greift tief ein, und es ist, als ob man mir durch das Herz bohre.“ Freilich konnten seine Mollah’s ihm auch nicht einmal das Wahre und Gute des Korans mit Begeisterung an’s Herz legen.
Einige durch die schottisch-englische Mission in der Krimm bekehrte und getaufte Tataren machen, wie ich hörte, dem Christenthum wenig Ehre.
Das Gebet.
Das Gebet wird als die wesentlichste ReligionshandIung eines Muselmanns angesehen und von ihm als Pflicht und Wohlthat betrachtet. Jeder Gläubige ist verbunden, binnen 24 Stunden fünfmal zu beten. Das erste Gebet heißt: Sabah namas , Morgengeber, vor dem Aufgang der Sonne gehalten, von vier Verbeugungen bis zur Erde begleitet; das zweite: ölu namas, das große Gebet zu Mittag, von zehn Verbeugungen; das dritte: ekenlu namas oder ekendenamas, des
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Nachmittags, von acht Verbeugungen begleitet; das vierte: achscham namas, Abendgebet, vor Sonnenuntergang, welches heischt, daß man sich fünfmal neige; das fünfte: djatsenamas, nach Sonnenuntergang, bei welchen man sich zehnmal neigt. Viele halten noch ein Gebet in der Nacht salat ütrü genannt. — Der Muselmann verrichtet sein Gebet zu Hause , in der Moschee oder Medschet, auf dem Markte, auf der Straße, und wo er sich zu der Zeit des Gebets auch immer befinden mag. Er verrichtet es mit der größten Andacht, die nichts zu stören vermag. Kein Lärm, keine Erscheinung lenkt seine Blicke seitwärts, und schwerlich möchte ihn selbst eine benachbarte Feuersbrunst irre machen. Das jüngere Volk bis zum Alter von vierzig Jahren ist von dieser Gebetsordnung ausgenommen, und betet nur bei Opfern, Festlichkeiten und bei der Mahlzeit. Sobald der Mann nicht nur den Schnurrbart, sondern auch den Kinnbart wachsen läßt, dann verpflichtet er sich auch, die vorgeschriebenen Gebete zu halten. Die jungen Weiber sind ebenfalls vom Gebete frei; die alten aber verrichten es zu Hause.
Vor dem Gebete wascht sich der Muselmann das Angesicht, den Mund, die Arme bis an den Ellbogen, und die Füße; wobei es aber auch genügt wenn die Schuhe ausgezogen sind, ein wenig Wasser auf die Mäs oder gelben Stiefelchen zu gießen, um nicht genöthigt zu sein, auch diese auszuziehen. In Ermanglung von Wasser darf auch Sand genommen werden. — In der Medschet (Moschee) richtet der Mollah oder Priester, welcher zuerst durch lautes Rufen vor dem Bethause oder auf der Minaret (dem kleinen Thurme der Medschet) dazu aufgerufen hat, das öffentliche Gebet. Er breitet seinen Teppich (namaslak) aus, und zwar so, daß
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er das Gesicht nach der Weltgegend wendet, in der Mekka ungefähr liegen mag. Alle in der Versammlung legen ihre Teppiche — oder wenn sie keine solche haben, ihr Oberkleid — hinter denselben neben einander, wenn möglich so, daß sie seine Bewegungen sehen können, ohne ihr Gesicht von der Gegend nach dem heiligen Grabe abzuwenden. Bei dem Anfange des Gebets setzt der Priester seine Daumen, zum Zeichen, daß er seine Gedanken von allen weltlichen Sachen entferne, hinter die Ohren; und alle Mitbetenden folgen ihm. Hierauf wirft er sich auf die Kniee, und neigt sich mit der Stirne völlig auf die Erde, was ihm die ganze Versammlung nachthut. Unter einem Murmeln im Beten ruft der Priester mit lauter Stimme aus: „Gott ist groß! Gott ist einzig!“ allah ög bir! und alle Mitbetenden wiederholen es, indem sie die flachen Hände auf den Oberschenkeln ruhen lassen. Sobald aber die Bitte um Allahs Segen gehört wird, hält er die flachen Hände nahe vor das Gesicht, und streicht dann mit denselben daran herab. Uebrigens steht man bei diesen Andachtsübungen auch abwechselnd gleichzeitig auf, und läßt sich eben so wieder nieder. Zum Schluß der Andacht wenden alle gleichzeitig den Kopf einmal nach der Rechten und einmal nach der Linken, auf die Schultern blickend. Damit werden die zwei Schutzengel, die jeder Muselmann um sich hat, zu Zeugen des verrichteten Gebets angerufen. Man knieet nieder, und neigt sich, so daß die Stirn die Erde berührt oder den Teppich. — Beim Eintritt in die Moschee wird gewöhnlich zuerst folgendes Geber in arabischer Sprache gebetet: „Feierlich bezeuge ich, daß sonst kein anderer Gott ist, als der Einige wahre Gott! Feierlich bezeuge ich, daß Muhammed ein Gesandter Gottes ist! (Dies alles wird wiederholt.)
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Feierlich bezeuge ich, daß Ali ein Statthalter Gottes ist! (Wiederholt.) Auf! Gottergebene Rechtgläubige! äussert religionsvolle Gesinnungen! äussert religionsvolle Gesinnungen! Sucht das Heil; sucht das Heil! Thut so viele gute Werke, als ihr thun könnt! thut so viele gute Werke, als ihr thun könnt! Muhammed und Ali sind rechtschaffene Menschen! O großer Gott! o großer Gott! Es ist sonst kein Gott, als dieser wahrhaftige Gott. Sage du im Namen des allerbarmherzigsten Erbarmers: Er ist der einige Gott; der ewige Gott ist er! Er zeugt nicht, und ist von Niemand gezeugt worden. Niemand ist ihm gleich! — Zu diesem Gott flieh’ ich bei den Anfällen des verabscheuungswürdigen Teufels.“ *)
Ein gewöhnliches Gebet ist noch: „Gelobt sei Gott, der Herr der Zeiten, der Herrscher am Gerichtstage, der Allerbarmherzigste! Dich beten wir an; um Beistand fliehen wir dich. Lehr’ uns die wahre Religion (wörtlich: führ’ uns auf den richtigen Weg!); nicht die Religion derer, über welche dein Zorn brennt, nicht die Religion der Irrenden! Die Religion derer Iehr’ uns, gegen welche du dich gnädig beweisest.“
Die Wenigsten der Tataren verstehen den Inhalt dieser Gebete, die in der Jugend auswendig gelernt werden. Sie
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*) Man sieht in den Worten: „Er zeugt nicht“ etc., und in den Worten: „Zu diesem Gott flieh ich“ etc. , die Berührung mit der alten christlichen Kirchenlehre.
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behaupten, nicht nöthig zu haben, deren Sinn zu wissen und die Gebete zu verstehen, indem es genug sei, daß Gott die arabische Sprache kenne. Zu Hause wird das Geber still ober halblaut verrichtet.
Immer wird die Richtung gegen Mekka beobachtet. Der Betende setzt im Hause eine Kanne oder irgend etwas vor sein Namaslak (Gebetteppich) bin, damit man nicht zu nahe an ihm vorübergehe, und das Gebet nicht gestört, oder durch vorbeigehende Ungläubige und Weiber verunreinigt oder geschwächt werde. Mit entblößtem Haupte wird nie gebetet; hingegen werden immer die Schuhe ausgezogen, wie Moses und Josua an heiliger Stätte thaten.
Der Rosenkranz ist aus ihrem Heidenthume beibehalten worden, besonders tragen solchen die Hadsche’s oder Pilger. — Er besteht aus 33 besondern Abtheilungen; so vielmal dann auch ein kleines Gebet wiederholt wird.
Fatalismus.
Der Fatalismus oder die Lehre von einer unbedingten, die Freiheit des Menschen völlig aufhebenden Vorherbestimmung setzt den Muselmann in dem Sinne‚ wie er diese Lehre auffaßt, oder darin von den Priestern unterrichtet ist, in den größten Widerspruch mit sich selbst und seinen Handlungen. Man kann auch nicht anders als in die Alternative gesetzt werden, entweder gar keiner Mittel zur Erhaltung des Lebens und zur Bewahrung vor Schaden und Unglück sich
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zu bedienen, und also als Mensch auf Erde nicht bestehen und leben zu können, oder sich selbst die Gränzlinie willkührlich zu ziehen oder ziehen zu lassen, wie weit man der Mittel sich bedienen soll, wodurch man in den größten Widerspruch mit sich selbst kommt, indem man so Manches thut, das man bei nur ein wenig anders gestellter Ansicht lassen müßte, hingegen so Vieles läßt und versäumt, das mit gleichem Rechte gethan sein könnte. Er bricht sich selbst den Stab, und muß sein Unglück tragen, das er hätte abwenden können, aber nicht hatte abwenden wollen.
Die muhammedanische Lehre von der Vorherbestimmung macht den Menschen träge und gleichgültig gegen die Mittel, die Gott in die Natur und in den Verstand des Menschen zur Abwehrung von Uebeln und zur Freude des Lebens gelegt hat. Es wird der Muselmann durch diese Lehre, wie die Erfahrung zeigt, meist nicht wahrhaft ergeben, sondern mehr nur stumpf und gefühllos gegen das Leben und sein Schicksal. So ist der Fatalismus den Fortschritten in der Kultur sehr hinderlich. Der Tatar ist nicht zu bewegen, die Heuschrecken mit Gewalt zu vertilgen. Bei ansteckenden Krankheiten gebraucht er keine Vorsichtsmaaßregeln. Ich konnte meinen Wirth nicht dazu bringen, seinen Sohn Abdullah vom Besuche von Häusern abzuhalten, in denen die Blattern herrschten. „Lass’ ihn gehen!“ sagte er. „Es kommt dem Kinde nicht von ungefähr, wo es hin will. Es hat sein Geschick.“ Dem ungeachtet brauchen sie täglich Mittel zur Abwendung von Hunger, Kälte, auch selbst von Krankheiten u. dgl. — Der Muselmann trägt mit Geduld, ohne Klage und Murren das härteste Schicksal, wenn er annehmen zu dürfen meint, daß es vom Gott, nicht etwa bloß von Menschen, herrühre.
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Wenn ihm von Menschen Unrecht geschieht und er sich auch nicht mehr Recht verschaffen, die Sache nicht mehr ändern kann, wozu er doch alle Mittel anwendet, so ist er darin nichts weniger als ergeben. Er ist ungeduldig und unzufrieden, und schimpft mitunter heftig auf den oder die Urheber des Unfalls.
Immer möchten die Christen noch vieles von den Muselmännern zu lernen haben, und wer wollte behaupten, daß nicht bei Vielen unter diesen eine wirklich edle Hingabe und Ergebung statt habe! Es ist doch schön, unter Muselmännern niemals jene fürchterlichen Ausbrüche der Anklage des Schicksals und der Vorsehung, der Verwünschung und — Verzweiflung zu hören, wie man sie unter Christen hört. Die mehr oder weniger ernstlich, meist aber unbedachtsam ausgesprochenen Klagen über schlechte Witterung, Mißwachs oder Mangel selbst überflüssiger Dinge hört man unter Muselmännern ebenfalls nicht. Lege der Leser selbst nun in die Waagschale seines Urtheils einerseits des Muselmanns trocknen, trostlosen Glauben an Vorherbestimmung, anderseits aber den unter Christen so häufigen noch viel trostlosern Unglauben und den Leichtsinn der Nichtachtung Gottes und dessen, was wir als seinen Rath über uns erkennen können!
Allah biller, Gott weiß! sagt der Tatar. Gott hat’s gegeben; Gott hat's genommen! Naseb bilmême, ich kenne ja das Geschick nicht! Allhemda schugger, Gott sei gedankt u. s. w.
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Die Opfer.
Die Tataren bringen viele Opfer, die freilich, wie jene der alten Parsen, weit eigentlicher Opfermahle, gottesdienstliche Mahlzeiten genannt werden können. Opferthier ist eine Kuh, gewöhnlicher aber ein Schaaf. es darf aber nicht fehlerhaft oder krank sein.
Opfer werden gebracht bei Geburt eines Kindes; bei Hochzeiten, vor einer Reise oder nach glücklicher Zurückkunft, in Folge eines Gelübdes, zum Andenken Verstorbener, an den Bairams oder Festtagen. Es sind entweder Schuld- oder Dankopfer. Die Familie versammelt sich vor dem Hause, umgeben von eingeladenen Freunden oder Nachbarn, besonders aber von Armen. Ein Mollah oder Priester ist gegenwärtig und verrichtet mit Allen ein stilles Geber mit vorgehaltenen Händen. Das Schaaf darf nur an drei Füßen gebunden sein. Der Kopf des Thieres wird nach Mekka gerichtet, und unter Anrufung des Namens Gottes wird die Gurgel schnell durchschnitten. Nie darf gestochen werden. Das Blut läßt man auf die Erde laufen, und das am Fleische noch anklebende wird sorgfältig abgewaschen. Wenn es abgeledert und zertheilt ist, was in sehr kurzer Zeit geschieht, so waschen die Anwesenden die Hände; es wird wieder gebetet, und das unterdeß gesottene Fleisch wird gemeinschaftlich im Freien verzehrt. Je mehr Theilnehmer an der Mahlzeit sind und je mehr Menschen dabei Gott loben, um so größer hält man den Segen, um desto mehr freut sich der Opfernde.
Durch einen Ausrufer wird im Dorfe dazu eingeladen,
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und Jung und Alt, Männlich und Weiblich kann Theil nehmen, Alten und Kranken wird noch eigens in die Häuser Fleisch vom Opferthiere geschickt. Pferde dienen nie als Opfer. Zum Andenken für Verstorbene wird oft mehrere Jahre hindurch um die nämliche Zeit wieder ein Opfer gebracht.
Die Opfer sollen unter den Arabern schon lange vor Muhammed gebräuchlich gewesen sein, weßwegen im Koran darüber keine bestimmten Vorschriften sich finden. Der Gebrauch begegnet uns überhaupt im Morgenlande seit der grauesten Urzeit, z. B.: im alten Testamente, wo in den Gesetzen der Hebräer auch die Rücksicht auf die körperliche Vollkommenheit des Opferthiers vorkommt. (S. 3. Mose 22, 20 — 25.) Die Gewohnheit der Nogayen, von dem Opferblute den Kindern um Wange und Stirne zu streichen, um sie dadurch vor Schaden und Krankheit zu schützen, scheint wirklich von dem Blutbespritzen der Juden herzurühren. (S. 2. Mose 24,8 und 2. Mose 29, 20. 21.) Merkwürdig bleibt es immer, daß so viele, auch heidnische Völker durch Opfer das höchste Wesen zu versöhnen oder dadurch von selbem Gunst und Glück zu erlangen suchten, und noch suchen. Freilich bleibt dann das Opfer Vielen ein Deckmantel von Sünden, und es heißt auch bei vielen Tataren, was Christus den Juden und Pharisäern sagte (Markus 7, 11): „Es ist Korban (Opfergabe), das, womit ich dir, Vater, Mutter u. s. f. hätte dienen können. Damit aber benehmet ihr dem Gebote Gottes die wahre Kraft.“ Aehnliche Opfer findet man auch unter Christen; denn überall und immerdar ist der mit Kleinigkeiten überladene Mensch geneigt, sich das Größte leicht zu machen, und leicht ist er versucht, mit sich selbst, seinem
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Glauben und seinem Gott manche Künstelei in treiben, Mücken zu seigen und Kameele zu verschlingen.
Der Ramasan oder Fastenmonat.
Die Nogayen, das dzadd mit dadd verwechselnd, sprechen Ramasan statt Ramadan aus. Dieser Monat des arabischen Kalenders dauert, wie alle Monate der Muselmänner, von einem Neumond bis zum andern, oder 29½ bis 30 Tage. Diese 30 Tage hindurch wird gefastet, doch nur des Tages, nämlich Morgens von der Zeit an, daß ein Faden unterschieden werden kann, bis nach Sonnenuntergang. Statt daß, wie unter Christen, nur gewisse Speisen verboten sind, und man sich mit andern vollstopfen kann, darf der Muselmann während dieses Monats den Tag über gar nichts geniessen, auch nicht trinken, nicht Taback rauchen. Des Abends und in der Nacht hingegen ist ihm vergönnt, das Versäumte nachzunehmen. Da nach Monden-Monaten gerechnet wird, so fällt der Ramasan, wie alle stehende Feste der Muhammedaner, bald in den Sommer, bald in den Winter. Fällt er in den Sommer, so ist er sehr beschwerlich, da bei der großen Hitze die Feldarbeit, ohne Getränke zu geniessen, verrichtet werden muß. Der wichtigste Tag in diesem Fastenmonat ist der sechsundzwanzigste; denn die ihm vorhergehende Nacht (Nacht der Macht, el kadr) ist diejenige, in welcher der Koran vom Himmel gekommen sein soll. Niemand schläft in derselben.
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Kranke und Wöchnerinnen sind von den Fasten frei, nehmen aber das Versäumte nach. Kinder bis in’s zwölfte Jahr machen ebenfalls Ausnahme, und da nicht gekocht wird, so essen sie Djughrt (dicke Milch) und geröstete Hirse. Das ausgewachsene jüngere VoIk der Tataren nimmt es auch noch nicht so strenge als die Alten, besonders wenn sie sich auf Reisen befinden. Alte beobachten die Fasten strenge. Das Entbehren des Tabackrauchs kommt sie am schwersten an. In diesen 30 Tagen wird nur das Allernothwendigste gearbeitet, sonst möglichst viel geruht und geschlafen, um den Hunger weniger zu spüren, des Nachts wachbar zu sein und tüchtig essen zu können.
Die Weiber fangen schon gleich nach Mittag an zu kochen und bereiten gute Gerichte in starken Portionen. Man kann sagen, daß in diesem Monat vor allen übrigen am meisten gegessen wird. Ist die Sonne untergegangen und der Mann hat sein Gebet in der Medschet verrichtet, so fängt das Essen und Trinken an. Die Weiber haben auch in diesem Monate wenig Ruhe, da sie am Tage wachen, arbeiten und die Kinder pflegen müssen und des Nachts zu kochen und den größten Theil derselben durchzuwachen haben. Nachdem der Mann sich satt gegessen, legt er sich schlafen und läßt sich in der Nacht von der Frau wecken, um ein frisch von ihr bereitetes Mahl einzunehmen. Man schmauset alsdann, bis der Tag und mit ihm die Fastenzeit wieder angeht. Das heißt dann wie bei uns: die Fasten halten, orosa tutmek.
Während der Fastenzeit gehen die alten Männer fleißig zur Medschet zum Gebet; denn sie sind verbunden, in dieser Zeit zwanzig Verbeugungen täglich mehr zu machen als gewöhnlich. Diese Gebete heissen Derwischnamas.
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Ausser dieser großen Fasten werden im Jahre selten noch aus freiem Willen von einigen der eifrigsten Anhänger des Islam Fasten gehalten.
Das große und Kurban-Bairam.
Der Nogaye feiert mit allen Muselmännern jährlich zwei Hauptfeste, das große Bairam oder den Bruch der Fasten, auch Ramasan-Bairam genannt, weil es den ersten Tag nach Beendigung des Fastenmonats anfängt, und das Kurban oder Opferfest, 70 Tage später. Jedes der Feste — denn das Wort Bairam bedeutet Fest — dauert drei Tage. Mit dem Fastenmonate. laufen also auch diese Feste in 33 Jahren alle Jahrszeiten durch. Sie fangen beide mit dem Neumond an, wenn der kleine Streif des Mondes dem Auge sichtbar geworden. Geschieht dies jedoch (wegen Gewölk) in zwei Tagen nicht, so wird das Fest am dritten Tage gleichwohl gefeiert. Der erste Tag des großen Festes wird mit Gastmahlen und von den ältern Männern und Weibern mit genauer Beobachtung der Gebete und mit Opfern gefeiert. Die folgenden Tage sind mehr nur dem Vergnügen und den Lustbarkeiten gewidmet. Es werden auch freiwillige Almosen ausgetheilt (fiker-sadaka). Die Kochkunst wird an diesen Tagen in allen Theilen in Anspruch genommen und allem aufgeboten, den Gaumen zu kitzeln und den Magen zu bedienen. Jeder, der in’s Haus tritt, wird bewirthet. Man macht sich gegenseitig Geschenke mit Fleisch und Kuchen,
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und ladet einander zu Gaste. Alle Reitpferde werden gesattelt. Den einen Tag reiten die Knaben oder Jünglinge, zeigen ihre Reitkunst und stellen Wettrennen an, wobei die Pferde viel zu leiden haben, da man ihnen während diesen Tagen keine Ruhe läßt. Eines andern Tages reiten die Männer in großen Zügen in benachbarte Dörfer auf Besuch und auch die Weiber fahren in Menge auf großen, von Ochsen gezogenen Wagen. Man besucht sich, öffnet die Kisten, zeigt alle Kostbarkeiten, und des Fragens und Erzählens ist kein Ende. Den kleinern Mädchen werden Schaukeln errichtet. Frauen und Mädchen zeigen sich im größten Putze. Gewöhnlich werden neue Kleidungsstücke getragen wenigstens etwas Neues soll am Leibe sein. Wer neue Kleider nöthig hat, der läßt sie gewöhnlich erst auf dieses Fest machen. Man freut sich lange vorher auf dasselbe, und glaubt, der Fremde könne die großen Anstalten und Vergnügungen nicht genug bewundern. Die Nogayen sahen es gerne, wenn ich diese Tage bei ihnen zubrachte und suchten alles hervor, um mir die Freude recht groß zu machen. An diesen Tagen wird nur so viel gearbeitet, als das Vieh zur Pflege nöthig hat. An dem einen derselben werden die Kühe nicht gemolken, damit die Kälber sich satt saugen und sich mitfreuen können.
Man wünscht sich Glück, Muselmann zu sein und den wahren Glauben zu haben; man begrüßt sich mit den Worten: Bairam chair la bosen oder Bairam chairlu olsun, gesegnet sei dir das Fest! Alte bieten und drücken sich die Hand; Jüngere küssen die Hand des Aeltern auf dem Rücken derselben, und berühren sie nachher mit der Stirne. Bei diesem Anlaß sieht das Alter, auch des weiblichen Geschlechts, sich von dem jüngern männlichen beehrt und geachtet, indem
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dieses ehrfurchtsvoll jenem die Hand küßt. Der jüngere Theil beider Geschlechter küßt den ältern Theil, nie aber der Aeltere den Jüngern. Dadurch unterscheidet sich diese Sitte von jener der Russen am Ostertage, an welchem dieselben Freiheit haben, jedes Frauenzimmer auf der Straße zu umarmen und auf die Wange oder Stirn zu küssen.
Am Kurban oder Opferfeste wird von jeder Familie ein Schaaf zum Opfer gebracht, oder es stehen auch wohl mehrere zusammen und opfern eine Kuh. Gewöhnlich gehen die Bewohner des Dorfes auf die freie Steppe, und opfern auf einer Mohille, einem Grabhügel alter Völker, welche so häufig auf diesen Steppen sich finden. Es wird immer am zehenten Tage des Sülhedsché, d, i. des Ietzten Monats im muhammedanischen Jahr, in Mekka ein großes Opfer, als Andenken an Abrahams Opfer, gebracht, und dieses ist dann auch der Tag des Kurban Bairam’s bei allen Muselmännern.
Verschiedene religiöse Gebräuche.
Wiewohl im Koran nichts über die Beschneidung vorgeschrieben ist, so ist sie doch, als schon unter den vor Muhammed noch heidnischen Arabern von ältester Zeit her gebräuchlich gewesen, und zugleich mit dem Islam auf die Tataren übergegangen. Das männliche Geschlecht wird aber nicht, wie bei den Juden, am achten Tage, sondern nach dem Gebrauche einiger anderer Völkerschaften, erst im Alter von 10 bis 15 Jahren beschnitten. Auch an Ismael, für dessen
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Abkömmlinge sich diese Morgenländer halten, wurde (nach 1. Mose 17, 25) diese Handlung erst im 13. Jahre vollzogen. Zu gewissen Zeiten reist in einem bestimmten Distrikte der Babasi (Vater), wie der Beschneider genannt wird, herum und verrichtet die Operation, die, wie mir die Tataren versicherten, nicht sehr schmerzhaft sein soll. Am Tage der Beschneidung eines Knaben ist in dem Hause der Aeltern ein großes Fest. In besonderer Bekanntschaft mit den Nogayen ist es auch Christen erlaubt, Zuschauer bei der Beschneidung zu sein. Ich selbst jedoch konnte nie einem solchen Feste beiwohnen, da der Babasi sich in der Zeit meines Aufenthalts unter den Nogayen nie thätig zeigte. Ein Unbeschnittener wird bei ihnen mit dem Namen Brunkoi betitelt und für unrein gehalten, als ein Mensch, mit dem man eigentlich nicht essen sollte.
Die Eintheilung der Zeit und der Feste der Muselmänner richtet sich immer nach dem Neumond. Das erstemal, daß der Muselmann die schmalste Sichel des Neumondes am Himmel erblickt, wirft er sich auf die Erde nieder und betet an. Die Mondsichel oder der Halbmond ist das Panier der Moslems oder Gläubigen, wie sie sich nennen; vielleicht im Gegensatz gegen Juden sowohl als Christen, bei welchen sich die Festtage und Zeiten nach dem Vollmond richten. Derselbe Grund mag obgewaltet haben, da Muhammed weder den Sonnabend, den Feiertag der Juden, noch den Sonntag der Christen, sondern den Freitag als den siebenten Tag und den Tag der Ruhe wählte, um auch dadurch seine Abneigung gegen Juden und Christen zu zeigen und sich ihnen nicht
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gleichzustellen. Der Freitag wird von den Nogayen djüman kun (Wochentag) genannt, und ist ihnen das, was dem Christen der Sonntag, der hingegen bei dem Nogayen den Namen basar kun (Markttag) hat, vielleicht deßwegen, weil unter Christen die Gewohnheit an vielen Orten herrscht, an diesem Tage Kirchweihen und auch wirklich Markt zu halten.
Am djüman achschan oder Vorabend des Wochentages, Donnerstag Abends, wird meistens etwas besser als gewöhnlich gegessen. Am Freitage gehen die alten Männer fleißiger zum Gebet in die Medschet, Priester wenigstens arbeiten nicht, die Andern nur das Nothwendigste, was das Vieh bedarf, nicht gerne aber auf dem Felde. Reisen werden in der Regel nicht am Freitage angetreten.
Ein Verbot des Korans ist der Genuß des Weines. Da aber nur von diesem die Rede ist, so glaubt der Muselmann damit nicht jedes starke Getränk verboten. Nur der gute Moslem und alte Nogaye enthält sich des Araka’s oder Brannteweins, der sehr geliebt wird. Das jüngere Volt trinkt ihn auf Reisen bei Russen und Teutschen, und besucht Ietztere hauptsächlich ihrer Brannteweinschenken wegen. In den Tatarendörfern selbst wird keiner ausgeschenkt. — Es giebt auch Solche, die sich nichts daraus machen, ein Glas scharap oder Wein zu trinken. Besonders geschieht solches in der Krimm, wo Wein im Gebirge gepflanzt wird. Auf den Steppen ist keiner zu finden. Teutsche lassen etwa aus der Krimm kommen.
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Im Ganzen ist jedoch der Nogaye lange nicht so leidenschaftlich und unmäßig im Genuß starker Getränke als der Russe. Die Bosa ist ihr einziges Getränk, von dem sie oft in Uebermaß trinken und sich berauschen. Die Ausleger des Korans behaupten, daß nur mit Füßen getretener, nicht aber gekelterter oder gepreßter Wein verboten sei, weßwegen besonders in der Türkei dieser sehr häufig und als solcher auch der andere getrunken wird.
Dem Nogayen ist der Wein in jedem Falle zu kostbar, als daß er viel trinken könnte ober wollte.
Die Mollah’s oder Priester.
Unter den Nogayen-Tataren finden sich in jedem Dorfe eine Menge Priester von verschiedenem Range. Der höchste ist der Mufti, eigentlich ein Unter-Mufti, da er unter dem Mufti in der Krimm steht, der wahrscheinlich mit dem Ober-Mufti in Konstantinopel Verbindung bat. Das Wort Essendi, Herr oder Meister, wir bei den Tataren nicht, wie in der Türkei, jedem, den man ehren will, sondern nur den Obern der Priester beigelegt. Sie haben Essendi-Mollah’s und Namas-Essendi’s oder Meister der Gebete.
Die Mollah oder Priester stehen den Gebeten der Versammlungen in der Medschet oder Moschee (Kirche) vor; rufen laut zu diesen Gebeten auf, entweder vor der Moschee oder auf dem Minaret. Der Aufruf besteht selbst in einem Gebete, welches langsam in einem klagenden Tone erschallt.
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Die Worte desselben sind: „Allah ist der Erhabenste, (Zweimal wiederholt.) Ich bezeuge, daß kein Gott ist als Allah. (Zweimal.) Ich bezeuge, daß Muhammed der Gesandte Allah’s ist. (Zweimal.) Herbei zum Gebete! (Zweimal.) Herbei zum Heile! (Zweimal.) Und: Allah ist der Erhabenste. (Zweimal.) Es ist kein Gott denn Allah!“ —
In der Moschee sagen sie das Gebet laut vor, geben Erklärungen des Korans, halten bei besondern Gelegenheiten kurze Vorträge, aufmunternd zur Treue und Anhänglichkeit an den Islam. Bei den Opfern, bei der Beschneidung, bei Hochzeiten, bei Kranken, Sterbenden, bei Begräbnissen sind sie gegenwärtig und verrichten Gebete dabei. Sie verschreiben den Kauf eines Mädchens oder Weibes, den Ehekontrakt. Sie schreiben kleine Gebete, die, in Tuch eingenäht, als Amulete Menschen und Vieh angehängt werden, und für weiche sie billigermaßen eine Gebühr beziehen. Sie halten die Schulen, welche ihnen ebenfalls Getreide, Vieh und Geld einbringen. Bei den Opfern erhalten sie das Fell des Opferthiers. Für Beleuchtung in der Moschee werden ihnen Talg und Kerzen gegeben. Sie nehmen den Zehnten vom Getreide und das vierzigste Stück des Viehes. Doch wird dies nicht genau beobachtet, und darf nach ihrer jetzigen Verfassung von den Priestern nicht gefordert werden. Man giebt nach Belieben oder je nach dem Eifer für die Religion und die damit verknüpfte Anhänglichkeit an den Priesterstand.
Die Priester sind verheirathet, können auch mehrere Weiber nehmen und haben ihr Land und Antheil an allem, wie der Laye; jedoch bearbeiten die wenigsten aus ihnen ihr Land selbst.
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Sie zeichnen sich im ihrem ganzen Betragen eben nicht vortheilhaft aus. Das Volk suchen sie in Unwissenheit und Fanatismus zu erhalten, und sie sind jeden guten Neuerungen und jedem Fortschritte der Bildung des Volkes entgegen. Ihr Einfluß auf das Volk, so groß er noch ist, nimmt jedoch immer mehr ab.
Einige aus ihnen, die nach Mekka gereist sind, sprechen etwas türkisch und arabisch; die Meisten aber können nur auswendig gelernte arabische Gebete hersagen, so wie ein Theil des Volkes, das von ihnen unterrichtet wird. Vielleicht nicht einer aus ihnen kann richtig schreiben, wiewohl sie auch darin wieder Unterricht geben.
Sie sind so wie die Adsche's oder Pilger, an dem Schalma oder Dulbend zu erkennen, das aus einem langen weißen Leinentuch besteht, welches sie in Form eines Turbans um die kleine Mütze winden. Bei festlichen Anlässen tragen sie einen weiten weißen Talar von sehr leicht gewobenem Wollenzeuge. In ihrem Leibgurt steckt vorne das metallene Tintenfaß (dauet), in dessen stielförmiger Verlängerung die Schilfrohrfeder (kalem) steckt, ähnlich jener Bezeichnung im Propheten Hesekiel 9, 2. 3.
Die Adsche’s oder Pilger.
Muhammed verpflichtete alle seine Anhänger, die Wallfahrt nach der Kaaba (Kebä), d. h. nach dem alten Grabsteine in dem Tempel in Mekka zu machen. Es ist dem Muselmann das,
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was den Christen mehrerer Kirchenpartheien das heilige Grab in Jerusalem ist. — In der Folge, da, nach dem Tode Muhammeds, seine Lehre sich so ausserordentlich und in die entlegensten Länder verbreitete, milderte man das Gesetz und verordnete, daß diejenigen, die der Entlegenheit wegen nicht in Person nach Mekka kommen könnten, an dem zehnten Tage des letzten Monats, als am Kurban-Bairam, zu Hause ihr Opfer bringen, gewisse Ceremonien verrichten und Almosen austheilen sollten. — Nur ein sehr kleiner Theil der Nogayen-Tataren sieht sich in den Stand gesetzt, diese große, beschwerliche und kostbare Reise machen zu können. Serbst der Reiche scheut den Abbruch, den eine solche Reise seinem Vermögen thut; denn sie erfordert 150 bis 200 Dukaten. Die Dauer der Hin- und Rückreise muß, im günstigsten Fall, auf ein Jahr angeschlagen werden. Durch Almosen und andere gute Werke, durch genauere Beobachtung der religiösen Gebräuche überhaupt und auch dadurch, daß ein Pilger mit Geld unterstützt wird, sucht man die versäumte Wallfahrt zu ersetzen. Unvermögende, die dennoch die Reise machen wollen, dienen auf derselben vornehmern tatarischen oder türkischen Pilgern als Knechte, und können auf diese Weise wohlfeil, doch nicht ohne bedeutende Aufopferungen, hingelangen. — Der gewöhnliche Weg, den die Nogayen nehmen, ist von einem krimmschen Seehafen oder von Odessa aus zur See nach Konstantinopel, wo sie sich zu türkischen Pilgern fügen und nach Alexandria in Aegypten einschiffen, von wo sie über die Landenge bei Suez und längs des rothen Meeres ihre Reise nach Medina und Mekka fortsetzen, nachdem sie sich mit der großen ägyptischen Karawane vereinigt haben. Weniger gewöhnlich ist der Weg durch Syrien und die
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Verbindung mit Karamanen. in Smyrna, Aleppo oder Damask, durch Palästina und das peträische Arabien.
Furchtbar sind die Beschwerden eines Pilgers. Ihrer viele kommen nicht mehr zurück, sondern werden in den großen Wüsten durch Entbehrungen aller Art, Hunger und Durst, Krankheiten, schlaflose Nächte (durch Besorgniß, von den Mitreisenden bestohlen zu werden, veranlaßt) u. s. w. ein Opfer ihrer Ergebenheit an Gott oder den Propheten. Neben den großen Beschwerden, welche ihnen die Reise selbst bringt, sind sie noch den gröbsten Prellereien und Plackereien der Pascha’s in den zu durchwandernden Provinzen, so wie des Karamanen-Pascha’s ausgesetzt. Von der arabischen Militärbedeckung, welche die Pilger gezwungen sind anzunehmen und zu bezahlen, werden sie unterwegs hintergangen, bestohlen und auf viele Weise geplagt, auch wohl hinten am Zuge ermordet.
Da der Nogaye nicht mit eigenen Kameelen die Reise machen kann, so muß er solche um hohe Preise von Mäcklern, die sich bei der Karawane befinden, für die Reise durch die Wüsten miethen. Diese Wucherer halten sich aber schlecht an den Vertrag, indem sie den Miethpreis unterwegs zu steigern bemüht sind. Jeder Pilger muß sich zwei Kameele miethen. Zu allem diesem kommen noch die Angriffe der in den Wüsten herumstreifenden Beduinen-Araber, die oft mit dem Karawanen-Pascha und der Bedeckung einverstanden sind. — Die neue Sekte der Wahabs hat in neuern Zeiten den Pilgern, zumal denen von der Partei der Sunniten, viele Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Rußland selbst hindert in Friedenszeiten die Nogayen keineswegs an ihrer Wallfahrt. Sie
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Zeichnung 7: Tatarischer Pferdehirt
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erhalten hiezu ihre Pässe; und noch im Jahr 1827 sind ihrer eine ziemliche Anzahl dahin abgereist.
Alle, welche die Wallfahrt nach Mekka gemacht haben, erhalten bei ihrer Zurückkunft den Namen Hadschi, nogayisch Adsché, der ihrem persönlichen Namen vorgesetzt wird. Die Adsche’s zeichnen sich, wie die Mollah’s, durch den Schalma aus, so wie auch fast allgemein durch ein stolzes Wesen. Sie sind von allen Nogayen die unbelehrbarsten, selbstgenügsamsten. Alle Fortschritte verachtend, glauben sie sich vollendete Heilige und genießen von den andern Nogayen eine gewisse Achtung, von der sie zu ihrer und Anderer Schaden Gebrauch machen. Der Adsche bleibt der Gewissenhafteste in Beobachtung des Ceremoniellen und der Nachläßigste in Erfüllung der geistigen und allgemein menschlichen Vorschriften der Religion.
Der männliche Nogaye überhaupt. Beschäftigung.
Im Ganzen genommen, ist das männliche Geschlecht weniger beschäftigt als das weibliche. Der Mann arbeitet weit mehr nach Willkühr, je nachdem er mehr oder weniger arbeitsamer Natur ist, oder je nachdem er Besitzthum wünscht. Er will für die Arbeit auch Genuß haben, verschafft sich seine Ruhestunden und läßt sich als der Schorbadschi, Hauswirth, Nährer des Hauses, als der Aga, Herr des Hauses, von den
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Weibern bedienen, denen die Arbeit Lebensbestimmung zu sein scheint, ohne irgend einen lohnenden Genuß nach der Arbeit verlangen zu dürfen.
Zur Bezeichnung des männlichen Geschlechts haben die Tataren mit den Türken das Wort är, ein Mann; ärgek, männlich. Auch das Wort Adam, Mensch, wird bei ihnen eigentlich nur dem männlichen Geschlechte gegeben.
Die Arbeit des Mannes ist die Besorgung des Viehes auf den Steppen, der Handel mit demselben, das Abrichten der wilden Pferde und Ochsen und alle Feldarbeit.
Viehzucht.
Viehzucht ist noch immer die Hauptbeschäftigung des Nogayen und wird als Lieblingssache — nach Maßgabe ihrer gegenwärtigen Lage, da sie nicht mehr nomadisirend , sondern angesiedert sind — im Verhältniß gegen den Feldbau noch viel zu stark betrieben. Indessen nimmt dieser immer mehr zu, die Viehzucht ab. So viel Land auch jedes der angesiedeiten Tatarendörfer hat, so ist doch hie und da die Anzahl des Viehes für die demselben bestimmte Weide noch zu groß. Die Viehzucht überhaupt, besonders in der Art, wie sie vom Nogayen betrieben wird, ist weniger einträglich als der Feldbau. Es wird wenig oder fast gar nichts für Veredlung der Racen gethan; der Preis des Viehes ist sehr gering; die Milch wird größtentheils im Gebiete der Nogayen selbst verzehrt; die Butter ist zu schlecht, um vielen Absatz zu
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finden; Käse zum Verkaufe werden gar nicht gemacht. Ueberdies nimmt das Suchen von verlaufenem Vieh auf den weiten Steppen, so wie das Herumziehen und Liegen auf entfernten Märkten viel Zeit weg und entzieht dem Ackerbau und andern Beschäftigungen viele Hände. Die Viehzucht giebt auch, da nirgend keine Einzäunung ist, sondern die Gränzen nur mit einer Plugschar bezeichnet werden, viel Anlaß zu Streit und Zank unter den Tataren selbst sowohl, als auch mit den benachbarten Russen und Teutschen, indem das Vieh, selten bewacht und gehütet, auf fremden Boden übergeht und weidet, auch manchmal in Getreidefeldern großen Schaden anrichtet, worauf es von den Nachbarn eingezogen und gepfändet wird. Große Heerden Viehes von den Nogayen stehen oft Tage lang eingeschlossen auf einem Platze bei Dörfern der Russen und Teutschen, von welchen es nur gegen ein starkes Lösegeld zurückgestellt wird. Die Nogayen wollen nicht bezahIen, markten um den Preis; man zankt sich, und das arme Vieh kommt fast zum Verhungern und manchmal so weit, daß es den eigenen Mist frißt. Erst wenn es auf's höchste gekommen, bezahlt der Nogaye und erhält so sein Vieh zurück. Würde das eingezogene Vieh von den Nachbarn gefüttert, so dürfte man wohl nicht leicht zu Schadenersatz geIangen. Zudem wo sollte man auch Futter hernehmen, da man Heu und Gras für eigene Fütterung auf den Winter, bedarf ?!
Ein jedes Dorf treibt das Vieh in zwei aber drei getrennten Heerden aus auf die Steppe, und je ein Wirth um den andern hat abwechselnd dieses Austreiben zu besorgen, kommt aber gewöhnlich nachher wieder in’s Dorf zurück und holt die Heerde Abends wieder ab. Der Hirte ist immer zu
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Pferde, wenn er die Heerde treibt, und läßt dann, wenn er bleiben will, sein Pferd mitweiden. Ein eigentlicher Hirt, der als solcher in Diensten lebt, wird, wenn er Schaafe und Rinder hütet, Schoban, wenn er aber Pferdehirt ist, Djelkadsché genannt.
Die Tataren ziehen Rindvieh, Schaafe und Pferde; Kameelzucht hingegen geht ganz ab. Die Besorgung und Erhaltung des Viehes erfordert, auf den unermeßlichen Steppen, besonders zur Winterszeit, ausserordentlich viele Mühe. Die Heerden zerstreuen sich sehr weit und man muß Tage lang mit Suchen und Zusammentreiben zubringen.
Das Vieh überhaupt nennt der Tatar mal, wörtlich: das Gut, Vermögen, — eine Benennung, die besonders früher sehr bezeichnend war, es aber auch jetzt noch ist, da des Nogayen Besitz eben meist in Vieh besteht.
Die Kameele.
Das Kamel mit nur einem Höcker, eigentlich der Dromedar, von den Nogayen Düè genannt, wird immer seltener ‚in diesem Gebiete. Häufiger findet man es noch unter jenen Nogayen und Tataren, welche die nördlichen Ebenen der Krimmschen Halbinsel bewohnen, wo hin und wieder eine für Kameele zuträgliche und hinreichende, für Rinder und Pferde aber zu grobe und schlechte Weide ist. Das Kameel begnügt sich mit Wenigem und scheint gesträuchartiges, grobes Gras dem fetten und zarten vorzuziehen. Dem angesiedelten Nogayen können
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diese sonst so nützlichen Thiere keinen Vortheil mehr gewähren; dem wandernden oder nomadisirenden Kalmüken am Don und der Wolga sind sie hingegen noch jetzt unentbehrlich oder doch sehr nützlich. — Die nogayischen, besonders aber die kalmükischen Kameele sind sehr groß, mit langen, mehr ins gelbe und röthlichte fallenden Haaren, da hingegen die anatolischen mehr ins gräuliche gehen, kürzer sind und das Thier selbst im Ganzen kleiner ist. Die Tataren essen ihr Fleisch. Der Preis eines Kameels, das aber wie bekannt sehr alt wird, ist hoch, nämlich etwa 100 Rubel Banco oder 50 Gulden Rheinisch. Sie sind sehr böse, schlagen und beissen gerne und lassen oft nur ihren Führer nahe kommen. Die Nogayen haben die bei allen mongolischen Völkern gänzlich unbekannte Gewohnheit, die Kameele nicht zum Reiten und Lasttragen, sondern zum Ziehen und zwar an Jochen zu gewöhnen. Eins, gewöhnlicher aber zwei zusammen werden mit den Jochen, die sie am Halse tragen, in die Deichsel des Modschar’s oder Araba’s gespannt. Die meisten tragen in der Nase einen Ring, durch welche der Strick geht, an dem sie geführt oder geleitet werden. Sie ziehen sehr große Lasten und man sieht sie auf fast allen Märkten des südlichen und innern Rußlands‚ wohin sie Getreide, Salz oder Früchte aus der Krimm führen.
Die Tatarinnen verfertigen aus Kameelhaaren ein sehr festes, dichtes Zeug, das allem Regen widersteht und von den Männern über ihre Kleidung in Form eines Mantelkragens getragen wird.
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Rindviehzucht der Nogayen ist von Belang. Dabei wird jedoch nur auf Vermehrung der Heerden, nicht auf Veredlung der Race gesehen. Die Gestalt und der Schlag des Viehes ist im Ganzen sehr schön, aber von mittlerer Größe. Die Farben sind, mit sehr wenigen Ausnahmen, helll, meistens weißgrau, dann bläulich, gelbbräunlich, hellbraun, auch gefleckt; dunkelbraun und schwarz weniges; rothbraun keines. Der Stier (boga) ist stattlich; der Ochse (augus) wird nicht sehr groß, und hat mäßig große Hörner; das Kalb nennt man besau, den Jährling tana, ein zweijähriged Rind kunaschen, eine Kuh sighr. Dem Rind werden Namen gewöhnlich nach ihrer Abkunft oder Farbe gegeben, z. B.: kalmuk-sighr , tschernomor-sighr, schall - (weiß) sighr. Ein Ochse gilt 20 bis 50, eine Kuh 10 bis 30 Rubel Banco.
Die Kühe geben im Durchschnitt wenig Milch, wenn auch die Steppe grasreich und die Kräuter kräftig sind. Die Hauptursache mag in der Entferntheit des Weideplatzes vom Dorfe liegen. Das Vieh hat oft sieben bis zehn Werste oder über eine Meile zu gehen, also um so viel weniger Zeit zum Grasen, kommt oft schon durstig auf der Steppe an, zeigt dann keine Lust mehr zum Fressen, sondern legt sich nieder. Bei Sonnenuntergang den weiten Weg zurückgetrieben, läuft es, um bald getränkt zu werden, meist sehr schnell, wodurch es ermattet und sich schadet. Zudem wird auch ein guter Theil der Milch durch die Kälber abgezapft, ehe die Kuh gemolken werden kann. Alle südrussischen und tatarischen Kühe haben
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die Eigenheit, daß sie sich nur in Gegenwart des Kalbes, und wenn selbes zuerst angesaugt hat, melken lassen. Stirbt das Kalb, so genügt es jedoch auch, dass das bloße oder besser das ausgestopfte Fell desselben der Mutter bei’m Melken vorgehalten werde und sie den Geruch vom Felle habe. Ohne diese Vorkehrung würde sie freilich keinen Tropfen Milch lassen, vielmehr erkranken und wohl gar selbst hinsterbe. Teutsche, welche alle möglichen Mittel angewandt hatten, diese Kühe anders zu gewöhnen, haben es dennoch nie dazu gebracht und mußten immer von ihren Versuchen abstehen. Das Kalb, welches ansaugen muß, kommt hungrig an das Euter und zieht in wenigen Zügen eine ziemliche Portion Milch ab.
Das Melken selbst geht nicht ohne Beschwerde von statten; wie denn überhaupt bei den Tataren, wenn auch vieles kürzer abgemacht wird, als bei uns, doch das meiste mit mehr Mühe verbunden ist. Das Kalb muß, während die Kuh gemolken wird, in ihrer Nähe angebunden oder festgehalten oder mit beständigen Schlägen auf Kopf und Füße von der Kuh abgetrieben werden. Die Kühe sind gewöhnlich etwas wild und müssen, ehe sie gemolken werden können, an den Hörnern von Jemanden gehalten oder, ist Niemand dazu da, angebunden werden. In jedem Falle wird ihnen der Zau angelegt, d. h.: die hintern Füße werden ihnen zusammengebunden. Es giebt auch welche, die erst mit einer Schlinge an den Hörnern müssen gefangen und dann an einen Pfahl angezogen werden. Wer sehr große Heerden hat, läßt die Kühe nebst den Kälbern auf der Weide, damit diese bald recht fett und groß werden, da vielen Tataren mehr daran gelegen ist, als Milch und Butter über den Hausbedarf zu
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haben. In der Regel aber werden die Kühe Morgens und Abends gemolken.
Alles junge Vieh wird groß gezogen, um die Heerde zu mehren, oder auf Märkten durch Verkauf oder als Tauschmittel die Anschaffung alles dessen, was dem Nogayen Bedürfniß ist, möglich zu machen. Nur was Krankheits oder anderer Unfälle wegen geschlachtet werden muß, wird verzehrt. Kühe ohne Makel werden jedoch etwa als Opfer bei festlichen Gelegenheiten geschlachtet und gegessen.
Ist das Rindvieh des Morgens getränkt, so wird das große auf die eine, das kleine Vieh oder die Kälber auf die entgegengesetzte Seite der Steppe auf die Weide getrieben. Die Kälber halten sich noch nicht leicht in eine Heerde zusammen, sondern zerstreuen sich weit und breit und es trifft sich auch wohl, daß sie die große Viehheerde und ihre Mütter finden und die Milch wegnehmen. Gewöhnlich aber kommt die große Heerde der Kälber gegen Sonnenuntergang nach und nach, so weit sie sich auch auf der Steppe zerstreut hatten, in’s Dorf gehüpft. Jedes findet seinen Hof, dem es unverwandt zueilt und mit Geblöcke der Mutter ruft, welche gewohnt ist, es da zu finden. Häufig aber ist’s der Fall, daß Kälber sich verirren, den Weg nach dem Dorfe nicht mehr finden und sehr lange gesucht werden müssen.
Milchkühe und Kälber werden des Winters zu Hause gefüttert und wenn viel Schnee ist, auch die Ochsen. Nur die ganz großen Heerden der Koschen oder Nomaden bleiben auch dann auf der Steppe.
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Abrichten der wilden Ochsen.
Die jungen Ochsen, frei auf der Steppe aufgewachsen, sind gemeiniglich unbändig wild; und doch bedarf man ihrer viele zum Ziehen an Pflug und Wagen, da die Pferde mehr zum Reiten als Ziehen gebraucht werden. Heu und Getreide wird mit Ochsen eingeführt. Der Pflug erfordert wenigstens 8, gewöhnlicher 10 oder 12 Ochsen.
Um die wilden Ochsen an das Joch zu gewöhnen, wird ein Paar derselben von der Heerde in den Hof neben dem Hause getrieben, mit Schlingen an den Hörnern gefangen und ganz nahe an einen Pfahl angezogen, worauf ihnen das Joch an den Nacken eingelegt wird. So mit einander verbunden treibt man sie nun wieder zur großen Heerde auf die Steppe und läßt sie weiden. Alles Streben, sich des Joches zu entledigen, hilft nicht. Sie gewöhnen sich endlich daran und die zwei Ochsen selbst werden so anhänglich an einander, daß wenn sie einmal gezähmt und frei vom Joche mit der Heerde auf der Weide sind, sie sich beständig zu einander halten, so daß man sie dann immer zu zwei und zwei weiden und wo der eine hingeht oder hingetrieben wird, auch den andern gehen sieht.
Haben sich die zwei Ochsen in einigen Tagen an das Joch gewöhnt, so werden sie wieder in’s Dorf getrieben und man befestiget nun das Joch an die Deichsel des arabas oder Wagens. Auf diesen setzt sich ein Tatar, mit einem guten Stocke versehen, und es wird ventre à terre auf die Steppe gejagt. Den Ochsen wird alle Freiheit gelassen, zu rennen
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wohin sie nur wollen. Gewöhnlich laufen sie sehr lange herum, bis sie, ermüdet, sich nach und nach etwas lenken lassen, welches so geschieht, daß, wenn der Tatar rechts fahren will, auf den linken, wenn er links fahren will, auf den rechten Ochsen zugeschlagen wird. Diese Arbeit scheint halsbrechender zu sein, als sie es bei der Beschaffenheit der Steppe und der Wagen ist. Das Joch liegt am Nacken und der Ochse ist übrigens ganz frei. Das Anbinden des Joches an den Hörnern des Thieres, so wie den Gebrauch, auch Kühe in den Wagen zu spannen, halten die Nogayen für Sünde.
Die Schaafzucht.
Bei der Lebensart des Nogayen und der Beschaffenheit der Steppe ist die Schaafzucht immer von sehr bedeutenden Nutzen. Die Schaafe erfordern im Verhältniß gegen Rinder und Pferde nicht viel Weide und nehmen mit kurzem und schlechtem Futter vorlieb. Der Tatar wird des Winters eben so leicht zehn Schaafe als ein Stück Rindvieh nähren.
Die nogayischen Schaafe sind sämmtlich Fettschwänze mit einem Ramskopf oder stark gebogener Nase. Die Farbe ist meistens rothbraun oder schwarz, auch bunt gefleckt. Weisse giebt es wenige. Die Wolle ist grob, da man nicht zu veredeln sucht und das dicht-, stark- und grobhaarige Fell dem Nogayen für seine Pelzkleider lieber ist, als das dünne und feine. Das Pud (40 Pfund) ihrer Wolle gilt nur 3 oder 4 Rubel oder etwa 2 Gulden Rheinisch , da die benachbarten
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Teutschen hingegen ihre wenigst veredelte Wolle für 15 bis 20 Rubel verkaufen. Ein ganzes Schaaf kostet 4 bis 5 Rubel. Felle (Théré) werden nicht sehr viele ausgeführt, weil der Nogaye selbst sie benutzt. Die sogenannten krimmschen Lämmerfelle, von den Nogayen Elter genannt, werden von Russen und Teutschen sehr gesucht und gut bezahlt.
Der Nogaye benutzt das Fleisch, die Wolle, das Fell des Schaafes. Des Sommers werden viele Schaafe geschlachtet. Besonders wählt man dazu die Drehköpfe, die sich in den Heerden häufig finden. Der kurze Schwanz dieser Schaafe ist ein ungeheurer, walzen- oder polsterförmiger, nach unten zweitheiliger Fettklumpen, der 10 bis 30 und mehr Pfunde wiegt und das Thier, wenn es schnell gehen will, durch seine Schwere hin und her auf die Seite zieht. — Diese Schaafe werden Koi, auch Schontuk genannt, ein Lamm Kosa, eine Ziege Esgé, ein Bock Choschchar. Ziegen sind nicht sehr häufig. Ihre Felle geben aber dauerhaftere und schönere Pelzkleider als die der Schaafe. Die Ziegenböcke tragen große gewundene, auch oft vier Hörner. Die Schaafe vermehren sich sehr schnell und werfen mehrentheils zwei Junge zugleich. Von Krankheiten ist der Milzbrand sehr häufig. Die Blattern grassieren oft auch stark und das Okulieren wird nicht einmal bei Menschen, geschweige bei’m Vieh angewandt. Die Drehköpfe sollen von einer Art Würmer herrühren, welche in dem Gehirn des Thieres entstehen oder, wie Viele glauben, auf der Weide von den Pflanzen durch die Nase als Eierchen in’s Gehirn kommen und sich da entwickeln und ausbreiten. Das Schaaf wird dabei von Zeit zu Zeit von einem Schwindel ergriffen und dreht sich auf derselben Stelle sehr oft und schnell im Kreise herum.
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Eine andere Plage für die Schaafe ist die Steppnadel, eine Pflanze, welche in einigen Gegenden der Steppe sehr häufig wächst. Es ist dieselbe eine Art Binsengras, welches vorne sehr scharfe, feste Spitzen mit kleinen Widerhacken hat, welche den Schaafen in die Haut und durch dieselbe immer weiter in’s Fleisch dringen, je mehr das Thier sich bewegt.
Die Schaafe weiden meistens Sommers und Winters auf der Steppe und werden nur bei tiefem Schnee im Dorfe gefüttert. Diese Thiere werden hauptsächlich auch als Opfer gebraucht. Die Milch der Mütter wird wenig benutzt. Von Zeit zu Zeit wird ihnen von einigen Tataren auch etwas Salz gegeben. Die Schaafschur ist, wie bei den uralten Hirtenvölkern, ein Fest. Der Schoban oder Schäfer der kleinen vereinzelten Dorfheerden ist meistens ein Knabe; bei den großen Koschen (Nomadenheerden) ein Erwachsener. Sie tragen eine mit Metallstücken belegte Hirtentasche und einen langen Hirtenstab, der vorn einen Widerhacken hat, mit welchem sie ein Schaaf aus der Heerde an den Füßen fangen und festhalten können. Schäferhunde werden nur bei den ganz großen Heerden gehalten, um den häufigen Angriffen der Wölfe begegnen zu können.
Ein teutscher Freund der Nogayen hat seit einigen Jahren in mehrere Tataren-Dörfer Merinos-Schaafe zur Pflege und Weide gegeben, um die Nogayen den Vortheil der veredelten Schaafzucht kennen zu lehren und sie überhaupt an Ordnung und Aufsicht zu gewöhnen. Er überläßt ihnen für Weide und Pflege die Hälfte des Wollertrags und der jungen Schaafe. So wird man bald unter den Nogayen auch weiße Merinos in bedeutender Anzahl finden.
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Zeichnung 8: Nogayen-Tataren mit Pferd.
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Pferdezucht.
Diese ist noch immer Lieblings- und Hauptbeschäftigung des Nogayen und er zieht sie der Rindvieh- und Schaafzucht aus Neigung vor, ohne daß sie ihm einen größern Nutzen schaffte. Die Menge der Pferde nimmt aber doch von Jahr zu Jahr ab, und der Nogaye sieht wohl ein, daß ihm der Feldbau größern Vortheil bringt, da er sich nun einmal auf einen Fleck gebannt sieht und nicht mehr überall weit und breit herum das Land nach Willkühr benutzen kann, wie ehemals. Es giebt wohl noch große Ländereien; die der Krone gehören, auf welchen Tataren und Armenier gegen Pacht und Weidegeld noch große Pferdeheerden halten; aber im Ganzen mußte bei immer größerer Beschränktheit des Bodens, der an Einwanderer oder Käufer von der Krone abgelassen wird, die Pferde- und Viehzucht ab-, der Ackerbau zunehmen.
Die Pferde erfordern überdies eine im Verhältniß größere Weide als die wiederkäuenden Rinder und Schaafe, und da so wenig auf Verbesserung und Veredlung der Race gesehen wird, so findet man unter den nogayischen Pferden wenige, die von benachbarten Völkern stark bezahlt würden oder zur Kavallerie tauglich sind. Die Käufer müssen immer eine sehr große Auswahl haben. Besser steht es bei den großen Koschen der Armenier.
Die tatarischen Pferde sind von mittelmäßigem Wuchs und einer Höhe von etwa 4½ Fuß. Die Nase ist geradlinigt, der Hals steif und dick; die Füße sind sehr dünne und leicht,
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der Huf sehr hart. Um Kreuz und Brust her sind sie breit. Die Farben sind gemeiniglich aus den braunen Schattirungen; auch sieht man viele Grau- und Blauschimmel, weniger Gefleckte, Fuchsen, Falben und sehr selten einen Rappen. — Der Nogaye giebt jedem Pferde seinen Namen, und die Besitzer großer Pferdeheerden brennen ihnen über dem Schenkel ein Zeichen (tamga), welches im einem langen Strich, in einer Kreuz- oder Halbmondform, in einer Null, der Form eines Säbels, eines D oder E u. s. w. besteht.
Der Werth eines Pferdes ist von 20 bis 150 Rubel Banco. Ein guter Hengst gilt 400 bis 500 Rubel. Ein eben nicht schönes, aber doch recht gutes Reitpferd wird zu 30 bis 60 Rubel oder 15 bis 30 Gulden gekauft.
Das Pferd, At auch Djelka genannt, ist das Lieblingsthier des Nogayen, dem er sehr oft mehr Sorgfalt und Liebe erweist als seinem Weibe.
Man bedient sich im Ganzen des Pferdes mehr zum Reiten als Ziehen, wozu es etwas schwach ist, doch wird es auch oft in den Araba oder zweiräderigen Wagen gespannt. Das Fleisch der Pferde ist dem Nogayen die liebste Speise, die Milch der Stuten das angenehmste Getränk. Aus den Fellen schneidet er sich Riemen zu Zaum und Sattelzeug, die Felle der Füllen benutzt er zu Beinkleidern für sich und zu Pelzröcken für seine Kinder, den Schwanz und das Halshaar zu Stricken und zur Verfertigung von Sieben.
Das Tatarenpferd ist vortrefflich zum Reiten, denn es ist leicht und schnell, ausserordentlich ausdauernd und genügsam und — einmal zugeritten — fromm. Die Reitpferde weiden, wenn sie nicht gebraucht werden, mit der großen Heerde wilder Pferde auf der Steppe. Die nöthigen werden
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zu Hause behalten und mit Heu und Gerste gefüttert. Die großen Heerden bleiben auch des Winters auf der Steppe und suchen unter dem Schnee ihr Futter. Diese wilden Pferde, die noch nie sich gebunden sahen, nie gebändigt wurden, werden zum Theil, so wie sie sind, verkauft, zum Theil aber vorher von den Nogayen zugeritten. Die kleinen Füllen werden Tai, die Jährlinge Kulun genannt.
Ausser den großen Koschen oder Pferdeheerden giebt es doch auch Haufen von mehrern hundert Pferden, die wirklicher Besitz reicher Nogayen sind; ja der ärmste sucht sich wenigstens ein Reitpferd zu verschaffen; nicht nur, weil ihm das Reisen Lieblingssache ist, sondern weil es ihm bei der Weitläufigkeit der Steppen, den großen Entfernungen der Dörfer, Weideplätze und Märkte zum Bedürfniß wird. Man hat es mit wildem Vieh zu thun, das nicht zu Fuß gesucht und herbeigetrieben werden kann. Es muß sehr Vieles durchaus zu Pferde verrichtet werden. Ohne dieses nützliche Thier würde der Steppbewohner sehr übel daran sein und kaum das Leben durchbringen können.
Der Nogaye sitzt nicht schön noch schulgerecht zu Pferde, aber in seinem kurzen Steigbügel (üsönga) sehr ungezwungen und fest. Er ist ein vortrefflicher Reiter, von Kindheit an geübt und würde vielleicht den besten unserer Reiter aus dem Sattel bringen. Die Sättel sind wie die der donschen Kosaken beschaffen und werden theils selbst gemacht, theils aus der Krimm oder der armenischen Stadt Lachschuan am Don bezogen.
Krankes Vieh weiß der Nogaye sehr gut zu behandeln. Im Verschneiden hat er große Uebung. Auch ist er ein
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geschickter Geburtshelfer. Den Verschnittenen oder Walachen nennt man Baital.
Einen interessanten Anblick gewähren die großen Pferdeheerden auf der Steppe. Man sieht oft zwischen tausend und zweitausend Pferde beisammen, alle wild (doch mit Eigenthümern), in stolzer, freier Haltung, fett und stark, noch nie von einem Menschen gedemüthigt und gebändigt. Bei Ungewitter, bei Schneegestöber und Orkanen zerstreuen sich diese Heerden oft weit und breit und müssen tagelang aufgesucht werden. Der Tatar weiß jedoch, daß die Pferde immer gegen den Wind gehen, da das Rind hingegen sich von dem Winde forttreiben läßt und mit demselben geht, so daß er wenigstens die Gegend weiß, wo er das Vieh zu suchen hat.
Die Pferde sind selten von Hirten geweidet; gewöhnlich holt man sie nur alle 24 Stunden einmal zur Tränke in’s Dorf, wo dann auch die Stuten gemolken werden. Ein kleiner Knabe ist im Stande, die größte Heerde zu treiben, da sich die Pferde bei guter Witterung und wenn sie merken, daß es zur Tränke geht, zusammenhalten wie die Schaafe. Während der größten Hitze des Tages fressen sie nicht, sondern stehen im Kreise zusammen, stecken die Köpfe einwärts dicht aneinander, um sich Schatten und Kühlung zu verschaffen und schlagen mit den langen Schweifen um sich. Wird etwas Wind gespürt, so stellen sie sich zerstreut auf der Steppe gegen denselben und strecken den Kopf stark aufwärts und vorwärts in die Höhe, um so den Zug der Luft möglichst zu geniessen.
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Die Hengste.
Diese, von den Nogayen Äuger genannt, werden selten geritten, sondern mehr frei und wild zur Zucht bei der Heerde auf der Steppe gelassen. Gewöhnlich behalten die Hengste, jeder für sich, einen eigenen Trupp Stuten von der Heerde, welcher sich, wenn die Heerde nicht getrieben wird, sondern frei auf der Steppe ist, um den Hengst sammelt und von ihm wie bewacht wird. Er geht stolz im Kreise um den Trupp herum und es ist, als ob er seine Stuten zählte. Oft sucht ein Hengst dem andern eine Stute abzugewinnen, wobei es dann etwa zum Zweikampfe kommt. Der Stärkere erhält den Sieg! Sie schlagen sich recht eigentlich auf Leben und Tod, kommen oft aufgerichtet auf den Hinterfüßen, wie Bären, auf einander Ios und beissen sich; lassen sich wieder herab, wenden um und schlagen sich mit den Hinterfüßen so arg, daß man glaubt, alle Knochen müßten entzwei geben. Ein solcher Schlag tönt stärker als bei dem kräftigsten englischen Boxen. Nicht immer dürfen sich dann Tataren nähern, jedoch noch eher zu Fuß als zu Pferde; denn der Hengst kommt sogleich auf das Pferd Ios und kann dieses nicht leiden. Die Nogayen halten nicht sehr viele Hengste und lassen mit einem einzigen oft sehr viele Stuten belegen. In der Regel werden die Hengste zu keiner Zeit von den Stuten abgesondert und sie haben nicht immer nöthig, sich um den Besitz einer Stute zu streiten.
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Das Melken der Stuten.
Die Sommers und Winters auf der Steppe weidenden wilden Stuten (biè) lassen sich dennoch gerne melken, wenn sie nur, so wie die Kühe, ihr Junges vor sich haben. Ist die Pferdeheerde (Djelka, russisch Tabun) in’s Dorf zur Tränke gekommen , so werden die Füllen mit einer langen Ruthe oder Stange, von den Nogayen Chrok genannt, an welcher eine Schlinge befestigt ist, aus der Heerde gefangen; denn diese jungen Thiere leben mit der Mutter auf der Steppe und nähren sich bald von der Milch, bald von zartem Grase. Es ist nun darum zu thun, daß die Milch sich bei der Mutter sammle und der Nogaye auch seinen Theil dieses guten Getränkes bekomme. Die Füllen werden daher, nachdem sie ihre Sprünge bei'm Fangen gemacht, in kleinen Zwischenräumen nach der Reihe mit Halftern und Stricken an einem auf der Erde — auf einem freien Platze vor dem Dorfe — befestigten Strick angebunden und so mehrere Stunden oder einen halben Tag stehen gelassen. Da der Boden nächst um die Dörfer herum nackt und kahl ist, so haben zwar die Pferde während der Zeit nichts zu fressen; es ist aber die Zeit der größten Tageshitze, während welcher sie auch auf der Steppe ruhen würden, und so stellen sie sich dann auch hier neben den Füllen im Kreise zusammen, wie oben gesagt worden.
Hat sich die Milch der Mütter gesammelt, so wird eine Stute nach der andern auf dieselbe Weise wie die Füllen aus der Heerde gefangen und zu dem Jungen hingeführt, vor welchem sie sich, wenn dasselbe zuerst angesaugt hat, gerne
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melken läßt. Fühlt die Stute die Chrok am Halse, so steht sie gewöhnlich stille, weiß, was man mit ihr vorhat, daß es nicht um's Reiten zu thun ist und geht gewöhnlich, doch nicht immer, dahin, wo man sie haben will. — Männer und Weiber kommen aus dem Dorfe zu melken, bei welchem Geschäft der rechte Arm um den einen Schenkel des Pferdes gebogen wird. Nach dem Melken werden die Füllen losgemacht und die Heerden wieder auf die Steppe getrieben. — Zu einer ordentlichen Quantität Milch bedarf es schon mehrerer Stuten.
Zureiten der wilden Pferde.
Es kann bei dem Nogayen nur vom Zureiten, nicht von einer eigentlichen Dressur der Pferde die Rede sein. Der Tatar verlangt vom Pferde, keine besondere Stellung und Haltung des Kopfes und der Füße, noch sonst irgend ein Kunststück; genug, wenn es sich reiten und Ienken läßt.
Sehr frühe, oft schon im achten Monat, werden Füllen von Knaben geritten und an Halftern von einem andern Tataren geführt, also, noch ehe sie größer, stärker und wilder werden, an Menschen gewöhnt. Was aber die Pferde der großen Heerden anbelangt, so werden diese erst im dritten oder vierten Jahre zugeritten. Will der Nogaye ein solches Pferd zum Reiten abrichten, so wird es mit der langen Schlinge (arkan) aus der Heerde gefangen. Wird das Pferd verfehlt und läuft es von der Heerde weg auf die freie Steppe,
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so bedarf es schon eines guten Reitpferdes, um es einzuholen und nochmals mit der Schlinge im gestreckten Gallop zu fangen. Die Schlinge besteht in einem langen Strick, an dessen einem Ende ein eiserner Ring angebunden ist, durch den der Strick als eine Schleife gezogen wird. Der Tatar wirft sie zu Pferde im größten Gallop sehr weit, gewöhnlich ohne zu fehlen. Ist das Pferd geschlungen, so kommen mehrere Tataren und man sucht es durch Verwicklung der Schlinge um die Füße umzuwerfen. Auf dem Boden liegend und gehalten, wird ihm der Zaum (djuon) und der Dreifuß oder Spannriemen (g’sen) angelegt. Dieser letztere besteht in einem Riemen, der, an drei Füßen des Pferdes angebunden, dasselbe zwar nicht an ungehindertem Stehen und sehr kurzen Schritten, aber an schnellem Laufen gänzlich hindert. Hierauf läßt man das Pferd sich aufrichten, hält es an den Ohren und macht ihm das nach Kosakenart ausgepolsterte lederne Sattelkissen (kopschek) mit dem Leibgurt auf dem Rücken fest. Der durch den Gurt getrennte hintere Theil des Sattelkissens wird alsdann auf den vordern Theil herübergebogen; ein Tatar setzt sich nun auf den bloßen Rücken des Pferdes hinter dieses Vorwerk, welches ihn bei den Sprüngen und dem Rennen des Pferdes vor dem Ueberstürzen schützt. Ohne diese Vorsicht würde der Reiter ohne Sattel und Steigbügel bald über den Kopf des Pferdes heruntergeworfen sein. Ist der Tatar mit der Kantschu oder Peitsche auf dem Pferde gefaßt, so wird der Spannriem weggenommen und das Pferd an den Ohren ebenfalls losgelassen. Ein Tatar auf einem guten Reitpferde fängt in dem Augenblick an auf das wilde Pferd Ioszuschlagen, damit es keine weitern Sprünge mache, sondern sogleich aussetze und in Gallop komme. Der Reiter
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läßt dem wilden Pferde gänzlich den Zügel und hat vorerst nichts zu thun, als sich auf demselben zu halten. Der Nachreitende verhindert durch Hiebe das Stillestehen oder die Nebensprünge des wilden Pferdes und treibt es im schnellsten Lauf immer vorwärts, gleichviel, wo es auch herum rennen mag. Ist das Pferd endlich etwas ermattet und ergiebt es sich, so sucht der Reiter es nun auch zu lenken und wieder mit ihm in weiten Kreisen in’s Dorf zurück zu kommen. Es rennt aber gewöhnlich ungeheure Strecken durch, bis es, ganz von Schweiß triefend und ermattet, an Ort und Stelle ankommt, wo man ihm ohne Mühe den Spannriemen anlegt und den Zaum stark an den Gurt anzieht und anbindet, so daß es zwar kleine Schritte machen, aber den Kopf nicht zur Erde beugen und also daselbst nichts abfressen kann; höchstens werden ihm ein paar Hände voll Heu gegeben. Dann läßt man es so die Nacht durch stehen, tränkt es und wiederholt am Morgen die gestrige Geschichte, wobei es aber schon mit vollständigem Sattelzeug belegt wird. In ein paar Tagen ist das Pferd durch Hunger und Anstrengung gebändigt und gewöhnlich so fromm wie ein Lamm geworden. So wild die Pferde auf der Steppe sind, so findet man hingegen bei den zugerittenen weniger Stettigkeit und üble Gewohnheiten als bei den unsrigen, da das Pferd nicht, wie bei uns, gereizt und verdorben wird. Besonders selten ist bei den zugerittenen Tatarenpferden das Aufbäumen, was wahrscheinlich daher kommt, daß diesen gleich anfangs, wenn sie geritten werden, der Zügel ganz frei gelassen ist und erst nach und nach fester angezogen wird. Die Weite der Steppen, die ungeheuern Ebenen und die Beschaffenheit des Bodens überhaupt lassen diese Art des Zureitens zu. Uebrigens mag dies Verfahren nicht
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nur nicht überall anwendbar, sondern auch nicht einmal rathsam und gut sein und zeugt mehr von Rohheit als von Ueberlegung bei Behandlung des Viehes.
Junge Pferde werden auch aus der Heerde gefangen, um zum Ausdreschen des Getreides gebraucht zu werden, wodurch sie schon etwas gebändigt, an Arbeit und Menschen gewöhnt werden.
Die Behandlung der wilden Pferde erfordert viele Mühe, große Gewandtheit und ausserordentliche Körperstärke, ist auch mit viel Gefahr verbunden und viele Tataren tragen für ihr ganzes Leben kenntliche Spuren des gefährlichen Geschäftes des Pferdezähmens an sich. Die Tatarenpferde haben einen sehr leichten Trab. Beliebt sind diejenigen, welche den Pas (djorga) gehen.
Wie dauerhaft diese Thiere sein müssen, erhellt daraus, daß man mit ihnen acht bis neun teutsche Meilen sehr oft ohne zu füttern zurücklegt. In der Regel geschieht dies jedoch nach dreißig bis vierzig Wersten oder vier bis sechs Meilen. Die großen Heerden, wenn sie weit vom Wasser entfernt auf der Steppe weiden, werden oft nur je den zweiten Tag einmal getränkt. Auf der Reise werden sie auch, selbst von Schweiß triefend, zur Tränke gelassen, dann aber schnell weiter getrieben, damit es nicht schade. Die Nogayen machen oft sehr große Reisen, während welcher das Pferd weiter nichts als das Steppengras hat. Andere geben ihnen täglich in dem Futtersack (dorba) etwas Gerste oder Hafer. Man fährt oder reitet auch wohl den ganzen Tag über, und läßt die Pferde nur des Nachts weiden.
Die Pferde in der Gegend der Nogayen werden nicht beschlagen; macht man aber eine große Reise nach Gegenden,
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wo steinichter Boden angetroffen wird, so werden sie mit einem flachen Hufeisen, nach Art der türkischen, belegt. Die noch wilden Pferde werden nicht gesäubert, da sie sich nie in Mist legen müssen, sondern immer auf reinen Plätzen im Grase lagern und in diesem und unter Regen sich selbst waschen, reiben und reinigen. Reitpferde werden von Einigen gestriegelt und überhaupt sehr gut gehalten, doch von den Meisten zu stark gebraucht und werden bald auf den Vorderfüßen schwach. Sie leiden auch sehr viel an geschwollenen und aufgebrochenen Rücken, welches der Sattel verursacht. Die Geschwulst wird mit einem Messer geöffnet und in die Wunde mit den Fingern viel Salz eingestopft, was meistens hilft. Ist der Rücken schon offen und eiternd, so werden oft sehr große Stücke Fleisch weggeschnitten, die Wunde mit Salzwasser gerieben und mit Theer oder Wagenschmiere, welche man von Teutschen oder Russen zu erhalten sucht, bestrichen.
Ein ungebändigtes Pferd nennen die Nogayen asau (wild) ein gezähmtes, frommes dschuoas (zahm).
Die Reitpferde werden des Winters bei Hause gefüttert: des Sommers läßt man sie vor dem Dorfe weiden oder treibt sie zur Heerde. Wenn der Tatar ausreitet, so nimmt er die Spannriemen, gsen oder zau, mit sich. Mit ersterem kann man drei, mit letzterem zwei Füße spannen. Ferner die eggbé, einen Doppelsack, der quer über das Pferd gehängt wird und allerlei Bedürfnisse enthält; den Futtersack und den Ueberrock oder das scheggben, welches er an der linken Seite des Pferdes hinten am Sattel anbindet. An den Zaum des Pferdes befestigt er einen langen Riemen, Schelgber genannt, um das Pferd anbinden zu können und steckt das
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Ende desselben beim Aufsitzen in die bilbo (Leibbinde) oder auch unter den Sattel. Das Gebiß ist einfach; die Trense ist nicht gebräuchlich. Neben dem Zaum bat der Tatar auch die Halfter (nochta). Sporne werden nicht getragen. Zum Antreiben dient die dicke kamscha oder Karwatsche, für die Ochsen hingegen die tschwurka oder Peitsche. Der Sattel (ejer) ist sehr schwer und hoch, von Holz, mit starker Unterdecke (scherge) und gepolstertem Sattelkissen (kobschegg). Auf den Seiten sind zwei große Stücke Leder, welche oft bunt bemalt sind, Satteltaschen, von den Nogayen thebengé genannt. Der Sattel hat drei oder doch wenigstens zwei Gurte (ail), von welchen einer den Hinterleib zusammenschnürt. Die Steigbügel sind von Eisen, aber nicht so breit wie die türkischen und sehr kurz angehängt. Der Preis eines Sattels ist von 15 bis 40 Rubel oder von 7 bis 20 Gulden.
Die Art, wie die Pferde in den Araba oder Wagen eingespannt werden, ist sehr einfach und ist so ziemlich dieselbe, wie bei unsern zweirädrigen Wagen.
Verkauf ungebändigter Pferde. Treiben derselben auf der Steppe und durch Flüsse.
Hat sich ein Käufer für Pferde eingestellt, so wird die Heerde überhaupt besehen und dann kommt man über den Preis des Stücks in einander gerechnet, so wie über die Anzahl, die man auszuwählen und zu kaufen gedenkt, überein.
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Je nachdem der Käufer eine Auswahl hat und der Besitzer auf eine größere oder kleinere Anzahl zu verkaufen rechnen kann, wird ein gutes, für leichte Kavallerie taugliches Pferd zu 50 bis 150 Rubel Banco verhandelt. Die ausgewählten werden dann von einem Tataren zu Pferde eines nach dem andern mit der Schlinge gefangen‚ vorgeführt und an Schenkel und Kinnlade mit dem Zeichen des Käufers gebrannt, alsdann losgelassen und in einen eignen Trupp zusammengetrieben, bis das Geschäft vollendet ist und der Käufer mit seinen Pferden abzieht.
Das Fangen und Brandmarken ist eine halsbrechende Arbeit. Der Tatar reitet in die Heerde hinein und wirft dem gesuchten Pferde die Schlinge um den Hals, oder diese kommt ihm auch wohl zwischen den einen Vorderfuß um Brust und Hals herum. Die übrigen Pferde, welche erschrocken davon rannten, halten wieder still, sobald eines gefangen ist und sie sich nicht mehr verfolgt sehen. Das geschlungene Pferd thut unbändig wild und wenn der Reiter, der die Schlinge hält, nicht fest im Sattel sässe, so würde er sogleich herabgezogen werden. Er wirft die Schlinge um Schenkel und Leib und setzt sich auch darauf, da er mit den Händen sie zu halten nicht im Stande ist. Das Reitpferd legt sich dabei entweder auf die hintern Füße, um sich entgegenzustemmen, oder dann wieder ganz schief auf die Seite und stemmt sich mit den Füßen gegen den Boden, um nicht fortgezogen zu werden. So gut sind diese Pferde dafür abgerichtet! Das wilde Pferd, durch starkes Zusammenziehen der Schlinge im Athemholen verkürzt, muß sich etwas ergeben, der Reiter aber, um es nicht ganz zu erwürgen, ein wenig nachlassen. Er reitet dem wilden Pferde nach und zieht von
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Zeit zu Zeit wieder an, bis es so ganz aus der Heerde herauskommt. Nun nahen sich mit Vorsicht einige Tataren zu Fuße und halten dem Pferde Nase und Ohren; ein anderer zu Pferde hält das wilde am Schwanz, worauf man mit dem glühenden Eisen auf vorbenannte Weise ein Zeichen brennt. Das Pferd schäumt und schnacht wie ein Schwein. Geht die Sache nicht geschickt und schnell vor sich, so macht sich das Pferd los, entledigt sich der haltenden Tataren und nur der, der zu Pferde die Schlinge hält, bleibt noch Meister. Bisweilen geschieht es, daß das Pferd ausathmet, ehe das Zeichen gebrannt und ehe ihm durch Nachlassung der Schlinge am Halse Luft gemacht werden kann. Auch bei geschickten Tataren kommen immer von einigen hundert Pferden, die so gefangen werden, etliche auf die Weise um, dass die Pferde sich selbst erdrosseln und man weiß sie nicht anders zu bändigen, als daß ihnen der Athem ganz genommen wird und sie gleichsam zwischen Leben und Tod schwebend gebrannt werden. Den rechten Moment nun zu treffen, ist gewiß eine Kunst, zum Theil auch Zufall. Oft hilft auch das Nachlassen der Schlinge dem Reiter nicht, wenn diese sich nämlich so zusammengezogen hat, daß sie nur durch Andere kann gelüftet werden, was, wenn es auch sehr vorsichtig geschieht, doch oft gefährlich ist. Die erwürgten Pferde kommen, je nach Verabredung, auf Rechnung des Verkäufers oder Käufers. Gewöhnlich bleiben sie dem letztern. Dieser verzieht deßhalb keine Miene und macht seinen Knechten keine Vorwürfe darüber.
Es ist nicht uninteressant, bei diesem Geschäft sowohl das Benehmen der Tataren als der Pferde zu beobachten. Besonders ist die Geschicklichkeit zu bewundern, mit welcher
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die Tataren reiten und die Schlinge werfen. Entgeht ihnen diese, oder müssen sie um des Pferdes willen sie ganz aus den Händen lassen, so rennen sie dem Pferde nach, und werfen sich mittelst einer Stange, die sie in Händen haben, den vom wilden Pferde nachgeschleppten Strick vom Boden in die Höhe und fangen ihn dann auf. Ist das Pferd weit von der Heerde weggerannt, so setzen sich mehrere Tataren auf gute Reitpferde und holen es gewöhnlich ein, indem sie von den Seiten her auf dasselbe losreiten. und ihm keinen andern Ausweg als die Rückkehr Iassen. Doch ereignet sich auch etwa der Fall, daß ein Pferd, aller Anstrengung ungeachtet, besonders wenn die Reitpferde einmal ermüdet sind, nicht mehr eingeholt werden kann und sich auf der Steppe verliert oder in fremde entfernte Tabunen (Pferdeheerden) kommt.
Werden Pferdeheerden zu Markte getrieben oder Remontepferde in’s Ausland geführt, so sind die Treiber oder Hirten immer gemiethete Tataren, welche nur selten über die Gränze, gewöhnlich nur bis zu derselben oder auch nur bis nach Berditschef gehen. Auf diesen Transporten werden die Pferde nicht gebunden oder aneinander gekuppelt, sondern, da sie noch zu wild sind, ganz frei getrieben, kommen auch in keinen Stall und werden nicht beschlagen, so lange sie in Rußland sind, diejenigen ausgenommen, welche zur russischen Remonte gehören. Es werden ziemlich starke Tagreisen von 60 bis 70 Wersten oder von 8 bis 10 teutschen Meilen gemacht.
Merkwürdig ist die Art, wie solche Pferdeheerden durch den Dnjeper, Don und andere Flüsse getrieben werden. Man sucht nämlich eine Stelle aus, wo das Ufer etwas steil und das Wasser tief ist, und treibt die Heerde lärmend hinein.
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Die vorderen, in vollen Lau ,und von den nachfolgenden gedrängt, sind genöthigt, sich ins Wasser zu stürzen. Hier können sie auch nicht stille bleiben, sondern müssen sogleich zu schwimmen anfangen. Einige Tataren suchen indeß mit zahmen Pferden hinüber zu schwimmen oder setzen auf Kähnen über, damit die schwimmenden Pferde am jenseitigen Ufer auch Pferde sehen und gelockt werden können. Durch den Lauf des Flusses werden die Pferde abwärts getrieben und sie würden sich ganz vom Strome hinreissen lassen, wenn nicht Tataren auf einem Kahne oder am Ufer durch Schreien und Russen und durch Schlagen auf das Wasser die Thiere überschwimmen machten. Junge Füllen klemmen sich dabei oft mit den Vorderfüßen auf dem Rücken der Stuten fest und Iassen sich so hinüberschleppen. Kommt ein Pferd in Noth, so sucht man es mit der Schlinge zu fangen und an’s Ufer zu ziehen. Die meisten schwimmen aber vortrefflich und um so leichter, da sie fett und nicht beschlagen sind. Selbst gesattelte Pferde schwimmen über, mit Proviant für die Hirten beladen, welche sich noch zudem oft an den Schwanz des Pferdes hängen und sich hinüberziehen lassen.
Ganz wilde Pferde.
Ben bisher von wilden Pferden die Rede war, so sind, wie man sehen konnte, darunter keine herrenlos in der Steppe herumziehende Pferde zu verstehen, sondern nur solche, die von ihren Eigenthümern frei auf der Steppe erhalten und
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noch nicht zugeritten sind. Ganz wilde Pferde, wie man sie zwischen dem Don und der Wolga, besonders aber in der Tatarei in Asien unter dem Namen Tarpanen findet, zeigen sich in dem Gebiete der Nogayen nicht. Wohl aber giebt es sehr viele Pferde, welche von ihrer Heerde entlaufen sind, sich verirrt haben und von dem Eigenthümer nicht mehr gefunden werden, die also frei auf der Steppe herumlaufen, bis sie einmal wieder zu irgend einer Heerde stoßen oder von Jemand eingefangen werden. Man glaubt auch, daß jene Tarpanen nur von solchen entlaufenen herrenlosen ihren Ursprung erhalten hätten.
Ein Freund von mir, der sich viele Pferde auf der Steppe hält, kam in den Besitz eines solchen sogenannten wilden Pferdes, welches sich nie an seine Pferdeheerde halten und anschliessen wollte, auch von den andern Pferden nicht wohl geduldet ward. Aller angewandten Mühe ungeachtet, konnte er es auch durch die besten Pferdehirten, deren er Russen, Tscherkessen und Tataren hält, nicht dazu bringen, es zum Reiten abzurichten. Es war schneller als der beste Renner seiner Heerde und konnte nur von mehrern Pferden oder Reitern in die Enge getrieben und gefangen werden. Die Farbe dieses Pferdes war isabell, das Haar lang und struppig, die ganze Gestalt unansehnlich, der Hals kurz, der Kopf groß und schlecht geformt, die Ohren ziemlich lang und hinterwärts strebend, die Füße dick, so wie man überhaupt dem Thiere keine Schnelligkeit nicht ansehen konnte. In den Augen zeigte es Menschenscheu und Wildheit.
Diese Pferde sind verschieden von derjenigen Pferd- oder Eselsart, welche von den Kalmüken Kulan oder Chulun
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genannt wird, und eben so auch verdienen von den mongolischen Dschiggetai’s.
Ackerbau. Ackergeräthschaften.
Das Sprüchwort des Nogayen ist: „Gott hat dem Russen einen Pflug gegeben‚ dem Tataren ein Rad!“ Dem Nomaden ist der Ackerbau verächtlich, weil er den Menschen an sein Land bindet und er mehr Arbeit und Schweiß kostet als das Hirtenleben. Der angesiedelte Nogaye lernt jedoch den Feldbau, da er mehr Gewinn als die Viehzucht giebt, immer mehr schätzen. Als Nomade tauscht er Vieh gegen Getreide aus; jetzt, auf eine gewisse Strecke Landes beschränkt, muß er selbst pflanzen und sich auf seinem Stück und von seinem Stück Land zu nähren suchen.
Jedem Wirthe ist selbst von der Behörde aus ein gewisses Quantum Getreide vorgeschrieben, das er aussähen muß, wenn er einen Paß ausser das Gebiet haben will, um mit seinem Vieh auch die Märkte besuchen zu können. — Früher wurde fast allein nur Hirse (thara), die Lieblingsfrucht und Nahrung der Nogayen, gepflanzt , dann auch Waizen (bidai); jetzt schon viel und immer mehr Gerste (arpa) und Roggen (ars).
Jeder Nogaye kann so viel pflanzen, als er will, als er Zeit, Vermögen und Lust dazu hat. Wem es an Geräth und an Ochsen zum Ackern fehlt, dem giebt es der Reichere, der ihn dagegen dann wieder zu Arbeit für sich in Anspruch nimmt. Viele dienen aber auch nur als Knechte (rogat) und werden jährlich mit 60 bis 80 Rubel oder mit 3 bis
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4 Louisd’or bezahlt und erhalten dabei noch Nahrung, Leinwand zu Hemden und Beinkleidern und Pelzröcke. Man hilft sich gegenseitig, da die Meisten selbst pflanzen, eigne Wirthschaft führen und eigentliche Knechte selten und theuer sind. Die angepflanzten Stücke Boden eines Dorfes gränzen an einander; nach der Aernte wird das Vieh darauf geweidet, da genug Gräser und Kräuter sich darauf finden.
Das Ackergeräthschaft ist der Plug (savan), ein großer vierrädriger Wagen (modschar), ein zweirädriger (araba), die Gabel (senegg), die Harke (ternausch), die Wanne (dabula), feine und grobe Siebe (elek und scheltek), Worfschaufel (djapa), Sichel (orak), Sense (schalga), Heuzieher (ergak), ein Gefäß, um Wasser auf die Steppe mitnehmen zu können (schantuk), Säcke zur Auffassung und Fortschaffung von Getreide (schwal und kaptschak).
Diese Geräthschaften sind alle sehr schwer und plump gearbeitet.
An den Wagen ist kein Loth Eisen, weder an der Schrok, der Brust oder dem Gestell, noch an dem Rad (tegerschegg).
Die Joche der Ochsen sind ausnehmend schwer.
Eisenwaaren werden von Russen gekauft, als: Pflugscharen, Sensen, Sicheln. Was von Holz ist, wird größtentheils von den Nogayen selbst verfertigt. Die Wagenräder kommen aus der Krimm. — Nicht ein jeder Wirth ist mit vollständiger Geräthschaft versehen, sondern mancher muß sich bisweilen durch Entlehnen helfen.
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Säen, Pflügen, Aernten, Dreschen, Aufbehalten des Getreides.
Mit der Pflugzeit, die gewöhnlich in den März fällt, hebt sich das alte Jahr der Nogayen an. Seit mehrern Jahren wird, da Land zum Feldbau im Ueberfluß vorhanden ist, von den reichern Tataren, welche Ochsen genug haben und sich Arbeiter halten können, beträchtlich viel Land angepflanzt. Da der Pflug sehr plump und schwer ist und da sehr tief geackert wird, so werden 10 oder 12 Ochsen angespannt. Der Säemann geht vor dem Pfluge her und streut den Saamen (schasch) auf den Boden aus; der Pflug hinter ihm ackert den Saamen unter und an dem Pflug ist die Egge angebunden, welche in einem Holzklotze besteht, der sich auf dem Boden an der einen Seite des Pflugs nachschleppt und die Erdschollen zerdrückt. Die Ochsen haben ihren Führer; der Plug wird, nach unserer Weise, von einem Gehülfen gehalten und regiert.
Die Arbeiter bivouaquiren zur Pflug- und Aerntezeit auf dem Felde, schlagen Zelten auf, kochen selbst und werden vom Dorf aus von Zeit zu Zeit mit dem Nöthigen, mit Wasser, Buttermilch, Hirse und Fleisch versehen. Die Ochsen läßt man auf der Steppe weiden. Das Dorf ist oft zu weit entfernt, als daß man den Weg hin und zurück jeden Tag machen könnte. Auch sucht man gerne Morgens und Abends die Kühle und schläft zur Zeit der größten Sonnenhitze. Oft wird schon im Monat Februar gepflügt. Die Aernte ist in den Monaten Juni und Juli. In der Zwischenzeit hat der Nogaye nicht auf dem Acker zu arbeiten, beschäftigt sich aber
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mit der Heuärnte. Den Acker von Unkraut zu reinigen oder ihn zu düngen, daran denkt er nicht. Es wird auch, aber noch nicht sehr häufig, im Herbste gepflügt und Winterfrucht gesäet.
Der Feldbau ist ganz des Mannes Geschäft. Sehr arme Tataren haben jedoch seit Kurzem angefangen, auch etwa ihre Weiber auf das Feld zu nehmen.
Geschnitten wird mit der Sichel, da die benachbarten Teutschen hingegen mehr die Sense gebrauchen. An den Enden des Ackers wird, nach der Vorschrift, die Gott selbst dem Volk Israel gegeben (3. Mose 19, 9), ein Fleck Getreide stehen gelassen, welches die Tataren den Vögeln bestimmen. Von den, bei der Aernte abgefallenen Körnern und zurückgebliebenen Aehren kommt das Jahr darauf ohne die geringste weitere Arbeit noch eine einträgliche, die Mühe einer zweiten Aernte lohnende Menge Getreides heraus. Die gewöhnlichen Getreideärnten geben fünf-, sechs- bis siebenfältige, die gesegneten acht- bis zehenfältige Frucht und darüber. Hirse, die fast immer gut gedeiht, giebt zuweilen das Zwanzig-, Dreißig-, bis Fünfzigfache der Aussaat.
Die Garben (kulte) werden in großen Haufen, dschieren genannt, aufgethürmt und dann eingeführt und bis zum Dreschen in hohen, pyramidenförmigen Haufen im Freien neben dem Hause aufgestellt. Gewöhnlicher aber wird sogleich gedroschen.
Zu dieser Verrichtung wird ein kreisförmiger Platz vor dem Hause von Gras und Staub gereinigt und mit etwas Wasser besprengt und in dessen Mitte ein Pfahl eingeschlagen. Die Garben werden dicht aneinander auf diesem runden Platz ausgebreitet; drei bis sechs Pferde, aneinander gekuppelt, werden an einem Strick, der an den Pfahl gebunden ist, im
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Kreise herumgetrieben. Der Strick dreht sich um den Pfahl herum, und so rücken die Pferde von der Peripherie der Kreisesfläche immer dem Centrum näher. An dem Pfahle bleiben sie stehen, werden auf die entgegengesetzte Seite umgewandt und wickeln dann, indem sie auf's Neue herumgetrieben werden, den Strick wieder ab. An dem Pfahle steht ein Tatar mit einer langen Peitsche und treibt die Pferde an. In kurzer Zeit wird auf diese Weise sehr viel Getreide ausgedroschen; das Stroh aber wird ganz klein getreten, was dem Tataren gleichgültig sein kann, da er es weder zu Strohdächern, noch zur Feuerung oder sonst etwas anderem als zur Winterfütterung für das Vieh gebraucht. Nach einer Stelle im Propheten Jesajah (28, 28.) scheint diese Art zu dreschen schon in früher Zeit bei den Hebräern gebräuchlich gewesen zu sein.
Ist das Getreide ausgetreten, so wird das Stroh (toban ) abgenommen und der Waizen an der Windseite (djelbasch) geworfelt, gewannet und so gut gereinigt, daß er deßwegen vorzugsweise vor dem russischen und teutschen aufgekauft wird. Der nogayische Waizen ist überhaupt schön, groß und von hellem Korn wie der arnautische (in der Türkei). Der Teutsche selbst giebt zu, daß das tiefe Pflügen der Tataren und überhaupt seine Art, das Feld zu bauen und das Getreide zu reinigen, nicht zu tadeln sei.
Ihre Weise, das Getreide aufzubewahren, ist ebenfalls nicht zu verwerfen. Es werden nämlich in der Nähe des Hauses Gruben (ora) gegraben, welche rund, unten etwa 3 bis 4 Fuß weit, oben aber nur so weit sind, daß ein Mann leicht durchkommen kann. In diese wird das Getreide oder die Hirse geschüttet, mit Heu und dann mit ein paar
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Brettchen zugedeckt; auf dieses wird die Erde geworfen, welche gar bald mit Gras bewachsen wird, so daß nur der Eigenthümer die Stellen kennt, wo sein Getreide begraben liegt. Der Fremde fährt und geht, ohne daß er etwas davon merkt, über diese Getreidemagazine weg. Die Frucht bleibt trocken und gut. Es erzeugen sich keine Würmer in derselben, da die Erde sehr hart und ohne Feuchtigkeit ist. Die Gruben müssen aber eine beträchtliche Tiefe haben.
Graswuchs. Heuärnte.
In den Niederungen. oder niedern Steppen, an den Seen und Bächen oder in den sogenannten Ritschgen, wie von den Russen Vertiefungen des Bodens genannt werden, trifft man üppigen Grasschlag (otlekjer) an, auf welchem das Vieh nicht geweidet wird. Dieses fette, hohe Gras wird zur Winterfütterung als Heu eingeärntet. Vor der Aernte gehen diejenigen Dorfbewohner , welche Heu einbringen wollen und können, mit den Aeltesten des Dorfes auf die Steppe und man theilt das Land so ab, daß jeder sein Stück zu mähen erhält. Viele aber können aus Mangel eignen Zugviehes wenig einführen und überlassen ihr Stück deßwegen und auch, weil sie wenig Heu bedürfen, gegen Bezahlung denjenigen, die mehr Vieh haben. Die Einfuhr des Heues geschieht auf den großen Modschars. Neben den Häusern wird es im Freien in große Haufen gethürmt und des Winters hauptsächlich den Reitpferden, Milchkühen und jungem Vieh verfüttert.
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Auf dem Brachboden wächst die Menge verschiedenartiger Gräser, Kräuter und Gesträuche, welche oft sehr hoch werden und abgemäht und eingeführt zum Einheizen der Schlafzimmer und im Nothfall auch zur Nahrung für das Vieh dienen. Sie werden ebenfalls in großen Haufen neben den Häusern aufgeschichtet, oder man errichtet eine Art Mauer oder Schanze aus diesen Gesträuch, wodurch eine Art von Hof für das Vieh entsteht. Die Russen nennen dies Gesträuch Burian, die Tataren kuräy, das Heu wird von diesen äulün oder bschen genannt.
Gartenbau. Baumzucht.
Einige wenige Tataren haben angefangen, etwas Wassermelonen und einige Kirschbäume zu pflanzen. Es fehlt im Ganzen dem Nogayen an Neigung dazu, besonders zur Baumzucht, die ohnedem nicht sehr gedeihlich ist. Der Tatar will bald Früchte sehen und liebt nicht, für die ungewisse Zukunft oder für seine Nachkommen zu sorgen. Wozu soll er Bäume pflanzen, da er den Gedanken, noch einst und vielleicht bald aus dieser Gegend wegziehen zu können, nicht ganz aufgegeben hat? Ist auch einer, der den Anfang machen will, so findet er noch wohl gar Widerstand, da die Mehrern der Sache abgeneigt sind und auf den Fall des Gelingens derselben sich fürchten, vielleicht am Ende auch dazu gezwungen zu werden. Man Iäuft Gefahr, das Gepflanzte ausgerissen oder den kleinen Stamm eines jungen Baumes als Pfeifenrohr von Andern benutzt zu sehen. Von den krimmschen
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Bergtataren haben viele Garten und Bäume; den Steppentataren hingegen ist solche Beschäftigung nicht nur ungewohnt, sondern es steht ihnen noch manche Schwierigkeit im Wege, besonders von Seite des wilden Viehes, welches, wenn es von der Weide kommt, überall im Dorfe jedes Kraut und Gräschen abfrißt, sehr oft selbst die tiefsten und breitesten Graben, die gezogen wurden, überspringt, um die Heu- und Getreidehaufen an den Häusern zu erreichen. Zäune um Garten und Bäume müßten sehr stark gemacht werden und würden auch dann der Stoßkraft eines Ochsen nicht lange widerstehen. Zudem würde im diesen Steppengegenden das Holz dafür zu theuer erworben werden müssen, weßhalb es lieber zum Bau der Häuser, zu Ackergeräth und Wagen benutzt wird. Ein großer Vortheil für die Nogayen wäre es allerdings, wenn sie Taback, Melonen, Zwiebeln, Knoblauch, türkischen Pfeffer u. dgl. pflanzen könnten, da der Ankauf dieser Dinge, die der Nogaye, besonders das erste, mehr oder weniger bedarf oder haben will, ihm eine bedeutende Ausgabe verursachen. Kartoffelbau könnte besonders vortheilhaft sein; doch wird bis jetzt diese Frucht, jerahna, d. h. Erdäpfel, genannt, nicht von den Nogayen gekauft, wiewohl sie solche auf Besuchen bei Russen und Teutschen gerne essen.
Einen Baum- und Gemüsegarten nennt der Nogaye bostan, einen Weingarten baghdschi.
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Handwerke. Gewerbe.
Der Nomade, bei seinen wenigen Bedürfnissen und dem vereinzelten Leben auf der Steppe, bei der oft sehr großen Entfernung von Dörfern und Städten, sucht sich möglichst alles Nöthige in der Wirthschaft mit wenigen Mitteln selbst zu verfertigen, fremde Hülfe und damit verknüpfte Ausgaben zu meiden. Der nun angesiedelte Nogaye aber, dessen Bedürfnisse in Manchem gesteigert worden und der nun auch Ackerbau treibt, muß sich schon Vieles ankaufen, was er früher ganz entbehrt, oder — wiewohl schlechter, gröber — selbst verfertigt hat. Es fehlen ihm zu besserer Arbeit die Werkzeuge und es fehlt ihm auch zum Theil die Zeit. Er kauft sich Manches mit mehr Vortheil, als wenn er selbst sich an die Arbeit wagen wollte, und erwirbt sich mit anderer Beschäftigung so viel, daß er auch mehr Ausgaben machen darf als früher.
Der Nogaye sucht sich nun im Hause sowohI als mit Ackergeräthschaft immer besser einzurichten. Fenster, die früher dünne, ausgespannte Häute waren, sind jetzt meistens von Glas. Vieles, das vormals von Holz war, wird jetzt von Eisen gemacht. Das Meiste wird noch von Russen und Teutschen gekauft; doch giebt es auch immer mehr Nogayen. welche sich fast ausschließlich irgend einer Handarbeit oder eines eigentlichen Handwerks befleissen und ihre Schorba oder ihr Brot recht gut damit verdienen. Früher wurde das Getreide größtentheils auf Handmühlen zerrieben; jetzt findet man tatarische, freilich noch elende Wind- und Pferdemühlen. Andere befassen sich mit Schmiede- und Wagner-Arbeit
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und man findet auch Zimmerleute, Schuhflicker, Riemen- und Sattelmacher u. a. m. Diese alle aber würden kein Meisterstück, wie es bei Innungen gebräuchlich ist zu liefern vermögen; auch sind ihrer nach Verhältniß immer noch wenige, da jeder Hauswirth sich, wie schon gesagt, möglichst selbst zu helfen sucht. Die meisten Nogayen sind nicht gar ungeschickt im Zimmern, wiewohl sie nur einige wenige Werkzeuge haben und das Meiste ein Hammer thun muß, der auf einer Seite breit und schneidend ist und den der Nogaye gut zu führen weiß. Man bessert Wagen und Pferdegeschirr selbst aus. Den Gerber und Schneider machen die Weiber entbehrlich, so wie den Seiler, Tuchweber, Seifensieder und Possamenter, — Die meisten Nogayen bauen ihre Häuser selbst, mit wenig anderer Beihülfe als derjenigen ihrer Weiber, welchen das Uebertünchen, also auch das Maurerhandwerk, obliegt. Junge Tataren treten häufig in Dienste benachbarter Russen, oder arbeiten im Taglohn bei diesen und bei Teutschen zur Zeit der Heu- und Getreideärnte, oder sie gehen mit Pferden zu den Nachbarn, um zu dreschen. Andere dienen auswärts als Schaafhirten, oder als Pferdehirten bei den Armeniern am Don.
Die Mühlen (dighrmen), sowohl Wind- als Pferdemühlen, sind schlechte und dürftige Machwerke und können wenig verarbeiten. Letztere sind unter der Erde errichtet, wobei das Pferd über dem Boden das Rad im Kreise treibt. Wer zur Mühle kommt, nimmt selbst ein Pferd mit, das die Mühle treiben muß und bezahlt den Müller mit einer Portion des Waizens oder der Hirse, die er mitgebracht. Hirse wird noch sehr viele auf den Handmühlen zerrieben; Waizen und Roggen mehr in benachbarte teutsche oder russische Windmühlen
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gebracht. Vor diesen, da oft viel Arbeit oder aber bei wenigerer kein Wind ist, müssen die Tataren gewöhnlich Tage Iang kampiren, ehe sie befördert werden. Man kommt oft von weit her nach diesen Mühlen und versieht sich mit Speise und einem Kessel, und was der Nogaye zu einem Feldlager nöthig hat.
Die gewöhnlichen russischen Märkte, Basar’s; und die jährlichen Märkte, von Russen und Tararen mit dem teutschen Wort Jahrmarkt benannt, werden sehr fleißig besucht. In der Nähe der Nogayen sind Märkte in Takmak, Prischep, Tscherniowstky, Orechow, Kisljar, Abitoschna und andern Städchen. Die Nogayen gehen aber auch oft auf sehr entfernte Märkte, nach Charkow, Berditschef, Rostof am Don. Die Sucht umherzustreifen ist bei dem Nogayen, als einem vormaligen Nomaden, stark. Jede GeIegenheit benutzt er, um einen Markt besuchen zu können. Ja selbst ohne die geringste Veranlassung zieht er auf Märkten herum, bloß um seinem Hange zu folgen. Man sieht zwar nicht, was ihm eigentlich dabei Freude machen kann, da er auf Märkten mehr der verachtete und unterdrückte Theil ist. Er nimmt an dem Saufen und Tanzen des Russen und Teutschen keinen Antheil, hat sich seine trockne geröstete Hirse (sok) von Hause mit auf den Weg genommen, und kocht sich sein frugales Mahl auf dem Markt und auf der Straße, schläft, in den Pelz gehüllt, auf der bloßen Erde und unter freiem Himmel und setzt sich schlechter Witterung, Kälte und
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Nässe und allen Beschwerlichkeiten aus. Seine Freude ist lediglich das Herumziehen an und für sich. Dabei liebt er, irgend einen, wenn auch eben nicht vortheilhaften Tausch zu treffen. Wenn derselbe nur nicht Schaden bringt, so ist ihm, seinem Charakter gemäß, ein solcher Wechsel schon angenehm. Auch nur Zuschauer bei einem Handel zu sein, macht ihm schon viel Vergnügen und er berechnet nicht den Schaden, den ihm diese Zeitversäumniß bringt. Viele Tataren bringen einen beträchtlichen Theil des Jahres auf Märkten zu, von denen immer einer auf den andern in der Nähe folgt. Da sie nicht immer genau die Zeit des Anfangs eines auswärtigen Marktes kennen, so geben sie oft viel zu frühe und müssen acht und mehr Tage vor den Dörfern sich lagern, wobei oft ihr Vieh, schlechter Weide wegen, an Schönheit und Kraft abnimmt.
Will der Nogaye sein Vieh, besonders Rindvieh, verkaufen, so muß er die Märkte beziehen, da er es an seinem Wohnorte nicht absetzen kann; auch findet er mehrere seiner Haushaltung und seiner Wirthschaft nöthige Sachen nur auf russischen Märkten.
Die Jagd.
Seitdem die Steppe mehr bewohnt und angebaut ist, hat die Menge Gewildes sich sehr vermindert, und seitdem der Nogaye mehr beschäftigt ist und auch Ackerbau treibt, die Pferde hingegen nicht mehr in der Menge wie früher vorhanden sind und mehr geschont werden müssen, hat das Jagen
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um Vieles abgenommen. Der Nogaye achtete weder Beschwerde noch Zeit, noch schonte er der Pferde, wenn er nur jagen konnte. Er liebt die Jagd noch jetzt leidenschaftlich und es giebt immer noch der Jäger genug, welche eine kostbare Zeit versäumen, gute Pferde zu Grunde richten, um oft unverrichteter Sache nach Hause zu kommen oder ein paar Rubel für ein Wolfsfell zu erhalten.
Da der Nogaye weder Schießgewehr noch irgend eine Waffe tragen darf, so verfolgt er das wilde Thier zu Pferde mit einer Keule oder mit einem an langem Stiel befindlichen eisernen Hammer und jagt ihm so lange nach, bis es, ermüdet, nur langsam noch laufen kann oder gar niedersinkt und vom Reiter mit der Keule vom Pferd herunter einen Streich auf den Kopf bekommt und todtgeschlagen wird. Die Pferde, wiewohl vortreffliche Läufer, leiden dabei ausserordentlich, indem ungeheure Strecken von mehren Meilen ohne Rast im Galopp, als bei einer wahren Parforce-Jagd, zurückgelegt werden. Oft reiten mehrere Tararen zugleich auf die Jagd aus und treiben von verschiedenen Seiten das Gewild zusammen. Sie bedienen sich dabei der Windhunde.
Die Jagd beschränkt sich auf Hasen, Füchse und Wölfe, welch letztern besonders eifrig zu Leibe gegangen wird. — Große Vögel, z. B. Trappen, fängt der Nogaye mit Schlingen; doch ist ihm dieses nicht Lieblingssache.
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Zeichnung 9: Drei Tataren
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Persönliches.
Kleidung der Männer
Der Nogaye kleidet sich im Ganzen gut; bequem zur Arbeit, zum Sitzen und zum Reiten; nicht so enge wie der Abendländer, aber auch nicht so weit wie der Türke. Vor der Kälte sucht sich der Nogaye wohl zu schützen. Seine gewöhnlichste Bekleidung ist diejenige, welche Gott der Herr selbst dem ersten Menschenpaare gemacht und angezogen hatte und welche einem Hirtenvolke die wohlfeilste Bedeckung ist, die Felle der Lämmer ihrer Herde. Es werden diese von ihren Weibern gegerbt und genäht.
Im Winter ist der Nogaye durchgehends in Pelze gehüllt. Viele tragen Pelzröcke auch im Sommer, und kehren dann die Wolle auswärts. Pelzmützen werden Sommers und Winters von jedem Tataren getragen. Der Nogaye, als Muselmann mit beschornem Haupte, trägt oft drei Mützen übereinander; zuerst eine kleine rothe Mütze, djatbörk, oder Schlafmütze; über diese die sogenannte adetlu börk, Modemütze, und über beide noch eine große schwarzwollene Mütze oder auch eine von selbst verfertigtem Tuche, welche man kulak börk oder Ohrenmütze nennt, weil sie stark die Ohren bedeckt. Bei Regenwetter wird über alles noch der djagh-murluk oder baschluk, das Regen- oder Kopftuch, angezogen, welches oben spitz zu geht und um Hals und Brust gewunden wird. Die Edelleute tragen gewöhnlich eine Mütze von blauem Tuche in der Form der tscherkessischen.
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Um den Hals trägt der Tatar in der Reger nichts; an Festtagen aber werden von jungen Leuten bunte Halstücher (djaghluk) getragen.
Man trägt weisse leinene Hemden (kuiluk), welche so geschnitten und genäht sind, daß sie ganz und gar keine Falten haben, da in diese das Ungeziefer sich setzen könnte. Der Nogaye hat gewöhnlich nur ein Hemde. Drei Hemden werden schon für großen Vorrat gehalten. Ueber dem Hemde tragen Aermere oft nur den Ueberrock von grobem Tuche (scheggben) oder einen schlechten Pelz, — Reichere hingegen erst einen kurzen Rock (kaptan) von buntem Kattun, auch wohl von Seide, gewöhnlich aber von blauem Nanguin (kitäi), mit kurzem Kragen und mit Taschen auf der Brust. Er wird mit der Leibbinde (bilba) über den Hüften zugebunden. Diese Binde geht zweimal um den Leib und ist von weisser Leinwand, breit, aber zusammengefaltet. Vorne an dieselbe hängt sich der Tatar das Messer (b’schak) in einem Besteck.
Ueber den Kaptan wird ein Pelzrock angezogen, gewöhnlich ein kurzer, bei großer Kälte aber ein langer. Die glatte, mit Kreide geweißte Seite wird auswärts, die Wolle einwärts gekehrt.
Der Pelz (thon) hält den Regen nicht gut aus, weßwegen bei Regen die Wolle auswärts gekehrt oder über denselben der Ueberrock angezogen wird, welcher aus einem von Tatarinnen gewobenen groben Tuche verfertigt ist. Die Pelze sind mit allerlei Verzierungen versehen, an die viele Mühe gewandt wird. Im Winter sieht man Tataren über das Hemde den Kaptan und sofort den kurzen Pelz, auf diesen den langen und über alles noch den Ueberrock anziehen.
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Ihrer Viele sind freilich auch mit einem Pelze zufrieden. Die Aermel des Pelzes sind sehr lang und können statt der Handschuhe über die Hand gezogen werden.
Des Sommers trägt der Tatar weite Beinkleider von weisser Leinwand (stan) oder über diese noch solche von rothbraunem Tuche, welches die Tatarenweiber verfertigen. Diese Beinkleider (sachser) sind sehr weit und werden oben mit einer durchgehenden Schnur zusammengezogen. Unten sind sie mit allerlei Zierraten von gelbem Leder (kon) versehen. Zur Winterszeit werden über die Leinhosen noch Pelzhosen und über diese beiden noch die sachser angezogen.
Da die Pelzkleider schwer sind, so ist ein vollständig ausgerüsteter Tatar mit dem schweren Sattel dem Pferde eine bedeutende Last. Zu Hause und bei Feldarbeit entledigt man sich dann freilich des Meisten und man behält oft bloß das Hemd und die Leinhose oder etwa noch den Kaptan und kleinen Pelz.
An den Füßen trägt der Nogaye auf Reisen rothe oder schwarze Stiefeln (etek). Im Dorfe werden kurze Stiefeln von gelbem Leder oder Saffian (mäs) angezogen und über diese die papusch oder kater, Schuhe von rothem Leder, welche letztere aber im Hause angezogen werden. Ist viel Straßenkoth im Dorfe, so geht der Nogaye mit den Schuhen auf kurzen Stelzen oder kleinen Schemeln von Holz (tawelrak), deren Absätze 2 bis 3 Zoll hoch sind.
Das Baarfußgehen wird für eine Schande gehalten und man sieht dies bei Tataren nicht. Wer keine Schuhe zu kaufen vermag, der macht sich die in Rußland unter dem Landvolk allgemein gebräuchlichen sogenannten Parischen oder Riemenschuhe. Diese bestehen aus einem ungegerbten Stücke Fell und
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einem Tuchlappen, welches alles zusammen am Fuße mit Riemen umwunden und festgemacht wird.
Am Bairam oder an Festtagen trägt man auch sehr weite bunte, oft rothe Mäntel von Tuch und wohl auch rothe weite Beinkleider nach türkischer Art, als Galakleidung. Junge Männer, besonders die küiku oder Brautwerber und was Stutzer sind, tragen Fingerringe von Silber oder Messing, mit eingefaßten rothen Steinen oder geschliffenem Glas.
Weibliches Geschlecht.
Der Zustand des weiblichen Geschlechts der Nogayen ist, wie fast allgemein im Morgenland und nach muselmännscher Weise, ein sklavischer. So erscheint er nämlich uns! Wer aber die Behandlung des eigentlichen Sklaven, unter Muselmännern überhaupt genommen, kennt, der wird finden, daß das weibliche Geschlecht der Muselmänner selbst seinen Zustand keineswegs auch nur von ferne mit dem eines Sklaven wird vergleichen wollen. Auch hierin herrscht die Allmacht der Gewohnheit. Die Behandlung, die die Weiber vom männlichen Geschlecht erfahren, erscheint ihnen gar nicht drückend, wenn nur der Mann keine Ausnahme von der allgemeinen Regel macht. Auf die Seite des Bessern sind die Ausnahmen höchst selten; derjenigen aber, wobei der Mann den eigentlichen Tirannen spielt, giebt es ja aller Orten. — Wenn die Nogayin in einem gänzlich passiven, untergebenen, gehorchenden Zustande gegen den Mann steht, so macht sie das nicht leiden.
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Zeichnung 10: Tatarische Frau
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Sie finden es so in der Ordnung und lassen dem Ausspruche: „Dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein“ (1. Mose 3, 16.) seine Kraft; und wie Sarah ihren Mann Abraham Herr nannte, so wird auch von der Nogayin der Mann Aga, Herr, genannt. Dies mag sein Gutes haben unter einem Volke, wo nicht christliche, oft nicht einmal rein menschliche Liebe, sondern mehr bloß die sinnliche Lust Mann und Weib verbindet. Wo nicht christliche Liebe im Ehestande herrscht, nicht beide Theile als ein Leib sich ansehen und gegenseitig zu erhalten, zu stärken, zu lieben bemüht sind, da mag gut sein, daß wenigstens der Mann Herr im Hause sei. Wenn freilich der Morgenländer darin oft zu weit geht und das weibliche Geschlecht zu wenig geachtet, eigentlich zurückgesetzt ist, zu wenig Freiheit genießt und deßwegen in hohem Grade zu bedauern ist, so wird doch im Ganzen weniger gelitten und findet man weniger Mißmuth, Traurigkeit und Kummer als im Abendlande; wo ein anderes, dem morgenländischen aber oft ganz entgegengesetztes eheliches Verhältniß statt hat. — Wie glücklich aber und gesegnet ist die Ehe in christlicher Liebe! O wie bedauernswerth erscheint gegen ein solches Band und solches Leben das morgenländische ! wiewohl es auch da glückliche Ausnahmen giebt.
Zur Bezeichnung des weiblichen Geschlechts überhaupt haben die Tataren das Wort dischi, für ein Weib das Wort övrêt. Eine gemeine Frau wird biggé genannt; will man vornehm titulieren, so nennt man die Frau chatun. Ein
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Mädchen wird kis genannt. Für das Wort: Schwester sagt man kiskarndasch.
Das weibliche Geschlecht, in den frühern Lebensjahren in Vielem verweichlicht, fast immer zu Hause gehalten‚ später zu sehr angestrengt und auf keine Weise vom Manne geschont, verwelkt und veraltet sehr frühe. Selten findet sich über 30 Jahren noch eine schöne blühende Gesichtsfarbe, mehr verrunzelte, magere und bleiche Gestalten, mit Spuren früherer Schönheit. Eine große Schuld daran mag das zu frühe Heirathen‚ im dreizehnten bis sechszehnten Jahre, sein.
Die Bestimmung des Weibes nach morgenländischen und muselmännischen Ansichten ist: Dem Manne zur Befriedigung der Lust zu dienen und nebenbei auf jede andere Art ihm so viel möglich zu Willen zu leben; dafür zu sorgen, daß, wenn er bei Hause it, von der Reise oder Arbeit kommt, es ihm weder an guter Speise noch andern Bedürfnissen des Leibes fehle: daß sie ihm aufwarte, diene und alle Bequemlichkeit zu verschaffen suche. Das Weib darf an keine Ruhe denken, bis dem Manne nichts mehr von ihr zu verlangen übrig bleibt.
Nach den Aussprüchen des Korans hat das Weib auch jenseits die Bestimmung, dem Manne zu dienen, nur mit dem Unterschiede, daß sie dort wieder verjüngt und — ewig jung und schön bleibend — des edeln Berufes, dem Manne aufzuwarten und zu gefallen, nicht los wird. — Es läßt sich denken, was von einem Geschlechte zu erwarten ist, das für diese Erde sowohl als für jenseits, im Paradiese (djehennet), keine höhere Bestimmung kennt und keinen andern Begriff vom dem Zwecke seines Daseins hat als diesen!
Es ist begreiflich, daß das Weib nur so viel thut, als
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sie pflichtgemäß oder nothgedrungen thun muß, sich übrigens wenig um ihren Mann und ihre Kinder, um gute Besorgung und Förderung der Wirthschaft bekümmert. Das Weib hat auch keine Stimme bei der Leitung der Wirthschaft und der weitern Erziehung oder des Schicksals der Kinder und sie darf — wenigstens vor den Augen des Mannes — nichts aus eignem Willen oder eigenmächtig thun. Da keine Liebe weder zur Arbeit noch überhaupt zum Gehorsam antreibt, sondern nur Gewohnheit, Gebrauch und Furcht und etwa ein daraus nach und nach entstandenes dunkles Pflichtgefühl, so ist sich nicht zu wundern, daß die Pflicht und Sitte oft gebrochen wird, wenn der Mann oder die Furcht aus dem Hause ist; daß das Weib gerne, als Folge der Uebertretung, mit Lüge und Hinterlist umgeht und daß oft nur die Kantschu oder Peitsche die Sache wieder für eine kleine Zeit in Gang und Ordnung bringt. Am meisten regiert die Peitsche in Häusern, wo mehrere Weiber sind und jene ist diesen, was die Ruthe den Kindern. Sie glauben auch, daß der Mann weiter nicht als seine Pflicht erfülle und die Vorschriften des Korans und daß er nur sein Recht behaupte, wenn er peitscht. — Was die Vielweiberei betrifft, so ist die Tatarin weit entfernt, diese als eine üble Gewohnheit anzusehen; indessen ist es denn doch einem Weibe nicht immer gelegen, daß der Mann neben ihr noch ein Weib anschafft und wenn es ihr auch ganz gleichgültig wäre, so wird man sich doch nicht wundern, daß in einem solchen Verhältniß und bei solcher Gemeinschaft wenigstens zwischen den Weibern recht oft Uneinigkeit und Zank entsteht. Wenn die Nogayin auch eine natürliche Zuneigung zum Manne hat, was mitunter auch der Fall sein kann, so sieht sie sich doch ohne ihre eigene Wahl an ihn
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geknüpft, von ihm gekauft und in Gefahr, daß er sich bald eine jüngere Frau neben ihr anschafft und dieselbe ihr vorzieht.
Was das Kaufen anbelangt, so macht das Reden davon vor der Frau keinen übeln Eindruck auf diese. Ich mußte mich oft recht zwingen, mich deßhalb In ihre Begriffe hineinzudenken, besonders auch, wenn mein Hauswirth, neben mir sitzend, sich zu mir wendend alles im Detail aufzählte, was seine Frau ihn an Geld, Pferden und Rindern gekostet habe, was er mir oft vor der Frau wiederholte. „Ach, dachte ich, schweig doch einmal davon und beleidige nicht das Ehrgefühl deiner Frau!“ Aber es war ganz anders. Dieser war solche Erzählung gar angenehm; sie wünschte , daß Jeder es wissen möchte, daß sie nicht zu wohlfeil verkauft worden, sondern ihren Preis gegolten habe.
Es giebt Nogayen — und ich freute mich, mehrere kennen zu lernen — welche ihre Weiber mit Geduld und Sanftmuth behandeln. Das Weib ist auch keineswegs ganz der Willkühr eines bösen, schlechten Mannes preisgegeben, wie eine Sklavin, sondern hat ihre besondern Rechte, die sie vor den Aeltesten des Dorfes und vor den Priestern geltend zu machen sucht. Der Mann wird gewarnt und kann auch bestraft werden. Ohnedem stehen jetzt die Nogayen unter russischen Gesetzen, welche das Weib vor zu grausamer körperlicher Mißhandlung schützen; indessen ist es dann doch gewöhnlich schon zu arg und oft auch zu spät, wenn gleich dem Manne die Einrede: „Der Kaiser kann mir nichts befehlen! Ich habe mein Weib gekauft!“ nicht abgenommen wird.
So unrecht auch der Mann gegen das Weib handelt, so darf sie ihn dennoch nicht in’s Gesicht schelten, oder gar,
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wenn sie an Körperkraft überlegen wäre, Schlag um Schlag, Zahn um Zahn, Aug um Aug vergelten.
Wie auffallend und sonderbar , vielleicht lächerlich müßte es einer Tatarin erscheinen, ihr Geschlecht unter uns so hervorgehoben, ausgezeichnet, bedient und gelobt zu sehen; wie auffallend ihr, die gewohnt ist, nie mit dem Manne an einer Tafel zu speisen, gewöhnlich nur die Überbleibsel oder das vom Manne ihr gnädig Ausgesuchten und in die Küche geschickte zu essen; ihr, die nie öffentlich an der Seite des Mannes sich zeigen darf; die nie wählen, selbst handeln oder gar befehlen darf, sondern nur gehorchen soll, nie vor einem Manne vorübergehen darf; im Hause, wo der Mann sitzt, sich hinter seinem Rücken durchschmiegen und durchdrängen muß und nicht wagt, den weiten Raum vor ihm zum Durchpaß zu benutzen; die auf der Querstraße stehen bleibt, bis der Mann, der ihr von ferne entgegen kommt, vorübergegangen ist; die kein Wort reden darf, wenn ein Mann spricht; die dem Manne Knechtesdienste thun, seine Pfeife anzünden und anrauchen, auch wohl dessen Pferd satteln muß; die dem alten Tataren ehrerbietig die Hand küßt, nicht das öffentliche Versammlungs- oder Bethaus besuchen darf und nur in Gesellschaft ihres Geschlechts und gewöhnlich nur mit Ochsen spazieren fährt.
Möchten sich doch Alle, die in christlichen Ländern geboren, nach christlichen Grundsätzen erzogen und behandelt sind — wenn auch unter Leiden und Sorgen lebend — dennoch glücklich schätzen und Gott danken.
Bemerkenswerth ist der Unterschied, den die tatarische Frau zu machen hat, wenn sie vor Männern oder hingegen allein ist. Zurückhaltend, steif und schüchtern, still und schweigend
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oder doch nur halblaut und abgebrochen redend ist sie in der Gegenwart der Männer; hingegen Tant und sehr gesprächig, in ihrer Art lebendig, oft recht Iustig und ausgelassen, wenn sie nur allein mit ihres Gleichen ist. — Ihr größtes Vergnügen ist, sich im vollem Putze zu zeigen, im Dorfe herum zu spazieren oder Freundinnen in benachbarten Dörfern zu besuchen, welches Ietztere aber nie allein, sondern immer in Gesellschaft Anderer ihres Geschlechtes geschehen darf.
Fahren sie aus, so sieht man oft den großen Wagen (modschar) ganz voll gepfropft von Weibern, welche alle nebeneinander auf ihren Füßen sitzen, so daß jede nur sehr wenig Raum einnimmt. Ihre von Ochsen gezogenen Bretterwagen sind höchstens etwa mit einem Teppich belegt. Auf Pferden oder Kameelen dürfen sie nie reiten. Dies ist hingegen bei den Kalmükinnen Gewohnheit, welche fast immer und so gut als die Männer reiten.
Eine Versündigung ist es der Nogayin, die Schuhe ihres Mannes vor seinen oder Anderer Augen verkehrt, d. h. mit dem Rüden nach unten, zu legen. Es bedeutet, daß sie ihn nicht achte und ihm den Gehorsam aufkünde. Ein solcher Fall wird den Aeltesten und Priestern angezeigt, und von ihnen richterlich beurtheilt. Der Mann seinerseits versündigt sich, wenn er dem Weibe Haare ausreist.
Stirbt ein Mann, so hat die Nogayin ihren Herrn Gemahl, der nun im Paradies unter der Menge auserlesener Schönen schwelgt, mit fürchterlichem Geheul Monate lang öffentlich zu beklagen und zu beweinen, während dem ihre Brüder oder andere männliche Verwandte vielleicht schon über ihr Schicksal verfügt und sie an einen andern Mann verkauft oder versprochen haben.
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Die Tataren-Weiber sind im Ganzen nicht besonders fruchtbar, gebären aber sehr leicht, Eine Freundin macht der andern die Hebamme entbehrlich. Vom Wochenbette und von den vielen Umständlichkeiten und Bequemlichkeiten für Frau und Kind weiß man nichts. Die Frau arbeitet gewöhnlich bis auf die letzte Stunde und oft auch schon wieder am Tag nach ihrer Niederkunft.
Als Tasche, die Frau meines Hauswirthes Ali, ihre Niederkunft nahe fühlte und ganz allein im Hause war, gieng sie (im Monat Februar) hinter das Haus in den Hof, wo des Nachts die Kühe lagern, legte hier glücklich ein Mädchen ab, wickelte es in ihren Kaftan oder Rock ein und trug es in ein benachbartes Haus, um das Kind besorgen zu lassen und sich für einige Stunden hinlegen zu können.
Die Weiber sind nicht mehr so sehr schüchtern vor wildfremden Menschen, als sie es früher waren; doch ziehen sich die meisten bei der Ankunft eines Fremden schnell in die Häuser und ins innere Zimmer zurück. Sonst lassen sie sich häufig und immer unverschleiert, den Schleier rückwärts geschlagen, auf den Gassen des Dorfe und vor den Häusern sehen.
Der Harem des Nogayen ist das innere oder Schlafzimmer (itsch üi), in welches aber jeder Fremde auch eingeführt wird; ja es wird dasselbe dem fremden Gast oft sogar eingeräumt und die Weiber gehen dann gewöhnlich ins Vorhaus oder in die Küche zu schlafen. Nicht so geheim ist also hier der Aufenthaltsort des Frauenzimmers, wie bei dem Türken, und es geht auch nicht so vornehm zu, dass das Weib nur im Harem sitzen und nur dort ihres Mannes
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gewärtig sein darf, sondern sie muß ihm auf viele andere Art in der Wirthschaft behülflich sein.
Mädchen- und Weiberhandel.
Um ein Mädchen dient der Nogaye wie Jakob (1. Mose 29, 18.) und der Vater handelt um seine Tochter wie Laban, und verändert, wenn es ihm nur immer möglich ist, auch oft den Preis.
Es werden bisweilen Mädchen sogar schon in der Wiege von ihren Aeltern verkauft. Zwei Tataren, von denen einer einen Knaben, der andere ein Mädchen hat, kommen überein , diese mit einander zu verbinden. Es geschieht dieses von dem Vater des Mädchens ökonomischen Vortheils wegen, nothgedrungen , oder auch aus Freundschaft. Ist die Uebereinkunft geschlossen, der Preis des Mädchens bestimmt und von Priestern verschrieben, so wird eine Vorhochzeit gehalten. Das Mädchen bleibt aber im älterlichen Hause. — Der Vater des Knaben bezahlt nun in festgesetzten Terminen dem Preis des Mädchens in Vieh oder Geld. — Ist alles bezahlt und das Mädchen so wie der Knabe haben das Alter von 14 bis 17 Jahren erreicht, so wird die rechte Hochzeit gefeiert. Der Jüngling hat selten etwas einzuwenden gegen das, was sein Vater ihm bestimmt und gekauft hat. Er ist froh, bei Zeiten ein bezahltes Weib zu haben. Von Seite des Mädchens kann in keinem Fall Einrede statt haben. Es hat sich immer ganz dem Willen des Vaters zu fügen und wird in der
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Regel, so wie die Mutter, darüber nicht befragt; nicht einmal, ob oder wann sie heirathen wolle. Es frägt auch nicht darnach, wer ihr künftiger Gatte sein werde und was für ein Aussehen er habe, eher etwa, in welchem Dorf er wohne und wie viel Vieh er habe.
Welche Entferntheit von unsern, durch das Christenthum veredelten Begriffen, Forderungen und Regeln! Freilich giebt es auch hier etwa Väter, welche sich mit den Müttern und Kindern deßhalb unterreden und berathen. Dieser Fall mag aber selten sein, weil es beide Theile und zwar, in Betracht des hier bestehenden Verhältnisses des Weibes zum Manne, mit Recht eben nicht für nöthig halten.
Freilich giebt der Weiber-, besonders der Kinderhandel viel Gelegenheit zu Streit unter den Tataren. In der langen Zahlungs- oder Erziehungszeit der Kinder werden sich die Aeltern, früher Freunde, zu Feinden; oder andere Umstände treten ein, daß den einen oder andern Theil der Handel reut und man Anlaß sucht, denselben rückgängig zu machen und das schon Bezahlte wieder zurück zu erhalten. Es bestehen zwar deßhalb gewisse Satzungen, die aber nicht genau genug bestimmt, nicht auf alle möglichen Fälle berechnet sind. So liegt z. B. ein sehr natürlicher Aufhebungsgrund eines solchen Vertrages darin, wenn das Kind auf diese oder jene Weise verunstaltet oder verstümmelt wird. Solcher Händel haben die Priester und die Aeltesten sehr viele zu schlichten, bei welchen der Reichere gewöhnlich Recht bekommt.
Wirbt ein Nogaye um ein Mädchen, so darf er dies nicht unmittelbar selbst, sondern nur durch Freunde und Bekannte thun. Gewöhnlich geschieht es durch eine Brautwerberin, durch welche der Handel mit dem Vater des Mädchens eingeleitet
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wird. Sie giebt Nachricht von dem Aussehen und Befinden des Mädchens. Hat der Werber dieses früher schon gesehen, so darf er doch von dem Tag an, da er um selbes wirbt; es nicht mehr sehen, noch das Haus desselben besuchen und wenn es Jahre dauern sollte, bis er das Mädchen abbezahlt hat und heirathen kann. Ehrenfester und gebräuchlicher aber ist, daß der Werber das Mädchen gar nicht kenne. Deßwegen heirathen sich selten zwei aus demselben Dorfe, sondern man nimmt sich Mädchen aus andern, entferntern Dörfern. Der Freier fragt weniger nach Gestalt und Schöne als nach dem Preis (kelin) des Mädchens und nach dem, was ihre Aeltern ihr als Mitgift an Putz, Kleidern, Matratzen u. s. w. geben, nach welchem sich dann auch der Preis des Mädchens richtet und welches alles berechnet und beim Handel in Anschlag gebracht wird. Worauf noch etwa gesehen wird‚ ist die Familie, die Abstammung und Herkunft derselben. Die Nogayen theilen sich nicht nur in verschiedene Haupt- und einige Nebenstämme, sondern je eine Familie glaubt vor einer andern etwas voraus zu haben und steht in mehr oder weniger Ansehen. Ein aus rein nogayischem Geblüte (dschagatai) entsprossenes Mädchen wird theurer bezahlt, als wenn es einer mit andern Tatarenstämmen vermischten Familie angehörte. Ein krimmisch-tatarisches Mädchen wird nur von ärmern Nogayen und wohlfeil gekauft. Ein kalmükisches gilt ebenfalls wenig.
Der Mädchen - und Weiberhandel geschieht in der Berechnung immer nach einer gewissen Anzahl Kühe, die Kuh zu 20 Rubel Banco gewerthet. Der Marktpreis des Viehes mag sein, welcher er will, so wird in diesem Handel immer obiger Preis gerechnet. Zwei Kühe werden auf das Pferd
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und auf einen Ochsen, acht Schaafe auf die Kuh gerechnet. So kann man denn in Geld, in Kühen, in Ochsen, Pferden oder Schaafen bezahlen, je nachdem man übereinkommt. Der gewöhnliche Preis eines ächt nogayischen Mädchens ist 30 Kühe oder 600 Rubel Banco, d. h.: etwa 300 Gulden Rheinisch. Sie kommen aber auch wohl bis 1000 und mehr Rubel zu stehen. Ein krimmsches und kalmükisches Mädchen kann für 5 bis 10 Kühe gekauft werden. — Wittwen sind in jedem Falle wohlfeiler als Mädchen, doch je nach Alter und Abkunft und besonders ob mit aber ohne Kinder, im Preise verschieden.
Das weibliche Geschlecht gehört ganz dem männlichen an. Der Vater verkauft die Tochter, der Bruder die Schwester. Bei dem Erbe unter Brüdern wird die Schwester als ein Gut, als Waare betrachtet, die zu einem gewissen Preis dem einen oder andern Bruder zufällt. Wer die Schwester erhält, bekommt demnach um so viel weniger Vieh auf seinen Theil, weil er sie verkaufen kann. — Eine Wittwe fällt mit den Kindern den nächsten männlichen Verwandten zu, welche sie behalten oder verkaufen können.
Der Mann darf seine Frau nicht verkaufen, wenn sie ihm nicht gefällt, wohl aber fortjagen. Er erhält jedoch, wenn er weiter keinen Grund der Unzufriedenheit gegen sie hat, das für sie Bezahlte nicht zurück. Sie geht zu ihren Aeltern oder Verwandten, welche sie jedoch nur in dem Fall wieder verkaufen können, wenn der Mann sich förmlich von ihr trennen will, welches selten geschieht, da sie so theuer bezahlt werden müssen. — Das Weglaufen einer Frau von dem Manne kann ihre wenig helfen; denn ohne Einwilligung des Mannes darf sie von Niemanden aufgenommen werden und sobald
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sie von jenem zurückverlangt wird, muß sie ausgeliefert werden.
Hat eine Frau schlechte Streiche gespielt, den Mann bestohlen oder gar Ehebruch sich zu Schulden kommen lassen und der Mann will sich von ihr trennen, so erhält er in solchem Falle alles für sie Bezahlte zurück. Doch geht es selten ohne Verlust und ohne Zänkerei dabei zu.
Ein geschändetes Mädchen fällt sehr im Preise und wird nur etwa von den Aermsten noch gekauft. Wer sich an einem Mädchen betrogen findet und sich darüber ausweisen kann, der rächt sich fürchterlich und erhält sein Geld zurück.
Da der Reiche sich mehrere Weiber anschafft, so wird dadurch der Preis der Mädchen gesteigert und vielen Armen das Heirathen fast unmöglich gemacht. Ein armer Nogaye dient oft viele Jahre, um so viel zu ersparen, sich ein Mädchen kaufen zu können und hat dann noch nichts, sich und sein Weib ordentlich zu nähren. Er darf aber weder bei den Aeltern des Mädchens dienen, um das er wirbt, auch nur nicht, wie schon gesagt, während der ganzen langen Zeit es besuchen. Reiche strecken Armen etwa Geld und Vieh vor, besonders ihren Knechten, damit sie heirathen können und dann mit der Frau in ihr Haus ziehen. Diese dient dann als Magd im Hause, jener als Knecht, so lange, bis sie die Schuld gemeinsam abverdient und abbezahlt haben. Dieses kann vielen Reichen besser dienen, als wenn sie sich eine zweite Frau zur Hülfe der ersten anschaffen müssen.
Da das weibliche Geschlecht unter Aufsicht des männlichen steht und als Waare betrachtet ist, die mehr oder weniger gelten kann, so giebt man eine Frauensperson nie als Dienstmagd in ein fremdes Haus. Sie muß entweder
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als Frau angekauft werden, oder es muß auf oben besagte Weise geschehen, so daß eine Familie, Mann und Weib in Dienst genommen wird.
Die Nogayen waren anfangs begierig, von den teutschen Kolonisten Mädchen zu erhalten und würden noch jetzt gerne solche kaufen; einem Christen hingegen würden sie keines ihrer Mädchen abtreten, außer wenn er Christ zu sein aufhören und Muselmann werden wollte.
Die Hochzeit.
Die Hochzeit (doi) wird immer an einem Donnerstag, als dem Tag vor ihrem Feier- oder Sonntag gehalten. Die Bewohner des ganzen Dorfes werden nach alter Sitte dazu eingeladen (man vergl. 1. Mose 29, 22.). Es werden große Gastmahle gegeben, an denen auch aus entfernten Dörfern Bekannte Theil nehmen. Es werden auch Kuchen und Fleischstücke in die Häuser der Nachbarn und Bekannten geschickt, damit selbst Kinder und Kranke mitgeniessen können. An diesen Tagen ist besonders die Bosa und der Kumis im Ueberflusse vorhanden. Gewöhnlich wird die Hochzeit zuerst in dem Dorfe gehalten, wo die Braut wohnt und dann, einige Tage später, in demjenigen wo der Bräutigam sich befindet.
Die Unkosten einer Tataren-Hochzeit sind sehr beträchtlich. — Von der Braut werden selbst verfertigte Tabacksbeutel, gestickte Handtücher und dergleichen Sachen an Freunde und Verwandte vertheilt. Die Braut (kelin) und der Bräutigam
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(küiku) erhalten hingegen Geschenke an Vieh, Fleisch, Getreide, Kuchen u. s. w. — Die Hochzeitfeier dauert oft mehrere Tage; aber auch am letzten derselben ist die Braut nicht in demselben Hause mit dem Bräutigam. Erst Abends nach Sonnenuntergang bekommen sie sich zu sehen. Priester, die von beiden Seiten gewählt werden, bestätigen durch Handbietung als Stellvertreter und Zeugen, den Ehebund für die Verlobten. Am Abend wird der Braut die Mütze abgenommen, welche sie bisher getragen und der Schleier angezogen, worauf sie durch alte Weiber in das Haus ihres nunmehrigen Gebieters und Gatten geführt wird. Wie müßte nicht einem zartfühlenden Wesen das Herz klopfen vor hochgespannter Erwartung, wenn beide einander nun — und zwar schon als Eheleute — zum erstenmale sehen sollen!
Ein zartgebautes Mädchen sah ich von einem Tataren zum Weibe erkauft, der ein wahres Karrikaturbild ist und selbst unter den Tataren wegen seiner Häßlichkeit, seiner brüllenden Stimme, seines viehischen Benehmens, seiner Gefräßigkeit und Dummheit allgemein zum Sprüchworte wurde. Sie sahen sich am Tage der Hochzeit das erstemal und wiewohl ich diese Familie lange zu beobachten Gelegenheit hatte, da sie einige Zeit im Hause meines Wirthes Ali wohnte, so konnte ich an dem jungen Weibe dennoch nie die geringste Unzufriedenheit über ihr Schicksal oder Abneigung gegen ihren Mann und Geringschätzung desselben bemerken.
Am Tage nach der Hochzeit muß die Frau im Putze die Glückwünsche der Besuchenden annehmen. Steif wie eine Bildsäule, ohne eine Miene zu verziehen, steht sie da, sich sehen zu lassen.
Die Jüngste von mehrern Weibern eines Mannes oder
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die letztgenommene Frau wird kelindschiek (Nachkommende) genannt. Das junge Weib darf vom Tage der Hochzeit an, bis ein Jahr verflossen ist, kein lautes Wort mit einem Fremden reden, und vor einem Unbekannten spricht sie auch mit ihren Aeltern, Geschwistern und nächsten Verwandten nur ganz _ leise. Kommt man in solche Häuser, so glaubt man stumme Weiber zu sehen, die nur durch Geberden sich ausdrücken können. Sobald man ein wenig bekannt ist oder diese Frau allein im Hause angetroffen wird, so wird laut gesprochen. Vor fremden Gästen jedoch wird die Sitte streng beobachtet. Ist ein Jahr um, so wird ein Fest gefeiert und ein Mahl gegeben und von dem Tage an ist die Zunge der Frau gelöst und frei.
Bei der Hochzeit mit einer zweiten Frau oder mit einer Wittwe wird weniger Umständlichkeit und Aufwand gemacht als bei der ersten Verheirathung mit einem Mädchen.
Vielweiberei.
Die Vielweiberei, welche im Morgenlande Sitte und dem Muselmann durch den Koran erlaubt ist, hat auch der Nogaye, als eine aus uralter Zeit abstammende Gewohnheit und als mit dem Islam verträglich, im Gebrauch. — Der Koran erlaubt vier Weiber, nebst Beischläferinnen oder Kebsweibern, so viele man deren kaufen und unterhalten kann.
Da die Nogayen unter Rußland keine Sklaven und Sklavinnen halten dürfen, nach ihrer Sitte auch keine Dienstmägde
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zu haben sind, so sieht sich Mancher genöthiget, neben seiner ersten Frau — wenn sie mehrere Kinder und viel Arbeit hat oder kränklich ist — sich eine zweite als Gehülfin anzuschaffen. Die erste Frau verrichtet dann gewöhnlich die leichtere Hausarbeit, die zweite die gröbern und schweren Geschäfte, das Wassertragen, Hirsestoßen, Mahlen u. s. w. Der wohlhabende Nogaye liebt sehr, mehrere Weiber zu haben. Die meisten können sich jedoch nur eine und sehr viele gar keine anschaffen. Zwei Weiber eines Mannes findet man häufig; drei sind schon selten.
Jede der Frauen erhält ein eigenes Schlafgemach; des Tages aber sitzen sie beisammen. In der Regel wechselt der Mann jede Nacht regelmäßig; doch ist er, der Aga, keineswegs gebunden. Gefällt ihm eine nicht, so wohnt er ihr gar nicht bei; will er eine strafen, so übergeht er sie um eine Nacht. Die Erstgenommene, gewöhnlich auch die Aelteste, soll gewisse Vorrechte über die Andern haben und gleichsam deren Vorgesetzte oder Mutter sein; allein die Letztgenommene oder Jüngste, meistens vom Manne den Andern vorgezogen und von ihm begünstigt, weiß gewöhnlich den Meister im Hause zu spielen, und tirannisirt und plagt die Andern.
Verbunden mit den übrigen Sitten und namentlich in Uebereinstimmung mit dem Verhältnisse zwischen Mann und Weib, also nach dortigen Begriffen vom ehlichen Leben, von Freiheit und Sklaverei, stiftet die Vielweiberei nicht so viel Unfrieden unter dem Volke der Nogayen, als man wohl unter uns davon halten möchte.
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Beschäftigung der Frauen.
Wo nur eine Frau im Hause ist und schon mehrere noch unerwachsene Kinder sind, da giebt’s Arbeit genug. Es muß oft Tag und Nacht hindurch in einem fort gearbeitet werden. Man hat sich nicht zu wundern, daß Menschen, welche so einfach leben wie die Nogayen und so wenige Bedürfnisse haben, sich doch so viel zu schaffen machen. Es rührt dies vom Mangel an Ordnung her. Nichts wird recht eingetheilt, behandelt und geschont; Mühe und Arbeit nicht in Ehren gehalten, — kurz, es wird im Ganzen schlecht Haus gehalten und alles ist nur für den Augenblick, nicht mit Rücksicht auf die Zukunft gethan. Wenn aber auch bei gehöriger Ordnung und Einrichtung alles viel leichter gehen könnte, so bleibt doch immer dem Weibe sehr viel und weit mehr Arbeit als dem Manne. Es muß so vieles, was bei uns angekauft wird, von der Hausfrau selbst gemacht und verarbeitet werden und zwar, bei dem Mangel nöthiger Hülfsmittel und Werkzeuge, auf eine sehr mühsame und zeitfressende Weise.
Die Weiber haben neben der Besorgung der Kinder — so will es die Sitte — neben der gewöhnlichen Essenszeit oft noch mehrmals an einem Tage für Gäste, wenn diese auch nicht weit her sind zu kochen. Sie müssen den Mann bei Hause bedienen und wenn er abwesend und kein Knecht vorhanden ist, auch noch wohl das Vieh tränken. Das Wasser zum Waschen, Kochen und Trinken müssen sie in großen Kübeln täglich aus oft ziemlich entfernten Brunnen oder Cisternen herbeitragen. Die Weiber sammeln auch den Mist
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auf der Steppe und bereiten den am Hause von dem eignen Vieh zur Feuerung zu. Sie waschen oft und verfertigen sich selbst die Seife. Sie übertünchen jährlich von aussen und innen die Häuser. Sie gerben die Schaaffelle zur Kleidung, machen selbst alle Mützen, Pelzröcke und Beinkleider, die von den Hausbewohnern getragen werden. Sie nähen auch die Hemden und Kaftans und was von Leinwand und Rankin getragen wird. Sie melken die Kühe, verfertigen Butter und Käse. Sie bereiten die Bosa ober das nogayische Bier, mahlen auf der Handmühle, stoßen in einem großen hölzernen Mörser die Hülse der Hirse ab, welches eine schwere Arbeit ist, die fast täglich vorkommt. Sie kratzen Schaafwolle, spinnen sie, weben Tücher verschiedener Art, wirken Schnüre, machen Streife von Wolle und Pferdehaaren, verfertigen Siebe, Wollteppiche (kis) und Matten von Schiif (schepta). Seit einigen Jahren werden von ärmern Tataren die Weiber zur Hülfe auch auf das Feld genommen, da es an Arbeitern fehlt und die Taglöhne hoch stehen.
Am Abend sieht man eine Menge Weiber an den Brunnen Wasser schöpfen, wie dies schon zur Zeit der ersten Hirtenvölker, z. B. bei den Erzvätern, gebräuchlich war (1. Mose 24, 11.). Das Mahlen auf Handmühlen ist ebenfalls uralte Weise, die jetzt noch im Orient fast überall üblich ist (vergl. 2. Mose 11, 5, und Jesajah 47, 2. Matthäus 24, 41.) Dem Manne ist dies Geschäft auch jetzt noch eine Schande, so wie sie Simson zum Spott und zur Strafe angethan wurde (Richter 16, 21.). Ueberhaupt hat das weibliche Geschlecht besonders viele alte Gewohnheiten und Gebräuche beibehalten. So viel auch bei dem männlichen Geschlecht aus der Vorzeit zu finden ist, so ist bei ihm doch Vieles der Veränderung
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unterworfen, wie es bei dem andern Geschlecht nicht der Fall ist, da eine veränderte Lage und Verfassung des Volks der Nogayen auf dieses Geschlecht nur sehr wenig Einfluß hat.
Verarbeitung und Benutzung der Schaafwolle.
Die gröbste, schlechteste Wolle wird zur Ausfüllung von Matratzen und Kissen, zur Verfertigung von Stricken und Seilen und zu verschiedenen Arten von Teppichen, russisch Burren, tatarisch Kis genannt, verbraucht. Diese werden mittelst eines großen und breiten Stückes neben einander gelegter und aneinander gebundener Schilfrohre verfertigt. Diele Schilfmatte wird nämlich ausgebreitet und etwa einen Schuh hoch mit gereinigter oder gekratzter Wolle belegt. Nachdem letztere mit Wasser stark benetzt worden, rollt man die Schilfmatte mit der Wolle zusammen und wälzt und drückt diese Rolle auf dem Boden, nimmt sie dann auf die Knie und wirft sie mit Macht wieder auf die Erde und so wird ein paar Stunden fortgefahren. Die Wolle legt und wirkt sich dabei so ineinander, daß bei’m Aufrollen ein dünner, starker und ausserordentlich dauerhafter Teppich hervorkommt. Man macht diese Teppiche sehr groß, von brauner, grauer und weißer Farbe, und bedient sich ihrer, um den Boden des Schlafzimmers damit zu bedecken, so wie auf Reisen, um im Freien darauf zu liegen. Ehemals dienten sie auch als Ueberzug für die Nomadenhütten. Das Ungeziefer setzt sich aber gar bald hinein und vermehrt sich darin ausserordentlich.
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Von ausgesuchter weißer Wolle werden kleinere Teppiche zu Pferdedecken und zur Verrichtung des Gebetes verfertigt. Die bessere, feinere‚ rothbraune Wolle wird auf dem Wollkamm (djün tharak) gekartet und hierauf gesponnen. Das Spinnen geschieht, indem das Weib die Wolle um ihre linke Hand windet, mit der rechten den Faden herauszieht und diesen am Knie auf die Spindel (orum dschiek ) dreht. So spinnend sieht man Weiber auch oft im Dorfe herumspazieren; es geht aber freilich weder schnell, noch wird der Faden sehr fein. Von diesem wird dann ein Tuch gewoben, welches man zu Beinkleidern benutzt. Tücher von weißer Wolle werden zu Ueberröcken, Mützen, Kopf- oder Regentüchern verarbeitet. Von braunem und weißem Faden werden auch allerlei Schnüre künstlich gewirkt, wozu zwei Weiber weiter nichts als ihre Finger brauchen. Der. Webstuhl ist sehr elend beschaffen, Die Arbeit geht langsam von statten, da der Faden jedesmal mit der Hand durchgeführt und das Blatt angezogen werden muß. Eigentlich kann man gar nicht von einem Stuhle reden, sondern es werden im Freien vor dem Hause einige Pflöcke in die Erde getrieben, an welchen altes Nöthige auf eine eigne, einfache Weise angebunden und verrichtet wird. Diese erbärmliche Weberei nimmt den Weibern viele Zeit weg. Es werden auch Zeuge mit Streifen und Quadrillen von den verschiedenen Farben der Wolle, hell- und dunkelbraun, grau, schwarz und weiß, zu Matratzenüberzügen, zu Oberröcken für die Weiber, zu großen Säcken für das Getreide und zu Fettwischtüchern (tastamal) verarbeitet. Von der feinst gesponnenen weißen Wolle werden leichte dünne Tücher, in Art der Mousseline oder Nesseltücher, zu Röcken und Schleiern für die Weiber, zu Oberröcken für die Priester, zu Vorhängen gegen
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Zeichnung 11: Tatarin, spinnend
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die Mücken und zu Handtüchern verfertigt. Von Baumwolle (mamuk) wird auch ein feiner Faden gesponnen, aus welchem ebenfalls schöne Schnüre gewirkt werden.
Um das Tuch (schghuo) stark und dicht zu machen, und ihm mehr Weisse zu geben, wird es gewalkt. Zwei Männer treten es abwechselnd mit den nackten Füßen in einem Klumpen sehr lange nach allen Seiten auf einem Brette herum und begiessen es von Zeit zu Zeit mit heissem Wasser, bis alle grobe und vorhangende Wolle abgegangen und das Tuch etwas weisser geworden ist.
Zubereitung der Felle und Verfertigung der Pelzkleider.
Die Weise, wie von den Nogayen die Schaaffelle zubereitet werden, ist gewiß sehr alt. Die rohen Schaaffelle werden in einem Gefäße, das mit Buttermilch angefüllt ist, eine ziemliche Zeit eingeweicht, dann herausgenommen und an der Sonne getrocknet. Hierauf wird das Fell von Ueberbleibseln, von Fett und Fleisch gereinigt und mit saurer, dicker Milch bestrichen. In diese Milch ist jedoch vorher die Wurzel der Färberröthe, die sich auf der Steppe in ziemlicher Dicke findet, eingelegt und zerrieben worden. So bestrichen werden die Felle einen Tag ausgebreitet liegen gelassen, dann wieder an der Sonne getrocknet und abgeschabt. Genügt dies nicht, so werden sie nochmals bestrichen, dann recht glatt abgerieben, alle Unebenheiten mit einem Eisen weggenommen und die Felle an einem mit zahn- oder sägenartigen Einschnitten
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versehenen Holze gewunden und gerieben, damit sie durchweg recht weich und geschmeidig werden, zuletzt mit weisser Kreide gerieben und mit einer Sense so lange geschabt und geglättet, bis endlich die Kreide eingedrungen und das Fell, schön glatt, keine Weisse an der Hand zurückläßt. Die Rückseite oder der haarichte Theil wird dann stark ausgeklopft und das Fell zu Mützen, Beinkleidern oder Röcken zugeschnitten.
Zum Nähen werden die Sehnen von Pferden und Rindern getrocknet und ausgefranst gebraucht; Zwirn oder Faden seltener; denn ersteres übertrifft diesen weit an Festigkeit.
Zubereitung der Seife
Die Stepp-Tataren bereiten sich Seife aus einem Kraut, welches sich häufig auf der Steppe findet und alabota genannt wird. Es ist die Pflanze, deren Saamen die Pergamentmacher gebrauchen, um dadurch die körnerähnlichen Unebenheiten des Schagrins hervorzubringen. Die Pflanze wird auf der Steppe abgemäht, in’s Dorf geführt und in großen Haufen verbrannt. Die Asche wird in einem Sack aufgehangen, ein Gefäß darunter gestellt, heisses Wasser in jenen eingegossen und die durchgeseihte, gelbbraune Brühe wird hierauf in einem großen Kessel, der ganz gefüllt wird, so lange eingesotten, bis nur nach ein graues Pulver zurückbleibt, welches dann, mit etwas Salz und viel Fett vermengt, noch eine Zeitlang über dem Feuer durcheinander gerührt und dann, in runde
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Zeichnung 12: Nogay-Tatarische Mädchen.
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Klumpen gedrückt, zum Waschen gebraucht wird. Diese Seife hat eine dunkelgraue Farbe, ist scharf und frißt nur zu sehr in die Kleider ein. Die Nogayen wollen keine Seife bei Russen und Teutschen kaufen, wegen des das gebrauchten Schweinsfettes. Konstantinopolitanische, welche sie sehr hoch schätzen, kommt ihnen zu theuer zu stehen. Die Seife heißt bei den Nogayen sawon, wird aber mit dem persischen p oder mit bé geschrieben und von den Türken also auch sapon oder sabon ausgesprochen, .
Kleidung der Mädchen und Frauen.
Auf die Kleidung (kim) werden besonders bei Mädchen nicht geringe Kosten verwandt. Man will ihnen dadurch ein vortheilhafteres Aussehen geben und an ihnen zugleich zeigen, daß man nicht ganz arm sei. Die Mädchen tragen eine hohe runde Mütze von rothem Tuche, welche rings herum mit kleinern und größern, gewöhnlich türkischen Silbermünzen behangen ist. Ueber die Stirne herab hängen an dieser Mütze eine Art eingefaßter rother Korallenstücke. Hinten an derselben werden Muscheln und allerlei Verzierungen angebracht. Eine solche Mütze kommt auf 30 und mehr Rubel zu stehen und dient auch oft als eine Art Noth- und Hülfskasse, wenn den Aeltern ihr Geld ausgeht.
Das schwarze, lange Haar flechten die Mädchen entweder nach krimmschem Gebrauch in eine Menge kleiner Zöpfe, welche frei über den Rücken herabhängen, gewöhnlicher aber, nach nogayischer Sitte, in einen einigen Zopf, an dessen
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Ende dann noch ein Ianges weisses Leinwandtuch in zwei gleiche Theile angebunden wird. Diese winden sie wie ein Seil aneinander und schliessen unten mit einem Knoten. Der Zopf hänge ihnen oft bis an die Fußknöchel herunter. An dem Kopfe sind die Nogayinnen, sowohl Mädchen als Weiber, ausserordentlich beladen. Schon frühe tragen die Mädchen einen Ring in dem rechten Nasenläppchen oder in der Mittelscheide der Nase. Es ist derselbe entweder von Silber oder er besteht in einem Draht, in der Form eines Ringes, an welchem bunte falsche Perlen angezogen sind. Diese Ringe werden alka oder halka und toga genannt und trotz ihrer Unbequemlichkeit doch, als zum Putz gehörend, gerne getragen. Andernorts könnte man wohl versucht sein, sie als ein Zeichen des Unterworfenseins anzusehen (vergl. Jesajah 37, 29.). — Die Ohrringe (serga), welche hier getragen werden, sind von ungewöhnlicher Größe und Schwere und werden oft durch eine Kette, welche über die Brust herabhängt, mit einander verbunden. Nach 1. Mose 35, 4. und 2. Mose 32, 2. sind die Ohrringe schon sehr alte Sitte. Um den Hals hängt ein Band, moindschak genannt, an welchem eingefaßte, rothe Steine oder Gläser befestigt sind.
Die Nägel der Hände werden roth gefärbt, so wie das Innere der Hand selbst. Hiezu bedient man sich einer Pflanze, welche bei den Nogayen kinä oder kna heißt. Nachdem sie getrocknet, gepulvert und mit Alaun angesetzt ist, wird sie, wenn man Gebrauch davon machen will, mit frischem Gänsekoth zu einem Teige gemacht, den man eine Nacht über auf die Nägel und die Hand bindet, wovon selbe eine gelbrothe Farbe bekommen.
Die gewöhnliche Hauskleidung des weiblichen Geschlechtes ist ein Hemde von rother Leinwand (kuiluk). Ausser das
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Haus dann wird gewöhnlich noch der blaue Rock (kaptan) von Nankin angezogen, der so kurz ist, daß das Hemde eine Handbreit vorsteht. An Fest- und Feiertagen prunken die meisten in seidenen Kaptans oder in kurzen Oberkleidern (Saika’s oder Soika’s) mit vielen Verzierungen von Metallstücken, Schnallen und einem rollförmigen metallenen Gehänge. Bei Tatarinnen vermöglicherer Familien ist dies alles von Silber oder doch versilbert. Es sind oft Sachen, welche von Urgroßmüttern herkommen, was für den geringen Einfluß der Göttin Mode in diesen Gegenden zeugt. — Zum Zubinden des Kaptans dient dag tostimé, Hacken ober Schnallen von Silber. Um die Hüfte wird ein breiter Leibgurt (gsak) gebunden, an welchem sehr große, kreisförmige, platte Schnallen von Silber sind. Es werden auch mit leichten Pelzen verbrämte Röcke von bunter Seide mit kurzen Aermeln getragen, gegen welche die langen und vorn sehr weiten, roth gefütterten Aermel des blauen Kaptans gut abstehen. Ueberhaupt sieht man bunte, grelle Farben und man sieht an drei immer kürzern Kleidern, die übereinander getragen werden, blau, roth und weiß oder andere Farben, die stark von einander abstechen. Nur schwarze Farbe wird nie getragen.
An den Fingern, oft an allen, werden silberne Ringe (djüsügg) mit großen eingefaßten rothen Gläsern getragen, am Arm breite silberne Bänder (belesegg‚ wie solche Abrahams Knecht der Rebekka anlegte. (1. Mose.24, 22.)
Ueber den Kaptan wird des Winters ein Pelzrock getragen, der an den Enden mit einem bunten seidenen Zeuge verziert ist. Man wickelt sich auch wohl auf den Straßen des Dorfes in große seidene Mäntel ein und man sieht oft zwei Mädchen gemeinsam über ihre Köpfe und Schultern herab
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einen solchen Mantel hängen und so, Arm in Arm und die Gesichter halbbedeckt, spazieren.
Das ganze weibliche Geschlecht der Nogayen trägt, wie die Morgenländerin überhaupt, sehr weite Beinkleider von Kattun, Nankin oder Seide, welche bis über die Fußknöchel reichen und da mit einer Schnur zusammengezogen werden. Bei ihrer Art zu sitzen und zu leben ist diese Sitte sehr gut und fast nothwendig und steht überhaupt dem Frauenzimmer nicht übel an. Der Tatarin ist ein Weib ohne Beinbekleidung so viel als ein loses Weib, wiewohl sie es anderweitig — besonders zu Hause — eben nicht sehr genau nimmt.
Die Kleidung ist, ausser dem Kopfputz, den Ketten und Spangen, im Ganzen dem Körper angemessen. Kein Theil desselben wird mit Gewalt eingezwängt, wie bei den Tscherkessinnen, welche sich in Miedern den Leib zusammenpressen, nach alter, zum Theil auch neuester abendländischer Mode.
Die Fußbedeckung der Tatarin besteht, wie bei den Türkinnen, in den gelben Stiefelchen‚ welche man beim Ausgehen entweder in die rothen Schuhe (kater) oder in gelbe, mit Silberfaden verzierte Pantoffeln (pasmak) steckt. — Bei nasser, kothiger Straße gehen die Weibspersonen im Dorfe herum, wie die Männer, auf den Tawelrak’s oder Stelzen.
Arme Mädchen sind freilich oft auch sehr gering gekleidet; wer aber nur immer es aufzubringen vermag, der kleidet seine Töchter gut, um sie besser anzubringen; und sind sie schon verkauft, so geschieht es dem Bräutigam zu Ehren und der Tochter zur Freude.
Die Frau unterscheidet sich vom Mädchen sogleich durch den weissen Schleier (tastar), welcher jedoch nicht, wie bei den Türkinnen, über das Gesicht, sondern immer rückwärts
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Zeichnung 13: Drei Tatarinnen
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geschlagen wird. Vor einem Manne darf die Frau nie vom Schleier entblößt sich zeigen, wenigstens nicht vor Gästen und Fremden. Zur Winterszeit im Freien wird der Schleier um Mund und Nase gewunden und läßt nur die Augen frei. Die Schleier, von leichtem Gewebe, haben an den Enden buntfarbige Streifen und Fransen. Sie sind groß und reichen bis weit über den Rücken herunter. Bei armen Frauen vertritt ein lumpiger Lappen Zeuges die Stelle des Schleiers.
Auch das Tragen der Schleier ist nicht von gestern oder ehegestern, sondern war schon bei den alten Hebräern gebräuchlich. (Jesajah 3, 22. Jeremia 2, 32. Hesekiel 16, 10.)
Unter dem Schleier trägt die Nogayin ein sehr langes, schmales und buntfarbiges Tuch (ballausch) , welches mehrmals. um den Kopf gewunden wird und dessen zwei Enden in langen Schleifen bis weit über den Rücken herunterhangen, vom Schleier aber bedeckt werden. Die Weiber wissen dieses Tuch mit Geschmack in Art eines kleinen Turbans um den Kopf zu winden und tragen es oft im innern Zimmer des Hauses ohne Schleier. Unter diesem Tuche wird, zur Erhöhung des Hinterkopfes, ein kleines ausgepolstertes Kissen (toprak) getragen, an welchem vorne das Stirnband (manglei) mit Verzierungen und eingefaßten rothen Korallenstücken angebracht ist. Auch dieses Stirnband ist schon uralte Sitte (1. Mose 24, 47.) und war im Gebrauch der Ismaeliten (Richter 8, 24.). Das Toprak (tatarisch: Staub, türkisch: Land, Erde) wird um das Kinn mit einem Bande befestigt, welches verziert ist und ebenfalls zum Putze dient. Das Haar wird in zwei Zöpfe geflochten und hängt unter dem Schleier und Ballausch über den Rücken herunter. Im Uebrigen tragen sich die Frauen wie die Mädchen.
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Im Hause tragen die Weiber gewöhnlich nur ein rothes ober weißes Hemde und Beinkleider und gehen auch so im Dorfe herum. Ganz arme Weiber tragen oft weiter nichts als ein zerrissenes Hemde und, wenn es kalt ist, einen schlechten Pelz darüber. Hat das alte arme Weib in zerlumptem Hemde noch die Tabackspfeife im Munde, so ist ihr Aussehen abschreckend.
Im Ganzen findet man, aus schon bekanntem Grunde, mehr gut gekleidete Mädchen als Knaben und mehr schlecht gekleidete Weiber als Männer. Ueberhaupt genommen kann man sagen, daß die Nogayen beider Geschlechter gut gekleidet gehen. — Die Weiber tragen auch noch eine Art Schürze (djapäschke) von Kattun und von selbst verfertigtem Wolltuche einen Oberrock, der von der Hüfte angeht und d’schüppe genannt wird. Sie ziehen sich diesen an, wenn sie grobe, schlechte Arbeit zu verrichten haben.
Getränke der Tataren. Die Buttermilch.
Die Nogayen enthalten sich des Wassers so viel möglich, weil es schlecht ist. Sie trinken überhaupt wenig, da sie viel dünne Speisen geniessen. Ihr gewöhnlichstes Getränk ist die Rühr- oder Buttermilch (airan), welche jedoch meist nur des Sommers zu haben ist. — Wenn die Tatarin die djughrt oder dicke Milch buttert, so gießt sie viel kaltes oder auch
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heißes Wasser in’s Butterfaß, um das Gerinnen zu befördern. Wird die Butter herausgenommen, so bleibt das Uebrige ein kühlendes, schmackhaftes, säuerliches Getränk, welches wenigstens gesunder als das bloße Wasser ist. Es muß aber, wenn es noch frisch ist, getrunken werden; denn in heißen Sommertagen wird es im Verlauf einiger Stunden schon ungenießbar sauer und kann dann nur noch zum Gerben der Felle oder zu Verfertigung einer Art von Käse verwendet werden.
Der Kumis oder die Stutenmilch.
Frisch gemolken‚ hat die Pferdemilch einen etwas lauchhaften Geschmack und wird von den Nogayen nie so, sondern nur nach bestandener Gährung getrunken, erhält dann einen angenehmen, weinsäuerlichen Geschmack, ist aber sehr stark und berauschend. Sie ist dünner, flüssiger als die Kuhmilch, hat eine bläuliche Farbe und ist nicht fett, setzt deßwegen auch nur sehr wenig Schmant oder Rahm ab und kann nicht zum Buttern gebraucht werden. Sie soll sehr nährend und der Gesundheit zuträglich sein, wird aber bei der Abnahme der Pferdezucht nun immer seltener. Branntewein wird aus ihr bei den Nogayen nicht bereitet, wie dies bei den Kalmüken Gebrauch ist.
Der Kumis ist dem Nogayen das, was uns der Wein ist und man sieht ihn nie vergnügter, als wenn er von diesem seinem Lieblingsgetränk genießt, wozu der Reiche, der viele Pferde hält, gewöhnlich mehrere andere Tataren, die dieses
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Getränk bei Hause nicht haben, einladet und sich dadurch Freunde macht.
Die Bosa oder das Bier der Nogayen.
Die Bosa, findet man überall unter Tataren und Türken. Sie wird besonders zur Winterszeit bereitet, wann Milch, Airan und Kumis nicht leicht oder gar nicht zu haben sind. Sie kommt besonders bei Hochzeiten und Festanlässen vor, wo sie dann in sehr großen Quantitäten bereitet wird. Man findet da und dort in Tatarendörfern Häuser, in denen Bosa, doch gewöhnlich leicht und schlecht, zum Verkauf gemacht wird. Meistens jedoch bereitet sie sich jeder Hauswirth selbst, besser oder schlechter, mehr oder weniger, je nachdem man haushälterisch sein will oder nicht oder je nachdem man mit Hirse‚ woraus die Bosa bereitet wird, versehen ist. Wird die Hirse nicht gespart, so kann jene sehr stark und gut gemacht werden und ist dann eine dicke, braune, berauschende und Wasser abtreibende Brühe. In den krimmschen und türkischen Chan’s oder Han’s (Herbergen) wird sie nach ihrer Güte und Stärke zu verschiedenen Preisen verkauft. — Ist die Hirseärnte in einem Jahre recht gedeihlich und einträglich gewesen, so findet man die Bosa zu gewissen Zeiten in sehr vielen Häusern. Um sie zu bereiten, wird ein großer Kessel über das Feuer gesetzt, der mit roher Hirse angefüllt ist, welche jedoch zuvor auf der Handmühle leicht gerieben worden, wodurch die Hülsen gespalten wurden. Es wird hierauf etwas Wasser in die Hirse gegossen und selbige so lange
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gesotten, bis sie stark aufgelaufen und weich geworden ist. AIsdann wird sie in große Gefäße geschüttet und so überläßt man die Masse, gut zugedeckt einen Tag lang der Gährung. Hierauf wird die Hirse durch ein feines Sieb gedrückt und mehr oder weniger Wasser beigemischt. Der im Sieb zurückgebliebene trockene Theil wird in einem großen hölzernen Mörser gestampft und nachdem wieder heißes Wasser daran gegossen wurde, nochmals durch’s Sieb gedrückt, was dann die schwächere‚ schlechtere Bosa giebt. — Oft wird in die Bosa noch etwas Branntewein gemischt.
Bei der Bereitung der Bosa kommt es vorzüglich darauf an, daß beim Kochen die rechte Zeit getroffen und die Hirse zwar weich gesotten, aber nicht ihrer Kraft beraubt und nicht zu lange ob dem Feuer gehalten werde.
Der kalmükische Thee.
Dieser wird, als den Nogayen zu kostbar, im Allgemeinen nicht häufig getrunken. Bei der Ankunft eines hohen Gastes oder in Krankheiten kommt er jedoch bei reichen Tataren oft vor. Er ist dem Nogayen das, was dem Türken der Kaffee (kawe) und kommt angeblich aus Tschina. Gewiß aber ist, daß die Kalmüken ihn selbst aus einigen Steppenkräutern bereiten. Die Nogayen bringen ihn vom Don oder kaufen ihn von herumziehenden armenischen Handelsleuten in Platten, die beiläufig einen Zoll Dicke und einen Schuh Länge halten. Er muß ziemlich theuer bezahlt werden und ist darum ein Luxusgetränk. Es wird eine Hand voll von der
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Platte abgeschabt und in einem kleinen Kessel voll Wasser etwa eine Stunde lang gekocht. Er muß so lange sieden, bis das Wasser eine dunkelbraune Farbe angenommen hat. Dann wird der Thee, Kalmuk-Tschai genannt, nach mongolischem Gebrauche mit einer kleinen Portion Salz, Milch und Butter vermischt und wer ihn recht gut machen will, streut noch etwas gestoßenen Pfeffer darauf. Er wird sehr heiß getrunken und dabei eine Art Backwerk, welches nokum genannt wird, gegessen. Dieser Tschai hat keinen übeln Geschmack und soll sehr gesund sein.
Der Rauchtaback.
Der Nogaye zerkaut den Taback nicht und spricht auch nicht von Tabackrauchen, sondern von Rauchtrinken (tütün itschmek) und es kann also, wenn man will, der Taback hier als Anhang zu den Getränken der Nogayen betrachtet werden. Dem Nogayen erweckt der Tabackrauch keinen Durst. Im Gegentheil scheint er ihm diesen zu stillen und ihm auch zugleich zur Nahrung zu dienen. Der stärkste Raucher unter ihnen ist auch der, der am wenigsten eigentliche Nahrung bedarf. Dem Nogayen ist der Taback das vornehmste Bedürfniß und jedes andere entbehrt er leichter. Tabackrauch scheint ihm der höchste Genuß zu sein und die Pfeife gewährt ihm den angenehmsten Zeitvertreib. Hat er Rauch im Munde, so verschmerzt er gerne den Mangel eines guten Essens und jede Unannehmlichkeit des Lebens. Mit einer Pfeife Taback kann man sich einen Nogayen schon verbindlich machen. Es
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gelüstet ihn so sehr darnach, daß er sich einen weiten Gang nicht verdrießen läßt, um eine Pfeife zu erhaschen und auf Kosten eines Andern rauchen zu können. Während der Fastenzeit ist dem Nogayen der Taback die größte Entbehrung und er nimmt es dann auch auf Reisen damit nicht so genau, beobachtet lieber um so strenger andere Vorschriften oder hilft sich damit, daß er sorgfältig den Rauch aus dem Munde bläst und sich in Acht nimmt, nichts durch den Schlund herunter zu lassen.
Nach der Erklärung der Priester ist nämlich unter der Enthaltung alles Genusses von Speisen und Getränken auch das Tabackrauchen verstanden, wie denn auch, wie schon gesagt, Tabackrauchen tatarisch dschibuk oder lö itschmek Pfeifetrinken oder auch tütün itschmek Rauchtrinken heißt.
Wenige Nogayen besitzen lange Pfeifenrohre, aus denen sie in den Häusern, nach Art der Türken, das Mundstück bloß an den Mund haltend, den Rauch einziehen. Der Tatar ist weniger bequem als der Türke, hat weniger müßige Zeit und muß eine Pfeife haben, die er leicht einstecken, bei sich tragen und die er auch bei jeder Arbeit und zu Pferde schmauchen kann. Das Pfeifenrohr (lö dschibuk) ist gewöhnlich sehr kurz, oft kaum eine Handbreit lang, der Kopf (lö) von Holz, der Deckel von Leder. Raucht der Nogaye nicht, so wird die Pfeife auf dem Rücken in den Leibgurt quer eingesteckt, wo auch der Tabacksbeutel (gsö) sich befindet.
So sehr die Tataren den Taback lieben, so pflanzen sie ihn dennoch nicht, sei es, weil sie überhaupt den Feld- und Gartenbau nicht lieben, oder weil sie die große Habgier ihrer Mitbrüder fürchten, welche die Pflanze, ehe sie reif geworden, sich aneignen möchten. Eine beträchtliche Summe
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in Geld und Getreide kommt von den Tararen für Taback in die Hände der benachbarten Russen, weniger in die der teutschen Kolonisten, deren Blätter ihnen nicht scharf und beissend genug sind.
Ist der Tatar bei Hause, auf seinen Füßen kauernd, ausruhend oder in Gesellschaft sich unterhaltend, so ist ihm das ot aket sen! „bring Feuer!“ beständig auf der "Zunge, indem er seine Pfeife bald ausgeraucht hat oder sie im Eifer des Gesprächs immer wieder auslöschen läßt. Gewöhnlich muß dann das Weib aufstehen, aus der Küche in der Hand die glühende Mistkohle bringen und diese dem Herrn Gemahl auf die Pfeife legen, der die Kohle dann mit dem Daumen auf dem Taback zusammen in die Pfeife drückt.
Halb ausgewachsene Knaben suchen sich schon eine Pfeife zu verschaffen; und leidenschaftlicher als die Männer scheinen die Weiber darauf erpicht zu sein. Es bleibt aber ein Vorrecht des bejahrten Alters dieses Geschlechts, wenigstens öffentlich vor den Männern Taback rauchen zu dürfen. Jüngere treiben es nur insgeheim. — Da die Männer ungern auch den Weiber Taback zukommen lassen, so werden diese dadurch in große Versuchung geführt, den Männer eine Pfeife Taback zu stehlen. Ehrliche begnügen sich, die fast ganz ausgerauchte Pfeife des Mannes noch zu benutzen und sie mit einem guten Stück Kohle. noch ganz auszufüllen. Was dieser Mistkohlendampf dem Gaumen einer Schönen für einen Genuß gewähren kann, ist freilich ein halbes Räthsel; doch wie mancher Dame, besonders in England, mag es eben so unbegreiflich sein, daß unsern Herrn auch der feinste amerikanische Taback schmecken kann! Ländlich sittlich —-
Wer den Tabacksdampf nicht ertragen kann oder mag,
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der muß sich also des Umgangs mit Tararen enthalten: — Das Tabackschnupfen hingegen ist nicht üblich; doch nimmt der Nogaye von Russen und Teutschen wohl gerne eine Prise an.
Speisen.
Animalische.
Die Kuhmilch und Djughrt.
Frisch gemolkene Milch (süd), gleich von der Kuh weg, wird nicht für zuträglich gehalten und selbst gesottene Milch wird nur selten etwa von Kindern gegessen. In der Regel wird die ganze Milch, so viel gemolken worden, Morgens und Abends, in einem großen Kessel so lange erwärmt, bis sie um den Rand desselben zu sieden anfängt; hierauf wird sie vom Feuer genommen, eine Weile stehen gelassen und dann mit einem Löffel voll alter djughrt oder saurer dicker Milch vom vorigen Tage gemischt, wohl zugedeckt und stehen gelassen. In Zeit von etwa zwei oder drei Stunden hat sich die Milch gebrochen‚ ist dick und hat, da die Milch gesotten und kein Rahm abgenommen worden, eine schöne weisse Farbe und einen süßsäuerlichen, sehr angenehmen, kräftigen Geschmack, an den sich auch jeder Fremde gerne gewöhnt. Die
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Vermischung mit alter saurer Milch geschieht vom Weibe mit einem eignen Tone, den sie durch Einziehung der Lippen und der äussern Luft nebst Bewegung der Zunge von sich giebt, in der Art, wie die Kinder oft Thiere an sich zu Iocken pflegen. Die Weiber behaupten, daß ohne dieses die Milch sich nicht gehörig breche und nicht den guten Geschmack bekomme und daß kein Teutscher im Stande wäre, eine solche djughrt zu bereiten.
Es ist sonderbar, daß wirklich nur diese Säure oder djughrt eine gleiche djughrt hervorbringt und alle andern Versuche, die Milch so zu brechen, keinen gleichen oder nur ähnlichen Geschmack hervorbrachten. Diese Säure hat auch die Eigenschaft, nicht in faulende Gährung überzugehen. Wie nun die erste Diughrt entstanden, wissen die Nogayen nicht. Einige sagen, ein Engel habe Abraham zuerst darin unterrichtet; Andere, ein Engel habe der Hagar einen Topf voll gebracht, welches die erste djughrt gewesen, von der alle andere abstamme!
Kaimak oder Rahm wird nur sehr selten, etwa mit gerösteter Hirse gegessen, wenn man Morgens oder Abends nicht Zeit hatte, die Milch sogleich zu sieden und sich also etwas Rahm auf der Milch sammeln konnte.
Während des Tages wird von der djughrt zu fast allen Speisen benutzt. Man ißt sie mit gerösteter Hirse, in der Schorba oder der Hirsegrütze, Kuchen und selbst Fleischstücke werden, in diese dicke Milch eingetunkt, gegessen. Was von dieser dann noch übrig bieibt, wird gebuttert. Haushälterische und Arme sparen sich die djughrt alle zum Buttermachen auf und benutzen für die Speisen nur allein die Buttermilch. — Um auch während des Winters, wenn die Milch
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selten ist, dieser djughrt nicht zu ermangeln, wird von denen, die viel Vieh halten, ein Theil derselben auf den Winter in Gefäßen aufbehalten und noch mit etwas Salz gemischt. Diese dicke Milch heißt dann auerscha und ein einziger Löffel voll derselben in eine Schüssel voll Wassersuppe oder Schorba gemengt, giebt dieser etwas Kraft und Geschmack.
Djughrt, mit etwas Wasser gemischt, wird auch katek genannt. Die Nogayen haben die Gewohnheit, auf ihren Reisen nebst Hirse auch einen leinenen Sack voll dicker Milch mit sich zu nehmen, um auf dem Felde sich Schorba oder Suppe bereiten zu können.
Butter Käse.
Da nicht nur der Rahm oder Schmand, sondern die ganze Milch, wenn sie gebrochen und dick ist, gebuttert wird, so hat man im Butterfaß lange zu stoßen, bis sich diese dicke Milch bricht. Es wird deßhalb mit einer starken Portion Wasser nachgeholfen. So kräftig die dicke Milch der Tataren ist und so viel besser als die ungesottene, abgeschmandete der Teutschen, um so geschmack- und farbloser ist die Butter. Die tatarische Butter (saramai, gelbfett) ist fast weiß und von einer ausserordentlichen Unreinlichkeit. Sie wird zum Theil von den Tataren zu Kuchen, Brot und Hirse gebraucht, zum Theil an hausirende Armenier gegen einige Bedürfnisse vertauscht.
Was von der Rühr- oder Buttermilch nicht zum Trinken oder zum Gerben der Felle gebraucht wird, bleibt in einem
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Gefäß aufbehalten, um eine Art Käse daraus zu bereiten. In einiger Zeit setzt sich das Wasser, welches die Buttermilch enthielt, oben an und es bleiben unten feste, säuerliche Theile, welche dann in einen Sack eingebunden und aufgehangen werden, damit das Flüssige noch ganz abtropfe. Hernach wird dieser Käse in kleine Stücke geballt und gedrückt und an freier Luft getrocknet. Diese kleinen Käse (kurt) werden sehr hart, fast wie Steine und halten sich viele Jahre.
Fleischspeisen.
Der Nogaye zieht jede animalische Speise den vegetabilischen vor und er hält es für ein Unglück, wenn er jene lange entbehren muß. Das Fleisch überhaupt wird ett genannt. Im Sommer wird mehr Schaaf-, im Winter mehr Pferdefleisch gegessen, nur selten Rindfleisch. Kalbfleisch aber ist gar nicht gebräuchlich und kommt nur dann vor, wann ein besonderer Umstand das Schlachten eines Kalbes nothwendig macht. Das Rindvieh wird so viel möglich alles groß gezogen.
Das Schaaffleisch wird gesotten und in Stücken oder zerhackt, auf verschiedene Weise zubereitet, verzehrt, nie aber gebraten. Der Fettschwanz des Schaafes wird in großen Stücen neben dem Fleisch aufgestellt und ohne Brot gegessen, oder aber zerlassen und als Schmalz zu Kuchen gebraucht. Es werden auch ganze Schaafe, abgeledert und ausgeweidet, am Winde getrocknet, welche Art man Bastrama nennt. Sie werden
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von Maden nicht angefressen und man kann sie so ausgetrocknet sehr lange Zeit aufbehalten.
Es ist zum Erstaunen, wie viel Fleisch und Fett ein Tatarenmagen fassen und verdauen kann. Er kann dann aber auch wieder recht lange fasten. Der Arme besonders benutzt gerne jede Gelegenheit, seinen Bauch einmal wieder mit Fleisch anfüllen zu können, da er nicht im Stande ist, für sich selbst ein Stück Vieh zu schlachten. Wohlhabende Nogayen schlachten in einem Jahr viele Schaafe und mehrere Pferde und man begreift kaum, wo das Fleisch alles hin kommt.
Hühner und Gänse werden auch gesotten und mit einer Art Ragout gegessen. Hühner werden besonders kranken Tagen aufgespart. Fische sind selten, da solche von Russen wegen ihren vielen Fasten sehr gesucht sind und gut bezahlt werden. Der Nogaye ißt auch diese gesotten mit frischer Butter.
Wenn auch ein kleiner Geruch am Fleische nicht geachtet und selbst das Fleisch von krankem und wohl auch verrecktem Vieh nicht verschmäht wird, so hängt doch der Nogaye sein Fleisch nicht aus, um es erst voller Würmer werden zu lassen, wie dies der Kalmüke thut. Ein schon in Verwesung übergegangenes Aas wird nicht mehr berührt; auch werden Wölfe, Füchse, Katzen, Hunde, Eidechsen, Mäuse u. dgl. den Kalmüken überlassen.— Vor nichts aber hat der Nogaye einen größern Abscheu als vor Schweinefleisch; wenigstens zeigt er seinen Widerwillen dagegen, wenn er nicht allein, sondern in Gesellschaft von Muselmännern ist.
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Das Pferdefleisch.
Dem Nogayen dient das Pferd nicht nur zur Arbeit, zur Jagd, zum Vergnügen, die Milch zum Getränke, das Haar und Fell zu mehrerlei Bedarf, sondern auch das Fleisch, Fett, Gedärme dient ihm zur Nahrung und zwar ist dies dem fleischliebenden Nogayen das Liebste und Vorzüglichste von allem, was Fleisch heißt. Er zieht es dem Schaaf- und Rindfleisch vor. Das Pferdefleisch enthält viel Wärme und der Nogaye liebt es deßwegen, besonders in der kältern Jahreszeit. Es hält sich aber eben darum, auch selbst gesalzen, des Sommers nicht lange und muß schnell gegessen werden. Dieses Fleisch enthält aber auch viel Schärfe und verursacht oft Ausschläge, Geschwüre, Krätze. Was übrigens den Eckel anbelangt, so ist wohl unzweifelhaft, daß es ein bloßes Vorurtheil sei, das Fleisch eines Thieres für eckelhaft zu halten, das sehr reinlich ist, von Pflanzen lebt und nichts Unreines unter seiner Nahrung duldet. Welchen Grund kann man wohl haben, das Schweinefleisch vorzuziehen? Dies möchte doch, nach den diesfalls herrschenden, freilich irrigen Begriffen, noch eher eckelhaft sein! Daß aber dieses dem Menschen etwa zuträglicher sei als jenes, dafür scheint keine Erfahrung zu entscheiden. Das Pferdefleisch (djelka ett) hat übrigens zwar einen etwas süßlichen, aber doch nicht widerlichen, unangenehmen Geschmack und kann sehr weich gekocht werden. Die Gedärme (karn) besonders sind zart und das Fleisch eines Füllen gehört gewiß zu den Leckerbissen. Krankheiten mögen wohl nur von allzuhäufigem Genuß des Pferdefleisches
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herrühren. Daß der Tatar sein Fleisch unter dem Sattel auf dem Rücken des Pferdes zum Essen zubereite oder doch erst mürbe mache, mag wohl nur Sage oder in früherer Zeit bisweilen geschehen sein. Vielleicht auch wurden die aufgeriebenen und wunden Rücken der Pferde mit Fleisch als mit einem Heilmittel belegt. Vielleicht kann die Sache eher bei den asiatischen Tataren Wirklichkeit haben oder gehabt haben. Bei den Nogayen wird, wenigstens jetzt, das Fleisch ordentlich gesotten. Das Pferdefleisch fällt stark in’s Gelbe und bleibt auch in der Kälte weich.
Wenn der Nogaye nur immer gesunde, frische Pferde schlachtete, so könnte der Genuß des Pferdefleisches an sich nicht befremden und die Sache wäre mit der Bemerkung abgethan, daß es nun da einmal die Gewohnheit so und bei uns anders mitbringe. Aber gewöhnlich werden nur kranke Pferde geschlachtet oder solche, die ranzig in der Nase sind oder die sonst irgend einen Fehler an sich tragen, oder auch wohl gar verreckt sind. Selten sieht man ganz gesunde Pferde schlachten, welche zur Arbeit noch tauglich wären oder auf Märkten verkauft werden könnten. Der Nogaye will jedoch nicht zugeben, daß er, wie der Kalmüke, auch das Fleisch von verrecktem Vieh esse; fällt aber ein Pferd auf der Steppe, wo wenige Tataren oder doch keine Fremden es sehen, so schneidet der Tatar ihm den Hals ab, nachdem es schon ausgeathmet hat, bringt es in’s Dorf und giebt vor, daß er es in lebendem Blute geschlachtet habe. Es mag auch hinsichtlich des Einflusses auf die Gesundheit derer, die solches Fleisch zu essen bekommen, einerlei sein, ob einem kranken Pferde einige Augenblicke vor oder nach seinem natürlichen Verscheiden der Hals abgeschnitten werde. — Stark von Wölfen
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gebissene Pferde und Füllen, so wie den Teutschen abgestohlene Pferde sind das Fetteste und Beste, was diesfalls geschlachtet wird.
Die Schnelligkeit und Geschicklichkeit der Nogayen, ein Pferd zu beschlingen, niederzuwerfen, zu schlachten, abzuledern, zu zertheilen, würde gewiß den Geschicktesten unserer Schlächter in Verwunderung setzen. Die Schnelligkeit, mit der die Weiber die Gedärme reinigen und die, mit der eine Tatarenfamilie ein Pferd aufgezehrt hat, erregt nicht weniger Staunen.
Etwas Eigenes ist es, den Nogayen auf einem russischen Markt zu beobachten, wenn er um kranke und schon umgestürzte Pferde handelt. Der Eigenthümer, Russe oder Teutsche, will sein Pferd nicht sogleich wohlfeil weggeben, indem er hofft, daß es wieder aufkommen werde; der Nogaye bietet anfangs einen ordentlichen Preis, etwa zwei Silberrubel oder vier Gulden Reichsgeld; je länger aber der Eigenthümer des kranken Pferdes zögert, je weniger bietet der Nogaye, weil er mehr Gefahr läuft, daß das Pferd ihm ausathme, ehe er den Hals abgeschnitten und es ihm dann nichts mehr gelten könne. „Sieh, sieh! sagt er, jetzt athmet es aus! Willst du einen Silberrubel?“ Der Andere muß froh sein, wenn er es noch um diesen Preis los werden kann. Sogleich machen sich die Nogayen über das Thier her und schneiden ihm den Hals ab.
Von dem Pferde zieht der Nogaye die Rippen allem vor. Sie werden, jede Rippe einzeln, mit Fleisch und Fett in Gedärme eingezwängt und im Rauchfang aufgehangen und gedörrt.
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Die Turray-Speise.
Dieses Gericht von sehr fein geschnittenen, kleinen Stücken Pferdefleisch, Fett und Gedärme zubereitet, ist eine Art Nationalspeise und darf nur von Männern, niemals von eines Weibes Hand bereitet werden. Wiewohl dies Gericht, mit einer Brühe versehen, sehr dünne ist und die Tataren Löffel besitzen, so wird sie doch insgemein mit den Fingern ohne Löffel gegessen. Die Hand eines Unbeschnittenen würde diese Speise verunreinigen, wenigstens dürfte sie nicht vor oder mit Muselmännern in die Schüssel greifen. Ich mußte mich daher wundern, daß sie bei mir eine Ausnahme machten. Diese Speise wird gewöhnlich in Gesellschaften, die bald in diesem, bald in jenem Dorfe sich versammeln, gegessen und ich wurde bald auch eingeladen. Nachdem man sich nach muselmännschem Gebrauche die Hände mit Wasser begossen, setzen sich je fünf oder sechs Männer um eine Schüssel; jeder reicht mit den Fingern aus der Mitte derselben eine gute Portion Speise sich heraus, ballt die Faust und drückt den Saft zwischen den Fingern durch in die Schüssel und führt nun das Fleisch auf der flachen Hand zum Munde. — Die ausgedrückte Brühe oder Sauce wird hierauf im Kreise herum noch getrunken, ober man läßt auch den Weibern etwas von der Speise und Suppe übrig, welche beide zusammen die Turray oder die gehäckelte Speise heißen.
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Vegetabilische Nahrung.
Die Hirsebereitung.
Von Getreidearten ist die Hirse (thara) dem Nogayen die liebste. Zu seinem Nomadenstande war Hirse fast einzige Speise neben dem Fleisch. Sie gedeiht in den Gegenden des Asowschen Meeres besonders gut, und wird von den Nogayen auf verschiedene Weise zubereitet, sowohl zu Speisen als, wie schon gesagt, zu dem Getränke der Bosa. Die rohe Hirse wird an der Sonne auf Teppichen ausgebreitet und durch die Wärme spröde gemacht, worauf die Hülse, jedoch nicht ohne Mühe, sich in dem großen hölzernen Mörser mit einem schweren Stämpfer abstoßen läßt; oder die rohe Hirse wird auf der Hand- oder auch in einer Pferd- oder Windmühle leicht gerieben, so daß die Hülse entzwei geht. Hierauf wird die Hirse in einem feinen Haarsiebe gesiebet, oder im Freien am Winde einige Fuß hoch herunter auf die Erde geschüttet, wodurch sich die Hülsen (kebek) von den schweren Körnern trennen und vom Winde fortgenommen werden. Diese Hirse, deren Hülsen roh abgestoßen worden, heißt tüè, Beliebter und häufiger ist die geröstete Hirse, sok genannt. — Die rohe Hirse wird in einem großen Kessel mit ein wenig Wasser über einem Feuer gehalten und von Zeit zu Zeit umgerührt, bis die Körner aufschwellen. Hierauf wird diese Hirse in kleinen Portionen nach und nach in dem Kessel trocken über dem
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Feuer geröstet, wodurch sie eine dunkelrothe oder braune Farbe bekommt und die Hülsen sich in dem großen Mörser leicht abstoßen lassen. Die Körner, von der Hülse getrennt, haben so einen sehr kräftigen, angenehmen Geschmack und können nun auch, ohne gekocht zu sein, gegessen werden, entweder mit ist dicker Milch oder mit mit Butter. Sie wird, auf diese Weise bereitet, von den Tataren in Schläuchen auf die Reisen mitgenommen. Die ungeröstete muß immer gekocht werden und ist kraft- und geschmackloser.
Die gewöhnlichste Speise der Nogayen, besonders des Morgens, ist im Wasser gekochte Hirse, welche hernach mit etwas Salz, mit Buttermilch oder mit Djughrt vermischt oder angerührt wird. Ein sehr gesundes nahrhaftes Gericht — Als etwas noch Köstlicheres wird Hirse mit Milch gekocht und als ein dicker Brei mit frischer Butter verzehrt, welche man in die Mitte der Schüssel in eine gemachte Vertiefung anbringt. Diese Speise heißt Botga und wird auch etwa mit kleinen Stücken Fleisches gemengt. Sie ist der Pillaw oder Pillau der Türken, welcher aber von Reis bereitet ist. — Für Kinder und alte Leute wird geröstete Hirse ganz zermalmt oder zerstoßen und ebenfalls mit Butter oder dicker Milch vermischt und wird dann talkan genannt.
Die im Wasser gekochte und mit Rührmilch oder mit Djughrt zubereitete Hirsengrütze ist die Suppe des Nogayen und wird Schorba genannt. Der Hauswirth heißt nach dieser der Schorbadschi; gleichsam der Suppenwirth, Suppenvater.
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Mehlspeisen.
Wenn auch der Tatar Fleisch über alles und Hirse vor andern Pflanzenspeisen liebt, so wechselt er doch gerne ab und kann sich nun auch, da er immer mehr Getreide pflanzt, von eignem Waizenmehl seine verschiedenen Arten von Kuchen und Pastetchen bereiten. Das Gewöhnlichste, was von Waizenmehl bereitet wird, ist eine grobe Art Nudeln, lang und schmal geschnittene Stücke Teig in Wasser oder Fleischbrühe gesotten und mit dicker Milch und Fleischstücken vermischt. Diese sogenannte Lachsa-Schorba ist neben der Hirsegrütze oder gewöhnlichen Schorba die bei den Nogayen am häufigsten vorkommende Speise.
Fleischpastetchen werden kleine und große gemacht (ikon und g’sgenäböruk). Man läßt sie nur so lange in siedendem Wasser kochen, bis der Teig etwas gahr wird; also etwa 5 Minuten lang. Das fein gehäckelte Fleisch, welches sie enthalten, bleibt aber beinahe roh und in seiner ganzen Kraft. Oft werden solche Pastetchen auch in Butter gebacken.
Kuchen finden sich mehrere Arten. Die gewöhnlichste wird an Hochzeiten, Aerntefesten, den Bairams und Begräbnißtagen zubereitet und heißt bauersak. Dann sind noch die scharlama und katlama zu bemerken, bei denen der Teig mit Butter, Milch und Eiern angemacht wird. Die nokum sind eine Art Gebäck, werden zum Thee gegessen oder auch auf Reisen mitgenommen.
Alles dieses Backwerk ist eben nicht sehr fein, für schwache Magen schwer zu verdauen und ausserordentlich unreinlich. Der Hebel ist ein altes versäuertes Stück Teig und heißt maia.
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Wie bei dem Russen der Bortsch, bei’m Türken der Pillaw, bei'm Italiener die Makkaroni, bei'm Engländer der Pudding — so ist beim Nogayen eigentlich die Schorba doch immer die Hauptspeise.
Das Brot.
Wie bei uns und auch zum Theil bei den Nogayen die Einladung zu einer Mahlzeit auf die Suppe (schorba) geschieht, so wird doch bei den Nogayen dabei noch häufiger das Wort ütmek, Brot, gebraucht. Wie Joseph seine Brüder einlud, mit ihm das Brot zu essen (1. Mose 43, 25.), so wird auch von den Tataren das Wort ütmek für irgend eine Mahlzeit oder ein Essen gebraucht. Das, was bei uns Brot genannt wird, war bisher unter den Stepptataren noch wenig in Gebrauch und kommt erst jetzt immer mehr in Aufnahme, indem sie immer mehr Waizen und auch Roggen pflanzen. Indessen giebt es noch viele Familien, die kein Brot backen und es vorziehen, nach alter Sitte aus Waizenmehl Schorba, Kuchen und Fleischpastetchen zu machen.
Roggenbrot gilt für ungesund; doch wohl nur darum, weil dies schwarze Brot ihnen zu schlecht und gemein ist und weil sie es in der That nicht gehörig zu backen wissen. In den Dörfern der Teutschen herumbettelnde Nogayen sieht man die erhaltenen Stücke Roggenbrotes auf der Straße wieder von sich werfen. Es giebt aber auch Solche, welche recht froh darum sind und sich Mühe geben, das Backen dieses Brotes den Teutschen abzulernen.
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Wenn der Nogaye Brot backen will, so wird das Mistkohlenfeuer, welches fast immerwährend brennt, auf die Seite geschoben, der Teigklumpe auf den erwärmten Erdboden gelegt, einige Scherben eines zerbrochenen eisernen Kessels darüber gestellt und diese mit glühender Kohle und Asche überdeckt. In Ermanglung dieser wird die Kohle und Asche‚ ohne weiters über den Teig geworfen und dieser so einige Zeit in der Asche gebacken.
Wird Fett oder Butter unter den Brotteig gemengt, so wird das Brot kalakai genannt.
Sonderbar, daß, obwohl der Tatar mit Hirse, Mehl und anderer Speise eben nicht sorgfältig umgeht, doch jeder Brosame Brotes von der Erde aufgehoben wird und das Treten darauf für Sünde und als Unsegen bringend angesehen wird.
Noch einige Pflanzenspeisen.
Die einzige Pflanze, welche wild auf der Steppe wächst und von Nogayen, jedoch meistens nur von Weibern und Kindern gesucht und roh gegessen wird, ist eine Art Kresse, von den Tataren kschö genannt.
Alle Arten des Obstes werden von den Nogayen sehr geliebt. Sie erhalten solches von krimmschen Tataren gegen Hirse und Waizen sehr theuer und in schlechter Beschaffenheit; meist nur das, was anderswo nicht angebracht werden kann. Aber, obschon nur halb reif oder verdorben, kann es doch immer nur von Wenigen gekauft werden und
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wird als Luxus und Delikatesse angesehen. Apfel (alma), Birn (armut) und Weintraube (djüsim) kommen aus der Krimm. Kirschen (keris, türkisch kiras) erhalten sie etwa von Teutschen. Feigen (endschir) und Haselnüsse (schetluk) bringen die Nogayen von russischen Märkten den Kindern als Geschenke mit.
Ausserordentlich beliebt ist die Melone, welche zwar der Nogaye selbst nicht pflanzt, aber von Russen und Teutschen eintauscht oder mit Gelde bezahlt. Es wird für diese Frucht, welche in manchen Jahren sehr überflüssig und in bedeutender Größe wächst, jährlich viel Getreide und Geld von den Tataren ausgegeben.
Die süße Melone, die länglicht und von gelber Farbe ist, mit weissem Fleisch, wird kaun genannt; die Wassermelone aber, welche sehr groß und rundlicher gestaltet ist, ein weisses oder hochrothes Fleisch hat und ungemein saftig und erquickend ist, nennen die Tataren karbes oder charbes, die Russen arbus.
Die gelbe Melone soll bei häufigem Genusse Fieber erregen, die Wassermelone hingegen der Gesundheit sehr zuträglich sein. Diese wiegt oft bis auf 40, gewöhnlich aber von 15 bis 20 Pfund. Eine mittelgroße kostet, wenn sie gut gerathen sind, etwa zwei Kopeken Kupfer oder nicht völlig einen Kreuzer. Gurken sind ebenfalls beliebt; man hat sie sehr groß und vom besten Geschmacke bei den Russen.
Als Gewürz an die Speisen kaufen sich die Nogayen den spanischen oder türkischen Pfeffer (swischi), Knoblauch (sarmsak) und Zwiebeln (sogan). Den eigentlichen Pfeffer, der etwa dem Thee beigemischt wird, nennen sie bursch.
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Die Mahlzeit
An der Tafel des Nogayen ist dem an Reinlichkeit Gewöhnten der Hunger der beste Koch; ohne diesen wird er kaum sich entschliessen können, auch nur müßiger Zuschauer zu sein. Freilich sieht der Fremde gemeiniglich nicht, was bei der Zubereitung der Speise vorgegangen ist. Die Nogayen, wiewohl sie im Vergleich mit einigen andern Völkern vielleicht noch reinlich genannt werden können, sind es keineswegs in den Augen eines Teutschen oder gar eines Holländers. Ueberall, und nicht mit Unrecht , sind die Nogayen als ein unreinliches VoIk beschrieben. Es giebt aber auch da Ausnahmen und man findet Häuser, in denen es recht ordentlich zugeht und Weiber, welche eine reinliche Speise zubereiten. — Auch im unreinlichsten Hause fällt nicht bei jeder Zubereitung und jedem Essen alles das vor, was hier aufgezählt wird, sondern mehr und weniger davon; bald dieses, bald jenes. Hat man die Zubereitung nicht gesehen und will man oder muß man mitessen , so thut man wohl, sich den besten Fall zu denken.
Zu Zeiten geht es beim Essen so ziemlich erträglich her und die Speisen haben nicht immer ein unreinliches Aussehen. Die Kuchen schmecken den Fremden wohl auch recht gut. Ich sah mehrmals Pferdemilch und Pferdefleisch verschmähen und dagegen Kuchen, die doch das Unreinlichste von allem sind, mit Lust essen.
Will man bei der Schilderung einer Nogayen-Mahlzeit mit dem Wasser den Anfang machen, das getrunken oder mit dem gekocht wird, so ist dies oft schon unreinlich genug. Das
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Wasser, an sich schlecht, kommt aus einem Brunnen, in welchem sich gar oft kleines Gewürme, Kröten, todte Mäuse und Heuschrecken finden, oder der mit Schlamm angefüllt ist. Im Hause wird das Wasser noch von den Kindern verunreinigt , die während des Tages an den Wänden herumgehen, am Wasserkübel stehen bleiben, sich darin waschen, Erde und andere Dinge hineinwerfen, spucken oder gar hineinstehen. Auch Katzen und Hühner belustigen sich am Wasser und saufen sich satt.
Bearbeitet Mamma einen Teig zu Kuchen oder Brot, so sind die Kinderchen, welche keinen Spielzeug haben‚ sogleich zur Hülfe bereit. Die Frau, mit unreinlichen Händen, bekommt nun noch die mit Koth überzogenen Kinder neben sich und da für diese kein Platz auf dem Brette (supra) ist, auf welchem die Mutter den Teig zurecht macht, so giebt diese den Kindern eine Handvoll Mehl und einige Stücke des Teiges, damit sie, beschäftigt, ihre nicht hinderlich seien. Die Kinder ahmen nun auf dem nackten Erdboden der Mutter alles nach, zerstreuen das Mehl im ganzen Zimmer herum, drücken und walzen den Teig. Mutter und Kinder machen so viele und unreinliche Handgriffe, daß man sich ärgern möchte und doch lachen muß. — Ist die Mutter mit ihrem Stücke Teig fertig geworden, so nimmt sie nun noch die Stücke der Kinder zusammen, um daraus ihre Kuchenzahl zu vollenden. „Die Erde ist unsere Mutter, sagen sie; dies ist Erde, wie wir sind!" — Die Kuchen werden nun in einer Butter gebacken, die voll Mücken, Haare und Unsauberkeit ist und aus einem Topfe kommt, den man kaum ansehen darf und in welchen selbst der Abgang von dem Lichtstocke geschmissen worden. Aehnliches geht bei allem vor, das von Mehl und Butter zubereitet ist.
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Das Fleisch, wiewohl einfach behandelt, nur gesotten, trifft doch auch ein schlechtes Schicksal. Da es, ehe die Mahlzeit angeht, in großen Schüsseln unbedeckt auf der Erde steht, so machen sich Kinder und Katzen darüber her, ziehen die Stücke Fleisch auf dem Erdboden herum und die Katze frißt sich satt, ehe ein Menschenkind etwas bekommt. Das Weib sieht sich nicht fleißig um und wenn so was bemerkt wird, so nimmt sie das Stück der Katze aus dem Munde und legt es hübsch ordentlich wieder in die Schüssel. Auch die Weiber in der Küche, denen eigentlich nur das von den Männern Uebriggelassene zukömmt, nagen da und dort von einem Stück Fleisch, das den Männern aufgetragen werden soll, einen guten Bissen ab, so daß die Gäste im innern Zimmer von Menschen und Thieren benagtes und verunreinigtes Fleisch erhalten.
Vor dem Essen werden die Hände gewaschen und mit dem djaghluk abgetrocknet; hierauf setzen sich vorerst die ältern Männer der Gesellschaft, welche den Bart tragen, um die Schüssel herum. Man streicht sich unter Gemurmel den Bart und jeder langt mit den Händen ein Stück Fleisch aus der Schüssel; das jüngere Volk hockt krötenartig oder auch mit unterschlagenen Füßen an den Enden des Zimmers herum, um die Alten essen zu lassen und sie erzählen zu hören. Hat einer der Alten einen Knochen halb abgenagt und will er. einem der nahesitzenden jungen Männer wohl, so reicht er ihm den Knochen und jener hält es für eine besondere Gunstbezeugung und versucht nun seiner Zähne Kraft auch noch an dem Stücke. Andere legen die halb abgenagten Fleischstücke in die Schüssel; man betet mit aufgehobenen und vorgehaltenen Händen; das alhemda schugger! oder
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allah bereketwirsen! wird ausgestoßen, die Hände mit dem Fettuch (tastamal) abgewischt, dann gewaschen und abgetrocknet, worauf sich die jungen Leute um die Schüssel setzen und mit Lust noch weiter die Knochen abnagen. Endlich wird der Rest noch in’s Vorzimmer den Weibern herausgetragen, von welchen die Knochen entzweigeschlagen, ausgesogen und des Markes beraubt werden. Was Alt und Jung nicht wollte oder was vielleicht gar nicht zerbissen und zerkaut werden konnte, wird nun noch verzehrt und widersteht weder den herrlichen Elfenbeinzähnen noch dem Gaumen und Magen der Weiber. Nach ihnen bleibt dem Hunde vor dem Hause nur wenig mehr übrig. Bevor aber dieser die Knochen kriegt, werden sie von den Weibern noch einmal in die Schüssel geworfen, die schwache Fleischbrühe daran gegossen, worauf man mit der Hand die Knochen durcheinander walkt. Dann wird die Brühe in’s innere Zimmer gebracht und von Jung und Alt in kleinen hölzernen Schüsselchen herumgeboten und getrunken. Der Leser wird wohl dazu sein herzliches: „prosit die Mahlzeit!“ abgeben.
Der Nogaye hält dafür, daß das Fleisch ohne diese Brühe, sorpa genannt, nachher getrunken zu haben, nicht zuträglich sei.
Abscheulich, über alle Vorstellung eckelhaft ist, daß, während dem man um die Schüssel sitzt, von Zeit zu Zeit neben oder über die Schüssel ein Abgang aus der Nase geschickt mittelst der Finger gegen die Thüre oder einen leeren Platz im Zimmer geschleudert wird und daß das laute Aufstoßen aus der Kehle bei den Tataren nicht als unanständig unterdrückt wird. Finden sich bei dem Genusse einer dünnen Speise nicht
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für jeden Mitessenden Löffel, so wird, damit keiner zu viel und keiner zu wenig erhalte, nur ein Löffel gemeinschaftlich gebraucht, welcher von einem zum andern immer im Kreise herumgeht.
Wenn die Sache hier, zwar durchaus wahr berichtet, doch, wie schon gesagt, durch Zusammenstellung ungleichzeitiger Umstände grell erscheint, so kann man doch daraus entnehmen, daß es im Ganzen eben nicht reinlich bei’m Nogayen zugeht und daß er nicht eckelhafter Natur ist. Genug, daß hier nichts gesagt ist, was nicht bald mehr, bald weniger in jeder Tatarenhütte vorkommt.
Der Nogaye meint, daß ein Mund so gut sei als der andere und hiemit, was vom einen in den andern kommt, Niemandem Eckel erregen sollte. — Daß aber der Nogaye oder vielmehr die Nogayin mit andern Völkern Asiens, Afrika’s und Amerika’s und mit dem Affen sogar Geschmack an einem gewissen kleinen Ungeziefer habe, davon wollte ich mich lange nicht überzeugen, bis ich endlich auch gar zu häufig die zarte Hand einer Nogayin vom schwarzen Kopfhaar mit gespitzten Fingern den Weg zum Munde nehmen sah.
Ueberhaupt ist das weibliche Geschlecht unreinlicher, nachlässiger und gleichgültiger als das männliche und scheint durchaus keine Vorstellung von dem zu haben, was wir Eckel nennen.
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Zeichnung 14: Vorhaus oder Küche
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Wohnungen.
Häuser. Hausgeräthschaften. Dörfer.
Der Nogaye baut sich sein Haus selbst aus Erd- oder Windziegeln. Es wird vor dem Dorfe, in der Nähe des zu einem Hause bestimmten Platzes, die Erde von einem Kreise, der etwa 12 bis 15 Fuß Durchmesser hält, in der Tiefe von 2 bis 3 Fuß umgegraben, Wasser aus den Cisternen auf diesen Platz geführt und alles wohl mit kurzem Stroh und Heu vermengt, mittelst mehrerer Pferde, welche in diesem Kreise herumgeritten werden, durchgeknetet, hierauf in eine hölzerne Form gedrückt und diese Ziegel (kerbitsch) am Winde getrocknet, hernach in der Weite, welche man dem Hause geben will, gewöhnlich bis auf die Höhe von 6 Fuß als eine Mauer aufeinander gelegt, ohne Mörtel oder Leim oder irgend etwas dazu zu gebrauchen. Für einen kleinen Eingang und für ein paar Fenster wird offner Raum gelassen. Man macht innerhalb dieser Mauer meistentheils nur zwei, oft aber auch drei, selten vier Abtheilungen. Zum Dache werden einige Querbalken (makas) über das Gemäuer gelegt und in diese die Giebelbalken eingekerbt. Diese Balken werden dann mit Latten belegt, auf welche zuerst Schilf, dann Gesträuch, auf dieses Erde und am Ende noch Asche geworfen wird. Diese Dächer (döbé) sind über einen Schuh dick und lassen keinen Regen durch. Gewöhnlich wächst bald Gras auf ihnen. In der Mitte läßt man ein Loch für den Ausgang
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des Rauches offen, oder es wird auch wohl ein kleiner Schornstein (tütünluk) von Erdziegein gebildet. — Die Thüre (kapu) ist von Holz und zwar meistentheils durchweg, d. h. mit Angel und Riegel. An den einen Fenstern werden hölzerne Gitter (pormaklek) angebracht. Im Sommer werden übrigens jene frei gelassen, zur Winterszeit aber mit einem kleinen russischen Fenster (penscherä) versehen, bei ärmern Tataren nur mit einem ausgespannten, sehr dünnen Fell überzogen, welches zwar nicht durchsichtig jedoch durchscheinend ist. Der Boden des Hauses bleibt die Mutter Erde und das Haus bildet von da bis an die Spitze des Daches einen einzigen Raum, nur ein Stockwerk. Ist das Gebäude so weit fertig, so wird es aussen und innen mit Leimerde bestrichen und über diese noch mit weisser Erde (ak balschik) übertüncht. Zu Ziegeln findet sich die Erde überall. Pfeifen- oder weiße Thonerde giebt es in der Nähe des Milchflusses; Steine werden keine gebraucht; das wenige Holz kommt vom Dnjeper herunter und wird von den Russen und Teutschen gekauft.
Diese Erdhütten halten sehr warm. Mehrere Nogayen, welche größere, zum Theil nach russischer oder teutscher Art gebaute Häuser haben, sind mit denselben unzufrieden und finden nun wieder die althergestammte Weise zu bauen vortheilhafter und besser.
Der größere Theil der Nogayen zieht diese Erdhütten für die kalte Jahreszeit dem Wohnen in Kibitgen oder otüi, welche sie früher als Nomaden bewohnten, vor; allein für den Sommer wünschten sich Alle diese leichten Hirtenhütten zurück. Im Ganzen genommen mag jedoch der Vortheil, in Hinsicht der Bequemlichkeit sowohl als auch der Gesundheit,
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überwiegend auf Seite der festen Wohnplätze oder der Erdhütten sein.
Der Theil des Hauses, in welchem man zuerst durch die Thüre eintritt, ist das Vorhaus oder die Küche (ajatüi), der zweite Theil das Schlafzimmer, der Harem der Türken, auch das innere Zimmer (itsch üi) genannt. Das Ganze heißt schlechtweg üi oder, wenn das Haus einen Hof bildet, sarai. — Früher wärmte man sich allein nur am Feuer im Vorhause; jetzt findet man in den meisten inneren Zimmern auch kleine Leimofen (pesch).
Die Länge eines Hauses beträgt 20 bis 30, die Breite etwa 10 Schuh. Die Kosten eines geringen Tatarenhauses betragen ungefähr 80 Rubel, bei einem der besten 200 bis 300 Rubel oder 10 bis 15 Louisd’or. Mit jedem Jahre sieht man, wenn nicht größere, doch immer besser gebaute Häuser in den Dörfern errichtet, an welchen mehr Holz und auch Eisen sich findet.
Eine große Plage in diesen Häusern ist der Rauch, der sich bei gewissen Winden ganz im Zimmer sammelt und von aussen her eingedrängt wird. Stehend ist er oft kaum auszuhalten. Legt man sich ganz auf den Boden, so kann man wenigstens Athem schöpfen. Nicht weniger lästig ist die Menge Erdflöhe, welche gleichsam aus dem Boden herauswachsen. Das Mittel, welches die Nogayen dagegen anwenden, ist, daß sie von Zeit zu Zeit den Boden des innern Zimmers mit in Wasser aufgeweichtem Schaafmist überziehen. Ställe (aran) für das Vieh werden nun auch immer mehrere und zwar aus Erdziegeln gebaut. Das Ganze umgiebt ein hoher Wall oder eine Mauer von Gesträuch, altem Heu oder von getrocknetem Miste. Diese Mauer bildet auch noch Höfe neben dem Hause,
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in welchen das Vieh die Nacht durch lagert und andere, in welchen Heu und Stroh oder Getreide aufgethürmt wird. Sie heißen eulün und werden gewöhnlich mit einem vorgelegten Wagenrade, welches als Thüre dient, verschlossen. Aussen um die Mauer ist noch ein breiter und tiefer Graben (endek) gezogen, um fremdes Vieh abzuhalten und die Mauer vor Schaden zu schützen.
Das Haupt-Küchengeräth einer Tatarenfamilie besteht in dem großen eisernen Kessel (kasan), nach welchem auch Tataren und Kalmüken die Stärke ihrer Aul und Stämme zählen. So und so viel Kessel bedeuten so und so viel Familien. Zum Kessel gehören der oschak oder Dreifuß, der kapak oder Deckel und der schomisch oder Schöpflöffel. Nächst diesem findet man in jedem Hause einige größere und kleinere Schüsseln, schara, ajak und tostagai genannt, einige Löffel (kasek), zwei Wasserkübel (schelek), einen Hammer (schott), ein Messer (bschak), eine kupferne Wasserkanne (kumgan), einen Schlauch (thuluk) von Leder oder von dem ganzen Fell eines jungen Viehes oder auch eines Fötus, zur Aufbewahrung von Mehl, Hirse u. dgl., eine Mulde (teknä), welche zu vielerlei Gebrauche dienen muß, in welcher auch gewaschen wird und die bei manchen Nogayen zugleich die Stelle eines Brunnentrogs versiebt, aus welchem das Vieh getränkt wird; ferner die kokba oder der Wasserschöpfer, welcher an eine lange Stange oder an einen Strick befestigt ist; die kana oder supra, auch sofra, ein niedriger etwa 2 oder 3 Zoll hoher Tisch, auf welchem Speisen zubereitet und auch aufgetragen werden. Andere Hausgeräthe, die aber nicht in jedem Hause zu finden sind, sondern die der Aermere vom Reichern zu entlehnen pflegt, sind: das Butterfaß (kubé),
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Zeichnung 15: Inneres Zimmer eines Tatarenhauses.
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der hölzerne Mörser zum Abstoßen der Hülsen (kihlé), die Handmühle (asrau, auch kohl dighrmen) aus zwei Reibsteinen bestehend, offene Geschirre oder Fässer (kapaklé), feine und grobe Siebe, um Mehl zu sieben (elek und scheltek), ein hölzerner Schlegel (takmak), ein eiserner Spieß (siss). Mehrere wenig bedeutende Sachen, als: Feuerzange (mascha), Buttertopf (schölmuk) u. s. w. sind kaum der Nennung werth.
In dem innern Zimmer findet man die Wollteppiche (kis) und die Stroh- oder Schilfmatten (schepta), mit welchen der Boden des Zimmers oder auch das Bettgestell (oronduk) bedeckt ist; dann eine Kiste (sanduk), in welche Geld, Putzwaaren, Schmuck der Weiber aufbehalten wird. Des Tages werden auf diese die Matratzen (thüsük) zusammengelegt aufgeschichtet, Nachts aber auf das Bettgestell oder auch auf den Boden ausgespreitet. Auf diesen liegen auch die Kissen (djastich), Bettdecken (tschurkan), Betttücher (sersau); Wischtücher zu Fett und Wasser (djaghluk und tastamal) sind an einen hölzernen Nagel aufgehängt. Man findet unter anderm auch den Lichtstock (schraklak) und bei Reichen einen Vorhang (schmöltuk) über das Bettgestell, um die schlafenden Kinder vor den Mücken zu schützen.
In der Küche oder in einem Vorrathzimmer findet man bei wohlhabenden Nogayen auch eine Schaufel (krok) oder einen Spaten zum Graben (kasgir), wohl auch eine kleine Säge (b’schgha), einen Bohrer (berau), ein Beil (balta).
Arme behelfen sich mit sehr wenigen Geräthschaften. Besser als mit Küchengeschirr ist man im Ganzen mit Matratzen und Bettzeug versehen. Zwischen Armen und Reichen bemerkt man keinen gar großen Unterschied weder in der
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Bauart der Häuser noch in den Geräthschaften. Er zeigt sich meist nur in der Anzahl des Viehes. Selbst der Reiche lebt noch immer sehr einfach, sucht seinen Reichthum zu verbergen oder setzt einen größern Werth auf Vermehrung seiner Heerde als auf den Genuß der Bequemlichkeit des Lebens.
Die Dörfer (Koi oder Aut) der Nogayen liegen größtentheils in Schlünden, Vertiefungen, an Teichen oder Bächen, überhaupt in Gegenden, wo nicht tief nach Wasser gegraben werden muß. Sie gewähren eben keinen merkwürdigen Anblick. Man glaubt nichts als Misthaufen vor sich zu sehen und man muß schon sehr nahe oder gleichsam im Dorfe selbst sein, um die Häuser sehen zu können. Wiewohl diese auf hohen Befehl jährlich frisch mit weisser Erde übertüncht werden, so sind sie doch zu niedrig, von hohen Mist- und Heuhaufen umgeben und mit begrünter Erde bedeckt, können sich also von Ferne dem Auge nur dann recht zeigen, wann sie um und um frei sind, Heu und Gesträuch verfüttert worden ist. Die Dörfer sind nicht regelmäßig angelegt wie die der teutschen Kolonisten, und kein öffentliches Gebäude zeichnet sich in denselben aus. Nur einige wenige Moscheen sind besser als die gewöhnlichen Wohnhäuser gebaut, jedoch ohne Minarets oder Thürme, daher auch sie meistentheils Viehställen ähnlicher sehen als Bethäusern. Es befinden sich im Gebiet einige Hauptmoscheen und in jedem Dorfe wenigstens eine, oft auch zwei oder drei gewöhnliche. Schulen sind, wie früher bemerkt, meistens unter der Erde gebaut und nur ein Dach von Erde steht als ein Hügel über die Fläche des Bodens hervor. Einige seit mehrern Jahren errichtete Getreidemagazine, in welche jeder Wirth ein gewisses Maaß von Früchten jährlich abzuliefern hat, sind
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die einzigen Gebäude, die jedoch nur in der Nähe etwas Auszeichnendes vor andern Gebäuden haben. Mursen oder Edelleute suchen sich mit ihren Wohnungen auszuzeichnen, sind es aber hier selten im Stande. Nur in der Krimm sieht man schöne tatarische Edelsitze.
Brennmaterialien.
Man denke sich die ungeheuern Flächen der ehemaligen kleinen Tatarei, welche fast ganz baum- und holzlos sind und frage sich dann: woher soll dem Bewohner der so wichtige und unentbehrliche Brennstoff kommen?
Der getrocknete Mist des Viehes und gras-, nicht holzartiges Gesträuch ist es, was den Mangel des Holzes ersetzt. Stroh ist nicht in genügender Menge vorhanden und was da ist, das ist von den Pferden klein getreten. Mist, ein vortreffliches Brennmaterial, findet sich hingegen im Ueberfluß. Er brennt, gut getrocknet, ohne den geringsten unangenehmen Geruch. Der Steppenbewohner benutzt und bereitet ihn auf verschiedene Weise. — Dieses nöthige Bedürfniß verdient hier wohl mit Recht auch eine Stelle, und es kann keine Erwähnung doch wohl kaum als Verstoß gegen den Anstand gelten, wenn es sich darum handelt, zu zeigen, wie verschieden die Menschen auf der Welt leben und sich zu beschäftigen haben. Bei uns wird der Mist zum Düngen benutzt. Dort, wo der Boden dies nicht bedarf, zum Brennen. Eine der wichtigsten Beschäftigungen des Nogayen ist daher das Sammeln und
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Zubereiten des Mistes, den er zum Heizen seines Schlafgemachs, besonders aber zum Kochen gebraucht. Die teutschen Kolonisten‚ die sich nicht gerne damit befassen, sind froh, im Winter von den Nogayen um gut Geld getrockneten Mist kaufen zu können.
Weit und breit auf der Steppe herum wird getrockneter Mist gesammelt und zu Wagen voll in’s Dorf geführt. Jeden Morgen wird auch der Hof neben dem Hause, wo des Nachts das Vieh lagert, vom Miste (bok) gereinigt und dieser von den Händen der Weiber in eine plattrunde Form geballt, mit etwas Staub und Erde gemischt und dann an der Sonne gedörrt. Diese Mistkuchen heißen japascha. Ausser diesem bildet sich auf diesen Höfen noch eine dicke Kruste von Mist, der von den Füßen des Viehs gut durchgearbeitet ist. Diese Kruste wird, wenn sie recht trocken ist, mit dem Pflugeisen in großen viereckigten Stücken abgestochen, welche dann aufeinander geschichtet und für den Winter oder zum Verkauf aufbehalten werden. Dieser Mist heißt kim und wird, damit er durch den Regen nicht verderbe, mit dünnem Kuhmist glatt überzogen. Dieser dünne Ueberzug (slau) ist besonders gut; um Feuer anzumachen, weil er sehr leicht brennt. In diesen drücken die Weiber mit den Fingern allerlei Figuren ein. Sie bilden sich auf ihre Zeichnungskunst nicht wenig ein und Eine sucht es der Andern an allerlei Schnörkeln zuvorzuthun; lebende Wesen dürfen jedoch auch an diesen Mistmauern und Haufen nicht abgebildet werden.
Der Pferdemist für sich allein ist zum Brennen nicht tauglich und wird deßwegen mit Kuhmist vermengt. Beides wird mit den Füßen gut durcheinander geknetet und hierauf wie die Erdziegel in Formen gedrückt und an Sonne und
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Wind getrocknet. — Es war oft lächerlich anzusehen, wie Männer und Weiber vor’s Dorf hinaus liefen, wenn die Pferde zur Tränke kommen, um möglichst schnell die Exkremente derselben aufzufangen und in Säcken mit sich nach Hause zu tragen. Man zankte sich noch wohl darum und ich schüttete mehrmal einen schon gefüllten Sack Mist einem dahergelaufenen jammernden oder schimpfenden Weibe Iachend aus, damit sie nicht zu kurz komme, sondern auch etwas dieser Roßäpfel mit nach Hause bringen könne.
Ausser dem Miste wird noch das Gesträuch (kuray) zur Heizung, hauptsächlich des Harems, benutzt.
Unterhaltskosten einer Tataren-Familie. Arme.
Würde in einer Tataren-Familie mehr Regelmäßigkeit in der Arbeit, mehr Ordnung und Uebersicht herrschen, so könnte man die Ausgaben noch bedeutend verringert sehen. Eine Familie, welche ein eignes Haus, Schaafe und Getreide zur Speise, Wolle und Felle zu Kleidern und Pelzen, Ochsen zur Bestellung des Feldes und milchgebende Kühe hat, bedarf jährlich doch immer noch für Leinwand, Kitäi, hölzerne und andere Geräthschaften, Ausbesserungen, Früchte, Thee u. s. w. etwa 100 bis 150 Rubel. — Bei einem guten Preis des Getreides und Viehes kann eine solche Familie jährlich leicht 200 Rubel ersparen und dabei noch die Heerde vermehrt sehen. Viele leben fast ganz von ihrem Vieh und Getreide und tauschen sich gegen dieses alle Bedürfnisse ein, so da sie kein
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baares Geld umsetzen. Man kann sagen, daß der größere Theil der Familien fast gar keine Ausgaben an Geld hat, indem oft unglaublich Vieles entbehrt wird, z. B. Früchte, Gewürze, Tücher und Putzwaaren, und man sich nur auf das Allernothwendigste beschränkt. Es giebt sehr sparsame Wirthe und Wirthinnen,, die alles zu Rathe zieben, im Hause wenige Geräthschaften halten, mit Wassersuppe vorlieb nehmen und dicke Milch und Butter , um einigen Erlös davon zu haben, nicht selbst essen, Kleider von Leinwand und Kattun schonen und Pelze oder selbstverfertigte Zeuge tragen und so jährlich vielleicht nicht über 20 Rubel an Armenier, Zigeuner, Russen, Teutsche und an krimmsche Tataren ausgeben. Im Ganzen aber könnte, wie gesagt, Vieles erspart und viel besser gewirthschaftet werden. Die Tataren werden besonders von Zigeunern und Armeniern sehr hintergangen, erhalten schlechte Waare und müssen sehr theuer bezahlen.
Durch sorgfältige Aufsicht, Aufmunterung zum Ackerbau und zu Handwerken, so wie zu Veredlung des Viehstandes; durch Anlegung von Märkten im Gebiete selbst; durch Errichtung von Magazinen; durch Beaufsichtung der herumziehenden Zigeuner und hausirenden Armenier und durch so Vieles könnte der Wohlstand des Nogayenvolkes sehr gehoben werden.
Wer bei einer Tataren-Familie in die Kost zu geben Lust hat, bezahlt monatlich 4, höchstens 5 Rubel oder etwa 2 Gulden Rheinisch. Ein Knecht wird jährlich mit 50 bis 100 Rubel bezahlt und er erhält dazu Nahrung und Pelze oder auch etwa Hemd und Beinkleider von Leinwand. — Knechte können sie nur wenige halten. Der Nogaye nennt den gedungenen Knecht kasmetkar oder rogat zum Unterschied von dem Sklaven (kul).
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Arme (fakirler) giebt es genug unter den Nogayen; doch gewiß weniger als bei ihrem frühern Nomadenleben, weil so Viele, die nur Knechte und Sklaven der Mursen waren,jetzt frei sind und ihr eigen Vieh und Land haben. Wenn sie auch wenig besitzen und in Vergleich mit Andern arm sind, so hatten sie als Sklaven früher gar kein Eigenthum und haben doch wenigstens jetzt ihre Freiheit. Dem Abendländer, zumal dem Städter mag freilich mancher Nogaye sehr arm erscheinen, der sich selbst nach seiner Weise wohl gar reich dünkt und unter den Nogayen für nichts weniger als hülfsbedürftig und arm gilt. Hat es der Tatar so weit gebracht, daß er sich ein Weib kaufen konnte, daß er einige Stücke Vieh, einen eisernen Kessel, einige hölzerne Schüsseln und Löffel, ein paar Matratzen, ein Hemd und Pelze hat, so baut er sich aus Erde sein Haus und ist ein zufriedenes und glückliches Glied des Mittelstandes. Es giebt aber auch einzelne Nogayen, welche an Vieh und anderer Habe ein Vermögen von 20,000 und mehr Rubel besitzen. Diese mögen aber dünne gesäet sein. Einige Nomaden oder Besitzer von sogenannten Koschen könnten aber auch bei uns als reiche Leute gelten.
Viele Arme ernähren sich fast einzig durch Betteln, benutzen die Gastfreundschaft, gehen bin und her in Häuser, wo eben ein Stück Vieh geschlachtet worden, besuchen fleißig die angekündigten Opfermahlzeiten, öffentliche Gastmahle, Hochzeiten u. s. w. In den Dörfern gehen sie mit mehrern Säcken von Haus zu Haus und schütten die Handvoll Getreide, die sie erhalten, in einen eignen Sack, so auch die Hirse, den Waizen u. s. w. Viele führen auch Töpfe bei sich,
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in welche ihnen ein Löffel voll Fett oder Butter gegeben wird. Kopekenstücke werden selten gegeben.
Man sieht sehr oft Bettler auf guten Pferden daher reiten, von einer Menge gefüllter Säcke umgeben. Sie steigen vor den Häusern nicht ab, sondern kündigen sich durch den lauten Ruf: all-ausch! was ein Ausdruck des Schmerzes, Elends ist, an.
Da der Koran die Barmherzigkeit und Wohlthätigkeit sehr empfiehlt, so wird selten ein Bettler leer abgewiesen. Besonders erhalten die Bettelmönche reichliche Almosen. Diese führen eine lange Stange bei sich, welche an einem Ende eine lange eiserne Spitze hat. Sie haben oft sehr gute Pferde und kommen zuweilen sehr weit her.
Oeffentliche Verpflegungsanstalten darf man hier nicht suchen. Waisen (oxusler) werden von den nächsten Verwandten oder von Andern aus Mitleid aufgenommen. Weibliche Waisen nimmt des Vortheils wegen Jeder gerne an. Bei Brandschaden unterstützt man zum Bau eines neuen Hauses mit Arbeit, die Verunglückten mit Getreide, ihr Vieh mit Zufuhren von Heu u. s. w. Kommt der Verarmte zu Kraft und Vermögen, so nimmt der Unterstützer das Gegebene gerne dreifach zurück, wie denn überhaupt die Nogayen wenig wahren Wohlthätigkeitssinn haben, das Gegebene hoch anschlagen und mit der Zeit es wieder zu nehmen trachten.
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Krankheiten Hausmittel
Wechselfieber , große Geschwüre (choter), Krätze, Masern (Tschischegg), Augenkrankheiten und venerische Uebel sind sehr häufig; bei Kindern Beschwerden im Unterleib und Koliken, meistens von Ueberfütterung und vom Genuß unverdaulicher und unnatürlicher Speisen. Krätze ist so allgemein, daß keine Familie davon verschont bleibt. Die Nogayen unterscheiden die Krätze vom Aussatz durch das Wort tätlu choter, süßer oder reiner Ausschlag. Der Körper der Nogayen ist mit großen Narben, mit Beulen und Krusten geheilter oder offener Geschwüre fast ganz bedeckt. Die scheußlichen Folgen der Lustseuche sind, wegen Vernachläßigung und Mangel an Gegenmitteln in furchtbaren Gestalten zu sehen. Die häufigen Augenentzündungen sollen hauptsächlich von allzuvielem Genuß des Fleisches, besonders des Pferdefleisches herkommen, überhaupt von scharfem Geblüte. Die vielen scharfen Winde auf der Steppe, die Staubwolken und der häufige Rauch in den Hütten mögen auch das Ihrige dazu beitragen.
Von der Pest (ölö) zeigte sich in diesen Gegenden schon lange keine Spur mehr. Vor zwanzig Zahren war sie in der Krimm und in Odessa. — Die Blattern oder Masern grassieren oft sehr stark. Eigenthümlich ist die sogenannte krimmische Krankheit, welche sich bald als Lustseuche, bald als Skorbut, bald als Aussatz gestaltet und für unheilbar gehalten wird. Eine Plage der Nogayen ist auch der Bandwurm, von ihnen Schwuoldschan genannt.
Die Pflege des Kranken ist elend genug; doch thut man,
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was man für Pflicht und für möglich hält. Der ärmere Kranke hat nichts Besseres als die gewöhnliche grobe Mehlspeise und Wasser, seltener ein Stück Pferd- oder Schaaffleisch. Reichere erhalten Thee und gesottene Hühner. — Wenn auch der Muselmann bei ansteckenden Krankheiten keine besondern Vorsichtsmaßregeln gebrauchen will, indem das Geschick oder die Bestimmung nicht geändert werden kann und er sehr geduldig in Schmerz und Leiden ist, so bedient er sich doch oft und wenn es ihm nicht viel kostet, recht gerne bei vielen Gelegenheiten der Mittel zur Verhütung oder Verminderung eines Uebels. In Nothfällen werden besonders zum Aderlassen und Schräpfen, zum Purgieren und Brechen, benachbarte Teutsche als hekimler oder Aerzte zu Hülfe genommen, vorher aber noch Hausmittel und Beschwörer benutzt.
Jede Arznei nennt der Tatar dara. Das erste Mittel gegen eine Krankheit besteht darin, daß der Kranke (maraslu) sich mit Pelzen gut zudeckt und in Schweiß zu bringen sucht. Damit dies um so leichter geschehe , genießt er die Speisen sehr heiß oder läßt sie mit türkischem Preffer sehr scharf und beissend machen. Den Kindern werden warme Ueberschläge von zu Kohle gebrannter Hirse auf den Leib gelegt. Die Krätze zu verhüten oder zu mindern, geben wohlhabende Nogayen ihren Kindern von Zeit zu Zeit etwas Honig (bal) oder Stücke weissen Zuckers (siker) zu essen.— Für Mundfäule oder Scharbock oder auch, wie man glaubt, die Zähne gut zu erhalten, nehmen Mädchen und Weiber Alaunstücke (aschudas) in den Mund. — Aerzte, Wundärzte und Hebammen haben die Nogayen nicht. Ein gebrochener Arm oder Fuß wird mit Schindeln und andern Hölzern fest zugebunden
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und die Heilung auf der Matratze ruhig abgewartet. Das Glied heilt, bleibt aber gewöhnlich krumm. Sehr gewöhnlich ist das Reiben an gewissen oder an allen Theilen des Körpers, besonders aber geschieht es auf den Rückgrad und an allen Gelenken. Diese Arbeit wird von alten Männern, mehr aber noch von alten Weibern verrichtet, die in einem gewissen Rufe stehen. An kranken Männern beweisen meistens alte Weiber ihrer Hände Kraft, ihre Geschicklichkeit im Manipulieren und ihren Einfluß auf den Patienten. Man findet also auch da im Groben eine Anwendung des thierischen Magnetismus, wenn dies starke Reiben nicht vielmehr allein nur gegen Verschliessung der Poren und Verhärtung der Muskeln dienen soll.
Chiromantie. Beschwörer.
Wenn in christlichen und kultivirten Ländern noch da und dort mit Zauberformeln und Geisterbeschwörern die Menschen sich hintergehen und bethören lassen, so wird man sich nicht wundern, daß solche Dinge auch unter Muselmännern und Tataren angetroffen werden.
Zigeunerinnen weissagen den Nogayen, besonders den Weibern, ihr künftiges unabänderliches Schicksal aus den Falten der Hände, finden guten Glauben und lassen sich dafür gut bezahlen.
Amulete spielen unter den mancherlei Bannungsmitteln eine Hauptrolle und tragen den Mollah’s bedeutenden Gewinn ein. Auf einen Fetzen Papier schreibt der Priester Beschwörungsformeln
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oder arabische Gebete; diese Zeddelchen werden bei gewissen Krankheiten in ein Becken mit Wasser gelegt und es wird zur Gesundheit von diesem Wasser getrunken; oder man legt solche Papierchen auch unter das Dach des Hauses, um den Teufel (schaitan) zu bannen, das Haus vor Feuerschaden, die Bewohner vor Krankheit und allem Unheil zu schützen. Fast jeder Nogaye trägt solche Zeddelchen als Talismann, in Gestalt eines Dreiecks oder Vierecks in buntes Zeug eingenäht, angeheftet an seiner Mütze oder auf dem Rücken aussen am Kaptan oder an einer Schnur um den Hals gebunden. Auch dem Vieh werden solche angehängt, entweder an die Hörner oder an den Hals. In jedem Dorfe finden sich alte Männer und Weiber, welche mit der Kraft begabt sein sollen, Geister und Teufel zu bannen, oder die man mit letzterm vertraut oder gar von ihm besessen glaubt. Diese werden zu Kranken geholt, um allerlei mit diesen vorzunehmen, das durchaus helfen soll, es mag sein, was es will. Dazu gehört auch das Anspucken (!) des Kranken unter gewissen Worten. Es werden auch Hennen geschlachtet, deren Blut von der Beschwörerin ausgesogen und dann im Hause herum ausgespuckt wird. Kleine Stücke Felle mit der Wolle oder den Haaren werden am Feuer gesengt und dann mit solchen verschiedene Theile des kranken Körpers berührt.
Den Kindern wird von dem Opferblut an Stirne und Wangen geschmiert. Sehr oft speien Priester den Kindern geradezu in das Angesicht, welches von den Aeltern sehr gerne gesehen wird. Dies alles hält man als den Kindern Glück und Gesundheit bringend. — Wird ein Priester zu einer Kranken gerufen, so setzt er sich neben sie und verrichtet ein
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Gebet, während dem er in abgemessenen Pausen mit der Hand leicht das Knie der Patientin berührt und jedesmal ein Gezisch oder Pfeifen, wie das eines Vogels, von sich giebt.
Auch auf Träume hält der Nogaye sehr viel und man ist bemüht, solche sich zu deuten und deuten zu lassen. Der Zaubereien und Beschwörungsstücke sind überhaupt sehr viel bei diesem Volk und es mag nun sein was es will, Zufall oder Vertrauen auf die Sache, kurz, es hilft gewöhnlich oder man hält sich darauf für gesund. — Was ihnen an ärztlicher Hülfe und an uns bekannten Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit abgeht, das ersetzt bei ihnen die Stärke ihrer Natur, die Einfachheit ihrer Lebensweise und unstreitig das Zutrauen, welches sie in die wenigen ihnen bekannten Mittel setzen.
Tod, Begräbniß, Trauer, Fest für Verstorbene.
Der Tod kommt dem Nogayen nicht sehr spät und ihm, nach eignem Urtheile, immer viel zu frühe, wiewohl er sich dieses nicht merken läßt, um sich ergeben in das Geschick zu zeigen. — Es wird hier im Ganzen kein hohes Alter erreicht. Besonders sterben eine verhältnismäßig sehr große Anzahl Kinder im ersten bis in’s dritte Jahr. Die Bevölkerung wächst nicht oder doch nur unbedeutend. Man findet im Durchschnitt sehr wenige starke und zahlreiche Familien. Auffallend ist das Mißverhältniß zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht. Jenes ist weit zahlreicher, was man aber freilich nicht auf der Straße beurtheilen kann, da
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das weibliche Geschlecht mehr zu Hause gehalten wird und weniger öffentlich sich zeigt.
Der Muselmann , der die Vorschriften des Korans erfüllt zu haben glaubt (worunter er jedoch nicht den moralischen Inhalt desselben, sondern nur die äussern ceremoniellen Gebräuche versteht), hofft sogleich nach dem Tode in's Paradies versetzt zur werden. Hat er sich Vorwürfe zu machen, so hofft er auf die Barmherzigkeit Gottes und einige gute Werke, die er geübt zu haben glaubt. Dem größten Theil genügt es, Muselmann gewesen zu sein oder geheissen zu haben, um in dieser Welt (döniada) zu den Gläubigen und in jener (achretda) zu den Seligen gezählt zu werden und das Paradies ererben zu können. Der Tatar als Muselmann stirbt gewöhnlich mit äusserlicher Ergebung. Er sieht den Tod als den letzten Akt der bestimmten Beschlüsse Gottes über den Menschen für diese Erde an. Doch wer will wissen, was in der Todesstunde im Menschen vorgeht!? Genug, Gott ist nicht ein harter Mann, der ärnten will, wo nicht gesäet worden ist oder viel fordert von dem, der wenig hat.
Die Weiber haben ebenfalls die Hoffnung aufs Paradies, um dort in den schönen Gärten den Genuß der Männer zu erhöhen. Die alten Weiber wissen, daß ihnen dort Verjüngung, ewige Jugend und Jungfrauschaft bei den Männern wartet, die sich ihrer bedienen mögen.
Kranke Tataren beschäftigen sich aber, wie dies auch bei uns der gewöhnlichere Fall ist, lieber mit dem Gedanken des Wiederaufkommens als des Todes und dieser muß ihnen noch um so unerwarteter als uns kommen, weil sie die Gefahr der Krankheit weniger kennen, sich nicht so bald krank glauben und nicht durch so vielerlei Umstände an den
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Tod erinnert werden. Liegt der Nogaye krank darnieder, so wird doch wenig von der Krankheit gesprochen; er sieht nicht so bald Verwandte und Freunde um sich herumstehen. Man macht überhaupt wenig Umständes; viele Kranke, die bei uns gewiß zu Bette lägen und von denen man schon das Testament haben möchte, arbeiten noch oder sitzen ruhig am Feuer, bis ihre letzte Stunde kommt.
Ist der Tatar gestorben, so wird er gewaschen, in ein Hemd oder in Leintücher gewickelt und nach Vorschrift des Korans sehr eilig, gewöhnlich in Zeit von acht, spätestens zwölf Stunden beerdigt. Der Leichnam wird ohne Sarg auf der Bahre getragen und von Verwandten, Freunden und dem Priester begleitet. An der Medsched wird angehalten, ein Gebet verrichtet, dann weiter gezogen. Der Todte wird aufrecht sitzend in’s Grab gelegt, das Angesicht nach Mekka gerichtet. Der Priester thut ein lautes Gebet, ruft den Namen des Verstorbenen und spricht: „Unser Herr ist Allah, unsere Religion der Islam, unser Buch der Koran, unser Prophet Muhammed, der Auserwählte!“ Das Grab wird zugedeckt und die Stelle durch aufgeworfene Erde oder, wenn es zu haben ist, durch einen Steinhaufen bezeichnet. Der Begräbnisplatz (mesarlik) ist nahe am Dorfe auf der Steppe und wird besucht, um auf den Gräbern zu beten.
In dem Haufe des Verstorbenen versammeln sich am Begräbnißtage sehr viele Weiber, die den Todten oder ihren Verlust beweinen. Eine Frau, die ihren Mann verloren hat, muß diesen mehrere Monate hindurch jeden Tag Abends bei Sonnenuntergang mit ihren Gespielen und Verwandtinnen vor dem Hause beklagen und betrauern. Das Geheul und Webklagen dieser Weiber ist nicht zu beschreiben; hört man
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es zum erstenmal, ohne die Sitte zu kennen, so wähnt man, es sei das Schrecklichste begegnet. Auch wenn die Weiber sich über den Tod eines Mannes freuen, so wissen sie die Tragödie doch so gut zu spielen, daß man sich wundern muß. Tränen fliessen die Menge; der Schmerz wird auf mancherlei Art mimisch ausgedrückt und die Hände unter beständigem Rufe: „bai! wai! bai! wai! O wehl O weh!“ gen Himmel gehoben. Dieses Geheul dauert jeden Abend etwa eine halbe Stunde lang und war und ist zum Theil noch jetzt auch bei den Juden gebräuchlich.
Zum Andenken an Verstorbene wird jährlich ein Fest gefeiert und ein Opfer gebracht, zu welchem die Dorfbewohner eingeladen werden.
Verschiedene Gebräuche.
Das Alter.
Das Alter wird geehrt und selbst dem sonst weniger geachteten weiblichen Geschlecht wird im Alter von Männern Achtung bewiesen. Eine alte Matrone darf sich schon mehr Freiheit herausnehmen und kommt sie wo zu Gaste, so wird ihr im innern Zimmer von dem Hauswirth auch wohl oft der oberste und beste Platz angewiesen. Bei allen Gelegenheiten wird zwischen den jungen Männern (djaschler) und den alten (kartler) ein wesentlicher Unterschied gemacht. Diese haben
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in allem den Vorrang und Vorzug. Die Alten sitzen oben an, die Jungen weichen, und treten ihnen den besten Platz ab. Bei’m Reiten wird der Aelteste in die Mitte genommen. Bei Gesprächen redet der Alte zuerst; die Jüngern horchen mit Achtung und unterbrechen ihm nicht in der Rede. Der Alte wird auch bei dem heftigsten Streite nicht von dem Jüngern geschlagen, höchstens beschimpft. Man hält es für eine Ehre, den Alten zu bedienen, dessen Pfeife anzuzünden‚ und wenn er sich waschen will, Wasser auf seine Hände zu giessen; das Pferd beim Aufsitzen desselben am Zaum zu halten u. s. w.
Die Aeltesten des Dorfes geniessen vielen Vorzug. Sie werden von dem achsakal oder Dorfschulzen und von vielen Dorfbewohnern in mancherlei Vorfallenpeiten zu Rathe gezogen und ihr Ausspruch gilt viel, gilt manchmal fast als Richterspruch. Die meisten Händel werden durch sie geschlichtet und kommen nicht vor öffentliche Richter und Vorgesetzte.
Die Alten, welche den Bart haben wachsen lassen, tragen, wenn sie zu Fuße gehen, einen Stock (tajak); der jüngere Mann in der Regel nicht; nur etwa im Dorfe, der Hunde wegen.
So findet man auch im Ganzen noch Achtung der Kinder gegen den Vater. So lange dieser lebt, haben sie zu gehorchen und handeln selbst erwachsen nach dem Willen desselben. Doch ist dies nicht mehr so allgemein. Bestimmter ist man bei den Rechten der Erstgeburt geblieben. Der erstgeborne Sohn ist und bleibt das Haupt seiner Brüder und hat auch den größten Antheil am Erbgut der Aeltern.
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Gastfreundschaft.
Die oft gerühmte Gastfreundschaft (musafirlek) der Tataren muß wohl zur Zeit des Nomadenlebens der Nogayen größer gewesen sein als jetzt. An die Stelle des Wesentlichen dieser alten, schönen Sitte ist fast nur noch ein bloßer Schein getreten. Indessen muß man diese Veränderung den Nogayen eben nicht zu sehr zur Last legen. Es bringt dies ihre geänderte Lage so mit und man wird nicht mehr von diesem Volke fordern wollen, als von Christen, als von aufgeklärtern Völkern erwartet wird. So viel von Gastfreundschaft, als man im Abendlande findet, ist ihnen auch in ihren veränderten Umständen geblieben; ja man darf wohl sagen mehr. Ich will nicht vom Einzelnen, sondern vom Allgemeinen erzählen, wie es sich im Ganzen zeigt. Allerdings, wenn von großer Gastfreundschaft von Reisenden erzählt wird, so gehört dieses, so viel mir bekannt ist, noch in die Zeit ihres Nomadenlebens, oder es waren Reisende, welche das Gebiet der angesiedelten Nogayen nur schnell durchzogen und ihre Bedürfnisse gut bezahlten, oder durch ihre Art zu reisen und durch ihr Aeusseres dem Nogayen Hoffnung gaben bezahlt zu werden und wenn sie nicht bezahlt hatten, auch nicht mehr wieder kamen und nicht wissen können, wie sie ein zweitesmal würden aufgenommen worden sein. Ein Reisender oder Fremder, der keine Aussicht zu irgend einem Erwerb oder zu Bezahlung giebt, wird, wenn er auch Muselmann ist, in den wenigsten Häusern der Nogayen eigentlich gastfreundlich aufgenommen. Kann der Tatar aber auf ein Geschenk hoffen,
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hat der Reisende ein gutes Aussehen, so wird er fast überall sehr gut aufgenommen, wer er auch sei; ebenso auch ein Tatar selbst oder jemand anders, mit dem man in näherer oder in Geschäftsverbindung ist. Auf Rechnung, um Vortheils willen, in Hoffnung eines Gegendienstes und wenn auch auf lange hinaus, wird ein solcher gut aufgenommen. Der Nogaye vergißt nicht, was er gethan hat und weiß es zu seiner Zeit wieder einzuziehen.
Es wird aber auch viel Mißbrauch von der Gastfreundschaft gemacht; nicht daß der Nogaye von vielen Fremden allzustark bezahlt (wiewohl es auch da und dort der Fall sein konnte) und dadurch verdorben worden wäre, sondern weil Niemand zu den ärmern Tataren gehen will und so in einem Dorfe oft nur ein oder zwei Häuser sind, in denen der Fremde herbergen will oder im welche er hingewiesen und geführt wird. Der Eigenthümer eines solchen Hauses sieht sich dadurch genöthigt, oft Fremde abzuweisen oder sich bezahlt zu machen und sein Haus einen Chan oder ein Wirthshaus sein zu lassen. Freilich darf man hiebei nicht an Engländer oder andere Ausländer denken — diese werden aus vorgenannten Gründen gewöhnlich gut aufgenommen und sind den Nogayen leider nur zu seltene Gäste — sondern an russische Beamte, Kaufleute, herumreisende Armenier und an Tataren selbst. Die Gastfreundschaft wird oft zu sehr in Anspruch genommen und der Geduldigste, Freigebigste und Gastlichste wird oft ermüdet und sucht sein Herz wie sein Haus zu verschliessen. In dem Hause, wo noch Freigebigkeit herrscht, finden sich aus dem Dorfe selbst, besonders wenn eben ein Stück Vieh geschlachtet worden, zur Essenszeit Tataren sehr häufig ein, so daß der Familie, die doch beim Kochen wirklich
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schon auf einen oder zwei Gäste gerechnet hat, sehr wenig für sich zu essen übrig bleibt. Dieses zu verhüten, wird oft, wenn man Gäste auf das Haus zukommen hört, eine Portion der Speise bei Seite geschafft; der Wirth ißt dann mit den Gästen und wenn diese fort sind, holt man das Zurückbehaltene hervor und die Familie ist sich noch satt. Tataren bedienen sich auch der Lüge, um Gäste los zu werden, indem im Vorzimmer durch die Frau die Abwesenheit des Mannes vorgeschützt wird, während dieser doch im innern Zimmer sitzt. Die Sitte will, daß kein Fremder bei einer Strohwittwe übernachten oder förmlich Abendbrot essen darf, und man entschuldigt sich also damit.
Da in den Tatarendörfern keine eigentlichen Wirthshäuser sind, so ist der Fremde oft in Verlegenheit. Viele ziehen vor, auf der Steppe, vom Dorfe entfernt, ihr Nachtlager zu nehmen, da sie hier nur Gott zu danken haben und nicht abgewiesen werden. Man bleibt besonders auch deßwegen gerne auf der Steppe, damit die Pferde im Grase weiden können, indem der Nogaye im Dorfe noch oft lieber Speise und Nachtlager dem Menschen als Futter für die Pferde hergiebt, da er dessen für sein eigen Vieh selten genug hat. Auch läuft der Reisende Gefahr, daß die Pferde in der Nähe des Dorfes (an den Füßen gespannt) weidend oder vor einem Hause angebunden, ihm gestohlen werden und im Ganzen sicherer auf der freien Steppe.
Wer an einem Tatarenhaus um Nachtlager oder Speise anfrägt, der darf nie nach einem Preis fragen oder Geld zum voraus anbieten, es sey denn, daß man damit die Bereitwilligkeit zu bezahlen andeuten will. Ein Preis würde nie zum voraus bestimmt und Geld vor der Hand nicht angenommen
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werden, so gerne dies auch nachher geschieht. Man will alte Sitte der Gastfreundschaft beobachten, aber doch bezahlt sein. Es ist nicht selten, daß der Nogaye von dem Fremden, der keine Miene macht, bezahlen zu wollen, vor seiner Abreise noch unverschämt große Forderungen macht, wiewohl er gegen den Fremden sehr zuvorkommend war und sich stellte, als wolle er durchaus nichts annehmen. Die Meisten jedoch lassen den Fremden auch ohne Bezahlung weiter ziehen und fordern, wenn auch unzufrieden, nichts von ihm. Wer bezahlen will, der giebt gewöhnlich, nach Sitte, nicht dem Hauswirthe Geld als Bezahlung , sondern der Hausfrau oder den Kindern etwas als Geschenk. Wenn der Wirth auch etwas mit eigener Hand annimmt, so übergiebt er das Empfangene vor dem Augen des Fremden seiner Frau oder den Kindern, scheinbar zum Beweise, daß er nichts haben wolle.
Der Nogaye ist geldgierig. Viele erwarten für Bemühung und etwas Speise bedeutende Geschenke, da sie den Reisenden, besonders den Ausländer, für reich halten, weil er reisen könne und weil er einige Sachen mit sich führt, die bei'm Nogayen Aufsehen machen: eine Taschenuhr, Spiegel, schöne Messer und Gabeln u. dgl.
Ein gewiß noch immer beträchtlicher Theil der Nogayen rechnet es sich jedoch zur Ehre an, einen Fremden zu beherbergen, und es wird oft alles aufgeboten, ihn gut zu bewirthen. Es giebt solche, die einen Fremden nöthigen, einzukehren, wie Abraham, der ihr Vorbild ist. Wo man einmal aufgenommen ist, da wohnt man sehr gut und man darf seine Effekten mit Ruhe dem Hauswirth überlassen, der über alles wacht. Von den Hausleuten wird der Fremde gewiß nicht bestohlen; eher etwa von fremden Tataren, die bald nach der Ankunft
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eines Reisenden das Haus anfüllen. Der Gast (konak) wird selbst gegen Feinde geschützt und Niemand darf ihm etwas zu Leide thun. Für das Alter auch dieser Sitte ist Lot ein Beispiel (1. Mose 19, 8).
Gewöhnlich wird dem Fremden das innere Zimmer eingeräumt und Frau und Kinder schlafen dann im Vorhause. Es wird ihm warmes Wasser zum Waschen gegeben. Einem lieben und vornehmen Gaste wird sogleich ein Schaaf geschlachtet, um ihm nicht nur übrig gebliebene Stücke Fleisch aufwarten zu müssen. Der Gast setzt sich ohne Umstände an den obersten Platz und spielt gewissermaßen den Herren im Hause, der Wirth den Untergeordneten. Der Fremde sagt gewöhnlich, was er essen wolle, und wenn aufgetragen ist, so ladet er den Hauswirth ein, mit ihm an der Mahlzeit Theil zu nehmen; auch andern Anwesenden und Kindern theilt er von der Speise aus. Es werden keine Komplimente gemacht und nur wenn der Gast abreist, dankt er für Alles.
Der Nogaye liebt sehr, mit einem Fremden sich zu unterhalten und will dabei auch seine Kenntnisse von Ländern und Völkern an den Tag legen, was auf eine Art geschieht, die den Reisenden staunen und lachen macht. So gern auch einige Tararen Gastfreundschaft üben, so ziehen doch viele Reisende, wegen des vielen Ungeziefers in den Häusern, vor, in ihren Reisewagen vor dem Hause zu schlafen und wegen der Unreinlichkeit der Nogayen, seinen eignen mit sich genommenen Proviant zu verzehren.
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Die Begrüßungsweise.
Die gewöhnliche Weise zu grüßen ist, daß man bei den Worten salam aleikum die flache linke Hand auf seine Brust legt, oder die rechte Hand dessen, den man begrüßt, mit beiden Händen drückt. Bei lang entbehrtem Wiedersehen eines Freundes oder einer Freundin kommt man sich mit aufgehobenen, offnen Armen entgegen; der rechte Arm wird über die linke Schulter des Freundes, der linke unter der rechten Schulter desselben kreuzweis nach dem Rücken geschlagen; man drückt und küßt sich. Das Küssen geschieht bei Freundschaftsbezeugung, auf Mund und Stirne; als Beweis der Achtung und Ergebenheit wird der Rücken der Hand des zu Begrüßenden geküßt und dann gegen die Stirne geführt.
Die Rache.
Nach alttestamentlichem Brauch hat auch Muhammed die Rache erlaubt, die Barmherzigkeit jedoch anempfohlen, weßwegen der Nogaye denn auch ein verdienstlich Werk gethan zu haben glaubt, wenn er am Feinde (duschmann) keine Rache übt. Zahn um Zahn wird noch recht oft vergolten; das „Aug um Aug“ hingegen oder Todtschlag selbst mit Blut zu rächen, sehen sie sich jetzt gehindert, müssen Strafen und Richten den russischen Vorgesetzten an gehörigem Ort überlassen.
Haben Nogayen unter sich Streit, hat man sich durchgeprügelt, so wird für löblich und gut geachtet, dass sich die
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Gegner noch vor Sonnenuntergang mit einander aussöhnen und sich vergebend die Hände bieten.
An einem Gaste, wenn er als Feind erkannt wird, übt der Hauswirth keine Rache.
Das Fest der Erstlingsfrucht.
Ist die Frucht auf dem Felde reif, so reitet der Nogaye auf dasselbe hinaus oder fährt mit seinen Kindern und schneidet sich eine Garbe, welche bei Hause sogleich ausgedroschen wird. Man röstet hierauf die Hirse, stößt die Hülsen ab und kocht sie. Der Waizen wird hingegen auf der Handmühle gemahlen und es werden Kuchen gebacken. Dies alles ist in kurzer Zeit geschehen; man ißt und freut sich und feiert das Fest der Aernte oder des Segens. Ein Theil der frisch gebackenen Kuchen wird in die Nachbarshäuser vertheilt, aus welchen man hingegen andere zurück erhält. Jedem, der in’s Haus kommt, wird von dieser neuen Speise vorgelegt.
Rein und unrein. Das Waschen.
Unrein ist dem Muselmann und Nogayen jeder Unbeschnittene, hauptsächlich aber der, welcher Schweinefleisch ißt. Dieses ist ihm wie dem Juden ein Gräuel. Ferner sind dem Nogayen auch Hunde, Wölfe, Füchse, Adler, Mäuse
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und alle Thiere, welche Mist oder Aas fressen, unrein (aram) Katzen, Pferde, Kameele und, wie es scheint, auch Läuse sind ihm reine Thiere (alal).
Das Waschen ist eine Vorschrift des Islam und soll vor und nach dem Essen, vor dem Gebet u. s. w. verrichtet werden; aber auch der Nogaye bestätigt den Erfahrungssatz, daß die Völker, bei denen das öftere Waschen Religionsgesetz ist, gerade die unreinlichern sind. Es geschieht nämlich dieses so nothwendige Geschäft, selbst wo es nur Befolgung der Vorschrift, nur Ceremonie ist, sehr oberflächlich und ungenau. — Mit ungewaschenen Händen essen gilt hier, wie bei dem Juden, als ein Vergehen und doch wird das Waschen meist nur dann beobachtet, wenn Speisen vorkommen, die mit der Hand berührt und nicht mit Löffeln gegessen werden.
Die kupferne Wasserkanne (kumgan) ist ein in den Tatarenhäusern überall vorfindliches, unentbehrliches Hausgeräth und wird auch auf Reisen mitgenommen. Junge Leute haben das Waschen weniger zu beobachten. Alte Männer und Weiber sieht man, ehe sie das Gebet verrichten, im Hause Hände und Gesicht waschen, dann mit der Kumgan hinter das Haus gehen, um sich die Schamtheile zu waschen. Dieses geschieht auch von den meisten, wenn ein Bedürfniß befriedigt worden ist.
Die Weiber waschen sehr oft, aber der herrschenden Unordnung wegen mit wenig Nutzen, die Kleider‚ selbst auch Wollkleider und Teppiche. Das Gewaschene wird zum Trocknen auf die Mistmauern oder auf den bloßen Erbboden ausgebreitet. Es wird zum Waschen des Sommers Regenwasser, im Winter, wenn möglich, Schnee genommen. Vor
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den großen Feiertagen werden alle Kleider gewaschen, um ganz gereinigt zu erscheinen.
Die Haare. Der Bart.
Wie alle Muselmänner und viele auch nicht muhammedanische Völker in Asien bescheeren sich die Nogayen männlichen Geschlechts das Haupt. Dem Nogayen scheint es nicht bloße Volkssitte, sondern auch von religiöser Bedeutsamkeit zu sein, da man es als besonderes Unterscheidungszeichen des Muselmannes betrachtet. Wahrscheinlich ist es das Zeichen eines Gelübdes, wie solches auch bei den Juden nach 4. Mose 6, 9. und Apostelgeschichte 21, 24. gebräuchlich war; oder als eine Art von Reinigung. (3. Mose 13, 40). Eine Zierde mag es dem Manne nicht sein und den Nutzen davon kann man auch nicht einsehen, da das Haupt hingegen beständig mit warmen Pelzmützen bedeckt wird. Es giebt auch Nogayen, welche ihr Haupthaar einige Zeit wachsen lassen; aber wenigstens wird es dann vor den großen Festtagen ganz abgeschoren. Alte Muselmänner haben ihr Haupt ganz beschoren; Männer von mittlerm Alter und Knaben lassen sich auf der Mitte des Kopfes einen größern oder kleinern Haarbüscher stehen, der Aidar genannt wird und entweder frei herabhängt oder in einen kleinen Zopf geflochten ist. Kindern läßt man das Haar wachsen, jedoch wird es auch wohl, um einer Krankheit besser vorbeugen zu können, abgeschoren.
Die Tataren bescheeren sich unter einander selbst gegenseitig ihre Häupter und zwar mit dem großen Messer, welches
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jeder Tatar zum Schlachten des Viehes, zum Gebrauch bei'm Essen und zu jeder vorkommenden Arbeit in Holz und Leder, bei sich trägt. Das Haupt wird zuvor mit Wasser gewaschen und das Messer auf dem Wetzstein (kairak) geschliffen.
Dem weiblichen Geschlechte rechnet man das Tragen langer Haare zur Ehre. Die Haare werden daher von ihm bestmöglichst gepflegt. Huren, freilich nicht allen, werden die Haare, zwar nicht ganz abgeschoren, aber doch à la Titus gestutzt.
Kann die Frau einen von ihrem Mann ihr ausgerissenen Haarbüschel den Aeltesten oder Priestern vorweisen, so hat sie gegen ihren Gemahl gewonnen Spiel.
Da die Weiber fast durchgehends lange und dichte Haare haben, so sind sie, bei ihrer Unreinlichkeit, immer voller Ungeziefer, obgleich sie sich oft einander den Kopf reinigen und einen großen Theil ihrer übrigen Zeit oder der Abwesenheit des Mannes mit dieser eckelhaften Arbeit in Gesellschaft ihrer Freundinnen zubringen. – Um das Ungeziefer zu tödten oder zu betäuben, waschen sie sich die Haare mit saurer Milch und kämmen sie dann durch. – Ist die Dame vornehm, so wird ihr von ihrer Gehülfin, als Parfümerie, zerkautes Gewürz, gewöhnlich Nelkenköpfe, welche von armenischen Kaufleuten herkommen, aus dem Munde in die Haare gespuckt.
Unter dem weiblichen Geschlechte herrscht auch die Gewohnheit, welche bei vielen Völkern gefunden wird, sich ausser dem Haupte an allen übrigen Theilen des Leibes die Haare auszuziehen oder durch eine gewisse Zubereitung, welche Surach genannt wird, sorgfältig zu vertreiben.
Das Haupthaar nennt der Nogaye schasch, alles andere an Menschen und Vieh kil.
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Den Kinnbart (sakal) lassen die Männer, erst im vierzigsten bis fünfzigsten Altersjahre wachsen. Jüngere tragen nur den Schnurrbart (miek). Ein Ziegenbart (atasakal) wird nur in Verbindung mit dem Kinnbarte getragen; eben so ehe so der Backenbart (diek). Ein starker Bart wird für eine Zierde und Ehre gehalten. Der Mann, der einmal seinen Bart wachsen lassen darf, macht sich dabei zu genauer Beobachtung der vorgeschriebenen Gebete verbindlich, weßwegen sich viele gar nicht beeilen, sich in den Stand dieser Ehrwürdigen hinauf zu versetzen. Dagegen genießt der Mann mit dem Barte den Vorrang in Gesellschaften, und sein Rath und seine Rede hat von dieser Zeit an mehr Gewicht.
Der Bart wird in Ordnung gehalten und gepflegt, der Schnurrbart gestutzt, damit die Haare nicht beim Essen in den Mund gerathen. Einem Manne den Bart ausreißen wird für ein Vergehen gehalten. Als eines Tages mein Hauswirth Ali mit einem Priester in Zank gerieth, diesen mit einer Heugabel tüchtig durchprügelte, auf die Erde warf, und am Barte in’s Haus hinein schleppte, um ihn zu binden und den Aeltesten Anzeige über den Vorfall zu machen, wurde, den Priester von diesen als schuldig erklärt; alle weitere Genugthuung jedoch meinem Wirthe deßwegen abgesprochen, weil er dem Priester einen Theil des Bartes abgerissen hatte.
Der Hund.
Die Gebräuche, welche der Nogaye hinsichtlich des Hundes beobachtet und dann der Hund selbst, als zahlreicher
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Bewohner der Tatarendörfer, mögen hier nicht übergangen werden.
Der Hund, dies treue Hausthier, genießt bei dem Nogayen nicht einmal so viel Werthschätzung, als die meist unanhängliche, undankbare Katze, welche das Recht hat, im Hause zu wohnen, an Allem herumzunaschen und welche sich oft die besten Bissen aussucht, auch wohl aus einer Schüssel mit Kindern und Erwachsenen speist und auf einer Matratze mit dem Menschen schläft. Die Katze wird zu den reinen Thieren gezählt und der Nogaye läßt es ihr, als dem Lieblingsthiere des größten Propheten (Muhammeds), an nichts fehlen.
Der Hund hingegen, zu den unreinen Thieren gezählt, weil er Aas und Mist frißt, darf sich nicht im Hause blicken lassen und muß seinen Namen hergeben, um den Christen oder Ungläubigen als einen bösen, unreinen und abtrünnigen Menschen zu bezeichnen.
Der nogayische Hund, gewöhnlich itt, zur Bezeichnung eines Christen aber oder als Schimpfwort kopek genannt, ist vom mittleren Größe, gewöhnlich sehr mager, mit struppigen, langen Haaren und Schwanze in Art der Schäferhunde, meistens dunkler, mistbrauner, grauer oder schwarzer Farbe. Diese Thiere sind hier durchweg sehr wild und böse. Die Jagdhunde sind von hellen Farben und haben die Gestalt der Windhunde. Ausser diesen Jagdhunden werden die andern in den Dörfern gehalten und nicht auf der Steppe zur Bewachung der Viehheerden oder der Schaafe benutzt.
In den Dörfern findet man ihrer eine übergroße, lästige Anzahl, da kein junger Hund umgebracht, sondern alles groß gezogen wird. Der Nogaye macht sich ein Gewissen daraus,
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junge Hunde und andere Thiere, die man nicht zur Speise gebraucht und die nicht giftig sind, zu tödten. Vor einem Hause findet man mehrere Hunde und zwar auch bei blutarmen Leuten, welche diese Thiere nicht zu nähren vermögen, so daß diese hungrig um so wilder und schlimmer sind. Sie erhalten zwar zu Zeiten, wenn in Stück Vieh geschlachtet wird oder an einen Aase satt zu fressen, müssen dann aber oft auch wieder lange hungern und bekommen nur wenige Ueberbleibsel von Speisen. Man sieht sie häufig den Menschenmist wegfressen und der Hund wird jedesmal an die Thüre des Hauses gerufen, wenn ein Kind die Bedürfnisse befriedigt hat, um saubern Boden zu machen. Treibt Hunger den Hund in’s Haus hinein, um etwas zu erhaschen, so wird er mit Stockschlägen herausgetrieben und eine volle Schüssel Speise, die er etwa schon mit dem Munde oder der Zunge berührt hat, wenigstens wenn dies ein Fremder bemerkt hat, sogleich ausgeschüttet. Ist die Frau allein, so wird wohl auch vom dieser Regel etwa eine Ausnahme gemacht.
Nicht nur dem Fremden, sondern selbst dem Tataren und Dorfbewohner sind diese grimmigen Hunde eine große Plage, indem Alles unterschiedslos mit Wuth angefallen wird. Ein Glück ist, daß diese Hunde nur in den Dörfern und nicht auf der einsamen Steppe angetroffen werden, denn da würde man, wenigstens der Fußreisende, nicht ohne Schaden davon kommen; selbst im Dorfe läuft man Gefahr, wenn nicht zerrissen, doch gebissen und an den Kleidern stark beschädigt zu werden. In fremder, ungewohnter Tracht ist es kaum möglich., ohne Begleit von Tataren durchzukommen. Selbst zu Pferde hat man noch Mühe; am besten ist es, recht langsam zu reiten. Der Fußgänger muß ebenfalls langsam
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gehen und den langen Stock, der ihm unentbehrlich ist, nach hintenzu halten, weil die Hunde gewöhnlich hinten anpacken, dann aber nur in den Stock beissen und nicht so bald wagen, auf den Leib zu kommen; oder man werfe ihnen etwas Speise zu, womit sie sich beschäftigen, bis man ein Haus erreicht hat. Schlägt man mit dem Stock darein, so kommt auf das jammernde, geänderte Geheul des getroffenen Hundes die ganze Schaar der Dorfshunde zusammen und die Sache wird ärger als zuvor. Dasselbe ist der Fall, wenn man schnellern Gang anschlägt oder gar durch Laufen sich zu retten sucht. Es sind mir mehrere Beispiele bekannt, daß Personen niedergeworfen und am Leibe sehr schwer verwundet oder doch ihre Pelze und Kleider in Stücke zerrissen wurden.
Den Knall des Schießgewehrs fürchten diese Hunde am meisten; sie sind daran nicht gewohnt und werden wie betäubt davon.
Hat man nichts der Art bei sich und will nichts mehr helfen, sieht man sich von einer großen Zahl Hunde von vorn und hinten angefallen‚ ohne daß ein Haus erreicht werden kann, in der Nähe des Dorfes oder zur Nachtzeit, so ist das Beste, wenn man sich noch zur Zeit ruhig niedersetzt. Dies hilft gewöhnlich; es macht die Hunde stutzen. Sich verwundernd, stellen sie sich in einen Kreis herum, ohne anzupacken. Am Ende verleidet ihnen das Spiel und sie gehen aus einander; sie sind der Sache müde geworden oder glauben sich vielleicht Sieger und sind zufrieden.
Kommen von diesen Hunden einmal welche auf die Steppe, so fallen sie die Viehheerden, denen sie doch im Dorfe kein Leid thun, wüthend an. Ein Hund Ali’s gewöhnte sich so an mich, daß, wenn er mich das Pferd satteln sah, um wegzureiten,
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er schon zum voraus auf die Steppe hinauslief; um mich dort zu erwarten. Er ließ sich dann nicht zurücktreiben, hörte überhaupt nicht auf meinen Ruf, sondern fiel die Kälber an und schleppte sie an der Gurgel auf der Erde herum. Den Schaafheerden war er besonders feind, verfolgte sie wüthend und trieb sie weit und breit herum. Er erwürgte zwei Schaafe teutscher Kolonisten und mehrern Tatarenschaafen fraß er während des Verfolgens die Fettschwänze theilweise mit Haut und Wolle weg. Wir waren genöthigt, ihn nachher angebunden zu hatten.
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Geographische Bemerkungen über das Gebiet der angesiedelten Nogayen-Tataren am Asowschen Meere.
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Lage. Größe. Gränzen.
Das Gebiet der angesiedelten Nogayen-Tataren am Asowschen Meer liegt unter dem 46° 30‘ — 47° 10‘ der nördlichen Breite und 52° 50‘ — 54° 20‘ der nördlichen Länge von Ferro oder nach bekanntem Unterschiede 32° 50‘ — 34° 20‘ vom Pariser-Meridian. Es macht einen Theil der Länder aus, welche bis auf die Zeit des Einbruchs mongolisch-tatarischer Horden von skythischen und hunnischen Völkern, von Kolchiern, Kimmeriern, Herulen, Oguren, Ugern, Chazaren und Kumanen bewohnt waren. Früher hieß dieses Land Mäotien, von dem mäotischen Sumpfmeere, dem jetzigen Asowschen Meere, also genannt. Später hiessen diese Gegenden auch die Wüste Ougul, die Steppe der Nogayen, am häufigsten die kleine Tatarei. Sie werden auch jetzt noch die nogayische oder krimmische Steppe genannt.
Das Gebiet macht jetzt einen Theil des russisch-taurischen Gouvernements aus, dessen Hauptstadt Simferopol oder Akmedsched in der Halbinsel Krimm ist und liegt in dem Kreise Melitopol, von welchem Orechow der Hauptort ist. — Die größte Länge von Osten nach Westen ist 125 Werst oder etwa 18 Meilen, die größte Breite 100 Werste
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oder 14½ Meile. es gränzt das Land gegen Süden an das Asowsche Meer, an die von der Krone zum Fischfang verpachtete Landzunge Berdinskaja und an das Land des Grafen Orlof. Gegen Osten ist es von der Berda, Abitoschna und dem Lande der Würtembergischen Kolonien begränzt; gegen Norden von dem Gebiete der Mennoniten und Malokaner; gegen Westen von der Molotschna oder dem Milchfluß und dem Milchsee, den Ländern der Duchoborzen und des Grafen Mordwinow.
Klima.
Unter dem 46 — 47 Grade ist bei ebnem Terrain ein sehr mildes, ein warmes Klima zu erwarten; allein man findet es hier nicht in dem Grade mild, als man schliessen möchte. Das Klima ist zwar gemäßigt; doch ist zu bemerken, dass die südlichen russischen Länder (den südlichen Theil der Halbinsel Krimm ausgenommen) im Allgemeinen eine etwas kältere Temperatur haben als andere, westwärts gelegene europäische Länder unter gleichen Breitegraden. Ohne Zweifel rührt dies daher, weil alle diese Gegenden weder durch Gebirge noch durch Wälder gegen die kalten Nord- und Ostwinde geschützt sind. Die Hitze ist zwar auf diesen Steppen des Sommers oft ausserordentlich drückend und steigt bis auf 30 Grad Reaumür. Der Winter bringt im Ganzen wenig Schnee, aber auch oft eine Kälte von 10 und mehr, ja bis auf 20 Grad, gewöhnlich durch beissend scharfe Winde von Nord und Ost herbeigeführt, die
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überall frei durchziehen können. Im Winter von 1827 – 1828 stieg die Kälte bis auf 26 Grad Reaumür. Bei stärkerer Bewohnung und größerer Kultur des Bodens würde wahrscheinlich das Klima sich mildern. Besonders geben die zu allen Jahreszeiten so sehr häufigen starken Wind, die keinen Gegenstand, keine Berge, Bäume, Waldungen u. dgl. finden, an denen die Kraft gebrochen und gemildert werden könnte, dem Klima das Rohe und Wilde. Der Wind tobt oft fürchterlich und Orkane sind nicht selten. Regen soll in früherer Zeit öfter und stärker gefallen sein, als es seit dem letzten Jahrzehend der Fall ist. Zwei recht gute Landregen in einem Sommer reichen jedoch zur Belebung der Vegetation, zu ergiebigem Wachsthum des Grases und Getreides zu. Gewitter sind nicht sehr häufig und gewöhnlich nicht heftig. Schnee fällt selten tief und bleibt nicht lange liegen, wovon jedoch der Winter von 1825 – 1826 eine große Ausnahme machte. Der Winter (kus) fängt mit dem Monat Oktober an und dauert in der Regel bis Ende Februars; doch sehr oft kann schon in diesem Monate gepflügt werden. Die Monate Juni und Juli sind die heissesten. Die Nächte sind des Sommers (djas) kalt und der Fremde hat sich Abends vor leichter Bekleidung zu hüten. Teutsche Kolonisten kommen gleich nach ihrer Einwanderung selten ohne starke und oft lang anhaltende Wechselfieber durch. Das Klima wird jedoch im Ganzen für gesund gehalten; nur der schnelle Uebergang der Tageshitze zur Abendkühle und Mangel an Aufmerksamkeit, sich vor Sonnenuntergang wärmer zu kleiden, so wie übermäßiger Genuß der häufigen süßen Melonen, sind öfters Ursachen von Krankheiten.
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Der Boden. Steppen. Pflanzen.
Ein großer Theil des Gebiets besteht aus einem zum Ackerbau sehr vortheilhaften Erdreich. Ausser einigen Stellen von unbeträchtlicher Größe, wo der Boden hie und da thonartig oder mit zu viel salzigen Theilen vermischt sich zeigt, hat die schwarze, vegetabilische Dammerde 2 bis 3, in den Niederungen aber bis 5 und 6 Fuß Tiefe. Daher ist in diesen Gegenden der Dünger für den Getreidebau ganz entbehrlich und nirgends gebräuchlich.
Der Kaufpreis einer Dissentine Landes ist nach Beschaffenheit der Güte des Landes und der Lage desselben 5, 10 bis 15 Rubel Banco.
Was im südlichen Rußland allgemein unter dem Worte Steppe verstanden wird, sind keineswegs, wie schon aus unsern frühern Andeutungen hervorging, unfruchtbare Ebenen, nur aus Sand bestehend oder spärlich schlechte Kräuter tragend, wie solche Ebenen östlicher, zwischen dem Don und der Wolga, sich finden, oder gar wie die Wüsten in der Mongolei und Afrika, sondern grasreiche Flächen, herrliche Viehweiden, auf denen, mit kleinen Unterbrechungen, ein dichtes hohes Gras und viele aromatische und kräftige Kräuter wachsen. Sie sind also nicht mit einer Lüneburger Heide zu vergleichen, sondern viel fruchtbarer, grasreicher; aber freilich nicht gepflegt, noch gehörig benutzt, weil das Land zu wenig bevölkert ist. Da und dort giebt es auch weniger üppige Stellen; doch im Gebiete der angesiedelten Nogayen keine, die nur etwa Schaafweide und nicht auch gute Viehweide wäre. Die sogenannten Niederungen
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oder Vertiefungen, Schluchten und Gründe, werden nicht zur Steppe gerechnet. Diese sind noch grasreicher und schöner als die Steppe. – Es giebt Jahre, wo das Steppgras von der Glut der Sonne versengt, andere, in denen es auch bei wenig Regen sehr hoch und groß wird. In manchen Gegenden wird die Steppe zu frühe, wenn das Gras noch ganz jung ist, vom Vieh abgeweidet und des Viehes ist in einigen Gegenden oder Dörfern zu viel; an andern Orten hingegen gehen große Strecken des schönsten Grases unbenutzt zu Grunde, oder das Gras giebt ihnen wenigstens nur Dünger fürs nächste Jahr, indem es abfault. Steppenbrände und Heuschrecken thun oft auch großen Schaden.
Die Steppe wird nogayisch ker genannt. Die Stellen, wo der Boden salpetrig ist oder zu viel Salztheile enthält, bringen freilich ein schlechtes Gras; man findet sie aber nicht so sehr häufig. Diese Stellen zeichnen sich durch ein helleres Grün aus. – Ein großer Theil der Steppe ist mit herrlichen bunten Blumen bedeckt, man findet die Tulpe, von verschiedenen Farben, und besonders häufig die violette und gelbe Schwertlilie. Thimian verbreitet weit herum einen starken Geruch. An schlechtern Stellen ist Binsengras und die sogenannte Steppnadel (s. Oben S. 186). An den Ufern des Asowschen Meeres findet man sehr große Meerrettige und an vielen Stellen längs demselben die Süßholzstaude in großer Menge. – Auf dem Brachboden wächst allerlei Art Gesträuch, oft bis auf Mannshöhe; doch nicht holz-, sondern grasartiges und mit schönen Blumen in der Blüthezeit geschmückt. – Waldung findet sich gar keine, Bäume nur in dem Kronsgarten in
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Nogayzg und einige wenige Sauerkirschbäume neben zwei oder drei Tatarenhäusern. Der Nogaye scheint, wie der Kalmüke, froh zu sein, dass ihm keine Bäume im Wege stehen und sein Auge überall sein Vieh sehen und beobachten kann. Die benachbarten Teutschen aber pflanzen deren mehrere, so wie auch Apfelbäume, um ihre Häuser herum. Eine sehr schöne Gartenanlage besitzt ein Teutscher in Orlof. Eine Gruppe von Bäumen sieht man auch mit Vergnügen in der teutschen Kolonie Steinbach – wo man, wie der Name anzeigt, in einer tiefen Schlucht Felswände und große Massen übereinander liegender Steinblöcke findet. Auf den Steppen selbst trifft man auch nicht einer Wallnuß groß Steine an. Eben so ist auch Sand nur in Schluchten und Bächen zu sehen. An dem Flusse Molotschna findet man weiße Tonerde; über dem Gebiete der Nogayen in den Schluchten bei Tscherniowsky und Orechow Steinbrüche. Am rechten Ufer der Molotschna und längs derselben erheben sich Hügel, von welchen aus sich dann eine hohe Steppe hindehnt. An dem Ursprung der Tackmarck erhebt sich ebenfalls ein Hügel, in runder Gestalt, die Tackmack-Mohille genannt. In dem Gebiete der Nogayen selbst findet sich nur ein einziger Hügel, der aber noch kaum diesen Namen verdient. Er wird die Kursack-(Bauch) Mohille genannt. Neben diesen findet man nur die von Menschen aufgeworfenen Hügel oder Gräber der Alten und eine große Menge ganz kleiner Erhöhungen, welche von Thieren herrühren. Die Ufer längs dem Asowschen Meere sind fast durchgängig, mit Ausnahme der Landzungen und der Umgegend des Molotschna-Sees, ziemlich erhöht und die Steppe erhebt sich nach und nach immer etwas
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höher landeinwärts, so dass man den nördlichen Theil des Gebiets wohl auf eine Höhe von 200 Fuß über die Meeresfläche anschlagen kann.
Der Molotschna-See, welcher die Molotschna aufnimmt, soll einst mit dem Meere in Verbindung gewesen sein. Jetzt zeigt sich kein sichtbarer Abfluß aus demselben. Er schwillt zur Regen- und Schneezeit an, nimmt aber mit jedem Jahr ab und schafft den nächsten Bewohnern dadurch einen guten Boden. Ueberhaupt will man eine beständige Abnahme aller Gewässer in diesen Gegenden und auch des Asowschen Meeres wahrnehmen. So ist z. B. Thatsache, dass der Seehafen Taganrock immer seichter wird, so dass die großen Schiffe jetzt bis 30 Werst vom Lande entfernt ankern müssen. Die Schluchten, welche diese Gegenden durchziehen, zeigen, dass sie früher Flußbette gewesen seyn müssen und die ganze übrige Beschaffenheit des Bodens läßt vermuthen, dass die ganze Gegend des Gebietes der Nogayen in frühester Zeit Meeresgrund war.
Der Fluß Mulotschna oder der Milchfluß hat einen schwachen Fall und kann nur nach starken Regengüssen oder wenn Schnee schmilzt, ein Fluß genannt werden. Im heißen Sommer, bei anhaltender Trockniß, kann man an mehrern Stellen trocknen Fußes durchgehen. Die Berda und Abitoschna sind noch etwas kleinere Flüßchen.
Auf der Steppe verbergen sich dem Auge die Schluchten und man glaubt eine zusammenhängende weite Fläche zu sehen. Uebrigens sind sie doch nicht so häufig, dass man nicht sehr weite Strecken auf der Ebene zurücklegen könnte. Völlig horizontale Flächen aber sind hier gewöhnlich nicht sehr groß, sondern es wird durch die oft fast unmerklichen so wie mitunter
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auch durch bedeutendere Erhöhungen und Abdachungen der Gesichtskreis beschränkt, so dass man keine sehr große Strecke mit einem Blick übersieht und zu Pferde oder Wagen bald über einen Gesichtskreis hinauskommt. Unerwartet sieht man sich, indem man auf ganz flacher Steppe zu reisen glaubte, auf einem erhöhten Punkte, von dem aus sich dem von der Steppe ermüdeten Auge und den durstigen Pferden ein Gewässer, Brunnen und Dörfer zeigen.
Merkwürdig sind die ungeheuren fossilen Knochen, welche auf diesen Steppen in einer geringen Tiefe in der Erde gefunden werden und die, nach dem Urtheil von Kennern, größer als alle die der jetzt lebenden und bekannten Thiere sind. *)
Das Wasser. Die Cisternen.
Das Wasser, von den Tataren su genannt, ist im Durchschnitt schlecht, meistens salzig und oft selbst in großer Entfernung vom Meere mit ganz eignem widrigen Geschmacke, da und dort nicht nur für den Menschen, sondern auch für das Vieh untrinkbar, wie Meerwasser. In den Vertiefungen findet man Wasser in einer Tiefe von 10 bis 15 Fuß, auf den Steppen aber oft nur in einer Tiefe von 80 bis
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*) Wer Ansichten und Hypothesen über die urweltliche Gestaltung dieser und benachbarter Gegenden sucht, den weisen wir unter anderm auf den 3ten Band von Pallas Reisen.
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100 Fuß und drüber, so daß das Wasser in Kübeln an langen Seilen mittelst einer Winde heraufgezogen werden muß, zu welchem Geschäfte gewöhnlich Pferde gebraucht werden. Der Reisende erhält für seine Pferde dieses Wasser nur gegen Bezahlung. Einige teutsche Dörfer haben Brunnen von 60 bis 90 Fuß Tiefe. Im dem Gebiete der Nogayen selbst ist das Wasser im Ganzen weniger tief zu suchen und wird an langen Stangen, an denen lederne Säcke oder Eimer befestigt sind, aus der Cisterne gezogen. Aber dem ganzen Gebiete ist kein einziger lebender Quell gegeben. Da die Erde fast durchweg fest ist, so werden nur die allertiefsten Brunnen ausgemauert. Jedes Dorf gräbt sich sehr viele Brunnen, von denen jedoch bei anhaltender trockener Witterung immer mehrere völlig austrocknen, andere nur wenig und schlammiges Wasser geben. Das Vieh ist so an dies schlechte, salzige und oft schlammige Wasser gewöhnt, daß Pferden auf Reisen besseres oder Quellwasser nicht recht schmecken will. Die Cisternen (küi) müssen oft von Koth und Schlamm gereinigt werden; denn da sie oben nicht verschlossen sind, führt der Wind aus dem Dorfe viel Staub hinein und deckt sie oft so ganz au. Ihre Wände sind der Aufenthalt von Vögeln, ihr Wasser ist von Kröten und andern Thieren bevölkert. Mit einem einzigen Zuge des Wasserkübels schöpft man oft eine Menge junger und alter Kröten, Käfer, Mäuse u. dgl. herauf. Besonders wird der Brunnen auch von Zugheuschrecken angefüllt, welche sich in Masse hineinstürzen. Die Cisternen sind wohl auch etwa das Grab junger Pferde, Kälber und Schaafe, die hineinfallen, ja selbst von Kindern, die, ohne Aufsicht in der Nähe der Brunnen spielend, sich der Dehnung zu sehr nahen. — In jedem Dorfe findet
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sich ein Brunnen oder auch mehrere mit süßem Wasser (tätlu su), das zum Trinken benutzt wird. Die übrigen Brunnen, mit salzigem oder bitterem Wasser (atschè su), dienen blos zur Viehtränke. Finden sich in einem guten Brunnen, aus dem Wasser zum Trinken und Kochen geschöpft wird, todte Mäuse, so wird das Wasser unrein (aram) genannt; man schöpft dasselbe ganz aus und läßt frisches sich sammeln, welches in Zeit von einem halben Tage geschieht.
Salpeter. Salz.
An den Ufern des Asowschen Meeres, gegen die Landzunge Jenike, am faulen Meer und in der Gegend von Perekop erzeugt sich eine ungeheure Masse von Salz. Der nördliche Theil von Taurien liefert so viel Salz, daß, ausser der Halbinsel, noch eilf Gouvernements damit versehen und beträchtliche Ouantitäten davon verschifft werden. Das Gebiet der Nogayen liefert viel mehr Salz, als in demselben verbraucht wird; die Bewohner bekommen jedoch, durch schlechte Verwaltung des Salzes, den Vortheil, den die hohe Krone ihnen gewähren will, wenig zu genießen.
Merkwürdig ist, sowohl die großen Salzhaufen zu sehen, die aufgethürmt werden, als auch die vielen Arbeiter, welche jährlich gegen einen Taglohn zum Graben des Salzes gemiethet werden, und die ungeheure Menge von Wagen, welche dieses Produkt in Karavanen in’s Innere des russischen Reiches führen. Das Salz (thus) ist graubraun und kommt
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so, wie es gegraben wird, in Rußland auf die Tafel. Früher wurde der Krone eine Ladung dieses Salzes, 70 bis 120 Pud, mit ungefähr 40 bis 60 Kopeken bezahlt; jetzt kommt ein gleiches Quantum auf mehrere Rubel zu stehen.
In den Schluchten oder alten Flußbetten des Gebietes, die in der Tiefe von Gras entblößt sind, ist die Oberfläche des Bodens mit Salpeter oder Natron wie mit einem Reif oder Schnee überzogen und das Vieh, besonders Pferdeheerden halten sich gerne zu Zeiten da auf und lecken das Salzige von der Erde weg. Das Wasser in den Cisternen und so viele Pflanzen der Steppe zeugen von einer stark salzigen Beschaffenheit des Bodens. Die Alabota dient, wie schon gesagt, zur Bereitung der Seife; die Asche einer andern häufig vorkommenden Pflanze wird mit Wasser zur Beize von Leinwand gebraucht, welche, getrocknet, ein guter Zunder ist.
Thiere.
Von zahmen Thieren sind Pferde, Kameele, Rinder und Schaafe auf der Steppe; Hunde, Katzen, Hühner und Gänse sind Hausthiere, und der Sperling auf dem Dache, die Grille im Zimmer sind gerne geduldet. Das Gewild hat, seitdem die Steppe mehr bevölkert und bebaut ist, abgenommen, Wölfe (kurd, auch börè) sind jedoch noch immer sehr häufig, thun sich oft des Nachts durch ihr schreckliches Geheul kund, fallen aber nie den Menschen an, selten ausgewachsene
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Pferde oder Rinder, die sich gegen ihn zu vertheidigen wissen, sondern nur junges Vieh, das sich von der großen Heerde entfernt. Sehr großen Schaden erleiden hingegen durch die Wölfe die Schaafheerden. Obschon diese Thiere nicht eben zu der größten Art zu gehören scheinen, sind sie doch, wenn sie sich dem Dorfe nähern, von den Hunden gefürchtet. Schaafe werden von ihnen mit großer Kraft laufend fortgeschleppt. Einen eignen Anblick aber gewährt es, bisweilen zwei Wölfe, welche ein Schaaf in ihrer Mitte haben, mit diesem in vollen Sprüngen über die Steppe rennen zu sehen. Das Schaaf läuft frei und doch, durch Dummheit und Furcht gezwungen, mit ihnen davon, wie ein Freund zwischen Freunden, oder ein Gefangener zwischen Häschern. Haasen zeigen sich in Menge. Man findet auch Füchse, Iltisse, Wiesel, Igel und den einem Abendländer merkwürdigen Springhaasen. An den Hügeln längs der Molotschna hausen viele Steppmurmelthiere, an vielen Orten auf den Steppen in großer Anzahl die Susliks, ein Nagethier in der Größe eines Wiesels. Diese untergraben die Steppe und machen sich große und tiefe Höhlen. Sie kommen häufig auf die Oberfläche und setzen sich aufrecht auf die Hinterfüße, um alles um sich her zu beobachten.
Vögel sieht man in sehr großen Heerden, als: Trappen, Reiher, Kraniche, Stepphühner, wilde Tauben, Wiedehöpfe und andere kleine Vögel. Man hört Gesang um sich her, nicht von Bäumen herunter, sondern aus dem hohen Grase erschallen. Von größern Vögeln werden besonders Geier häufig bemerkt. An den Ufern des Asowschen Meeres sind eine große Menge Wasservögel, Störche, Pelikane,
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Schwäne, wilde Enten. Zahlreich findet man diese Vögel und ihre Eier namentlich auf den unbewohnten Vorgebirgen und Landzungen am Meere, wo die Thiere sich ungestörter fortpflanzen können.
An Fischen giebt es in dem Molotschna-See und den Bächen Karpfen, Hechte, am Meere auch Störe, Sterlets, Brassen und eine ungemein große Art Krebse, auch Schildkröten.
An den buntfarbigsten Käfern und Schmetterlingen, an großen Schlangen, schönen grünen Eidechsen und vielen Arten von Heuschrecken ist die Gegend reich. Da und dort wimmelt es auch von einer Art kleiner Kröten (baka). Besonders häufig ist der Mist- oder Roßkäfer (kongus), häufig auch die sogenannte Gottesanbeterin oder das wandelnde Blatt. — Die wenigsten hiesigen Schlangen sind giftig. Die Tataren reden und erzählen viel von einer gehörnten Schlange (müis djelan), die sehr groß sein soll *). Ich konnte aber selbst nie eine zu Gesicht bekommen, Taranteln findet man von großer Art; auch eine andere große Spinne von gelblicher Farbe, von den Nogayen bi genannt, deren Biß tödtlich sein soll. Der sogenannte Hundertfuß ist auch ein in Häusern oft gefundenes Insekt, dessen Biß gefährliche Entzündung erregt.
Im Sommer sind Mücken und Ungeziefer eine scharfe Plage. Eine ganz kleine Mücke erfüllt zu Zeiten die Luft dergestaft, daß sie mit allem, was man ißt, in den Mund
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*) Wohl gar der Stollenwurm des Berner Oberlandes.
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kommen, mit jedem Athemzuge. die Nase füllen, sich in die Augenlieder setzen und dadurch, daß sie da zerrieben oder zerquetscht werden, ein Brennen und Stechen verursachen. Eine unserer Stubenfliege ähnliche zahlreiche Art kleiner Mücken haben einen sehr scharfen Stich und sind den Pferden das, was bei uns die Bremsen. Die Muskiten halten sich besonders in der Nähe von Gewässern auf; ihr Stich giebt starke Beulen; sie kommen in die Zimmer, und deckt man sich des Nachts nicht Gesicht und Hände zu, so wird man fürchterlich zerstochen und geschwollen. Sehr lästig ist auch, daß auf vielen Stellen der Steppe sich eine Menge großer Erdflöhe (burdschi) finden, so daß man sich kaum irgendwo hinzusetzen wagt und man am liebsten zu Pferde im Sattel bleibt. Das große Heer des Ungeziefers aber, welches in den Häusern den Boden, die Teppiche, die Matratzen und Kleider anfüllt, sei hier mit einem einzigen Worte entlassen, da des Eckelhaften schon genug beschrieben worden ist. Nur ist noch zu bemerken, daß der Nogaye dem Floh abgeneigter und aufsätziger ist, als dem andern Insekte (bid), das er an sich trägt und so zu sagen als Hausthier betrachtet.
Die Zugheuschrecke.
Man sieht zwei Hauptarten von Heuschrecken, die sogenannte tatarische oder Zugheuschrecke und die gemeine wandernde. Erstere ist gewöhnlich zweimal größer als letztere; und weil sie dieser vorherzugehen pflegt, so hat sie den
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Namen des Heroldes oder des Boten erhalten. Die wandernde oder Schaarheuschrecke hat rothe Beine, und auch die untere Seite ihrer Flügel ist von glänzend rother Farbe, so daß sich das Thierchen, wenn es in den Sonnenstrahlen herumschwirrt, sehr schön ausnimmt. — Unter den Zugheuschrecken bemerkt man sehr verschiedene Arten und Formen. Die Heuschrecken häuten sich viermal. Zur Begattungszeit sieht man sie immer zwei und zwei auf einander fortziehen. Daß die Heuschrecken, wie Reisende erzählen, von Tataren gebraten und gegessen werden, ist mir nie zu Gesicht gekommen.
Die Heuschrecken (tschigerka) richten in den Gegenden am schwarzen und Asowschen Meere oft große Verwüstungen an. Man glaubt am Horizont bräunliche Wolken aufsteigen zu sehen, die sich herannahend immer mehr ausbreiten. Sie werfen einen Schleier vor die Sonne und Schatten auf die Erde. Bald sieht man kleine Punkte und bemerkt ein Geschwirre und Leben. Noch näher — wird die Sonne verdunkelt; man hört ein Getöse und Rauschen gleich einem strömenden Wasser. Plötzlich sieht man sich mit Heuschrecken umgeben, die sich überall hinsetzen (doch nicht auf etwas Lebendes), ausruhen und ihre Speise suchen. Sie kommen oft so dicht einhergezogen, daß sich ihrer viele über einander setzen und dann auch alles Kraut und Grün rein wegfressen. Sind sie nicht zu hungrig oder halten sie sich nicht zu lange an einem Fleck auf, so Iassen sie die Halme des Getreides und auch wohl ganz reifes Getreide stehen und nehmen nur unreife und junge Frucht. Sind die Thiere satt oder ist alles abgefressen, so heben sie sich in die Höhe und der Zug wird fortgesetzt. Sie fliegen oft sehr hoch und schnell, auch selbst gegen den Wind oder in Kreisen herum,
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oft aber auch so niedrig, daß man zu Pferde, durch sie hinreitend, nichts vor sich sehen kann und beständig in’s Gesicht gespickt wird, da sie nicht immer schnell genug ausweichen können. — Große Züge Heuschrecken finden ihr Grab im Meere. Nach ihrem Wegzug ist die Steppe wie mit einer Menge Waizenkörner bestreut, welches ihre Exkremente sind, die oft in Haufen aufeinander liegen. Von dem herrlichen Steppengras, dem jungen Getreide und der Hirse ist nichts mehr zu sehen; kleine Halme oder bloße Erde bleibt nebst ihrem Mist zurück. Wo sie ihre Eier in die Erde legen, da hat man die Fresser gewöhnlich das nächste Jahr wieder, und selbst ein harter Winter vermag nicht immer die Brut zu zerstören. Da noch große Strecken Landes unbebaut und unbewohnt sind, so haben sie immer Ruhe und Raum genug, auszukriechen, zu wachsen und sich zu mehren. Sie fangen an, wenn sie noch nicht fliegen oder doch nur wenig sich erheben können, in Masse weiter zu ziehen und vor sich her alles abzufressen. Wellenförmig wälzen sie sich übereinander fort und fort und lassen sich durch nichts aufhalten. Russen und Teutsche wenden mehrere Mittel mit mehr oder weniger Erfolg gegen sie an, wenn sie gegen die Getreideländer von der Steppe her anrücken. Es werden Strohbündel in der Reihe hingelegt und vor ihnen angezündet; sie marschieren in dicken Haufen in’s Feuer; aber oft wird dieses durch die große Masse der Thiere zerdrückt und die Nachrückenden ziehen über die Leichname ihrer Gefährten weg und setzen den Zug fort. Oder es ziehen ihnen Reiterhaufen entgegen und treten die Heuschrecken hin und her reitend zusammen, wodurch wenigstens ihre Zahl um etwas verringert wird. Sie werden auch gesammelt, oder es werden Gruben gemacht, in
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die sie sich auf ihrem Zuge stürzen und aus welchen sie sich nicht mehr herauswälzen können; die Gruben werden hierauf wieder mit Erde zugedeckt. — Unangenehm ist ihr Aufenthalt in einem Dorfe; die Häuser sind dann nicht nur aussen, auf dem Dache und an den Wänden mit diesen Thieren bedeckt, so daß alles ein grünes und braunes Aussehen hat, sondern auch in den Wohnungen selbst, die des Sommers offene Fenster und Thüren haben, sammeln sie sich und kleben sich überall an, werfen sich in alle Gefäße und in die Wasserkübel.
Die Nogayen als Muselmänner schließen auch die Heuschreckenplage in das unabwendbare Geschick ein und würden sich ein Gewissen daraus machen, diese Thiere auszurotten; doch wenn ein solches Heer heranrückt, steigen sie zuweilen in Menge zu Pferde, rennen schreiend und rufend auf der Steppe herum, schlagen an Sensen und andere einen lauten Ton gebende Geräthe an und halten die Heuschrecken durch dies von denselben wirklich gefürchtete Getöse ab, sich an dem Orte zu setzen. Hat sich aber ein Schwarm irgendwo einmal gesetzt, dann ist es nicht mehr möglich, sie wegzutreiben und der Tatar sieht ruhig der Verwüstung zu. „Da kommen unsere Schnitter!“ sagen sie. „Allah birde, allah alde, Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen!“
Der Steppenbrand.
Indem man die weiten Steppen bereist, wird oft eine große Strecke derselben in Brand gesehen. Von ferne glaubt
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man ein Dorf brennend‚ näher sieht es‚ besonders zur Nachtzeit, einer großen Illumination ähnlich, da das Feuer nicht immer zusammenhängend ist, sondern sich oft als eine große Menge Lampen oder Fackeln zeigt, die in gleichen Zwischenräumen von einander abstehen. — Die Steppen werden entweder absichtlich von den Eigenthümern selbst abgebrannt, oder es geschieht durch Nachlässigkeit, Unvorsichtigkeit, auch aus Bosheit.
Im Frühjahre, wenn der Schnee geschmolzen ist und das junge Gras noch nicht hervorgekommen ist, wird das alte, unter dem Schnee während des Winters dürre gewordene Steppengras weggebrannt, um dem jungen Platz zu machen und dem Boden die Asche als Dünger zu geben. Viele Länderbesitzer halten dies für vortheilhafter, als das alte Gras stehen und nach und nach abfaulen zu lassen, während dem schon das neue hervorkeimt.
Da sich sehr oft Streit über Weide erhebt, so wird ein Stück Land, wenn schon frisches Gras da ist, auch aus Rache oder Neid abgebrannt, um dem Eigenthümer oder andern Benutzern der Weide zu schaden. Meistentheils sind es jedoch Durchreisende , welche, des Nachts auf der Steppe bivouaquirend, Feuer halten, sich zu wärmen oder Speise zu kochen, dieses aber bei ihrer Weiterreise nicht auslöschen, worauf sich das Mistfeuer dem Grase mittheilt, durch den Wind sich immer weiter verbreitet und ausdehnt, bis endlich Windstille eintritt oder die Flammen auf Stellen kommen, wo sie keine Nahrung mehr finden, z. B. an sandige, grasleere Plätze, an Bäche oder breite nackte Straßen, und so, im weitern Fortgang aufgehalten, sich auslöschen.
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Besonders sind es die Tschumaken (Karavanenführer), die beständig über die Steppe hin und her ziehen, um Salz am Meere zu laden und in's Innere Rußlands zu führen, welche ihr Feuer nachlässig stehen lassen und wohl sich noch eine Freude daraus machen, zu sehen, wie sich dieses ausbreitet. Die Strecke, welche ein solches Feuer oft in einer Linie einnimmt, beträgt, je nach dem Lage und Beschaffenheit des Bodens, wohl bis über eine Stunde und zieht bei starkem Winde und in hohem Steppengrase majestätisch, stolz und prasselnd mehrere Stunden weit fort, vor sich her alles zerstörend und hinter sich Asche und nackte Erde zurücklassend. Ist das Steppgras aufgewachsen und lang, so Iodern die Flammen hoch auf und bei starkem Winde ziehen sie sich ausserordentlich schnell weiter. Der Schaden an Weide ist oft sehr beträchtlich, und wenn die Flammen in der Nähe der Dörfer Getreidefelder erreichen, so können sich die Einwohner in einigen Stunden nahrungslos sehen. Die Dörfer selbst bleiben verschont, da in ihrer Nähe viele Straßen zusammenlaufen und überhaupt ein bedeutender Umfang des Dorfes abgeweidet, von Gras entblößt und der Boden nackte Erde ist.
Die Staubsäulen.
Bei schwüler Witterung und schwachem; oft kaum spürbarem Winde erheben sich auf den Steppen hin und wieder, besonders auf den breiten stark befahrenen Tschumaken- oder Karavanen-Straßen, Staubsäulen, die, wie die
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Wasserhose, sich Im Kreise herumdrehend und wirbelnd immer höher erheben, unten in eine Röhre sich zusammenziehen, oben ausbreiten, so in senkrechter Stellung, je nach dem Winde, schneller oder langsamer fortziehen und überall wieder Staub aufnehmen und sich vergrößern. Ist der Wind stark, so zertheilen sie sich bald; bei schwachen Winde halten sie sich sehr lange und werden hoch und stark, wenn sie auf ihrem Laufe neue Nahrung erhalten und nicht lange über mit Gras bewachsene Steppe ziehen, sondern der Straße folgen und Dörfer erreichen. In diesen, wo sie weder Gras noch gepflasterte Straßen, noch Schindel- oder Ziegeldächer, sondern Staub die Menge auf den Gassen und Asche auf den Häusern finden, halten sie sich lange auf und alles scheint sich in Staub auflösen zu wollen.
Die Mirage oder Kimmung.
Dieses ist ein Phänomen in der Atmosphäre, eine Täuschung, durch Brechung der Lichtstrahlen bewirkt. Die französische Benennung ist Mirage, zur See wird es Seegesicht, von den Bewohnern der Steppen des mittlern Asiens Antilopendurst genannt.
Der Reisende, der diese Erscheinung das erstemal auf der Steppe beobachtet, glaubt Bäume, Gesträuche und Berge in der Luft schwebend; er glaubt Seen und Teiche zu sehen; aber dies alles schwindet immer weiter vor ihm hin, indem er der Erscheinung näher zu kommen sich beeilt; ja er sieht
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sogar diese Gestalten sich immer verändern, welches je nach der Beschaffenheit und Veränderung des Bodens oder der Gegenstände auf demselben, oder je nach Veränderung der Luft oder des Standes der Sonne geschieht. — Die Antilope selbst täuscht sich und läuft durstend nach dem Phantom hin, das sie für Wasser hält. So sieht man auch das Vieh auf der Steppe in der Entfernung wie in der Luft schweben und manchmal diese und alle andern Gegenstände verkehrt in der Luft spielen. — Am stärksten zeigt sich diese sonderbare Erscheinung gegen Mittag und an schwülen Tagen.
Die Grabhügel oder Mohillen. Steinerne Bildsäulen.
Alle Länder längs dem nördlichen Ufer des schwarzen und Asow’schen Meeres und besonders auch die Steppe der Nogayen-Tataren und die Gegend um die Molotschna sind mit einer Menge größerer und kleinerer Hügel bestreut, welches, aller Wahrscheinlichkeit nach, von Menschenhänden aufgeworfene Grabhügel der alten Kumanen oder anderer Völker sind, die vor dem Einbruche der Tataren diese Gegenden bewohnt haben. Dieser Hügel, von den Tataren döbé auch obo, von den Russen Mohillen genannt, finden sich eine ausserordentliche Anzahl und man könnte versucht werden, zu glauben, daß sie bloß als Leitzeichen und Wegweiser aufgeworfen worden; allein alle diejenigen, die von Zeit zu Zeit geöffnet worden sind, tragen so ganz unverkennbar das Gepräge von Begräbnißstellen, daß man über ihren Ursprung
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in keinem Zweifel sein kann. Man verliert sich aber bei dem Anblick der Menge dieser Hügel in Muthmaßungen über das Volk, das dieselben aufgeworfen hat und dessen Gebeine auch darin enthalten sind. Teutsche Kolonisten, welche, vielleicht in der Hoffnung, Schätze zu finden, solche Hügel geöffnet haben, fanden irdene Krüge, Waffen, Kupfermünzen, eine Art Streithammer, Messerklingen, Wetzsteine, Pfeilspitzen, häufig dünne Kupferstreifen darin.
Die Hügel sind an ausgesuchten Stellen aufgeworfen. Gewöhnlich befinden sich immer auf den höchsten Stellen der Steppe die größten. Sie stehen auf der allmählig sich wölbenden, oft fast unmerklichen Erhöhung des Bodens, so daß, wenn man auf einen solchen Hügel zugeht und das Auge eine horizontale Fläche vor sich zu haben glaubt, man doch gewiß sein kann, daß der Boden sich allmählig nach dem Grabhügel zu erhebt und von dort sich wieder abwärts senkt. Auf den Höhen an dem Punkte, wo mehrere Abdachungen nach verschiedenen Richtungen ausgehen, stehen oft mehrere dieser Grabhügel beisammen. Der Landesbewohner hat an ihnen bestimmte Zeichen, nach welchen er sich auf der Steppe orientieren kann. Sie zeichnen sich durch verschiedene Größe und Gestalt von einander aus und es werden ihnen auch Namen beigelegt, z. B.: kara oder schwarze Mohille, kok äiger, Schimmelhengst u. s. w. Diese Benennungen dienen dazu, sich gewisse Gegenden auf der weiten Steppe kenntlich zu bezeichnen. Dem fremden Reisenden sind die Mohillen ein Zielpunkt und eine kleine Unterhaltung auf der einsamen Fläche, die seinem Auge oft weiter nichts Auffallendes darbietet. Er kann hoffen, wenn er eine an seinem Wege
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liegende Mohille erreicht hat, auf derselben den Horizont wieder neu erweitert zu sehen, oder eine Vertiefung, eine Niederung, Brunnen und Dörfer zu erblicken.
Auf manchen der Hügel sind noch mehr und weniger gut erhaltene Bildsäulen von Stein, grob gearbeitete, sonderbar gestaltete menschliche Figuren beiderlei Geschlechts mit großen Köpfen, schlecht geformten Händen und meist übereinander geschlungenen oder auch mit an den Seiten des Leibes angeschlossenen Armen. Bei letzterer Stellung ruhen die Hände auf dem Unterleib. Die Brust ist meist platt hervorstehend, der Hals kurz und platt, das Gesicht flach und breit, die Nase meistens flach und nur angedeutet. Nach den Physiognomien dieser Statuen will man nogayische Denkmäler für Verstorbene vermuthen; eben so aus der Bekleidung, die besonders bei den weiblichen Figuren im Kopfputze wirklich etwas Aehnlichkeit hat. Am Hintertheil sind diese Standbilder gewöhnlich fast ganz platt heruntergearbeitet. Viele derselben sind von Tataren, Russen und Teutschen weggenommen und zum Bau der Häuser oder vor denselben als Abweiser oder auch bloß als Zierde aufgestellt worden. Viele sind in Stücke zerhauen und auch auf den Hügeln findet man da und dort nur noch Steinhaufen. Eine sehr große steinerne Mohille befindet sich an den Ufern der Molotschna, sie besteht in nichts als einem ungeheuern Haufen aufeinander geworfener Steine ganz verschiedener Gattung, vielleicht weit und breit herbeigeschafft. — Es scheint die Sitte des Zeitalters gewesen zu sein, worin dieser Hügel und andere, die man hie und da in diesen Gegenden findet, aufgebaut worden, daß zu dem Grabmale
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eines verstorbenen Fürsten oder Großen, wie es noch jetzt in einigen Ländern der Fall ist, Steine herbeigeschafft wurden und es als eine Handlung der Pietät angesehen war, einen Stein auf ein solches Grab zu werfen *).
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Die Namen der Flüsse, der Vertiefungen und der Dörfer in dem Gebiete der Nogayen sehe man am Schlusse das Buches.
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Verschiedene Exkursionen.
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Reise nach Odessa und in die Halbinsel Krim, im. Frühjahr 1825.
Steppenreisen.
Von Zeit zu Zeit machte ich kleine Reisen, entweder mit Tataren auf Märkte oder in andern Geschäften in der Gegend umher. Bedeutender waren die Exkursionen, die ich im Frühjahr 1824, auf Einladung des Sultans Kate Ghieri, nach Simferopol, die Hauptstadt der Krimm (und des taurischen Gouvernements überhaupt), dann im Herbste des gleichen Jahres, wegen Erneuerung des Passes, nach der Gouvernementsstadt Ekatherinoslaw und jetzt wieder in gleicher Angelegenheit nach Odessa machte.
Die Reise von der Molotschna nach dem Dnjeper geht über die Steppe auf verschiedenen, mehr oder weniger einsamen Wegen. Ich wählte jenen über das Duchoborzen-Dorf Terpeni, über Tschulefki, Konkonowky, Mussiaklewitsch, Nowa-Iwanowka, Heymany, Wolkonsky, Seleny und Kokowky, welches zum Theil russische Dörfer, größtentheils aber sogenannte Kuter sind, adeliche Wirthschaftsgebäude, von Verwaltern bewohnt, deren Eigenthümer sich in St. Petersburg und andern Hauptstädten Rußlands aufhalten.
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Die ganze Strecke von der Molotschna bis an den Dnjeper bei Bereslaw beträgt 160 Werste.
Auf der Reise über diese Steppen wird fast immer unter freiem Himmel kampiert; denn wenn auch ein Dorf erreicht wird, so gewährt dasselbe doch nichts; besonders aber zieht man die Steppe vor, um die Ausgabe für Fütterung der Pferde zu ersparen, da sie unentgeldlich weiden können. Die Pferde wollen des Sommers kein Heu, sondern nur Gras fressen, das im Dorfe nicht zu haben ist; auch sind die Pferde im Dorfe vor Dieben nicht so sicher, als auf der Steppe. Der Reisende nimmt für sich Proviant mit und wohl auch seine Matratze. In deren Ermanglung legt er sich auf einer sogenannten Burre, einem groben Wollteppich, in’s Gras und hüllt sich in den Pelz ein. Die Pferde werden an den vordern Füßen gespannt, damit sie in der Nacht sich nicht zu weit entfernen, dabei aber doch grasen und auch liegen können. Da auf den Steppen kein Wasser ist, so wird in den Dörfern oder auf den Kutern getränkt und dann noch ein großes Stück auf die Steppe hinausgefahren, um die Pferde weiden zu lassen. Das Nachtreifen, im Sommer für den Menschen bequem, ist, wiewohl man auf diesen Steppen ziemlich sicher reist, nicht sehr gewöhnlich, um der Pferde willen, indem diese bei der großen Hitze am Tage nicht fressen, sondern nur Morgens und Abends und in der Nacht und dann lieber den Tag durch traben. Mit leichtem Wagen kann man auf diesen Flächen bei trockner Witterung auf den schönen harten und doch steinlosen Straßen täglich mit denselben Pferden 80 bis 120 Werste zurücklegen. Täglich 80 bis 90 Werste, d. h. etwa 12 teutsche Meilen, sind bei einer Reise von längerer Dauer das Gewöhnliche. Tataren mit einem
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Thuluk oder Iedernen Sacke mit gerösteter Hirse und einem Sacke dicker Milch versehen, machen Reisen von 100 und mehr Meilen ohne die geringste Auslage zu haben. Man kocht sich auf der Steppe; der Brennstoff ist gesammelter, getrockneter Mist. Auf den Steppen wird kein Weidegeld, auf den Straßen kein Weggeld bezahlt. Will man sich gütlich thun, so nimmt man bei einem russischen oder teutschen sogenannten Trakteur für einige Kopeken ein Gläschen Branntwein.
Von Kakowky durch sehr tiefen Sand und über den Dnjeper bis Bereslaw sind es 6 Werste, von Bereslaw 70 Werste bis nach der Gouvernementsstadt Cherson, von da bis zur Stadt Nicolajew 60 Werste, von Nicolajew bis Odessa 120 Werste. Von Bereslaw führte der Weg über Täginska und den Juguletz, durch den ich, da er ausgetreten war, nur mit Gefahr kommen konnte. Von Cherson aus nahm ich eine russische Powoske und wiewohl ich das Russische nicht sprechen kann, so hatte ich doch alle Ursache, mit meinem Fuhrmann zufrieden zu sein. Der Neurusse ist überhaupt gutmüthig; Vieles thut er auch aus Respekt vor dem städtisch gekleideten Fremden, den er in guten Häusern der Stadt gesehen und den er zu irgend einem, nach seiner Meinung, vornehmen Herrn zu fahren hat. Man halt es für gefährlich, in der Ukräne und den Gegenden längs des schwarzen Meeres zu reisen und doch ist es hier viel sicherer als im innern und im nördlichern Theile von Rußland. Der Malo-Russianer (Klein-Russe) ist gastfreier und treuer als der Alt-Russe oder Moskowite und auch dem Tataren ist der Kasak noch lieber als der Orus, d. h. der eigentliche Russe.
Von Cherson kommt man auf hoher Steppe durch BjeIozenska
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und Kopanki nach Nicolajew, wo ein Kriegshafen und die Admiralität ist. In dem herrlichen Bugflusse sah ich mehrere Kriegsschiffe majestätisch daher schwimmen. Jenseits des Bug’s kommt man von Korenicha durch Jandschokrak, Berezan, Deligol über den Deligolfluß und durch Sered-Azuli nach Odessa.
Nach einem Aufenthalte von mehrern Tagen in dem schönen Odessa besuchte ich die teutschen Kolonien Großliebenthal, Alexanderhilf und Neuenburg und die schön gelegene, nur 7 Werste von der Stadt entfernte Kolonie Lustdorf. Diese trägt wirklich den rechten Namen. Auf dem hohen Ufer des schwarzen Meeres gelagert, ist sie mit vielen herrlichen Wein- und Obstgärten umgeben.
Odessa fand ich durch viele neue Gebäude und die Anlage einer Promenade verschönert, von der aus man von beträchtlicher Höhe herab weit in’s schwarze Meer hinein und unter sich auf die beiden Hafen mit ihren vielen Schiffen sieht. Ungewohnt war mir, dem Ufer entlang eine große Schaar Menschen von beiden Geschlechtern ohne die geringste Bedeckung mit einander baden zu sehen.
Auf der hoch liegenden Citadelle genießt man eine schöne Aussicht aufs Meer, auf Stadt und Gegend von Odessa. Romantisch und reizend ist die Lage einiger Landhäuser vor der Stadt, unten an den Felsenufern, zwischen Steinmassen und Klippen
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Der Sturm auf dem schwarzen Meere.
Aus Vorliebe zu Seereisen wollte ich nicht zu Lande nach der Krimm zurückkehren, sondern benutzte die Abreise des russischen Zweimasters St. Nikolaus, welcher Bomben und Kugeln geladen hatte und nach Taganrok bestimmt war, mit ihm die Reise über die Länge des schwarzen Meeres und um die Südküste der Krimm bis Kertsch mitzumachen. Der Kapitän war ein alter Russe, die Matrosen Griechen — ein schlechtes Gesindel.
Mir günstigem Winde segelten wir ab, und Odessa zeigte sich von der Seeseite auf die vortheilhafteste Weise und gewährte einen lieblichen Anblick. Bald sahen wir aber nur Himmel und Wasser.
Das schwarze Meer, tatarisch kara deingis, soll diesen Namen von den ausgezeichnet starken und häufigen Stürmen erhalten haben, denen es mehr als andere Meere ausgesetzt sei. Das Wort kara bezeichnet nämlich in der türkischen und tatarischen Sprache nicht nur die schwarze Farbe, sondern alles was gräßlich, fürchterlich ist, wie z. B. auch dem schrecklichen Ali Pascha von Janina der Zuname „der Schwarze“ gegeben wurde.
Auch wir sollten die Angemessenheit obiger Benennung dieses Meeres auf demselben selbst erfahren. Was ich mir gewünscht hatte, auch einmal Sturm zu erleben, das kam nun. — Wir konnten nicht mehr sehr entfernt von dem Cap Cherson oder der äußersten Südwestspitze der Halbinsel Krimm entfernt sein, als von Welten her sich schwarze Gewitterwolken erhoben, das Meer, noch ehe starker Wind
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blies, unruhig zu werden anfing und alle Zeichen eines Sturmes sich zeigten. Dieser überfiel uns nun so plötzlich, daß man kaum noch Zeit fand, die Segel einzuziehen. Mit großer Mühe nur gelang dies den Matrosen, weil die furchtbaren Windstöße alles zu zerreissen drohten und die Leute an der Arbeit hinderten. Der Kapitän, weniger um das Kommando des Schiffes bekümmert, als auf den Schutzpatron desselben bauend, gieng in die Kajüte und kreuzte sich ohne Aufhören vor dem aufgehangenen Bilde des heiligen Nikolaus. Ich ging auf das Verdeck und zog vor, einmal dem Sturme zuzusehen, mich von Regen und Wellen benetzen zu lassen, von den Matrosen gestoßen und von den Segelstangen herunter von Tauen getroffen zu werden, als hingegen mich in der Kajüte von einer Ecke in die andere geschleudert zu sehen, oder im Bette das Krachen der Fugen des Schiffs, das Getrappel und Gelärm der Matrosen auf dem gewölbten Verdeck und das Schmettern und Toben der Wellen um so stärker zu hören, und nicht einmal deutlich zu wissen, was denn eigentlich vorgehe; mich also, bei verschlossener Lücke und Fenster, gleichsam schon begraben zu sehen. — Ich hielt mich fest an der einen Bordseite und durfte sie nicht einen Augenblick verlassen, wenn ich nicht sogleich auf dem nassen, glatten Verdecke bei dem starken Schwanken des Schiffes hinstürzen oder gar über Bord geschmissen sein wollte. Gerne ließ ich mir’s gefallen, bald, wenn das Schiff sich auf die Seite legte, mit den Füßen im Wasser zu stehen, bald wieder von der hoch über Bord sich werfenden Welle bedeckt zu werden. Jetzt sah ich tief unten stehend an Wellen hinan, deren Schaumspitzen mich an die beschneiten Berggipfel der Schweiz erinnerten. Eine jede der sich heranbäumenden
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und schäumenden Wellen schien uns für immer zudecken zu wollen. Dann sah ich wieder auf der Höhe der Welle wie in ein tiefes Thal hinab; das Schiff schien sich ganz niederzulegen, und ich stand mit meiner Bordseite dann so hoch, daß ich den ganzen Bauch des Schiffes bis an den Kiel hinunter sehen konnte. Der Wasserstand aufsprudelnder und anstoßender Wellen wehte über das ganze Verdeck. Ein prachtvolles Schauspiel, diese beweglichen Gletscherketten, dies gegenseitige Zerschlagen der Wellen aneinander, dies Vor- und Zurückdrängen, dies Heranrauschen und Aufthürmen der empörten Fluthen, die starken Bewegungen des Schiffes und die Geschäftigkeit der Matrosen zu sehen, und zu beobachten! Die sonst lärmenden und fluchenden Matrosen wurden bei ihren Verrichtungen immer stiller. — Das Meer hatte eine häßlich braune, dunkle Farbe angenommen. Die Nacht brach ein; der Horizont und die weißen Spitzen der Wellen wurden unaufhörlich durch Blitze erleuchtet; der Donner rollte, wurde aber durch das Getöse der Wellen und das Sausen und Pfeifen des Windes wie gedämpft und übertäubt. Ich kannte nicht die Gefahr, in der wir schwebten, unterzugehen oder an der Küste der Krimm zu scheitern. Das Schiff war, wie ich nachher erfuhr, schwach gebaut und sehr alt, zudem stark und ungleichmäßig geladen. Bomben warfen sich von einer Bordseite gegen die andere. Der Kapitän sah blaß aus. Die Griechen machten Anstalten, das Boot in die See zu lassen, um sich zu retten, wurden aber durch eine auf dem Schiffe befindliche militärische Wache daran verhindert. Endlich ließ gegen Morgen der Sturm etwas nach und wir erblickten vor uns einen Theil
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des schönen taurischen Gebirges, die Sinabda’s — ein herrlicher, erfreulicher Anblick!
Noch desselben Tages fuhren wir längs dder Küste in die Meerenge von Djeni-kalä oder den kimmerischen Bosporus ein. Wir ankerten, da es wegen Sandbänken oder Klippen nicht rathsam war, des Nachts zu fahren. Des folgenden Morgens fuhren wir weiter gegen Kertsch. Die Wellen gingen hoch; der Wind war gut. Den Kapitän, der mir versprochen hatte, mich in Kertsch auszusetzen und dem ich nur bis zu diesem Seehafen bezahlt hatte, konnte ich nur mit Mühe bereden, die Segel einzuziehen, die Anker zu werfen und mich auszuschiffen. Gegen die hohen Wellen ankämpfend, gelangten wir, mit Gefahr, in dem kleinen Boote nach der Quarantaine, welche noch sieben Werste oder eine Meile vom Hafen entfernt war. Hier mußten Kapitain und Matrosen einen Eid leisten, der vorgelesen wurde. Da ich nichts verstand, so wurde von mir auch nichts gefordert. Im Hafen angelandet, ward ich von einen Mauthbeamten, einem Landsmann aus der französischen Schweiz gebürtig, gar schnell mit meinem Koffer befördert, und so zogen wir jetzt in der sehr lebhaften Seestadt ein. Ich frug einen teutsch gekleidet Vorübergehenden nach einem Gasthofe, fand an ihm selbst den Inhaber eines solchen und — wie stieg mein Erstaunen! — einen Sanktgallner. Der Kapitain, der so sehr geeilt hatte, blieb den Abend und die Nacht über bei uns; ich hatte ihm gute Bewirthung versprochen, und er war auch ganz zufrieden. Einen englischen Schiffskapitain würde dies freilich wenig befriedigt haben. — Am frühen Morgen begleitete ich den Kapitain noch an den Hafen.
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Kertsch. Feodosia.
Kertsch ist jetzt der lebhafteste krimm’sche Seehafen. Die Stadt heißt eigentlich Ghieritsch und wird von den Russen auch Wosfor (von der Nähe des Bospors) genannt. Sie steht am der Stelle des alten Pantikapäum. Auf den Anhöhen vor der Stadt genießt man eines schönen Anblick des Bospors, der gegenüber liegenden Halbinsel Taman, der kleinen Festung Djeni-kalä (Neufestung). Kertsch war die Residenz des Bosporischen Monarchen Mithridat und man will noch jetzt in ihrer Nähe sein Grabmal zeigen, welches aus einem Hügel besteht, Mithridates Stuhl, von den Tataren altun obo, der goldene Hügel, genannt. Die ganze Gegend ist mit einer Menge von Hügeln bedeckt. Auf der zweiten Station von Kertsch nach Feodosia ist ein Wall, der die Gränzlinie des alten Bosporischen Reiches macht; jenseits dieser sind Grabhügel seltener.
Kertsch ist von Russen, Griechen, Armeniern, Tataren und einigen Ausländern, in der Türkei Franken genannt, bewohnt. Man sieht hier auch sehr viele Tscherkessen, die des Handels wegen herkommen.
Ich miethete einen krimmschen Tataren mit einem Modschar oder vierrädrigen Wagen mit 3 Pferden, der mich für 4 Rubel Banco oder etwa 2 Gulden 100 Werste weit bis nach der teutschen Kolonie Zürichthal führen wollte. Da ich selbst tatarisch gekleidet und der Sprache etwas kundig war, so sah ich mich auf dem Wege überall gut aufgenommen. — Die Gegend ist sehr einförmig und nicht stark
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von Tataren bewohnt. In früherer Zeit soll diese Gegend bis Feodosia mit reichen Getreidefeldern bedeckt und sehr bevölkert gewesen sein. Je mehr man sich aber dem taurischen Gebirge nähert, um so schöner und merkwürdiger wird die Gegend. Gegen dem Gebirge zu findet man die Tatarendörfer mit schönen Eichen- und Buchwäldern umgeben. Die Menge dieser Dörfer, welche man von der Steppe aus überblickt und einige zackichte Felsen im Hintergrunde gewähren einen reizenden Anblick. Unter den Baumgruppen mitten zwischen Tatarendörfern liegt auch die teutsche Kolonie Heilbronn und fünf Werste weiter, an dem Abhang eines Hügels, die Schweizerkolonie Zürichthal. Schon früher hatte ich diese und andere Kolonien besucht. Von Zürichthal und Heilbronn führt ein angenehmer Weg am Fuße des Gebirges, bei Eski-Krimm oder der alten Krimm (früher eine Stadt, jetzt ein kleines Dorf) vorbei nach dem Seehafen Feodosia, welche Stadt das alte Theodosia sein soll, von den Türken djarem stambul (halb Konstantinopel) genannt wurde und jetzt von den Tataren kafa oder kefä genannt ist. In frühern Zeiten soll sie gegen 40,000 Häuser gefaßt haben. Durch Kriege, Pest und Stockung des Seehandels ist sie sehr heruntergekommen. Seit 1804 ist die Stadt wieder etwas hergestellt; doch liegt der Seehandel jetzt darnieder und ist zum Theil an Kertsch übergegangen. Die Stadt hat einen guten Hafen und eine Quarantaine. Man sieht noch Ueberreste einiger schöner Moscheen. Im 15ten Jahrhundert war die Stadt bekanntlich eine genuesische Kolonie und 1474 von den Türken erobert. Ein Theil der Stadt ist nach italienischem Geschmacke gebaut. Hier und in Karasubasar setzen die teutschen Kolonisten
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der Krimm ihre Produkte ab. Zürichthal liegt etwa 30 Werste von jenen beiden Städten entfernt. Neben der Stadt Feodosia erhebt sich der Delizer Berg, auf welchem einige teutsche Familien wohnen, die mit Gartenbau sich beschäftigen. Noch weiter auf der Höhe sind einige Landsitze mit Weinbergen. In einem derselben wohnte seit einiger Zeit eine teutsche Familie, bei welcher sich eine sogenannte Hellseherin (clairvoyante) befand; die in der Stadt und Gegend und selbst bis nach der Molotschna Aufsehen erregte.
Wiewohl zum Theil mit den Erscheinungen des thierischen Magnetismus bekannt, war mir doch die Art und Weise, wie diese Frauensperson in den magnetischen Schlaf versetzt und Clairvoyante wurde, auffallend. — Dem, der nicht schon mit Vorurtheilen dagegen erfüllt ist oder gar alles dabei für Verstellung erklärt, können solche Erscheinungen nicht anders als merkwürdig sein. Die Phänomene des animalischen Magnetism und Somnambulism sind für den menschlichen Verstand jetzt noch eben so räthselhafte physische und psychische Thatsachen als die Geheimnisse und Wunder des Werdens und Seins, alles Körperlichen und Geistigen der Natur überhaupt und als die biblischen Wunder! In’s Inn’re der Natur dringt kein erschaffner Geist! Welches Geschöpf wird den Schöpfer, welcher Theil der Schöpfung die ganze Schöpfung zu ergründen vermögen, und was der Schöpfer in ihr — wunderbar oder nicht wunderbar Scheinendes — gewirkt hat, wirkt und wirken wird, bestimmen wollen oder können?
Ein sonst unberedtes und wenig gebildetes Mädchen hielt zusammenhängende, lange Reden, gab helfende Mittel gegen Krankheiten an und sprach so Manches, von dem sie unmöglich im wachenden Zustand hätte sprechen können. Bei Manchen
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wurde die Sache ein Gegenstand des Spottes; bei Andern galt sie als Orakel. Ich hielt für nöthig, mich nachher an der Morotschna bei den Teutschen gegen eine Rede dieser Hellsehenden in einer Schrift zu erklären, mit der Bitte, zu bedenken, wie sehr eine solche Sache gemißbraucht werden könne und daß eine Person in diesem aussergewöhnlichen Zustande, wenn auch den Einflüssen des Guten und der Wahrheit, doch auch der Täuschung, ja selbst der Lüge unterworfen sein könne und man um des Schönen und Guten willen, das etwa gesprochen wird, nicht alles ohne Prüfung als untrügliche Wahrheit annehmen dürfe, u. s. f.
Die Aussicht, welche man von dem Delizer-Berg auf die Stadt Feodosia, auf den Hafen, das schwarze Meer, auf die weite Steppe gegen Norden und gegen den Siwasch oder das faule Meer, so wie auch gegen das Gebirge hat, ist sehr schön. Ich sah auch auf ein am Ufer vor der Stadt errichtetes russisches Lager herab, so wie auf einen Theil der Kriegsflotte, welche unter Abfeuerung der Kanonen aus dem Hafen auslief, um nach Sewastopol zurückzusegeln, nachdem sie ihre jährlichen Manöuvres auf dem schwarzen Meere vollendet hatte.
Von dem Berge ritt ich zwischen Hügeln durch Bulgaren und Tatarendörfer nach Zürichthat zurück.
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Die teutschen Kolonien in der Halbinsel Krimm. Zürichthal.
In der Halbinsel, am Fuße des taurischen Gebirges, befinden sich die teutschen Kolonien Neusatz, Zürichthal, Heilbronn, Rosenthal, Friedensthal, Kronthal, Sudak, nebst einigen wenigen Häusern auf dem Delizerberg und in Oethus. Sie stehen, so wie die Molotschner Kolonien, unter dem ekatherinoslawschen Comptoir. Der Inspektor, nebst einem Sekretär, wohnt in Neusatz. Letzterer Ort und Zürichthal haben evangelische Prediger, welche auch die andern Dörfer und die in den Städten befindlichen Confessionsverwandten bedienen. Rosenthal hat einen katholischen Geistlichen. Man findet Kirchen und Schulhäuser. Die Kolonien stehen gut, haben sehr fruchtbaren Boden, doch weniger große Stücke Landes als die Kolonisten auf der Steppe. Sie treiben Ackerbau und Viehzucht sehr stark, dann Gartenbau, Obst und Bienenzucht, auch Weinbau. Waizen, Butter, Käse, Gartengewächse können sie in den benachbarten Städten gut absetzen. Die meisten dieser Kolonien, besonders Zürichthal und Neusatz, sind sehr angenehm gelegen. Die Bewohner von Zürichthal sind meistentheils aus dem Kanton Zürich in der Schweiz. Der tatarische Name des Dorfes ist djellau. Das nahe Heilbronn wird djemisel genannt. Den teutschen Namen hört man von tatarischen Lippen nicht. Die krimmschen Kolonisten sind mit den Tataren in gutem Vernehmen und beständiger Verbindung, weßwegen auch die meisten von jenen gut tatarisch sprechen, da hingegen von den Molotschner-Kolonisten nur einige wenige der Sprache etwas kundig sind. Der
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krimmsche Tatar ist aber auch ein anderer, als der Nogaye; gebildeter und arbeitliebender. Er hilft den Teutschen bei'm Bau der Häuser, bei der Aernte u. s. w. Die Sprache ist von der nogayischen etwas verschieden und nähert sich mehr der türkischen. Er redet langsamer und deutlicher, als der Nogaye und wird deßhalb leichter verstanden.
Von Zürichthal ritt ich über Karasubasar (Schwarzwasser-Markt) nach der teutschen Kolonie Neusatz auf der Landhöhe, jedoch von noch höhern taurischen Vorgebirgen umschlossen. Karasubarar, am Flüßchen Karasu, ist eine ziemlich große, noch ächt tatarische Stadt, hat aber jedoch auch zum Theil russische Bewohner und ein paar griechische Kirchen. Zwischen Zürichthal und Karasu kommt man auf der Poststraße von Feodosia bei einem sehr merkwürdigen Berge vorbei, dessen Gipfel völlig eben, seine Seitenflächen aber senkrecht abgeschnitten und überall so gleichförmig eben sind, daß das Ganze einem Werke der Kunst, einer Art von Festung gleicht. Auf diesem Gipfel sollen die Tataren während ihrer letzten Empörung gegen ihren Chan ihre Zusammenkünfte gehalten haben. In Karasu finden sehr große Märkte statt. Auf einer Anhöhe neben der Stadt liegt ein großes Schloß, in welchem die weltberühmte Baronin von Krudener starb, kurz nachdem sie von St. Petersburg aus die Reise die Wolga herunter bis Sarepta, auf dem Don in’s Asowsche Meer und der Krimm gemacht hatte. Sie ist neben dem Schlosse begraben.
Nach Zürichthal zurückgekommen, reiste ich über die kleine Feste Arabat oder Ribat und die Landzunge Zenike nach der Molotschna zurück. Die Festung Arabat ist verfallen und hat keine Besatzung. Sie bewachte den Eingang in die
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Halbinsel auf dieser Seite und ist am Ende der Landzunge, zwischen dem faulen und Asowschen Meere gelegen. Die Landzunge ist ein sehr schmaler, 110 Werste langer Strich Landes; oft nur eine halbe Werst breit, so daß man auf der einen Seite das Asowsche, auf der andern das faule Meer sieht und an deren ganz flachen Ufern man auf Seemuscheln fortgeht. Hie und da trifft man auf Salzseen, an einigen Stellen auch auf treffliche Viehweide. Je von 15 bis 20 Wersten kommt man wieder zu einem sogenannten Trakteur oder Branntweinschenk, oder zu einer Kaserne und zu Kosakenposten. Im Sommer ist der Gestank vom seichten faulen Meer her fast unausstehlich. Merkwürdig ist die Menge Seesalzes, welches hier für einen großen Theil von Rußland gewonnen wird. Man sieht große Hügel von Salz, zum Theil angeschwemmt; zum Theil von Arbeitern aufgeworfen, am Ufer. Auf der Landzunge reist man sehr sicher, da es keine Schlupfwinkel giebt und ein starker Durchpaß ist; so daß beständig Karavanen und einzelne Reisende sich treffen.
Die Ueberfahrt von der Landzunge nach dem festen Lande bei der Dünne (tatarisch djüngste , eigentlich dschenitsche, russisch tonke) ist nicht breit, und doch wird man, wenn der Wind vom Asowschen Meere her stark durchzieht, oft lange aufgehalten. Von Tonke, einem kleinen Städtchen, kommt man durch ein großes russisches Dorf nach dem Tatarendorf Otluk, über die Otluk und Taschenak, kleine Bäche, nach dem Lande der Duchoborzen und der Molotschna zurück.
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Die Koschen oder Nomaden.
Ali, der es gerne sah, wenn ich mich mit allem in der Gegend umher bekannt machte, gab mir seinen Schimmel (eins seiner besten Reitpferde), um nach den sogenannten Koschen zu reiten und auch noch unbekannte teutsche Dörfer zu besuchen. Es sind nämlich in der Gegend der angesiedelten Teutschen und Tataren noch viele und große Steppen oder unangebaute Ländereien, welche die Krone noch nicht verkauft, verschenkt oder mit Kolonisten besetzt hat. Diese Kronsländereien sind in Pacht gegeben und werden von den Pächtern entweder selbst benutzt oder wieder, gegen ein Weidegeld, den Eigenthümern großer Viehheerden — Armeniern, Nogayen, krimmschen Tataren, Russen und Teutschen — überlassen.
Die Koschen oder Nomaden dieser Gegend sind nicht mehr jene in wandernden Dörfern, wie ehemals vor der Kolonisierung der Nogayen, oder wie man sie noch jetzt in Rußland, in der Kalmükensteppe, gegen Astrachan und am Kuban und Therek findet; sondern es sind jetzt nur noch einzelne Hirten, welche die Heerden ihrer Herren im Sommer in der Gegend der Nogayen-Tataren, auf jenen Kronsländereien weiden, auf den Winter aber mit den Pferden gewöhnlich nach dem Don und mit den Schaafen nach der Krimm oder nach der Gegend bei Cherson, an die Dnjepermündungen sich zurückziehen, wo sie im Winter vor ungestümer Witterung und Kälte etwas mehr gesichert sind und ihre Weide finden. Die Eigenthümer von den großen Pferdeheerden,
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meistens Armenier aus Lachschuan, am Don, kommen von Zeit zu Zeit in schönen Britschgen (russischen Reisekaleschen) hieher, ihre Kosch oder Heerde zu besuchen) oder Pferde in Masse entweder auf dem Platze zu verkaufen oder auf russische Märkte zu führen.
Die Hirten führen auf zweirädrigen Araba’s ihre Häuser oder Nomadenhütten‚ tatarisch kosch oder otüi (Hirtenhaus); russisch Kibitge genannt, mit sich, und beobachten in allem die Sitten und Gewohnheiten der Nomadenvölker, mit dem einzigen Unterschiede, daß sie keine Weiber und Kinder mit sich führen. Diese immer hin und her ziehenden Koschen erinnern den Nogayen an seine frühere Lebensweise und wecken in ihm den Wunsch, auch noch einst wieder diese Weise ergreifen zu können. Da und dort sieht man solche Nomadenhütten auch jetzt noch in den Dörfern der Tataren neben den Häusern. Sie werden zu Schlafstätten für Knechte, zum Kochen, zu Ställen für Hühner, für junges Vieh u. s. w. benutzt. Sie sind von hölzernen Stäben, rund gebaut, mit Wollteppichen überzogen und können nicht, wie die kalmükischen Kibitgen, zusammengelegt und auf Kameele geladen werden, sondern werden, so wie sie sind, auf den Wagen geladen, so daß die zwei Räder, die der Wagen hat, innert der Hütte stehen und von dieser bis gegen die Axe bedeckt werden. So konnte in sehr kurzer Zeit ein ganzes Aul oder Nomadendorf auf dem Wagen stehen, mit Kiste, Matratzen, Küchegeschirr, mit Weib und Kindern ausgefüllt, von zwei Ochsen oder Kameelen oder auch von Pferden gezogen, weiter ziehen, um nach einer Tagreise auf frischem Weideplatze sich wieder zu lagern.
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Oben an der Kibitge ist ein rundes Loch als Rauchfang und ein aufstehender Deckel, welcher je nach dem Winde in der Runde herumgedreht oder auch auf die Oeffnung herabgelassen werden kann. Der Durchmesser der Kibitge muß unten aufs wenigste 9½ Fuß haben, so daß im Kreise inwendig bequem — freilich nach tatarischer oder morgenländischer Sitte — zwölf Personen herumsitzen können. In der Mitte lodert das Feuer; rechter Hand neben der Thüre ist einiges Kochgeschirr befindlich; der vornehmste Platz ist gegenüber der Thüre. Diese Häuser sind sehr leicht und können ohne Mühe auf den Wagen und wieder herab gehoben werden.
In den Nomadendörfern wohnen in diesen Kibitgen Mann, Weiber und Kinder freilich sehr gedrängt. Gewöhnlich besitzt der Mann, der zwei oder drei Weiber hat, auch eben so viele Hütten. Bei Reichern dient eine als Schlafzimmer, eine andere als Küche und eine dritte als Gastzimmer. Die Nogayen am Asowschen Meere besaßen in ihrem Nomadenstande, wie noch jetzt die nomadisirenden Nogayen am Kuban und Therek, neben ihren Kibitgen einen zweirädrigen, bedeckten, bunt bemalten Wagen, der die beständige Wohnung der Mädchen war, welche sie nie verlassen durften. Stets mußten sie getrennt und verborgen in diesen Kasten leben. Gleich als Gefangenen wurde ihnen durch Sklavinnen die nöthige Nahrung gebracht und selbst für ein gewisses Bedürfniß mußten sie durch Sklaninnen bedient werden. Jetzt hat diese Strenge auch unter den Nomaden nachgelassen.
Die Nogayen zeigen, wie früher bemerkt, immer noch viel Anhänglichkeit an jene Einrichtungen, und sie haben
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es noch nicht verschmerzt, sich nun angesiedelt und beschränkt zu sehen. Das junge Volk hört mit gespannter Aufmerksamkeit ihre alten Väter von dem frühern Steppenleben und der lieben alten Zeit erzählen. Doch haben sie es im Ganzen unläugbar besser als früher. Wenn einzelne jetzt auch nicht mehr so reich sind, der Adel keine Vorrechte mehr hat, der Nogaye keine Sklaven mehr halten darf und sich auf ein Stück Land beschränkt sieht, das er benutzen und bearbeiten kann, so hat denn doch jeder, ohne Unterschied, dessen genug, und man ist im Ganzen wohlhabender und lebt bequemer, als da es mehr nur ganz Reiche und ganz Arme gab, welche letztere als Knechte oder Sklaven dem Reichen dienten. Die Unzufriedenheit in ihrem damaligen Stand, unter den Mursen, Beys, Chans und unter dem Sultan, war sehr groß. So sehr der Mensch auch sonst geneigt ist, das Angenehme zu lieben und zu suchen und das vorübergegangene und genossene Gute schneller zu vergessen, als Leiden und Sorgen, so findet man doch bei dem Nogayen, wie überall, daß der Mensch das Gute der Lage, in der er sich eben gerade befindet, nicht geschickt genug in’s Auge zu fassen und festzuhalten weiß, sondern daselbe leicht übersieht und unbeachtet läßt und mehr nur den Mangel, das Unvollkommene, Schwere und Drückende, das freilich auch in keiner Lage mangelt, heraushebt, in der Gegenwart also mehr Böses, in der Vergangenheit mehr Gutes erblickt und diese lobt, jene tadelt.
Die Nogayen haben sich über ihren jetzigen Zustand, mit dem frühern verglichen, gewiß nicht zu beklagen, wenn ihnen auch Manches zu wünschen übrig bleibt, und die milden Absichten, welche die höchste Behörde für das Wohl
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dieses Volkes hat, oft durch Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Gewinnsucht der untern Vorgesetzten vereitelt werden.
Der tatarische Ausdruck für die Nomadenhütte besteht aus den Wörtchen ot und üi. Letzteres bedeutet eine Hütte, ein Haus; ersteres wird von den Nogayen verschieden, oft wie das Wort od, Feuer, mit dem Buchstaben dall, oft auch wie das Wort ot, Gras, mit dem té geschriebe. Letzteres, nämlich Grashütte, mag vielleicht richtiger sein.
Die Bewohner dieser Hütten beobachten unter sich und gegen Fremde ganz eigene Gewohnheiten und leben unter einer eigenen‚ selbst geschaffenen und angenommenen, aber vor uralten Zeiten abstammenden Verfassung.
Ein besonderer Gebrauch ist, daß der, welcher bei’m Eintritt in die Nomadenhütte sich rechts an der Thüre niedersetzt, sei es aus Unwissenheit oder Uebereilung, zur Strafe, daß er des Koches Platz eingenommen, einen Löffel voll Salzwasser trinken muß. Das Pfeifen in der Hütte wird für sehr unanständig gehalten. Wer die gastfreundlichen Gebräuche nicht beleidigen will, hängt die Kantschu oder Peitsche über die Thür der Kibitge und kommt nicht mit derselben hinein. Gericht über Vergehen oder Verletzung angenommener Gesetze hält der Ottomann oder gewählte Oberhirte nebst einigen Zugegebenen. Jede Kosch macht so für sich einen kleinen demokratischen Staat aus.
Eine solche Kosch, die aus mehreren Hütten und einer großen Viehheerde besteht, gewährt auf den Steppen einen für den Abendländer äusserst interessanten Anblick. Man denke sich 500 bis 2000 Pferde und 10,000 bis 15,000 Schaafe, letztere in einigen Abtheilungen, in der Nähe beisammen, dann die Nomadenhütten und die Lebensart der
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Hirten dazu, so glaubt man sich in die Zeiten der Erzväter versetzt, wie man sie in den Büchern Mose beschrieben findet. Nur in Hinsicht der Beschaffenheit des Landes mag zwischen dort und hier ein Unterschied statt gehabt haben.
Die teutschen Kolonisten an der Molotschna. Die Mennoniten.
Die teutschen Kolonien an dem Milchflusse mehren sich mit jedem Jahre und man zählt deren jetzt schon über sechszig. Die ersten wurden im Jahre 1804 angelegt. Die nomadisirenden Nogayen mußten ihnen weichen. Sie gedeihen im Ganzen gut; doch sind sie seit einigen Jahren durch Mißwachs und Heuschreckenplage, so wie durch Hemmung des Absatzes ihrer Produkte und durch schlechte Preise derselben in ihrem Wohlstand einigermaßen zurückgekommen. Der Geldmangel ist groß bei ihnen, Nahrung jedoch im Ueberflusse vorhanden. Der arbeitsame und geschickte Landwirth befindet sich hier immer noch in keiner übeln Lage. Von den Mennoniten sind die meisten mit ordentlichen Vermögen nach Rußland gekommen; weniger ist dies der Fall bei den Würtembergern, Badenern, Nassauern u. s. w., welche am rechten Ufer der Molotschna angesiedelt sind. Jeder eingewanderte Wirth erhält Vorschüsse von der Krone zum Bau des Hauses und 60 bis 65 Dissentinen oder etwa 250 Morgen Landes, welches sowohl vortreffliche Weide als auch ausnehmend gut zum Getreidebau ist. Sie haben hier keine Waldungen und Gebüsche auszureuten, keine Sümpfe auszutrocknen,
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kein steinigtes Land mit Mühe zu bebauen; sie haben nur die Erde aufzureißen und den Saamen auszustreuen. Des Düngers bedarf dieser hier nicht. Die teutschen Kolonisten treiben sehr stark Viehzucht, und bauen sehr viel Getreide, Waisen, Korn, Roggen, Gerste, Haber. Die Baumzucht ist noch sehr unbedeutend, und will, so viele Mühe auch Einzelne angewandt haben, nicht recht fortkommen. Vielleicht ist das salzige Erdreich zum Theil schuld daran; vielleicht fehlt es diesen Teutschen an der nöthigen Kenntniß der Baumzucht überhaupt, oder doch des Steppenbodens und der diesem entsprechenden Behandlungsweise. Die Bäume hatten ein ausserordentlich schnelles Wachsthum und stiegen herrlich empor, verwelkten aber zum großen Theil nach einigen Jahren. Wilde Bäume kommen am besten fort oder saure Kirschbäume, deren sie mehrere um ihre Häuser herum gepflanzt haben. Ausser in den kleinen Gärten an den Häusern findet man noch keine Bäume. Jetzt soll Waldung auf der Steppe angelegt werden. Bienenzucht will auch nicht recht gedeihen. Das Klima, besonders der Wind, mag diesen Thierchen doch zu roh sein; oder es wird wohl auch diesfalls noch nicht recht verstanden. Seidenbau, der in der Krimm stark getrieben wird, wurde an der Molotschna wieder aufgegeben, wiewohl der Maulbeerbaum noch vor vielen andern Bäumen so ziemlich gut fortkommt. Mit Weinbau sind erst von den drei würtembergischen oder Separatisten-Kolonien an der Berda ernstliche Versuche gemacht worden, und es läßt sich noch nicht viel davon sagen.
Hanf gedeiht in vielen Jahren kaum einmal recht gut. Um so ergiebiger ist der Getreidebau. Die Dörfer sind alle regelmäßig nach der Schnur oder meistens in gerader Linie,
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mit zwei Reihen Häuser angelegt, zwischen welchen eine breite Straße durchführt. Zwischen jedem Haus ist bedeutender Raum zu Baum- und Gemüsegarten, zur Aufhäufung von Getreide und Heu, zu Stallung und sogenannten Hocks oder Lagerplätzen für das Vieh. Die Tabun oder Pferdeheerde hat einen eigenen Sammel- und Ruheplatz im Dorfe. Das Vieh wird gemeinschaftlich auf die Steppe getrieben und von gemietheten russischen Hirten geweidet. Jedem Dorf ist auf der Steppe die Gränze durch eine Plugschar bezeichnet. Es wird jetzt mehr auf Veredlung der Pferderace, besonders aber auf Veredlung der Schaafe gewandt, und es sind deßhalb aus der kaiserlichen Schäferei in Zarskoeselo bei St. Petersburg, sowie auch aus den besten Schäfereien Sachsens von Privaten und von ganzen Gemeinen ächte Merinos, Böcke und Mütter, mit großen Kosten an Ort und Stelle aufgekauft und nach der Molotschna transportirt worden. Die Schaafzucht ist neben dem Getreidebau das vortheilhafteste für diese Kolonien, da das Klima diesen Thieren zuträglich, die Vermehrung stark, die Weide vortrefflich und groß ist. Ein großer Vortheil für die Gemeinen wären Anstalten zum Waschen der Wolle. Sie wird nur geschwemmt und muß so, nur halbgereinigt, weit verführt werden.
Ein Pud (40 russische Pfunde) geschwemmter, durch Merinos veredelter ordinärer Wolle wird auf dem Platze mit 15 bis 25 Rubel Banco bezahlt, ganz feine in Moskau bis auf 120 Rubel. Die Race der teutschen Schaafe stammt aus Teutschland, gehört demnach nicht zu den Fettschwänzen, wie die tatarischen dieser Gegend. Pferde sind im Jahre 1828 für die Armee aufgekauft und stark bezahlt worden. Rindvieh ist ebenfalls teutscher Schlag. Butter und Käse
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müssen sehr weit, nach Taganrok, den krimmschen Seehafen, nach Cherson, Nicolajew und Odessa verführt werden. An guten Handwerkern fehlt es in den Kolonien. Einige Gattungen sind gar nicht zu finden und man muß sich die dießfälligen Gegenstände auf russischen Märkten anschaffen, wo sie zwar wohlfeil, aber schlecht in Stoff und Arbeit zu finden sind. Vieles muß ganz entbehrt werden. Es fehlt an guten Aerzten, Chirurgen und Hebammen. Die sechszig teutschen Dörfer an der Molotschna ermangeln allzumal einer Apotheke. Eine Tuchfabrik besteht in der Mennoniten-Kolonie Halbstadt. Man findet auch Branntewein-, Essig- und Bierbrauereien.
Die Dörfer der Mennoniten, über 40 an der Zahl, theilen sich in die des alten und neuen Planes. Jedes Dorf enthält nur zwischen 20 und 30 Wirthe oder Häuser. Die Wohnungen und Ställe der Mennoniten sind im Ganzen schöner und besser, als die der übrigen Kolonisten. Die Lebensart dieser Leute ist noch sehr einfach. Einiger Luxus wird mit sogenannten Spazierwagen getrieben. In den Häusern findet man selten Tischtücher, Gläser, Messer und Gabeln, Teller, Betten für Gäste, selten ein besonderes Gastzimmer. Viele, auch wohlhabende Wirthe tragen nicht einmal ein Nastuch. Fast einziges Getränk ist Milch und Wasser. Bier wird noch wenig gebraut. Wein aus der Krimm oder vom Don ist theuer und wird mehr von den meist ärmeren Kolonisten am rechten Ufer der Molotschna getrunken, so wie auch Branntewein. Der Mennonite ist sparsamer oder hat wieder seine eigenen Gewohnheiten. So ist diesen mehr als jenen Kaffee und Zucker Bedürfniß geworden‚ für welche beide Dinge jährlich viel Geld aus
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dieser Kolonie wandert. Doch begnügen sich Viele, statt der theuern Kaffeebohnen, mit geröstetem Waizen.
Diese Mennoniten, bekanntlich von Menno Simon, dem Gründer dieser Kirchenpartei, so genannt, heißen auch Taufgesinnte, unrichtig Wiedertäufer. Die meisten kamen aus Preussen, aus den Gegenden von Marienburg, Elbing, Danzig, den Niederungen an der Nogat und Weichsel; einige Wenige aus der Gegend von Landau und Zweibrücken in Rheinbaiern. Die Sprache der Erstern ist das Niederteutsche, mit Holländisch vermischt, wie sie denn auch aus Holland abzustammen scheinen und noch vor nicht langer Zeit in Preussen in holländischer Sprache unter ihnen gepredigt worden ist. Die Parteien der friesischen und flämmischen Mennoniten haben sich in Rußland vereinigt; nur der Schnitt der Haare und die Kleidung unterscheidet die Parteien noch. Die einen tragen an ihren Kleidern Knöpfe, die andern nur Hafte. Bei den einen ist die Fußwaschung und in der Form des Abentmahlgenusses noch ein kleiner Unterschied.
Ueberhaupt genommen findet man bei’m Mennoniten Einfachheit, Gastfreiheit, ehrbaren äussern Wandel, Fleiß und Arbeitsamkeit, aber auch viel Eigensinn, Selbstgenügsamkeit, Unbelehrbarkeit, Unduldsamkeit, Verschlossenheit, Abneigung gegen Neuerung und Unwissenheit.
Die Mennonitengemeine hat vier selbstgewählte Aelteste, nach Art der Bischöfe der Brüdergemeine, und viele Lehrer, welche in fünf Bethäusern Vorträge halten. Einige halten sie aus dem Stegreife, die meisten aber lesen aus alten Predigtbüchern vor oder machen Auszüge aus denselben. Sie könnten sich zum Studiren oder Memoriren keine Zeit
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nehmen, da sie, wie der Laie, ihr Feld bauen und die Wirthschaft führen müssen. Diese Prediger sind alle unstudirt und unbesoldet und essen ihr eigen Brot. Die Versammlungshäuser sind einfach. Der Gesang ist über alle Massen grell und laut aus der Kehle gepreßt. Für Arme, Wittwen und Waisen wird gesorgt. Kein Mennonit darf betteln gehen. Brandschaden wird durch Beiträge aller Glieder der Gemeine in Verhältniß des Vermögens gedeckt. An Verbesserung der Dorfschulen wird erst seit einigen Jahren mit Ernst gedacht. Die Bemühungen dafür fanden noch vielen Widerstand. Eine neu errichtete Schule, welche durch freiwillige Beiträge errichtet und unterhalten ist und in welcher der Unterricht der Kinder etwas weiter als in den Dorfschulen geht, wird von Einigen als der Sitz des Antichrists angesehen oder verschrien. Die Verfassung der Gemeine war bisher hierarchisch. Die Aeltesten wachten über das Ganze; unter ihnen stand das Gebietsamt oder die weltliche Behörde, an welche von den Aeltesten Unverbesserliche, d. h. solche, die nach Matthäus 18, 15—17. einer dreifachen Warnung und Ermahnung nicht Gehör gaben, eingeleitet wurden. Diese Behörde bestrafte dann entweder selbst, oder überlieferte den Schuldigen dem ekatherinoslawschen Comptoir. Die Aeltesten haben das Recht, Verbrecher oder offenbar Unsittliche von der Gemeine auszuschließen. Vernachlässigung und Hintansetzung dieses Grundsatzes, aus Menschengefälligkeit, Menschenfurcht oder Lauheit der Gesinnung, führte, nebst andern Ursachen, den Verfall der Gemeine herbei. Auch bringen Neueingewanderte Unglaube und Sittenlosigkeit mehr als frühere in die Kolonien, dagegen wieder andere mehr religioses Leben, als
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der noch orthodoxe Theil ertragen will oder kann. Jetzt scheinen die Aeltesten ihre Gewalt aus den Händen gelassen zu haben oder fühlen sich zu schwach, dem Verderben steuern zu können und zu wollen. Ein altgläubiger Theil, der mehr dem Namen Mennonit als Christ nachfragt und nur äussere Form zu erhalten sucht auf Kosten weitern Fortschreitens, verbindet sich gegen das Bessere mit den Indifferentisten, den Religionshassern und Sittenlosen. So werden Pilatus und Herodes Freunde; beide Parteien aber von einigen unruhigen Köpfen geleitet. Der Sittenlose, früher gebunden, suchte Freiheit. Was früher nur selten oder nur in’s Geheim getrieben wurde, das wird jetzt öffentlicher, mehrt und verbreitet sich. Der Ruhm der Ordnung und Sittlichkeit, den die Mennoniten in Rußland vor andern Teutschen allgemein haben, ist um vieles geschmälert, wiewohl man sagen kann, daß sich die Mennonitengemeine noch in mancher Rücksicht vortheilhaft auszeichnet.
Die Ursache mag wohl, überhaupt genommen, in dem Geiste der Zeit liegen, der sich auch hier offenbaret. Kirchenzucht ist so gut als aufgelöst; häusliches Glück und häusliche Ordnung sind zum Theil gestört und es ist nun darum zu thun, daß wenigstens öffentliche Ruhe und Ordnung, Sicherheit und Wohlstand der Gemeine erhalten werde. Das Gebietsamt wird nun unter der Oberbehörde in Ekatherinoslaw den Zügel ergreifen müssen und die Gemeine wird sich, wenn sie auf diesem Wege der Uneinigkeit und Verkehrtheit fortgeht, bald eines Theils ihrer schönen Privilegien und der Freiheiten berauben, welche ihnen die milde Regierung so gerne erhalten möchte. Den Aeltesten und Lehrern wird weiter nicht viel mehr übrig bleiben, als ein
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bloßer Schein dessen, was sie früher waren und was sie sein sollten, nämlich in jedem Sinne Hirten der Heerde.
Daß die seit fünfzehn, ja seit mehr denn zwanzig Jahren in der Nähe der Nogayen-Tataren angesiedelten Teutschen auf den ökonomischen und sittlichen Zustand jenes Volkes noch so wenig sichtbaren Einfluß gehabt haben, dafür ist begreiflich die Schuld auf beiden Seiten zu suchen. Der Tatar verachtet im Allgemeinen alles Teutschthum, so wie überhaupt alles Fremde, und ist, wie alle Völker auf niedriger Kulturstufe, äusserst eingenommen von sich selbst. Sodann trägt gerade das nachbarliche Wesen sehr oft zu gegenseitiger Abneigung bei, da es der Anlässe so viele zum Zank und Streite giebt, besonders daher, dass der Nogaye sein Vieh auf teutschen Boden hinübergehen und daselbst weiden läßt.
Wiewohl der Tatar sieht, daß der Teutsche besser eingerichtet ist und besser lebt als er, so hat er doch wenig Neigung, dem Teutschen nachzuahmen und von ihm Verbesserungen anzunehmen. Die morgenländischen Sitten und die Gebräuche der Tataren stechen zu sehr von denen der Teutschen ab, als daß man sie bald annehmen und leicht daran sich gewöhnen könnte. Der Tatar findet teutsche Lebensweise auch nicht durchweg bequem und schön. „Wir sind ja keine Teutsche“, sagen sie, „was gehen uns die Teutschen an!“ — oder kurzweg: „das ist nicht unser Gebrauch (besem adet dughl der).“
Was die Sittlichkeit anbetrifft, so kann man sagen, daß sie an den Mennoniten im Ganzen immer noch ein gutes Vorbild haben; das Böse aber wird mehr als das Gute bemerkt und scheint eher einigen Einfuß gewonnen zu haben.
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In Tatarendörfern, die den Teutschen zunächst liegen, hört man die Tataren etwa eine Strophe aus: einem: H . . . liede halbteutsch herstottern und sie geben zu erkennen, daß ihnen der Sinn derselben klar gemacht worden sei. So sehr dem Mennoniten die Mittheilungsgabe oder der Sinn und Wille, auf Andere zu Gutem einzuwirken, zu fehlen scheint, so sind doch die Leichtsinnigen unter ihnen gesprächiger und thätiger. Das Benehmen der Teutschen gegen die Tataren ist eben nicht Achtung und Liebe einflößend. Man giebt dem Nogayen seine Geringschätzung gegen die Teutschen redlich zurück. Viele scheinen den Glauben zu haben, die Tataren wären ein von Gott verlassenes, dahingegebenes und verworfenes Volk. Schon ihr Aeusseres, ihre Kleidung, macht sie dem in altteutscher Tracht gekleideten Mennoniten eben so widerlich, als ihm auch das französische oder englische Costüm nach der neueren Mode es ist. Jener erscheint ihm als ein blinder Heide, dieser als ein Weltkind und Antichrist. Der Mennonite — aber er nicht allein — glaubt Gründe genug zu haben, sich über den Nogayen lustig zu machen, ohne es sich nur zu träumen, daß auch er selbst unwissend sei und in manchen Stücken noch eben so weit hinter Andern zurückstehe. Aber nicht nur Geringschätzung, sondern auch Furcht verhindert zum Theil eine nähere Gemeinschaft und die Einwirkung der Teutschen auf die Nogayen, und doch muß jeder aufrichtige, vorurtheilfreie teutsche Kolonist gestehen, daß man keine Ursache habe, sich vor dem Nogayen zu fürchten, wenn auch bisweilen hie und da Pferdediebstähle geschehen.
Die Unfreundlichkeit des Teutschen gegen den Nogayen mußte auch ich mehrmals erfahren, da ich von den Wenigsten
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als Teutscher erkannt wurde. Als ich einmal eine kleine Gartenanlage bei dem Hause eines Aeltesten oder Vorgesetzten der Gemeine besah, wollte mich die ehrbare teutsche Hausfrau, welche nicht tatarisch sprechen konnte, unter russischen Schimpfworten aus dem Gehäge jagen. Ich zögerte, teutsch zu sprechen; dann aber bat ich, künftig auch einem Tataren freundlicher zu begegnen. Freilich wird bei solchen Besuchen der Nogayen die Geduld des Teutschen auf harte Proben gestellt; denn die Neugierde jener ist groß und man bringt sie nicht leicht vom Platze.
Gleichwohl ist der Teutsche dem Tataren, überhaupt genommen, doch weit gewogener als der Russe, und so auch der Tatar jenem viel besser als diesem. Dies zum Theil schon um der Religion willen; der Gottesdienst jener Teutschen ist einfach; der griechische hingegen in vollem Bilder- und Ceremonienprunk, also im schärfsten, größten Kontrast mit der einfachen und prunklosen Verehrungsart, die der Islam vorschreibt.
Uebrigens ist die Nähe der Teutschen gewiß nicht ohne allen Einfluß auf die Nogayen geblieben. Wenig ist immer auch wenig sichtbar, und zu richtiger Vergleichung wäre große Kunde vieler Umstände und Thatsachen erforderlich. Wahrscheinlich mögen die Nogayen auch von den Teutschen mehr Liebe zum Ackerbau überhaupt angenommen, namentlich auch den Roggenbau ihnen abgelernt haben, sodann eine etwas bessere Bauart der Häuser, Verbesserungen der Ackergeräthschaften, des Viehstandes u. s. w.
Mehrere unter den Teutschen nehmen warmen Antheil an dem Schicksale der Nogayen und suchen selbst mit Vorliebe für ihr Wohl zu sorgen. Man bedient sich auch immer
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mehr der benachbarten Nogayen als Gehilfen bei der Heuärnte, bei’m Dreschen und als Hirten. Daß der Nogaye etwas scharf gehalten sein müsse, ist ein Grundsatz aller Nachbarn, der auf einiger Erfahrung gegründet sein mag. „Reicht man“, heißt es‚ einem Nogayen, den Finger, so nimmt er den Arm, und bald auch den Kopf.“
Die Entwicklung des Guten macht ja überhaupt keine Riesenschritte. Mit der Zeit wird, wenigstens auf Seite der Teutschen, Vorurtheil und Geringschätzung sich mindern. Weniger wird, diesfalls von dem Nogayen, so lang er Muselmann ist, zu erwarten sein.
Die Duchoborzen.
Nachbarn der Nogayen-Tataren sind ferner die Duchoborzen, welcher von ihnen sich selbst beigelegte Name so viel heißt als: Geistige, aus dem Geist geborne. Sie sind eine aus der russisch-griechischen Kirche ausgetretene Sekte, deren Glieder jetzt in neun großen und schönen Dörfern am rechten Ufer der Molotschna und des Molotschna-Sees angesiedelt sind; Leute, denen das Formen- und Ceremonienwesen der großen Kirche nicht mehr genügte, die Besseres suchten und gefunden zu haben glaubten; Leute, welche besonders durch das Lesen der heiligen Schrift (die, durch von St. Petersburg aus im ganzen Reich entstandene Bibelgesellschaften, in russischer Sprache verbreitet ward) aus ihrem Schlummer geweckt und zum Nachdenken geführt
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wurden. Doch ein großer Theil war schon vor der Zeit der Bibelverbreitung hie und da im Reiche zerstreut.
Eine beträchtliche Anzahl Menschen, von beiden Geschlechtern, aus verschiedenen russischen Gouvernements, besonders auch aus Finnland und von den mehr aufgeklärten Donschen Kosaken, trennten sich von der großen Mutterkirche. Weder Verbannung, noch Gefängniß, nichts schreckte sie ab. Wie gewöhnlich mehrte Widerstand den Eifer und die Verbreitung neuer Lehren und Grundsätze. Da alle Versuche, sie zum Rücktritt zur Kirche zu bewegen, nicht helfen wollten, wurde ihnen Freiheit gestattet, Grund und Boden zur Ansiedlung am Asowschen Meere angewiesen. Einigen wurden jedoch Weib und Kinder zurückbehalten, um sie der großen Kirche zu bewahren.
Die Beweggründe der Trennung, die religiösen Meinungen und Ansichten, waren, wie sich denken läßt, ausserordentlich verschieden. Eine aus so mancherlei Gegenden des weitläufigen russischen Reiches, aus verschiedenen, in Sitten, Gebräuchen und Charakter ungleichen Völkern zusammengesetzte Menschenmasse konnte nicht zusammenhalten. Besonders stimmten Charakter und Ansichten der Kosaken mit denen der übrigen angesiedelten nicht überein.
Wie manche eben nicht lautere oder religiöse Antriebe mögen auch zur Trennung veranlaßt haben!? Doch gab es gewiß zur Zeit der Gründung dieser Kolonie wahrhaft erleuchtete, oder, wenn auch in Irrthum befangene, doch redliche und gut denkende Leute, die, statt im todten Maul- und Formenwesen, Gott im Geiste und in der Wahrheit zu verehren strebten. Nach und nach starben aber diese weg;
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der Geist erlosch, man schlief ein — und was im Geist angefangen, endete sich im Fleische.
Bei Verwerfung fast aller äussern Mittel zur Erweckung und Erbauung, bei’m, gänzlichen Mangel an Religionsunterricht für die Jugend, bei der Geringschätzung des geschriebenen Wortes Gottes mußte bald großer Verfall, Unordnung, Irreligiosität, ja ein religionsindifferenter Zustand unter ihnen eintreten. In Vielen wurde der Wunsch rege, in die griechische Kirche zurückzukehren, oder, sich abermals trennend, eine neue Sekte bilden zu können. Mehrere Familien, aus Bedürfniß nach sinnlicher Gottesverehrung, oder, weil die Regierung, um wenigstens äußere Ordnung zu handhaben, strenge Maaßregeln ergriff, aus pekuniärem Vortheil, giengen bereits wieder zur Mutterkirche über und verließen die KoIonie. Andere trennten sich als eigene Sekte und erhielten unter dem Namen Malokaner, zur Ansiedlung neue Ländereien, mitten im Gebiete der Nogayen-Tataren.
Die Duchoborzen sind meistens schöne, körperlich wohl gebildete Menschen. Sie kleiden sich gut und sind arbeitsame, geschickte Landwirthe. Ihre Dörfer zeugen von Wohlstand. Sie treiben viel Viehzucht und Ackerbau. Ein großer Theil aber lebt unter sich in Neid und Zank, Unzucht und jeglichem Sinnesrausch. Sie glauben sich dabei doch geistig, halten sich für Söhne Gottes und sind sich selbst ihr Gott. Fragt man sie über ihren Glauben, so geben sie meistens ausweichende ode spitzfindige Antworten. Und was könnten sie auch für Rechenschaft von ihrem Glauben geben, da sie nicht wissen, was sie glauben sollen, unter einander uneins sind, und ihrer Viele eigentlich gar nichts glauben. Sie haben kein eigentliches Symbolum (Glaubensbekenntniß) angenommen.
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Teutsche, welche als Knechte unter ihnen gedient und Andere, die in Geschäftsverbindung mit ihnen stehen, sagen, daß die Duchoborzen von Zeit zu Zeit Zusammenkünfte halten, in denen Psalmen gesungen werden; daß sie zum Theil in verbotenem Geschlechtsumgange leben, noch viele Anhänger im Innern Rußlands und besonders auch am Kaukasus haben; daß sie keine eigentliche Lehrer, jedoch ein Oberhaupt über sich anerkennen; daß die Bibel nur von einigen noch und zwar im Verborgenen aufbewahrt sei; daß der kleine bessere Theil sich vor dem größern fürchte und dieser auf jenen einen starken Druck übe. Englische und amerikanische Quäker, welche Aehnliches mit ihren Grundsätzen bei den Duchoborzen zu finden hofften, fanden sich bei ihrem Besuche, schon vor manchen Jahren, in ihren Erwartungen schmerzlich getäuscht.
Die Malokaner.
Wenn die Sekte der Duchoborzen ihrer Auflösung nahe zu sein scheint, so mehrt sich hingegen die der Malokaner (Milch-Esser, so genannt, weil sie während der russischen Fastenzeit Milch essen); doch nimmt sie nicht sehr beträchtlich zu, und wenn man ihren Zustand betrachtet, so scheint auch diese Sekte frühe das Schicksal der Duchoborzen, aus denen sie zum Theil entsprungen ist, bevorzustehen. Sie sind ebenfalls in ihren religiösen Ansichten unter sich sehr getheilt. Auch unter ihnen halten die Donschen Kosaken mit ihren besondern Ansichten zusammen, forschen fleißig in der Schrift,
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schätzen sie sehr hoch und wissen sie fast wörtlich auswendig. Man findet unter den Malokanern Menschen aus den verschiedensten Theilen Rußlands. Sie haben für ihre kirchliche und politische Freiheit schöne Privilegien erhalten, besitzen ein schönes und großes Stück Land, auf welchen noch mehrere Dörfer angesiedelt werden können, bauen viel Land an und befinden sich im Aeussern gut. Es sind jetzt drei Dörfer dieser Sekte angesiedelt. Unter der Maske der Religion scheinen diese Kolonien auch Zufluchtsörter schlechter Menschen geworden zu sein, die hier verborgner und ungehinderter ihre Streiche auszuführen gedachten. Während meines Aufenthalts in ihrer Nähe wurden mehrere als Verbrecher, unter andern auch Falschmünzer, eingezogen und nach Siberien verwiesen. Es giebt unter den Malokanern, besonders unter den Kosaken, wahrheitliebende, redliche, vielerfahrne Menschen, deren mehrere mit Orden geziert sind, da sie an der kaukasischen und kirgisischen Linie, so wie in den Kriegen gegen Frankreich gedient haben und von Berlin und Paris zu erzählen wissen; Einige, die nach ihrer Sinnesänderung Jahre lang gefangen saßen, oder bis nach Kola hinab verbannt gewesen sind. In ihren religiösen Ansichten stimmen sie mit den Duchoborzen in Hinsicht des Bilderdienstes überein, sind aber hauptsächlich darin von ihnen verschieden, daß sie das geschriebene Wort Gottes ehren, auch äussere religiöse Gebräuche beobachten und nicht alles, ganz widermenschlich, in bloßen Geist aufgelöst wissen wollen. Aber sie streiten sich und sind noch nicht einig darüber geworden, wie es mit der Taufe, dem Abendmal, dem Fasten, den Feiertagen, den reinen und unreinen Thieren soll gehalten werden. Des Streitens ist kein Ende. In einem
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und demselben Dorfe werden in verschiedenen Häusern zur nämlichen Zeit mehrere Zusammenkünfte gehalten. Viele aus ihnen thun sich nicht wenig auf ihr früheres Märtyrerthum zu gut und es dürfte schwer fallen, diese Köpfe alle zu Einem Sinne, auch nur in der Hauptsache, zu vereinigen. Mit den Tataren, ihren Nachbarn, verfahren die Malokaner bei allen Gelegenheiten sehr strenge, indem sie fürchten, bei gelinder Behandlung von den Tataren aufgefressen zu werden. Mein Wirth Ali wollte mir nie zugeben, daß unter den Malokanern auch nur Ein braver Mann sich finde, und er sah es nicht gerne, daß einer aus ihnen, ein Kosake, mich mit Brat (Bruder) begrüßte.
Armenier. Griechische Muselmänner. Zigeuner.
Von den Völkern , welche zum Theil unter den Nogayen leben oder mit diesen in besonderer Berührung stehen, müssen die Armenier, von den Tataren Aermeln genannt, nicht vergessen werden. Die Nogayen haben viel mit Armeniern zu thun. Sie verkaufen zum Theil an diese ihren Waizen, kaufen von ihnen hingegen Pferdesättel, Stiefeln und andere Waaren. Armenier sind es hauptsächlich, welche in der Nähe der Nogayen, auf den Pachtländern, ihre großen Pferdeheerden weiden lassen. Nogayen dienen bei diesen in Menge als Tabunschiks oder Pferdehirten. Sie sind meistens reiche Leute aus der Stadt Lachschuan (auch Nachtschiwan oder Naschittschuan), einer armenischen Kolonie, durch Auswanderer
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aus der Krimm entstanden und jetzt eine bedeutende Handelsstadt, bei Tscherkask am Don. Der Hauptort des Gebietes der Nogayen, Djalangatsch, ist großentheils von Armeniern bewohnt, welche Kleinkrämer und Kommissionärs der Lachschuaner Kaufleute sind und von jenem Hauptorte aus alle Dörfer der Nogayen hausirend durchziehen. Sie fahren auf zweirädrigen, bedeckten Wagen mit allerlei Bedürfnissen und Luxusartikeln der Tataren herum, lassen sich für schlechte Waare stark bezahlen und nehmen auch Waisen, Hirse, Butter statt baaren Geldes an.
Die Armenier stehen in Hinsicht ihres Charakters in seinem guten Rufe. Von ihnen sagt ein Sprichwort, daß „zwei Juden gleich seien einem Armenier, zwei Armenier einem Griechen und zwei Griechen einem Teufel.“ Schlau, verschlagen, geizig, betrügerisch‚ wallfahrtet er, seine Sünden in dem Kloster am Berge Ararat (auf dessen Gipfel noch Ueberreste der Arche Noah zu finden sein sollen), durch Gebet und milde Gaben und durch die Beschwerlichkeiten der Reise über das kaukasische Gebirge, abzubüßen. Gewöhnlich aber verknüpfen sie Handelsspekulationen mit dieser Reise und suchen neue Bekanntschaften und Verbindungen unter kaukasischen Völkern und in Anatolien unter den vielen dort wohnenden Glaubensgenossen. Die Armenier waren es hauptsächlich, durch welche früher ein schändlicher, aber einträglicher Menschenhandel mit tscherkessischen Räuberhorden und türkischen Sklavenhändlern betrieben wurde. Sie sprechen fast durchgängig mehrere Sprachen, neben dem Armenischen gewöhnlich noch russisch, tatarisch, türkisch, persisch, kalmükisch, auch wohl griechisch, tscherkessisch und andere Sprachen. Sie machen große Handelsreisen über
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Astrachan in die Bucharei und bis nach Thibet hinein über den Kaukasus nach Georgien, Persien, Anatolien und nördlich tief in’s Innere vom Rußland. Ihre Gesichtsbildung ist ausgezeichnet durch eine große gekrümmte Habichtsnase, große, feurige, schwarze Augen, starke schwarze Augenbraunen und Haare.
An den Pferden gewinnen sie große Summen; freilich hat dieser Handel seinen Risico. Oft jedoch verkaufen sie an die russische, österreichische oder preussische Remonte für 80 bis 150 Rubel Banco Pferde, welche sie am Don auf den großen Märkten den Kalmüken mit 20 bis 30 Rubel bezahlt hatten. Donsche Hengste verkaufen sie in Rußland zur Zucht für 500 bis 1000 Rubel.
Merkwürdig ist, daß in der Nähe des Gebietes der Nogayen, in der Gegend von Mariopol, sich mehrere Kolonien Griechen befinden, die schon seit langer Zeit zum Muhammedanismus übergetreten sind, sich jedoch mit den benachbarten Muselmännern nicht vermischen, so wie die Nogayen ihrerseits diese Orum- oder Rumdschi-Griechen nicht gerne als Glaubensgenossen ansehen und in geringer Verbindung mit ihnen stehen. Sie scheinen dem Islam eben nicht mit ganzer Seele zugethan zu sein. Sie sprechen unter sich griechisch, sind aber eben so gut mit dem Tatarischen, viele auch mit dem Russischen bekannt und sollen aus der Halbinsel Krimm hieher versetzt worden sein. Die Zeit ihres Uebertrittes zum Islam, so wie überhaupt ihre frühere Geschichte ist mir nicht bekannt.
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Die Zigeuner endlich machen eine Klasse von Menschen aus, welche unter den Nogayen herumwandernd, verschiedene Rollen spielen und in starkem Verkehr mit ihnen stehen. Im ganzen südlichen Rußland finden sie sich in großer Anzahl, zum Theil auch angesiedelt, größtentheils aber als Vagabunden, wie dies auch im Gebiete der Nogayen der Fall ist, von denen sie Tschingenä genannt werden. Sie ziehen nicht mit Nomadenhütten herum, sondern bloß mit Wagen, über welche sie an dem Orte, wo sie sich lagern und eine Zeitlang wohnen wollen, Teppiche ausbreiten und dann so zum Theil unter den Wagen wohnen. Des Sommers wohnen sie unter dieser Art Zelten, viele auch des Winters; Andere ziehen in wärmere Gegenden oder logiren sich in einem Tararenhause ein.
Dieses Volk, von dem Einige glauben, dass sie von den Hindus aus Indien, Andere, dass sie aus Aegypten und Aethiopien abstammen, spricht eine eigene Sprache, zugleich aber auch mehrere fremde der Länder, in denen sie herumziehen; die im südlichen Rußland meistens russisch‚ tatarisch, türkisch, kalmükisch. Die Gesichtsbildung der Zigeuner ist im Ganzen schön und hat nichts Mongolisches. Die Farbe ihrer Haut ist stark braun oder auch schwärzlich-gelb. In ihrer Lebensart sind sie über alle Vorstellung unreinlich. Die Kinder gehen nackt, ohne Unterschied des Geschlechts. Die Weiber treiben Chiromantie und schwatzen den Tatarinnen Putzwaaren, z. B. Ringe, Arm- und Stirnbänder u. dgl. von geringem Metall als gutes Silberzeug auf. Die Männer beschäftigen sich mit Schmiedearbeiten und machen ihre Esse unter dem Zelte in den Boden. Sie handeln mit Pferden, welches aber meistens gestohlene sind. Sie sind selbst große Pferdediebe oder doch, wie in Teutschland die Juden, Diebshehler.
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Von ihnen selbst geraubte Mädchen werden verhandelt. Wer ein wohlfeiles Mädchen will, kann sich an sie wenden. So sind diese herumziehenden Banden dem Lande zum großen Nachtheil. — Schlechte Waare Iassen sie sich theuer bezahlen und gehen mit nichts als mit Betrug und Dieberei um. Sie wissen ihrer Rede durch astrologische Deutungen Gewicht zu geben und werden von den Tataren zum Theil als ein Volk betrachtet, das in einer besondern Verbindung mit, ich weiß nicht ob guten oder bösen‚ Geistern stehe. In den Tatarendörfern ziehen sie mit Dudelsäcken, Trommeln, Pfeifen und Cymbeln herum und die Weiber führen allerlei eben nicht sehr züchtige Tänze auf.
Die Zigeuner sind Heiden; aber so wie sie sich überhaupt nach der Religion des Landes richten, in welchem sie sich befinden, wie z. B. in Spanien nach der katholischen, so beobachten sie unter den Tataren muselmännische Gebräuche. Ihre Töchter werden auch wohl von ärmeren Tataren gekauft und zu Weibern angenommen, so wie Kalmükinnen, und treten dann ganz zum Islam über, wozu es weiter keiner Förmlichkeiten bedarf.
Durchziehende durch das Gebiet der Nogayen und Besuchende.
Die Steppe der kolonisirten Nogayen-Tataren am Asowschen Meere ist von keiner eigentlichen Poststraße durchschnitten. Reisende von Odessa oder der Krimm nach Moskau
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und Petersburg, nach Astrachan und dem Kaukasus und umgekehrt, berühren gewöhnlich das Gebiet der Nogayen nicht, sondern schlagen die Poststraße über die Kreisstadt Orechow oder über die Gouvernementstadt Ekatherinoslaw ein. Wer einen nähern Weg, z. B. von Perekop nach Taganrok und dem Don nehmen will, der sucht noch eher die teutschen Kolonien auf und umgeht die Tatarendörfer. Nur auf den sogenannten Tschumaken-Straßen ist Leben. Auf diesen ziehen den ganzen Sommer eine ungeheure Anzahl kleiner russischer Wagen, von Ochsen gezogen. Sie kommen aus dem Innern Rußlands, selbst von Moskau und noch nördlicher her, um an den Ufern des Asowschen und faulen Meeres Salz zu laden. Andere, aus nähern Gegenden, führen Waizen nach krimmschen Seehafen oder nach Odessa. Die Fuhrleute oder Tschumaken, deren jeder drei oder vier Wagen und eben so viel Paar Ochsen zu leiten und zu besorgen hat, führen Speise mit sich, lagern auf der Steppe und lassen die Ochsen weiden. Die Weide kostet sie nichts, da bei der Vermessung der Ländereien den Tschumaken-Straßen, wo sie immer durch Länder ziehen, eine Breite von etwa einer halben Stunde oder einer Viertelstunde Weges auf jeder Seite der Fahrstraße zugegeben worden und also auf der Straße selbst geweidet wird, so daß den Bewohnern der Länder, den Dörfern oder Kolonien, durch welche diese Straßen geben, kein Abbruch an ihrer Weide dadurch geschieht. Wo nicht auf Kosten der Krone Brunnen auf den Steppen gegraben sind, da müssen die Tschumaken für die Tränke der Ochsen den Dorfbewohnern das Wasser mit einigen Kopeken bezahlen. Es werden, da eine solche Karavane sehr langsam zieht, täglich im Ganzen nicht über 30 Werste oder
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etwa 4 Meilen zurückgelegt. Die Ochsen müssen lange weiden; es giebt auch bei dem Zug oft kranke Ochsen, die nur mit Mühe sich nachschleppen und auch wohl auf einen der Wagen geladen und von ihren vor Durst lechzenden Kameraden gezogen werden. Es brechen unter Wegs auch viele der schwer beladenen, kleinen, ganz hölzernen Wagen und die Tschumaken, mit vorräthigen Stücken Holz versehen, verfertigen auf den Steppen mit dem Beile neue Axen, durch welches alles das Weiterziehen aufgehalten wird. Es ist merkwürdig, diese Iangen Karavanenzüge und das Leben dieser Russen zu sehen. Da kann man Zeuge sein, wie einfach der Mensch leben kann und wie wenig er für sein nöthigstes Durchkommen bedarf. Warum sollte aber der Mensch nicht gerne alle seine Kräfte anwenden, um besser und ordentlicher leben zu können, als der Tschumake? Dieser ist selbst in Rußland zum Sprüchworte geworden. „Du lebst oder siehst aus wie ein Tschumake“, ist selbst dem Russen eben keine Ehre, zu hören. Man kann oft den Menschen kaum an jenem erkennen. Beständig unter freiem Himmel, sieht er ganz wild, mit Koth und Staub von oben bis unten bedeckt, aus. Seine Kleider oder Pelze sind noch dazu mit Katran (Wagenschmiere) ganz, überzogen. Genug davon!
Ausser diesen Karavanen durchreisen die Steppe noch armenische und russische Kaufleute und besonders auch krimmsche Tataren, letztere mit bedeckten Wagen, gewöhnlich von Kameelen gezogen, auf welchen Obst, Weintrauben und andere Produkte der Krimm durchgeführt werden. Man sieht auch viele aneinander gereihte neue Wagen und eine Menge, oft bis 30 Paar, eben so hinter einander gereihte und laufende Wagenräder, welche in der Krimm verfertiget und in diese
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holzleeren Steppen zum Verkaufe weit und breit verführt werden.
Zur Seltenheit durchreise die Steppe der Nogayen auch etwa ein Engländer oder ein anderer Reisender, der Länder und Völker kennen lernen will. Dies geschieht aber gewöhnlich sehr schnell, weil man weder Nutzen noch Vergnügen in diesem Theile von Rußland zu finden glaubt.
Teutsche Handwerksbursche, welche in Taganrok, Astrachan oder Tiflis ihr Glück versuchen wollen, zeigen sich von Zeit zu Zeit auf den Gränzen des Gebiets, ziehen sich aber möglichst bald heraus, um längs der teutschen Kolonisten-Dörfer fechtend weiter wandern zu können.
Russische Beamte, überhaupt sabetler genannt, sbrawnik’s oder Kreishauptleute, assudatlés oder Nieder-Landrichter, sind auf der Durchreise lieber als bei ihrem Aufenthalte im Gebiete gesehen; deßgleichen auch Kosakenabtheilungen oder anderes russisches Militär. Kriegsleute, zumal russische mit dem geringsten Zeichen, das sie als solche kenntlich macht, sind dem Nogayen unangenehme Erscheinungen. Vor diesen, eskier’s oder saldats, verbergen sich mit Eile und Furcht besonders Weiber und Kinder. Einer ehrbaren und guten Aufnahme erfreuen sich hingegen die Pilger nach Kaaba oder dem heiligen Grab in Mekka. Unter ihnen giebt es welche, die oft sehr weit, selbst aus der Bucharei, herkommen und diesen Weg einschlagen, um auch Konstantinopel zu sehen und sich in krimmschen Seehafen oder in Odessa dahin einzuschiffen.
Ungarn mit Arzneien machen ihr Glück nicht bei’m Nogayen, finden aber dafür bei den hieländischen Teutschen, denen es auch an Arzneimitteln fehlt, um so mehr Abgang
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mit ihren Quacksalbereien. Am liebsten sieht der Nogaye den Remonteur, selbst wenn er in Husarenuniform kommt, indem er ihm für Pferde viel Geld bringt. Auch die Koschen oder Nomadenzüge sind gerne gesehen, da jeder derselben in dem Dorfe, über dessen Boden sie ziehen, ein Schaaf oder zwei als Vergütung für Weide bezahlt. Diese großen Heerden können sich nämlich nicht allein auf an die der Straße zur Seite laufenden Weideplätze halten, sondern müssen auch noch neben denselben weiden lassen.
Kaiser Alexander im Gebiete der Nogayen-Tataren und die teutschen Kolonisten.
Im Oktober des Jahres 1825 besuchte der General-Gouverneur von Neu-Rußland, General Graf Woronzow mit seiner Gemahlin das Gebiet der Teutschen an der Molotschna und das Land der Nogayen-Tataren auf seiner Reise von Odessa nach Taganrok. Ihm folgte der Chef aller Ansiedlungen im südlichen Rußland, General Insof aus Kischenew in Bessarabien. Den 22. des Novembers dann traf der vielgeliebte Monarch, Kaiser Alexander, mit seinem Gefolge, auf der Reise von Taganrok nach der Krimm begriffen, an der Molotschna ein. Als ich vor zehen Jahren den Kaiser aller Reussen bei seiner Ueberfahrt über den Rhein unweit meiner Vaterstadt sehen und beobachten konnte, hätte ich mir nicht geträumt, den milden und huldvollen Kaiser einmal noch an den Ufern des Asowschen Meeres, in den weiten Steppen der Nogayen-Tataren und
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mitten unter denselben, oder in den teutschen Kolonien der Niederungen des Molotschnaflusses sehen zu können.
Von Burkud ritt ich nach dem Tatarendorfe Araklu, neben welchem die große Kursak-Mohille (der Bauchhügel) liegt, und wo dem Kaiser auf seiner Reise frische Tatarenpferde zum Wechseln bereit standen. Ich logirte mich in einem Hause ein und brachte da, nach gut gehaltener Mahlzeit mit den Tataren, die Nacht zu. Man schlief wenig; denn vor dem Hause war die ganze Nacht ein Lärmen, Schelten und Fluchen wegen der zu liefernden Postpferde oder der Wahl der Leute, welche die Reise auf die nächste Station als Postillione mitmachen und die Ehre haben sollten, dem Kaiser vorzureiten.
Da bei den Nogayen Lärm und Zank auch bei den geringsten Begebenheiten gebräuchlich ist, so muß man sich nicht wundern, dass es jetzt bei dieser Gelegenheit um so mehr der Fall sein mußte, als es um die Weiterförderung und Bedienung des Padischahs oder Kaisers zu thun war. Man muß sich dabei in die Begriffe hineindenken, die der Muselmann von dem despotischen Betragen eines Kaisers, dem Glanz und Pomp, mit welchem dieser nothwendig umgeben sein müsse, sich macht.
In der Nacht fuhr der Feldjäger und nicht lange nach ihm der Koch des Monarchen durch das Dorf. Ihnen voran ritten Fackelträger. Des Morgens fand ich kein freudiges Erwarten, keine frohen Gesichter und wenige Menschen auf der Straße. Man blieb lieber zu Hause; Mancher vielleicht aus Furcht vor dem, was bei ähnlichen Gelegenheiten oft dem gemeinen Tataren von der nicht seltenen Ungerechtigkeit ihrer untern Vorgesetzten oder Beamten begegnet und
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das diesem Volke eben keine Liebe zum Staate und dem Fürsten beibringen kann. Und wenn auch den milden Kaiser niemand haßte und hassen konnte, so war er ja doch ein – Christ! Und was aus Petersburg kam, hatte bei diesen Muselmännern doch lange nicht den Werth dessen, was aus der Hauptstadt der Welt, aus ihrem Stambul kommt.
Alexander, der Erste, kam freilich nicht mit dem Glanz und Pomp eines Groß-Sultans, sondern in einfacher Reise-Kalesche, in grüner Uniform und gewöhnlicher russischer Reisemütze. An seiner Seite saß der Generallieutenant Graf Diebitsch. Vor dem Wagen des Kaisers fuhr ein Kammerdiener, der aus seinem Wagen einigen Tataren Geldstücke reichte. Der Kaiser stieg aus. Ein Kreis von Tataren, unter denen auch ich mich in tatarischer Kleidung befand, schloß sich um ihn her. Ein tatarischer Edelmann mit seiner Frau fielen vor ihm nieder, die Stirn zur Erde beugend, ihre Huldigung darzubringen. Der Kaiser hob sie freundlich auf und sprach einige russische Worte mit ihnen. Noch eine kleine Zeit stand er da, in seiner schönen Gestalt, mit Liebe und Vertrauen einflößender Miene, im Kreise sich umsehend, als wollte er noch sprechen machen oder irgend eine Bitte annehmen. Ein Wort, im Namen von Tataren und für Tataren geschrieben, wurde mit herablassender Güte aufgenommen. Heftiger Wind hob Staubwolken im Dorfe empor, welche der Tumult von Menschen und Pferden noch mehrte. Der Kaiser ließ sich von seinem Kammerdiener in den Mantel einhüllen; die Pferde waren gewechselt; der alte Leibkutscher, mit Orden geziert, gab das Zeichen zur Abfahrt; die leichtfüßigen Tataren-Pferde setzten aus und waren bald aus dem Staube.
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In der teutschen Kolonie Steinbach speiste der Kaiser zu Mittag. An der Gränze des teutschen Gebiets ward er von dem ältesten Mitgliede des Ekatherinoslawischen Comptoirs und von den Aeltesten oder Vorstehern der Mennonitengemeine, zu der diese teutschen Kolonien gehören, empfangen.
Sogleich nach der Abreise des Kaisers aus dem Tatarendorfe Araklu setzte ich mich zu Pferde und ritt in gerader Richtung über die Steppe weg nach dem teutschen Dorfe Ohrlof, wo der Kaiser gegen Abend anlangte und in dem gut gebauten Wohnhause des Bevollmächtigten der KoIonie, Namens Cornies, eine Schale Thee trank. In der letzten teutschen Kolonie, Altenau, wo er übernachtete, wechselte der Monarch vor der Abreise einem Tataren, der freimüthig an den Wagen trat, alte, schon längst ungültige Assignate oder russisches Papiergeld gegen andere dergleichen gangbare ein; wobei mein Wirth, der Tatar Ali, der gut russisch spricht, den Dolmetsch machte.
Immer war der Kaiser den Teutschen und besonders den Mennoniten in Rußland sehr gewogen. Wünschend äusserte er hier, daß mehr Bäume gepflanzt und auch Waldungen angelegt werden möchten.
Alle Bittschriften wurden ohne Unterschied angenommen, und derer war von teutscher Seite her eine beträchtliche Menge, worunter viele als Klagschriften auf eine Weise abgefaßt waren, die den Verfassern keine Ehre machen konnte.
Von den Teutschen weg reiste der Kaiser über den Milchfluß und durch das Duchoborzendorf Terpenie nach der Halbinsel Krimm, dann zurück auf der großen Poststraße über die Kreisstadt Orechow nach Taganrock und — — —
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in ein besseres Leben hinüber — Dank, Liebe und Achtung aller Guten mit sich nehmend!
Bald darauf ward in den nahen russischen Dörfern der Großfürst Konstantin als Kaiser ausgerufen, worüber die Tataren sich nicht wenig betroffen zeigten; da, wie sie mir sagten, durch Tradition sich die Sage erhalten, daß, so wie das griechische Reich in Europa unter einem Konstantin zu Grunde gegangen und das türkische Reich seinen Anfang genommen, dieses dann zerstört und ein Ende nehmen würde, wenn ein Konstantin die Krone Rußlands erhielte. — Die Furcht der Muselmänner legte sich aber, da Nikolai, der Erste, als Kaiser aller Reussen den Thron bestieg.
Aus allem sieht man, daß der Nogaye, als Muselmann, noch kein ergebener Staatsbürger Rußlands ist. Stambul (Konstantinopel) allein ist ihm Hauptstadt; der Groß-Sultan, als aus des großen Propheten Geschlecht, Kaiser, und er will als Muselmann mit allen Muselmännern dasselbe Schicksal theilen. Wenn er es auch unter Rußland besser hat und eben um deßwillen, abgesehen von der Religion, Rußlands Schutz suchte, so spricht der Nogaye doch immer, wo er frei sprechen kann, von dem, was das türkische Reich und muhammedanische Völker betrifft, als von seiner Sache. Der Muselmann nach Grundsätzen wird schwerlich je ein aufrichtiger Bürger und Unterthan, ein warmer Freund eines christlichen Staates sein.
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Nogayzg und der Chef der Nogayen-Tataren.
Im Spätjahr 1825 ließ mich der provisorische Chef der angesiedelten Nogayen-Tataren zu sich einladen. Das Klingeln, welches in der Ferne schon die russische Post anzeigt, so wie die Erscheinung russischer Beamten, erweckt in einem Tatarendorfe Furcht. Meinem Hauswirth Ali ward bange, als von zwei aus dem Hauptorte mit der Post im Burkud angekommenen Beamten mir nachgefragt wurde; er besorgte Uebles, warnte mich‚ und nahm als auf Leben und Tod Abschied von mir.
Bei herrlichem Mondscheine gings nun mit Extra-Post mitten durch’s Gebiet der Tataren. Das nächtliche Abholen und die Eilfertigkeit, mit der diese Beamten ihren Auftrag erfüllten und in den verschiedenen Tatarendörfern die Pferde wechseln liessen, hätte den Tataren oder auch einem Andern, der mit der Art und dem gewöhnlichen Benehmen der russischen Unterbeamten, die sich in solchen Fällen immer sehr wichtig zu machen suchen, nicht bekannt ist, Bedenklichkeiten erweckt. In den Gebietsämtern Aküe und Alschin mögen die Kaluas oder tatarischen Bezirks-Vorsteher aufgeschreckt aus dem Schlafe, nicht wenig verwundert gewesen sein, den ihnen bekannten teutschen Daniel, der jederzeit still bei Ali wohnte und arbeitete, nun so eilend in der Nacht vor das hohe Haupt der Tataren, den Nadschenlik, geführt zu sehen. Nun schien es ihnen ausgemacht, daß denn doch sein Leben unter den Tataren einen geheimen Zweck gehabt hätte, Siberien glaubten sie mir wahrscheinlich schon zugedacht. Mir aber war es angenehm, Gelegenheit zu haben,
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das Hauptort des Nogayengebiets und den Chef der Nogayen kennen zu lernen. Dieser mochte wohl nichts Gutes von mir denken, oder sich beleidigt fühlen, weil ich ohne sein Vorwissen mit einer hohen Person gesprochen hatte. Vielleicht schlug ihn sein Gewissen. Barsch und trocken empfing mich der russische Major, dessen ganzes Wesen weiter nichts als den gemeinen, ungebildeten, rohen und stolzen Militär anzeigt, der an seiner jetzigen Stelle gewohnt ist, Alles vor sich, als vor einem Dalai Lama, in den Staub sich beugen zu sehen und Geschenke zu empfangen. Er schien jedoch bald mit mir zufrieden zu sein und sah ein, daß er sich in seinen Muthmaßungen über mein Benehmen geirrt hatte. Er lud mich zur Mittagstafel und ließ mich an den Verhören der Tataren Theil nehmen. Da er selbst nicht tatarisch spricht, so gieng das Verhör durch den Dolmetsch, einen schlauen, habsüchtigen krimmschen Mursa oder Edelmann. Mehrere der verhörten Tataren stellten sich närrisch; Andere schienen nur der Form wegen da zu sein und die Sache schon früher durch den Dolmetsch abgemacht zu haben, wozu es vielleicht einiger Silberrubel oder eines gestohlenen Pferdes bedurfte.
Der Chef hat einige Kosaken zu seiner Hülfe und Bewachung. Auf seiner Kanzlei arbeiten einige russische Schreiber, von denen die Tataren oft viel zu leiden haben. Durch neue Verfügungen der milden und väterlich gesinnten höchsten Behörde ist der Raubgier eines großen Theils dieser Unterbeamten durch strenge Verhaltungsbefehle sowohl als durch Erhöhung der Besoldung bestmöglich Schranken gesetzt worden.
Die Gebäude, in denen der jetzige provisorische Chef wohnt, so wie der Kronsgarten in Nogayzg, sind von dem
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vorigen Chef, dem Grafen Dumaison, angelegt worden. Der ziemlich weitläufige Baumgarten wird von einen französischen Gärtner, einem alten und wackern Mann, besorgt, und ist in guter Ordnung gehalten. Kleine Vergehen der Tataren werden mit Arbeit in diesem Garten, auf kürzere oder längere Zeit, bestraft. Der Hauptort selbst ist ein unbedeutender Flecken, von Tataren, Russen und handelnden Armeniern bewohnt.
Drei Tage hielt ich mich hier auf und reiste dann mit dem Chef, in seiner schlechten Britschge , nach dem Tatarendorfe Aküe zurück, von wo mir bis nach Burkud, Postpferde gegeben wurden. Ali empfing mich mit Freuden und hatte mir, auf den ihm ungewissen Fall eines baldigen Wiederkommmens, ein besonders gutes Stück Pferdefleisch aufbewahren lassen. Dieser Rest von einem fetten geschlachteten Pferde wurde nun gesotten und wir aßen zusammen und dankten Gott.
Der schreckliche Winter von 1825 bis 1826.
Eine traurige Merkwürdigkeit des Jahres 1825 war der furchtbar harte Winter, welcher seit Mannsgedenken seines Gleichen in dieser Gegend nicht gehabt hat, Mangel an Nahrung, Kälte und Schneegestöber raffte tausende von Thieren weg und bedrohte selbst die Menschen mit Hunger und Krankheit.
Da es sowohl an nöthigem Futter für das Vieh als am Ställen fehlt, um zur harten Winterzeit die große Anzahl Viehes aufzunehmen und zu nähren, und da besonders Pferde und Schaafe Sommers und Winters auf freier Steppe
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zuzubringen und ihre Nahrung daselbst auch des Winters unter dem gewöhnlich nicht tiefen Schnee zu suchen gewohnt sind, so ist hier bisher, besonders von den Nogayen, noch sehr wenig für Stallung und Winterfütterung gesorgt worden. Das arme Vieh blieb also bei dem nun erfolgten harten Winter aller Unbill der Witterung ausgesetzt; ohnedem war das Jahr 1825 ein an Weide und Früchten mageres Jahr gewesen und das Vieh also schon seit einiger Zeit schlecht genährt und daher schwach. Auch der älteste Tatar konnte sich eines so harten Winters nicht erinnern, und Niemand war in diesem Klima auf diesen Steppen auf ein solches Ereigniß gefaßt.
Den Anfang machte ein fürchterliches Schneegestöber, das weit umher sich verbreitete und in einigen Tagen sich mehrmals wiederholte. Die Schaafe hielten nicht mehr zusammen, sondern zerstreuten sich. Die Hirten, nichts vor sich sehend, giengen in der Irre und fanden ihre Heerden nicht. Die auf den unabsehbaren Flächen zerstreuten, einzeln stehenden Schaafe wurden am Kopfe mit Schnee und Eis bedeckt, bis sie nicht mehr sehen konnten; die Wolle klebte sich überall zusammen, der Kopf fror ihnen an die Brust, bald waren auch die Füße aneinander gefroren, und das Thier stand als ein Eisklumpe an dem Boden fest, ward endlich ganz mit Schnee zugedeckt und unter demselben lebendig begraben. Große Heerden Schaafe wurden an andern Orten in der Nähe des Meeres vom ungestümmen, orkanartigen Winde, durch Schneegestöber mit Blindheit und Angst geschlagen; in’s Meer getrieben, wo sie ertranken. Die Pferde litten fast noch mehr als die Schaafe. Tagereisen weit entfernten und zerstreuten sie sich von ihren Weideplätzen und
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(man wird es kaum glauben können) viele wurden dergestalt mit Eis überzogen, daß sie sich nicht von der Stelle rühren konnten und bei manchen das Vordertheil vom Hintertheil des Leibes nicht mehr zu unterscheiden war. Wo nicht bald Hülfe geschafft werden konnte, mußten die Thiere erfrieren oder noch vielmehr — verhungern, da die Pferde dieses Jahr, wie gesagt, ohnehin schwach und entkräftet waren. Bei Teutschen, Russen und Tataren gieng in einer großen Strecke Landes längs dem Asowschen Meere und dem Flusse Molotschna etwa die Hälfte des Viehstandes zu Grunde. Was Schnee und Kälte geschont hatte, das fraß nachher der Hunger. Ein Teutscher, der mein Freund ist, verlor über 300 Pferde und 1200 Schaafe! Vier Tage nach dem großen Schneegestöber wurden noch Schaafe lebend unter Schnee und Eis, an der Boden angefroren, gefunden. Die Menge kleiner Schneehügel zeigten die begrabenen Thiere auf der Steppe an. Die Tataren hatten viel abzuledern und manche aßen sich diesen Winter nur zu satt an halb verrektem oder wirklich schon ersticktem Vieh und zogen sich dadurch Krätze und andere Krankheiten zu. Vor dem Hause meines Wirthes Ali sah ich täglich mehrere Pferde von einer Heerde, die in’s Dorf getrieben wurde, vor Schwäche und Hunger fallen. Das für einen Theil des Viehes, aber nicht für die große Masse desselben, eingeärntete Futter war bald in den Dörfern aufgezehrt. Die hohen, aus dem vom Vieh sonst übrig gelassenen und verschmähten groben Stroh und Heu, nach Gewohnheit aufgeführten, mit Mist und Erde vermengten Mauern, welche einen Hof um die Häuser der Tataren bilden, wurden nun abgetragen und täglich eine sparsame Portion dieses vielleicht zum Theil schon viele Jahre
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alten, nassen und verfaulten Zeugs dem Vieh als Fütterung vorgelegt und von ihm mit Heißhunger, freilich nicht zum Gedeihen, verzehrt. Es konnte durch dies unnatürliche Futtersurrogat nur Weniges erhalten werden. In den teutschen Dörfern sah man viele, in einigen alle Strohdächer, so alt sie auch sein mochten, abgetragen und dem Vieh verfüttert. Um krankes und schwaches Vieh am Leben zu erhalten und vor Kälte zu schützen, wurden von vielen Teutschen Kühe und Kälber oder Schaafe in die Häuser aufgenommen. Man sah in Wohnstuben krankes Vieh oder auch schon verrektes, welches von den durch Theurung und Fruchtmangel, durch Kälte und Krankheit geschwächten Leuten nicht herausgeschafft werden konnte. Doch mehr noch als Körperschwäche schien viele dieser Menschen abgestumpftes Gefühl und eine Art Verzweiflung befallen zu haben.
In den Tatarendörfern lag alles voll verrekten Viehes (eles) abgeledert; vor manchen Häusern sieben und mehr Stücke, die nur erst nach dem Winter nach und nach auf die Seite geschafft wurden und also größtentheils vor den Häusern vermoderten, da die große Anzahl Hunde nicht im Stande war, so viel Fleisch zu verzehren. Diese Thiere hatten nun die beste Zeit, so wie die Füchse und Wölfe ihrerseits auf der Steppe. Der Gestank in den Dörfern und in beträchtlicher Entfernung von denselben war kaum auszustehen. Die nackten Häuser, sonst mit obenbesagten Mistmauern und mit Heu- und Strohhaufen umgeben, standen nun da mitten in den Aesern von Pferden, Ochsen, Schaafen, unter denen wenige und übel aussehende Menschen, aber viele fette, dickbäuchige Hunde herumschlichen.
Im Ganzen litt das Vieh der Tataren weniger, als
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das der Teutschen, indem es mehr an das freie Steppenleben, so wie auch an schlechtere Nahrung gewohnt ist. Was den Tataren selbst anbelangt, der mit wenig und schlechter Nahrung zufrieden und dem Pferdefleisch die liebste Speise ist, so fühlte und hatte er nicht den Mangel wie der Teutsche.
Pferde hatten in diesem Winter am meisten durch Hunger gelitten, Schaafe mehr durch das Schneegestöber; doch trieb der Hunger auch diese so weit, daß sie einander die Wolle abfraßen. Man sah ganze Truppen Schaafe von Wolle entblößt, ganz nackt und roth; je das noch Stärkere fiel über das Schwächere her, raufte diesem mit den Zähnen die Wolle aus und verschlang sie mit Gier und in einer Art von Wuth.
Endlich kam das junge Gras hervor und ein schöner Frühling machte dem Elend ein Ende. Die Folgen dieses Winters sind aber jetzt noch, besonders in der vergleichungsweise geringen Pferdezahl zu sehen.
Für die Zukunft aber hatte dieser strenge Winter die ersprießlichsten Folgen. Der Verlust von mehr als der Hälfte der Pferde hielt die Nogayen von dem unnöthigen Rennen und Jagen auf der Steppe ab und zwang sie, mehr mit Ackerbau sich zu beschäftigen und ihr Vieh dazu zu benutzen. Sie versorgten sich in den folgenden Jahren auf den Winter besser mit Heu und Fütterung und haben seitdem viele Ställe für das Vieh erbaut.
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Rückreise nach der Schweiz.
Simferopol und Odessa.
Es war der 11. des Maimonats 1826, als ich, nach einem Aufenthalte von beinahe drei Jahren, die Nogayen-Tataren zum zweitenmal verließ. Mit dem Tataren Asan fuhr ich, nach einem schweren Abschied von Ali’s Kindern, in einem bedeckten krimmschen Wagen von Burkud ab. Ali begleitete mich noch eine Strecke Weges. Auf dem Begräbnißplatze, am Grabe der kleinen Dauwletkan, kniete Ali nieder und verrichtete, nach muselmanschem Gebrauch, leise ein Gebet; ich mit ihm. Dann umarmten und küßten wir uns, verbanden uns in ewiger Liebe und Freundschaft und trennten uns. Asan saß still auf dem langsam fahrenden Wagen; mein Herz litt an seinen Trennungswunden und der Wagen sang sein einförmiges trauriges Lied dazu.
Ueberall bekannt, wo ich durch Tatarendörfer fuhr, rief Alles, Alt und Jung, mir Glück zu.
In dem wegen Raubgesindel übel berüchtigten Tatarendorfe Jedenochta blieben wir die erste Nacht und dann gings über den Milchfluß und die Steppe der Tataren des
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Nieprowskischen Kreises, nach der Landenge der Halbinsel Krimm, durch die kleine Festung Perekop, von den Tataren or oder orkapu, das goldene Thor, genannt, nach dem Städtchen Armensky. Nicht weit von da zeigte sich in weiter Ferne, graulich wie eine Wolke, in dem herrlichen Blau des Himmels der Dschader-Dagh oder Zeltenberg, nach seiner Form so genannt, der höchste Gipfel des taurischen Gebirges. Wir waren von dessen Fuße noch über 450 Werste entfernt.
Die Posttraße von Perekop nach der Gouvernements-Stadt Simferopol ist ziemlich belebt. Es ziehen da große Karavanen russischer und tatarischer Wagen, jene mit Ochsen, diese mit Pferden leichtfüßigen kleinen Mauleseln und mit Kameelen bespannt. Die Wagen der Tataren geben alle, besonders wenn sie schwer beladen sind, ein grelles, durchdringendes und widerliches Schnarren und Getöse von sich, das von weitem her gehört wird und wenn viele Wagen hinter einander fahren, dem Ohr eine sonderbare, nicht harmonische Musik gewährt. Es rührt von den Rädern her, deren hölzerne Axen gar nicht oder nur mit wenig Fett beschmiert sind.
Da ich mich auch mit krimmschen Tataren in ihrer Sprache verständlich machen konnte und tatarische Kleidung trug, so sah ich mich überall gut aufgenommen. Die Gegend von Simferopol am Fuße des taurischen Gebirges ist sehr angenehm. Die Stadt, an dem Fusse Salghir gelegen, wird jetzt durch ein neues Quartier, einen großen öffentlichen Platz und eine geschmackvolle, prächtige Kirche verschönert. Das Tataren-Viertel hat enge und unregelmäßige Straßen. In der Gegend umher sind schöne Landhäuser.
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Simferopol wird von den Tataren Akmedschet oder Weißkirchen, Weißbethaus genannt. Hier wohnt ein pensionirter Abkömmling der alten krimmschen Chane, Nanens Kate-Ghieri; ein schöner Mann; der sich nach seinem Uebertritt von Muhammedanismus zum Christenthum in England ausgebildet hat. Während meines vorjährigen Aufenthalts bei ihm machte er mir das Vergnügen, mich auf einen nahen Berg zu führen, auf welchem man einer herrlichen Aussicht genießt. Diesmal fand ich ihn nicht bei Hause, wohl aber dessen liebenswürdige Gattin, eine Engländerin. Nachdem ich die teutsche Kolonie Neusatz besucht hatte, reiste ich zurück nach Perekop und von da über öde wasserleere Steppen nach Aleschke, von wo ich mich einschiffte und über die Dnjepermündungen, mehrern Inseln vorbei, nach der Gouvernementsstadt Cherson kam. Diese große Stadt, von den Tataren Tschortschan genannt , ist an dem Abhang eines Berges erbaut und zeigt sich von Aleschke aus sehr schön und in ihrer ganzen Größe und Regelmäßigkeit. Sie scheint ganz nahe zu sein; aber die vielen Biegungen machen, daß man bis an den Hafen siebzehn Werste auf dem Dnjeper zu fahren hat. Von Cherson fuhr ich den schon mehrmal gereisten Weg über Nikolai nach Odessa, wo ich Abends eben zu rechter Zeit ankam, um Tags darauf nach Konstantinopel absegeln zu können. Ohne besondere Empfehlung und Hülfe würde ich freilich in der kurzen Zeit eines Vormittags nicht zu den zur Abreise nöthigen Papieren gekommen sein. Es müssen verschiedene Büreaux in der Stadt durchlaufen werden, Stadtpolizei, General-Gouverneur, Mauth , Quarantaine u. s. w.
Auf der schnellsegelnden, neuerbauten ragusanischen
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Brigantine Nikomir, einem Zweimaster mit sechs Kanonen, unter österreichischer Flagge, schiffte ich mich nach Livorno ein. Das Schiff war mit Waizen beladen. Der Passagier bezahlte, falls er in der Kajüte wohnen wollte, 60 spanische Thaler oder etwa 150 fl. rhn. für die Ueberfahrt und täglich einen halben Thaler für den Tisch. Der Kapitän war ein wackerer Mann, aber auffahrend und bigott. Mit fanatischer Wuth polemisirte er gegen die Protestanten. Besonders war er über die Engländer erbost. In der schönen Kajüte hatte er eine, für ein Kauffahrteischiff ansehnliche Sammlung italienischer und französischer Bücher. Der Serivo (Schreiber) auf dem Schiffe spielte Guitarre. Der Tisch war auf der ganzen Reise für mich nur zu gut und das Schiff war sehr wohl verproviantirt. Man hatte lebende Schaafe, Schweine und viele Hühner, auch frisches Gemüse von Odessa mitgenommen. Man trank Kaffee und verschiedene Sorten Weine. Bald stellte sich bei mir wieder die Seekrankheit ein und der Appetit war mehrere Tage nicht groß. Der Wind war schwach und nicht vortheilhaft. Sieben Tage lang blieben wir auf dem schwarzen Meere; ein Zeitraum, in welchem man noch keine lange Weile bekommt. Darf ich ihn hier zu einer kleinen Abschweifung benutzen? Ich hatte Gelegenheit den Alamontade zu Iesen. Ich fand neben wenig Genügendem auch, was meinem Herzen wohl that und was mein eigenes Bestreben ist. Auch ich möchte ganz gut sein und das Gute thun, nicht um eigenen Gewinns und Seligkeit wegen oder gar nur allein, um dem Gesetz und dem Gewissen zu genügen, sondern aus reiner Liebe zum Guten selbst. Dies scheint mir das höchste Ziel zu sein. Ich kann es aber nicht in einem Tage ergreifen,
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sondern ich muß es in Geduld zu erringen und zu erkämpfen suchen und alle Mittel benutzen, durch die ich zu diesem Ziele gelangen kann. Genug, daß das Bedürfnis darnach geweckt, das Bestreben geschenkt ist, es erreichen zu wollen und auch die Mittel gegeben sind und die Kraft, es erreichen zu können. Es soll mir fürerst genug sein, Gott lieben zu dürfen um seiner unaussprechlichen Gnaden und Gaben willen, die er mir in Christo schenkt, um in dieser Liebe alle Lust und Kraft zum Guten zu erhalten und wirklich immer besser und vollkommener zu werden.
Täglich ward auf dem Verdeck zum Gebet geläutet; der Kapitän versammelte seine ganze Mannschaft, um auf den Knieen unter Gottes freiem Himmel ein lautes Gebet nach dem Gebrauche katholischer Kirche zu halten. Es war gewiß auch dem evangelisch oder protestantisch Genannten nicht unziemlich oder zur Schande, mit auf die Knie zu fallen und nach seiner Weise und seiner Erkenntniß anzubeten den Herrn der Erde, des Meeres und aller lebenden Geschöpfe. Schon der Anblick des majestätischen Wasserspiegels und sein einfacher, erhabener Charakter — die feierliche Stille — stimmt das Gemüth zu Gefühlen des Dankes gegen den guten Schöpfer; und wer möchte sich Seiner schämen, wenn Andere ihn öffentlich bekennen? Sei es auch auf verschiedene Weise, so ist doch jede Anrufung und Verehrung Gottes an sich Ehrfurcht gebietend; denn wer kann wissen, was dabei in den Herzen der Menschen vorgeht!? Sind es doch meine Brüder, die denselben Gott, wie ich, über sich haben.
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Konstantinopel.
Es war an einem Nachmittage, als wir an dem Kanal oder dem thrakischen Bospor, von den Türken Bogas oder Schlund genannt, ankamen. Ein sehr enger Durchpaß, von Bergen eingeschlossen, windet er sich in der Länge von 5 Meilen bis nach dem großen Stambul fort. Die schönste, merkwürdigste Reise, die ich gemacht! Ueber alles unvergeßlich wird mir dieser Abend bleiben; ich glaubte mich in eine ganz andere Welt versetzt, indem ich auf einmal alles, Land und Leute, so ganz verändert und verschieden sah. Ich war von Erstaunen hingerissen und mußte mich bald rechts bald links um mich herum nicht satt zu sehen. Ich bedauerte nur die Eile, mit welcher der Wind und die starke Strömung vom schwarzen in's Marmara-Meer das Schiff beflügelte, wodurch manches Detail dem Auge an dem schönen nahen Ufer entgehen mußte. — Die herrlichen Felsen auf asiatischer und europäischer Seite, die vielen türkischen Dörfer längs den Ufern, die Weinberge und Gärten, die einzelnen Landhäuser und Paläste, die Spaziergänge, auf denen man reichgekleidete Türken, verschleierte Türkinnen und griechische Damen lustwandeln sieht; die Schiffe, welche sich in diesem Engpaß begegnen und kreuzen; die eigne Bauart und Verzierung der türkischen Schiffe, die vielen Kaiks oder Kähne, in welchen die schön gestalteten, buntgekleideten Türken mit ihren großen Turbans spazierenfahren — dies alles zusammen ist, wenigstens für das Erstemal, überraschend und einnehmend schön. Von der Herrlichkeit der Natur dieser Gegend muß selbst der Schweizer bewegt werden und sie bewundern.
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Bei der Einfahrt in den Kanal kamen mehrere Türken auf einem Boote an’s Schiff gerudert, denen der Kapitän Zwieback und Kerzen schenkte, oder vielleicht als Tribut reichte. Wir fuhren Bujuk-dereh (Großgrund, Großthal) vorbei, wo europäische Gesandte schöne Sommerpaläste besitzen. Der Kapitän ließ die große Flagge aufstecken, als wir uns Konstantinopel näherten. Bei Sonnenuntergang und der vortheilhaftesten Beleuchtung liefen wir in den Hafen ein. Ich schwamm gleichsam in Genuß und Freude und vergaß, daß ich noch unter Menschen und zwar unter einem rohen, unwissenden und fanatischen Volke mich befand. Ich sah nichts als mannigfaltige Schönheit und Herrlichkeit und hätte, von dieses Anschauens Wonne trunken, jeden Türken umarmen und an meine Brust drücken mögen. Die Stadt auf ihren Hügeln gelagert, hat das Ansehen eines unermeßlichen Amphitheaters. Sie selbst, die Vorstädte und die gegenüber auf asiatischer Seite liegende , ebenfalls große Stadt Eskjudar (Skutari) bieten, gleichsam zusammenfließend, nur eine ungeheure Häusermasse dar. Wegen der Abhänge der Hügel scheinen die Gebäude reihenweis übereinander gebaut zu sein; zwischen ihnen erheben sich Cypressenbäume und die große Menge der Moscheen mit ihren Minaets oder Thürmen und vergoldeten Halbmonden. In der Nähe erblickt man den Palast des Großherrn, den Serail, die Top-Hana oder das große Arsenal, den Palast des Kapudan Pascha, das Gewühl der Menschen am Ufer in fremder Tracht und um sich herum die tausend Schiffe und Gondeln im Hafen, alles eben so lebhaft als auf der Themse bei London, zudem alles so ganz neu und fremd dem Auge.
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Nur acht Tage hielt sich unser Schiff im Hafen von Konstantinopel auf, während welcher Zeit ich Stadt und Gegend, so gut es bei solcher Kürze möglich war, kennen zu lernen suchte. Von Pera, der Vorstadt, wo die meisten Franken (abendländische Europäer) wohnen, ließ ich mich bald über den Hafen nach Konstantinopel, bald nach Skutari überfahren, oder längs dem Hafen bis nach dem Dorfe Ejoub. Mein liebster Spaziergang war nach dem sogenannten Todtenfeld, einem großen Begräbnißplatz auf der Höhe der Vorstädte Pera und Top-Hana, wohin ich mit einem Reisegesellschafter gleich am ersten Tage nach unserer Ankunft geführt wurde, und von welchem Platz man eine ausgebreitete, unvergleichliche Aussicht auf den Kanal, den Propontis und seine Prinzeninseln, über Skutari und die Vorstädte Pera, Galata und Top-Hana genießt. In weiter Ferne über der Küste von Anatolien glänzte eine Reihe schneebedeckter Berge herüber. In der Nähe steht die prächtige Artillerie-Kaserne und liegen die Gräber der Türken in den herrlichen Cypressenwäldern. Um sich herum hat man ein weites Feld mit Gräbern der Armenier, Griechen und Katholiken, zwischen welchen, besonders an Feiertagen, eine Menge armenische und griechische Damen mit ihren Kindern und Sklavinnen herumwandeln oder neben einem Grabstein eines Verwandten ein Mahl verzehren. Auch Türkinnen kommen auf kleinen, bunt bemalten, von Männern gezogenen, oder auf größern, mit ausgeschmückten Ochsen bespannten Wagen angefahren. Dies sind die türkischen Fiakers, Droschken oder Gesellschaftswagen.
Es ist einem so wohl auf diesen Höhen unter den Gräbern und über dem Leben und Getriebe von einigen hunderttausend Menschen,
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welche seit so langer Zeit hinlänglich bewiesen haben, dass sie dieses herrliche Land nicht zu schätzen und zu benutzen wissen und, aus fernem Lande gekommen, noch jetzt Fremdlinge sind, denen die Stunde ihrer Rückkehr in die heimatlichen Steppen des innern Mittelasiens, auf welche sie zu warten scheinen, recht bald schlagen möge!
Welche Gefühle regten sich bei dem Gedanken an das, was Byzanz einst war, was es jetzt ist als Stambul unter den Osmanen, und was eine Wiedergeburt aus ihm zu gestalten vermöchte!
Auf der Höhe weilt man gerne, und von weitem strahlt Konstantinopel gar prächtig! Aber man wundert doch auch, wie’s im Innern aussehen möchte, und da schwindet denn der Zauber. Man findet sehr enge, finstere und steile Straßen‚ viele elende, schlecht gebaute, hölzerne Häuser, Geschmacklosigkeit und Schmutz auf jedem Schritte. In Pera, der Frankenvorstadt, von den Türken auch Donsscheher, Schweinstadt, genannt, findet man jedoch viele große, steinerne Häuser, welche den häufigen Feuersbrünsten Trotz bieten. Bei diesen, so wie, wenn die Pest stark herrscht, verschließen sich die Franken in selbigen und verproviantiren sich. Die Paläste der auswärtige Gesandten in dieser Vorstadt sind alle sehr schön. Die Franken tragen sich in französischer und englischer Tracht; die Frauenzimmer haben aber größtentheils die Sitte der Beinkleidung angenommen. Die Türkinnen sind oft nur durch ihre gelben Schuhe oder Stiefelchen von den Armenierinnen zu unterscheiden, welche durchgehends rothe tagen; die Griechinnen hingegen tragen schwarze. An der Mütze oder dem Turban erkennt man den Griechen, Armenier, Juden, und bei den Türken wieder
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jeden Stand an Form und Farbe desselben, die Ulema’s de verschiedenen Regimenter der Janitscharen, die Topdschi’s oder Kanoniere, die Bostandschi’s oder Gärtner, auch zugleich die Leibwache des Sultans, die Kadi’s, Mollah’s, Kanzleibeamten und den Bürger. Der Türke zeichnet sich noch ferner dadurch aus, daß er stets auf der Straße bewaffnet geht.
In der Stadt selbst trieb ich mich auf den Gassen weit herum, konnte aber alles nur von aussen besehen, Serail, Sophien-Moschee, Kasernen, die herrlichen Brunnen mit Höfen. Auf den weitläufigen Bazars oder Märkten findet man besondere Gassen für Pelzhändler, Schuhmacher, Waffenschmiede, Pfeifenmacher u. s. w. Unter einem Thore der Stadt forderte mir ein Janitschar einige Paras für den Padischah (Großherrn) ab. Vergnügen machte es mir, neuerrichtete Regimenter nach europäischer Art instruiren und exerciren zu sehen. Am besten schien mir die Artillerie geübt zu sein.
Auf einer großen, mit vielen prächtig gekleideten, auf Polstern sitzenden und eifrig mit Schreiben beschäftigten Türken angefüllten Kanzlei erhielt ich recht bald einen Passierschein durch die Dardanellen und die dort liegende türkische Flotte. In Skutari, wo ich, wie fast überall, allein herumgieng, wurde ich von Gassenjungen mit Koth und Steinen beworfen und hatte mich mit Mühe durch ein Heer wilder und hungriger Hunde durchzuschlagen, welchen die fränkische Kleidung nicht gewohnt war und die überdies angereizt wurden. Andere Türken nahmen mich dagegen in Schutz. Zwei Griechen, mit denen ich Bekanntschaft machte, führten
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mich in Kaffeehäuser und auf schöne öffentliche Plätze ausser den Vorstädten, wo Kaimak und Djaurt zu haben war.
In Pera herrschte die Pest, und dieses wurde mir von der französischen Gesandtschaft auf meinen Paß nach Livorno bemerkt.
Unter den Janitscharen bemerkte man Unzufriedenheit; doch war die öffentliche Ruhe bei der Abfahrt aus Konstantinopel in dieser Stadt noch nicht gestört. Den 11. Juni wurde das Schiff zum Hafen hinaus bugsirt und ich hatte also bei dieser langsamen Abfahrt Muße, alles um mich her zu betrachten. Wir fuhren um die Landspitze, auf welcher der Serail steht, herum und dann den sieben Thürmen vorbei in den bei allen Reisenden im schönsten Andenken liegenden Propontis (mar di marmara) hinein. Bei Tagesanbruch wurden die Anker im Hafen gelichtet und Abends befanden wir uns noch im Angesicht von Konstantinopel, was mir sehr lieb war; denn ungern schied ich von dieser Gegend.
In Rodosto (Rodostschig) und Gallipoli (Gieliboli) wurde gelandet und Weine eingekauft, die hier, so wie alle Lebensmittel, sehr wohlfeil sind. Dann fuhren wir in den Hellespont oder die Meerenge der Dardanellen (bogas hysarleri) ein. Bei den alten Schlössern, wo die Meerenge am schmalsten ist, lag die große neu ausgerüstete türkische Kriegsflotte von 47 Segeln, worunter auch das große Admiralschiff des Kapudan-Pascha. Ein Boot mit vielen Rudern kam gegen uns. Der kommandirende Offizier wollte etwas anfragen oder gar an Bord kommen; da aber der Wind günstig war und die Segel nicht eingezogen ober geändert wurden, so konnte es nicht ankommen und
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blieb bald hinter uns zurück. Der Offizier tobte und fluchte; unser Kapitän auf dem Verdecke lachte und gab ihm türkische Scheltworte zurück. Wir segelten mitten durch die Linien, und ankerten unter den Mörsern des alten asiatischen Schlosses, wo noch viele Kauffahrteischiffe lagen, mit denen wir auf die Ankunft eines europäischen Kriegsschiffes warten mußten, indem solche von ihrer Station im Golfe von Smyrna von Zeit zu Zeit vor den Eingang der Dardanellen kommen, um Kauffahrteischiffe abzuholen und nach Smyrna zu bringen oder ihnen als Begleit durch den Archipel zu dienen, da jetzt derselbe von griechischen Raubschiffen wimmelte, welche keine Flagge respektirten.
Vom Schiffe konnte ich gerade in die Mündung der großen 22 Fuß langen Mörser oder Kanonen sehen, welche 28 Zoll im Durchmesser haben. Die Mörser liegen auf dem Erdboden und können nicht nach einem Zielpunkte gerichtet werden. Der Kanonier muß warten, bis das Schiff, das er beschießen will, der Mündung gegenüber kommt. Es soll wenigstens eine halbe Stunde erfordern, sie zu laden. Die Kugeln sind von Granit.
Die Mannschaft der türkischen Kriegsschiffe, welche nun nicht mehr aus Griechen, sondern aus Türken besteht, wurde täglich geübt. Auf allen Segelstangen standen Türk an Türk, die man in der Ferne für eine Menge Vögel zu halten versucht war; Andere hiengen sich an Taue und ließen sich herab. Dann übte man sich mit Signalen.
Am dritten Tage zeigte sich eine österreichische Fregatte, welche uns bis Smyrna begleiten wollte. Die türkische Flotte manövirte an diesem Tage und stellte in zwei TheiIen ein Seegefecht vor. Unter der fürchterlichen Kanonade
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dieser Schiffe segelten wir, einige und zwanzig Schiffe stark, aus den Dardanellen, zwischen der Küste des alten Troja (woher Waffenklang durch drei Jahrtausende herab an unser Ohr reicht) und der Insel Tenedos durch und Alt-Konstantinopel (eski stambul) vorbei. Durch die zuletzt mit uns vereinten Schiffe aus Konstantinopel hatten wir noch die Nachricht von dem Aufruhr der Janitscharen und ihrer begonnenen Ausrottung und Niedermetzelung erhalten. Abends glaubte man mehrere griechische Kaper oder Mystiks zu sehen; das Kriegsschiff gab Signale, die Kanonen wurden geladen, Flinten und Säbel an die Matrosen vertheilt. Sie zeigten sich aber bald als befreundete Schiffe:
Metelino (Lemnos) vorbei, gelangten wir endlich in den herrlichen Golf von Smyrna und ankerten auf der Rhede vor dem alten Kastell.
Smyrna. Der Archipelagus.
Der Hafen von Smyrna, jetzt der Sammelplatz der Kauffahrer aus Konstantinopel und dem Mittelmeere und die Station der Kriegsschiffe, war ausserordentlich lebhaft. Es giengen und kamen immerwährend Schiffe. Auf der Rhede lagen eine Menge Kauffahrer, die sich hier vereinigten, um Begleit zwischen den griechischen Inseln hindurch zu erhalten. Die vierzehn Tage, welche der Nicomir in Smyrna lag, fuhr ich täglich mit dem Kapitän durch den mit englischen, französischen, österreichischen und amerikanischen Kriegsschiffen angefüllten Hafen nach der Stadt, in welcher ich
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mich, so wie in der Umgegend, überall umsah. Letztere ist angenehm und mit schönen Gärten und Landhäusern geschmückt. Die Stadt zählt etwa 120000 Einwohner. Von den Abendländern, welche hier wohnen, sind die Franzosen die zahlreichsten. Längs dem Hafen stehen die Häuser der Konsuln. Eine herrliche Lage am Meer hat das Kaffee à la bella vista.
Da die Rhede von Smyrna bei stürmischer Witterung nicht sicher ist, so segelten die meisten Kauffahrteischiffe aus dem Golf nach dem kleinen Hafen Phokas oder Folleri, wo wir noch acht Tage liegen blieben. Dieser Hafen bildet einen kleinen Kessel, von Hügeln umgeben. Sein Eingang ist sehr schmal. Der Anblick dieses Hafens mit den vielen Schiffen war von den Höhen herab ausserordentlich schön. Hier besuchte ich mit dem Kapitän ein in Smyrna erbautes österreichisches Kriegsschiff und gieng mit ihm ans Land, zu fischen. Bei’m Besuche der Umgegend erfreute ich mich des Umganges mit Türken, so wenig ich mich auch mit ihnen verständigen konnte. Unter den herrlichen Cypressen und neben weidenden Kameelen spielte ich ihnen auf der Flöte vor und sie waren mit dem schlechten Spiel hoch zufrieden. Auf den Schiffen wurden Gastmahle veranstaltet, zu denen die Offiziere der Kriegsschiffe eingeladen waren.
Endlich fuhren wir – fünfzig Kauffahrteischiffe an der Zahl – unter dem Schutze zweier österreichischer Kriegsschiffe, der Velogge und Elisabeth, vom Hafen aus. Ein unvergleichlich schöner Anblick, so viele Schiffe mit vollen Segeln auf der See schwimmen zu sehen! Jedes Schiff wurde numerirt und erhielt ein Signalbuch. Wir segelten der Insel Skio (Chios) und den Heldeninseln Ipsara und
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Antipsara vorbei, dann neben den Inseln Andro, Zea, Argentiera, Hydra und der kleinen Felseninsel St. Georg durch, und erblickten an Morea’s Küste die Stadt Napoli di Malvasia. Die Küsten und Berge der griechischen Inseln gewähren eien imposanten Anblick. In der Richtung gegen Negropont hatten sich mehrere Schiffe von unserer Flotte, welche Proviant für die türkische Armee geladen hatten, getrennt. Kaum waren sie uns aus dem Gesichte, so hörte man eine starke Kanonade. Der Wind blieb immer schwach, ward jedoch nicht ungünstig. Da von der Flotte mehrere Schiffe schlecht segelten, so mußten die Schnellsegler, um nicht einen zu großen Vorsprung zu gewinnen und sich nicht zu weit von der Flotte zu entfernen, einige Segel eingezogen halten. Ein Kriegsschiff führte die Flotte an, das andre schloß den Zug und schleppte am Tau ein schlechtsegeldes Schiff nach. Diese beiden Kriegsschiffe korrespondirten beständig mit einander durch Signale und sprachen auch etwa durch solche mit der einen oder andern Numer der Kauffahrer; des Nachts durch Laternen oder Kanonenschüsse.
Unterhaltend und merkwürdig war diese Fahrt mit so vielen Schiffen und im beständigen Anblick des festen Landes oder der Inseln. Auch die Menge von Delphinen, welche sich hier zeigten, um’s Schiff herumschwammen und gleichsam tanzten und walzten, gewährten einen Zeitvertreib, wenn man je Langeweile haben konnte. Eine kleinere Art Fische sah man ebenfalls in Menge, welche sich in großen Sprüngen über die Wasserfläche emporhoben und dies Spiel immer wiederholten.
Bei der ionischen Insel Cerigo ließen sich mehrere
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Mystiks blicken, welche sich aber wohl hüteten, eine starke Flotte, von Kriegsschiffen begleitet, anzugreifen. Nicht weit hinter besagter Insel verließ uns ein Kriegsschiff und kehrte auf seine Station nach Smyrna zurück; bald hernach verließ uns auch das andere, welches einige Schiffe der Flotte nach Alexandria in Aegypten begleitete. Wir blieben nur noch zwölf Schiffe beisammen, welche nach Gibraltar, Marseille, Genua und Livorno bestimmt waren; der Rest schiffte ins adriatische Meer nach Ancona, Venedig und Triest. Es wurde ein Kommandanten-Schiff gewählt, welches zehn Kanonen führte und, gleich den Kriegsschiffen, die Signale gab. Wir trafen auf die ägyptische Flotte von 21 Segeln, welche von Morea nach Aegypten zurücksegelte. Eines dieser Kriegsschiffe ließ eine Kugel über unsere Schiffe fliegen; vielleicht zum Zeichen, dass wir anhalten sollten. Es wurde Neuigkeiten auf dem Meere und in Konstantinopel nachgefragt, worauf man uns ungehindert weiter segeln ließ.
Das Mittelmeer. Italien.
Zwischen den Inseln Cerigo und Maltha trat eine völlige Windstille ein, so dass wir in acht Tagen kaum spürbar vom Flecke kamen. Die See blieb spiegelglatt; kein Lüftchen regte sich. Des Tages war drückende Hitze, Nachts Kälte und sehr starker Thau auf dem Schiffe. Die Matrosen beschäftigten sich mit Fischen und dem Fange großer Schildkröten, welche schlafend aus dem Meeresgrund auf die Oberfläche des Wassers gehoben und auf dem Rüden liegend ins
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Boot geworfen wurden; kommt man mit starkem Geräusch und Plätschern der Ruder heran, so erwacht das Thier und senkt sich sogleich in den Grund.
Die Unterhaltung auf dem Schiffe war sparsam. Am meisten konnte ich mich mit einem Dominikanermönchen besprechen, welcher von Smyrna aus nach Livorno zielte, um nach Rom zu reisen, wo er für sein Kloster in Konstantinopel Geschäfte hatte. Er redete mehrere Sprachen, besonders gut neugriechisch und türkisch, in welch’ letzterer Sprache er den katholischen Armeniern in Konstantinopel zu predigen hat. Gerne würde dieser Mann einen Proselyten gemacht haben. Wie ich so oft bei Katholiken gefunden, so glaubte auch er, dass ein Protestant, der an Christum und sein Wort glaubt, nicht mehr weit von der römisch-katholischen Kirche entfernt sei; wie denn überhaupt in ganz katholischen Staaten eine große Unkenntniß anderer Kirchen und so auch des Protestantismus herrscht. Protestant und Ungläubiger sind den meisten Katholiken synonym; zu welchem Irrthum freilich jene Zeit vieles beigetragen haben mag, in welcher der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christo unter einem gar großen Theil der Protestanten ein Gegenstand der Geringschätzung geworden war, da dann der Katholik fast keine andere Schriften der Protestanten in die Hände bekam, als solche, in welchen man allen christlichen Glauben angegriffen fand. Jetzt ist das teutsche protestantische Volk im Ganzen mehr von der Unhaltbarkeit und Unzugänglichkeit so vieler ephemeren, sich im bunten Wirbel drängenden Meinungen überzeugt; und wo Unglaube sich findet, da hat er doch nicht mehr die Öffentlichkeit oder nicht mehr die frühere Theilnahme.
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Frater Dominikus sprach viel von der Uneinigkeit und Getheiltheit der Protestanten, und dass doch die Wahrheit nur eine sein könne. Die vielen Sekten und Parteien der Protestanten seien ein Beweis, dass die heilige Schrift nicht der Prüfung und Erklärung eines Jeden preisgegeben sein dürfe. Die Katholiken wüßten, an was sie glaubten; der Protestant, auf sich selbst gestellt, schwebe im Ungewissen umher, bald dies bald jenes annehmend, so wie es ihm gut dünke, u. s. w. Es ließ sich genug einwenden; aber wie es gewöhnlich bei solchen Disputen geht, Jeder blieb bei seiner Meinung.
Da ein Wind sich erhob, bekamen wir bald die Insel Maltha zu Gesicht und ihre Hauptstadt Valetta in ihren Festungswerken. Nun kam aber Gegenwind, was den Kapitän bewog, nicht durch die Meerenge von Messina, der drohenden Charybdis vorbei, sondern um Sizilien herum zu schiffen. Mit Mühe lavirte man längs der südlichen Küste dieser großen und schönen Insel, welche einen herrlichen Anblick gewährt. Fern gegen Süden erblickt man die zu Afrika gerechnete, aber dem Königreiche beider Sizilien zugehörende Insel Pantelaria und noch weiter das feste Land von Afrika bei’m Cap Bon. Um die Westspitze von Sicilien uns wendend, kamen wir ganz nahe an der Felseninsel Maretimo vorbei, auf welcher die Staatsgefängnisse in die Felsen gehauen sind. Dann ins hohe und stürmische tyrrhenische Meer, sahen bald die Küste von Italien, bald die von Sardinien und Korsika und endlich den Felsen Monte Christo, bei dem man, da sich starker und vorttheilhafter Wind erhob, diese Seereise als beendigt ansah und sich auf dem Schiffe der Freude überließ.
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Mit vollen Segeln fuhr man der schönen und berühmten Insel Elba und links der kleinen Capraja vorbei auf die Rhede vor Livorno. Dies geschah in der Nacht vom 11. August, nach einer Reise von 75 Tagen von Odessa und einer unausgesetzten Seefahrt von Folleri aus in 33 Tagen. Die Ankunft wurde mit Kanonenschüssen verkündigt. Mit Tagesanbruch kam der Arzt der Quarantaine an’s Schiff gefahren und zwei Guardians oder Wachen stiegen an Bord. Am dritten Tage wurden die Passagiers in die prächtigen großen Gebäude der Quarantaine abgeholt. Die 40 Tage, welche ich hier zubringen mußte, vergiengen mir wie eben so viele Stunden.
Livorno soll eine der besten Quarantaine-Anstalten am Mittelmeere besitzen. Die Einrichtung ist vortrefflich. Jeder Reisende hat sein geräumiges, hohes Zimmer mit Kamin und Appartement. Am Tage kann man in Höfen spazieren gehen, jedoch ohne sich zu berühren, worauf die Guardians Obacht halten, den unwissenden Reisenden über alles belehrend. Jede Berührung mit solchen, die nicht auf demselben Schiffe angekommen, hat Verlängerung des Aufenthalts zur Folge. Abends werden die Thüren der Zimmer von aussen verriegelt. Ein Restaurateur verschafft gegen billige Bezahlung die nöthige Speise. Man kann sich aber auch selbst kochen, da alles aus der Stadt hineingebracht werden darf. Das Logis ist frei; Tische, Stühle u. dgl. kann man von den Aufsehern für die Zeit des Aufenthalts entlehnen. In dem Sprachzimmer kann man sich durch zwei von einander entfernte Drahtgitter mit Nachfragenden und Freunden aus der Stadt unterhalten.
Es finden sich da Menschen aller Art zusammen. Ein
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paar aus Missolonghi geflüchtete griechische Familien und eine schwarze Sklavin des sardinischen Konsuls in Alexandria erregten Mitleid. Die Weiber der Griechen, meinem Zimmer gegenüber, weinten den ganzen Tag.
Mit frater Dominikus konnte ich in Verbindung bleiben. Er hatte sich ein Forte-Piano aus der Stadt in sein Zimmer bringen lassen, und in einem andern nahen Zimmer hörte man vortrefflich die Querflöte spielen. Merkwürdig sind die Anstalten und Einrichtungen, welche hier zur Verhütung der Ausbreitung des Pestübels getroffen sind, dem, der das erstemal damit bekannt wird.
Nach vierzig Tagen sprach der Arzt mich frei und ich gieng über die Zugbrücke nach dem, eine halbe Stunde entfernten Livorno; nahm im Hafen auf dem Nicomir noch Abschied vom Kapitän und reiste nach einem zweitägigen Aufenthalte zu Livorno durch die fruchtbarste, herrlichste Gegend nach Florenz, der toskanischen Hauptsadt.
Auch hier, in dieser prächtigen, merkwürdigen Residenz konnte ich nur zwei Tage verweilen; besah die schönen Straßen, die vielen Paläste, öffentlichen Plätze, Bildsäulen, die Kirchen und den großherzoglichen Palast. Eine schöne Straße führt über das appenninische Gebirg, auf dessen Höhe man das adriatische Meer erblickt.
Jenseits dieses Gebirges betrat ich den Kirchenstaat, durch welchen ich nun über das berühmte Bologna reiste und dann durch Modena, Reggio, Parma und Piacenza, über Lodi, und seine berühmte Brücke nach Mailand, der Hauptstadt des Lombardisch-Venetianischen Königreichs, kam. Hier konnte ich ebenfalls nur in kurzer Zeit
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einige öffentliche Plätze und Gebäude, die merkwürdige Domkirche und das große Theater Scala besehen.
Italien nur flüchtig durchreist, hatte ich doch so viel genossen und gesehen, um noch immer im Andenken an diesen Durchflug mich freuen zu können. Menschen hatte ich wenige kennen gelernt, aber die Schönheit der Städte und des Landes bewundert und gepriesen.
Von Como machte ich auf dem eleganten englischen Dampfboote die genußreiche Reise über den Comersee bis Domaso, von da auf einer Barke bis Riva, Die majestätischen Ufer, die prächtigen Villen zu beiden Seiten des Sees, die ihn umlagernden, immer höher sich erhebenden Berge, die nackten Felsen und Glätscher , von denen er gegen Riva hin eingeschlossen scheint, gewähren einen reizenden und erhabenen Anblick. Die Fahrt auf dem Comersee konnte ich an Schönheit und Genußreichthum nur mit der Fahrt auf dem Rhein von Mainz bis Coblenz und durch den Kanal von Konstantinopel vergleichen.
Von Riva über Chiavenna und den merkwürdigen Splügenpaß gieng’s nun in mein theures Vaterland. Auf der schönen neu erbauten Splügenstraße fährt man mit großer Leichtigkeit über Brücken und durch Galerien, welche die Straße vor den Schneelavinen sichern, bis auf die Höhe von 5000 Fuß, nach dem Dorfe Splügen am Hinterrhein, dann durch die Rofla und Andeer, durch die an Schauderseenen reiche Via mala nach Tufis. Von da langte ich über Reichenau, Chur und durch das Rheinthal den ersten des Octobers in St. Gallen an.
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Brief des Tataren Ali an den Verfasser;
als Antwort auf sein Schreiben aus Konstantinopel vom Monat Juni 1826.
Lieber Daniel!
Deinen Brief in unserm Dialekt habe ich erhalten. O, was hatte ich für Freude, als unser topal mollah (hinkende Priester) mir ihn vorlas. Ich danke Gott, daß er Dich über das schwarze Meer zu unserer Hauptstadt Istambul geführt hat und bete auch zu ihm, daß er Dich glücklich zu uns bringen möge. Wir waren Alle voll Freude über Deinen Brief. Ich, Weib und Kind hatten immer Dani im Munde; die Kinder überhaupt schrieen unaufhörlich: Dani Akam wird kommen! besonders die kleine Kutlukan, die jedesmal, wenn Jemand in fremder Tracht im Ankommen ist, dani kelde (Daniel ist gekommen) schreit. Wir sind Alle, Gott sei Dank, gesund und gedenken Deiner jetzt mehr als zu der Zeit, da Du bei uns warst.
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Unvergeßlich ist der Abschied bei dem Grabe meines Kindes Dauwletkan. Ich kann ohne Thränen an diese Scene nicht gedenken; ich sehe, nicht allein für Lebendige, sondern auch für die Verstorbenen bist Du ein theilnehmender Mensch. Alle unsere Nogayen sagten zu mir: „den Menschen hat Gott dir gesandt“ *); so wie sie auch immer von Dir sprechen und des einen und andern von deinen Gesprächen eingedenk sind. Man hat Dich nicht vergessen und ich werde in Ewigkeit an Dich denken. O Daniel, mein Bruder! mein Sohn! wie kann ich an Dir so hangen? Was ist das? Ich versteh” es nicht. Gott weiß alles! Er weiß auch, was in mir vorgeht. Ich, ein Muselmann, von Jugend an gelehrt, den Christen so wenig zu achten, als könnte er nichts Gutes an sich haben, fühle mich doch mit Dir, einem Christen, verbunden. Ich sehe, vor Gott ist nicht ein so große Unterschied, als es unter Menschen ist.
Meine Frau ist 10 Tage vor dem Kurban Bairam niedergekommen und hat mir eine Tochter geboren, welcher der kart mollah den Namen aus dem Buche nasepgan **) gegeben hat. Mutter und Kind waren gleich gesund und stark. Meine Wirthschaft hat sich geändert; am Takmaker Jahrmarkt habe ich zum Theil mein Vieh verkauft, behalten 2 Kühe, 2 Ochsen, den Schimmel vertauscht an eine Stute mit einem Füllen und 40 Rubel noch dazu. Deine Mühe, den Pflug ***) und
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*) Das ist von Gott — Gottesführung — das Geschick.
**) nasep — Geschick, Glück, das im Buches der Vorherbestimmung geschrieben ist.
***) Der erste teutsche Pflug bei den Nogayen.
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die Saatfrucht von den Teutschen zu besorgen, ist mir lauter Segen geworden; habe geärntet 240 Mereke Waizen, 170 Mereke Gerste, 500 Mereke Hirse, wovon ich 165 Mereke statt Arbeitslohn den Arbeitern gegeben, Heu gemäht 480 Kopitzen, wovon 280 verkauft habe. Nun Gott sei Dank!
Viel Brod; nur fehlt uns Daniel, der alles so genau und redlich im Hause besorgte, dass nichts verloren oder zu Grunde gieng. Alei alei besem senè begg kop sagnerim *). Deine Mutter grüße tausendmal (bing selam); ob ich sie wohl nicht kenne, so rechne ich mir sie doch als meine Mutter zu; so lasse sie auch für uns in dieser Welt beten, wie Mütter es zu thun pflegen für ihre Kinder. 500 ja 1000 Werst wären mir nicht zu weit, sie einmal zu sehen und kennen zu lernen, weil ich fühle, dass sie eine gute Mutter sein muß! Mein Weib gab mir heute die Hand, als ich sagte ‚- ich wolle zu meinem alten Wirthe **) reisen, um an Daniel schreiben zu lassen; sie sagte: „Hier ist meine Hand, als schrieb ich ihm selbst!“ Abdullah und Kutlukan ihre Hände sind auch mit mir. So sehe also diese teutschen als mein und meiner Familie eigene Worte in der Nogaysprache an. Nun mein Bruder und Sohn! Gott, der Alleinige, sende seinen Engel (malek) zum Reisegefährten (djoldasch), dann kommst Du unbeschädigt wieder. Stirbst Du auf deinem Wege, — von unserer Seite ist nichts Aufhaltendes ***), was uns nicht
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*) Ja wohl — uns verlangt sehr nach Dir.
**) Schreiber und Uebersetzer des von Ali diktirten Briefes, dem dieser in früherer Zeit gedient hatte.
***) Wir haben nichts gegen einander — wir sind einig. (kasset).
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wieder in dem Paradies zusammenbringen sollte, so auch, wenn Du von uns eines nicht mehr in diesem Leben antreffen solltest, wir den Glauben haben, daß keine Uneinigkeit auch von deiner Seite zur besagten Vereinigung die ewige Freude stören werde.
Nun sei gegrüßt viel tausendmal in deinem Land und in deiner Mutter Haus! Wir vergessen Dich nimmer, und so wie ich von Dir höre, wirst auch Du uns in Ewigkeit nicht vergessen. Dies sei Amin! Meine Hand gebt mit diesem Briefe, das bezeichnet meine eigene Unterschrift als Zeichen herzlicher Begrüßung.
(Er unterzeichnet, da er nicht schreiben kann, mit einigen Strichen.)
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Dritte Reise aus der Schweiz nach dem Asowschen Meere
über London, Brüssel, Cassel, Berlin, Danzig, Warschau und Odessa,
und zurück über
Odessa, Lemberg, Brünn, Wien‚ Salzburg und Insbruck.
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Reise aus der Schweiz nach England.
Den 7. Jan. 1827 verließ ich noch einmal meine Vaterstadt und reiste über Zürich und Aarau nach Basel. Mehrmals hatte ich in dieser Stadt das Institut zur Bildung junger Leute zum Missionsdienste besucht. Schon das erstemal schwand mir manches ungünstige Vorurtheil. Die schöne Einrichtung und Ordnung, der herrschende Geist des Fleißes und der Munterkeit der Zöglinge, die liebreiche und väterliche Gesinnung der Vorsteher, die sich durchweg zeigt, — muß gewiß jeden Liebhaber des Guten und jeden Menschenfreund anziehen und erfreuen. Denkt man an die Unkosten und die Beharrlichkeit, welche der Unterhalt und die Fortsetzung eines solchen Unternehmens erfordert, an den wichtigen und schönen Zweck, der dabei beabsichtigt wird; so kann man nicht anders, als den Urhebern dieses Werkes der Liebe und den thätigen Theilnehmern an demselben Dank wissen und vollen Segen wünschen. Um so mehr wird diese Anstalt nicht nur von aussen blühen und sich ausdehnen, sondern auch an innerer Kraft und segensreicher Wirksamkeit zunehmen, als den Zöglingen Schein vom Sein wahr und klar unterschieden wird und die achtungswürdigen Leiter dieser Anstalt an Erfahrung gewinnen. Eben so schätzbar ist die Armenschullehrer-Anstalt in dem einsam und angenehm
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gelegenen Schlosse Beuggen, 3 Stunden von Basel, am rechten Rheinufer, im Großherzogthum Baden.
Von Basel fuhr ich im Eilwagen über Freiburg im Breisgau, Karlsruh und Stuttgart nach Kornthal, einer nach dem Muster der Brüdergemeinde eingerichteten, mit schönen Privilegien versehenen Separatgemeine, in welcher auch eine Pensions- und Erziehungsanstalt sich befindet. Veränderung in der Taufformel veranlaßte bekanntlich die Trennung der Mitglieder dieser Gemeine von der Kirche. — Ein großer Theil hängt dem Chiliasmus an. Mehrere Gleichgesinnte sind nach Rußland gezogen. — Von Kornthal gieng es in die von der katholischen zur evangelischen Kirche mit ihrem vorigen Lehrer übergetretenen Gemeine in Mülhausen, unweit Pforzheim. Mit dem Wunsche, daß sie bei diesem Tausch recht viel möchten gewonnen haben, setzte ich meine Reise fort — über Pforzheim, Durlach, Karlsruh, Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Mainz, Koblenz und Cölln — in’s schöne Wupperthal, wo ich mehrere genußreiche Tage zubrachte — Wie im Merkantilischen, so zeichnen sich da auch Viele im Religiösen aus. Es wird viel spekulirt, doch fehlt es nicht an praktischem Christenthum. Aecht mystisch-religiöser Sinn und Moralität scheinen in diesem stark bevölkerten Thale noch die Oberhand über Unglaube und Immoralität, über Schwärmerei und Aftermystizismus zu haben. Hoffentlich wird auch bald nicht mehr von Tersteegi und andern Anern die Rede sein, so wie ja auch die Namen Lutheraner und Zwinglianer immer mehr verschwinden.
Von Barmen aus machte ich einen kurzen Besuch in der Verbrecher- und Vagabunden-Kinder-Erziehungsanstalt
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in Düsselthal bei Düsseldorf und fuhr von Cölln aus, wieder mit Eilpost, über Jülich, Aachen, Lüttich, Tirlemont, Löwen, Brüssel, Gent und Brügge nach dem Seehafen Ostende, wo die zerstörenden Wirkungen eines aufgeflogenen Pulvermagazins schrecklich zu schauen waren. Im Hotel Waterloo ließ ich einige, in London nur mit starkem Zoll einzubringende Effekten zurück und fuhr gegen Abend auf einem kleinen Fischerschiffe mit gutem Winde über den Kanal nach England.
London.
Um Mitternachtzeit liefen wir in dem schönen kleinen Hafen von Dover ein, wo ich, nach der tüchtigen Ausleerung des Magens zur See, mit gutem Appetit begabt, nebst mehrern Reisenden gut aufgenommen und bewirthet wurde. England möcht’ ich alle Tage sehen, aber ohne mich darum gerade einheimisch zu machen und ohne den Beutel vom Continent herübertragen zu müssen. Das Auge hat so Vieles, woran es sich weiden kann! nicht nur schöne Häuser, Equipagen und Stutzer, sondern auch auf dem Felde schien mir alles mit schönerm, reizenderm Grün bedeckt.— Wie trefflich fährt es sich mit vier herrlichen Gäulen in dem goldbemalten Wagen, besonders auf der zweiten Etage unter freiem Himmel, von Dover über die prächtigen Fluren und durch die zum Theil sehr schönen und großen Städte Canterbury, Sittingburn, Rochester, Dartford, Wolwich und Grenwich für zwei Pfund Sterling nach London! — Vormittags
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10 Uhr fuhr der Schnellwagen von Dover ab und Abends eilf Uhr kamen wir eben bei'm größten Menschengewühl durch Southwark und über die Themse vor dem Hotel Liverpool in London an.
London ist vielfach beschrieben. Von meinem abermaligen Aufenthalt in dieser Weltstadt nur noch wenige Worte. Ich weilte nur einige und dreißig Tage und beobachtete nicht mit dem Auge eines Städtebeschreibers.
Mehr als die Stadt interessirten mich die Menschen. Meine nächsten Verbindungen und ältern Bekanntschaften bestanden aus Leuten, welche man auch wohl mit dem Namen Gläubige belegt. Will man dadurch solche bezeichnen, die sich eines Glaubens rühmen, der doch nicht thätig in Liebe ist, so waren es diese nicht, die ich kannte und suchte. Nur nach solchen forschte ich‚ die in der Kraft des Glaubens leben und durch denselben, nämlich durch den Glauben an Christum, das Gute wirken, überzeugt, daß man ohne Glauben weder Gott gefallen, noch Gott wohlgefällige Werke thun, noch wahrhaft glücklich werden könne. Ich suchte Menschen, die nach dem Höchsten strebten, und fand sie! Solche, die schon hienieden ausgelernt; das Ziel schon erreicht hätten, würde ich vergeblich gesucht haben. Wie an mir selbst, so fand ich überall Fehler und Schwachheiten; wie sie nämlich mir als solche erschienen. Wo ich wählen konnte, zog ich im Umgang den Gläubigen dem Ungläubigen vor, weil ich so mehr Gutes zu lernen, mehr für mein Inneres zu gewinnen hoffte. Hat man doch so häufig ungesuchten Anlaß, den Ungläubigen kennen zu lernen, und ist ja im Gläubigen selbst noch der Geist des Unglaubens und das Böse, gegen das er kämpft, noch genug zu erkennen, um
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sich nicht selbst zu täuschen, sondern auch durch das Böse belehrt und gebessert zu werden.
Ich bekenne übrigens mit warmer Freude, überall und in verschiedensten Kirchen, Confession, Gemeinen oder Sekten vortreffliche Menschen kennen gelernt zu haben.
Die, wegen besonderer Theilnahme an Abschaffung des Sklavenhandels, Verbesserung der Gefängnisse, der Armen- und Krankenanstalten, Anlegung von Schulen und Beförderung des Volksunterrichts allgemein geschätzte „Gesellschaft der Freunde“ wurde mir diesmal noch genauer bekannt. Einige bei ihnen vorkommende Sonderbarkeiten, die ich weder verachten noch annehmen möchte, waren zu unwesentlich, als dass sie auf meine diesfallsige Ansicht hätten Einfluß äußern können. Mehrmals besuchte ich ihre Versammlungshäuser, in denen Männer und Weiber kurze Vorträge in singendem Tone hielten, oder in denen man auch wohl ein paar Stunden still beisammen saß, worauf man, ohne dass von Jemand ein Wort gesprochen wurde, wieder auseinander gieng.
Der Freund, auch Quäker genannt, hat Beiträge für die große bischöfliche Kirche zu liefern, und diese, so wie noch einige Abgaben, will er nicht geben, läßt sie sich aber nehmen. Der Freund sitzt ruhig in seiner Stube und läßt den Beamten die Schränke öffnen, aus denen sich dieser an Haus- oder Tischgeräth, an Silbergeschirr u. dgl. für das Dreifache der Abgabe bezahlt macht. Andere legen an baarem Gelde den Betrag der Abgabe auf den Tisch, von welchem der Einzieher es wegstreicht, ohne daß ein Wort gewechselt wird. Er redet Jedermann, ohne Unterschied, mit „Du“an, soll es jedoch nicht gerne hören, wenn ihm von Leuten anderer Kirchenparteien das „Du“ zurückgegeben wird, indem er es
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dann für Spott hält. Die Hüte werden vor Niemanden vom Kopfe gehoben. Ausser den öffentlichen Zusammenkünften in dem einfachen Betsaale beobachtet der Quäker wenige äussere religiöse Gebräuche. Die Taufe erklärt er sich bloß geistig und auch das Abendmahl wird nicht mit äussern Symbolen oder Zeichen gefeiert. Sie sind still, in sich gekehrt, machen wenig Worte. Statt des Eides halten sie es mit Ja und Nein, entziehen sich dem Kriegsdienste, disputiren nicht leicht über Religionsansichten, machen keine Komplimente, enthalten sich aller Vergnügen und Lustbarkeiten, z. B. des Theaters, des Tanzes, der Musik und jeder Art von Spiel. Selbst in den reichsten Häusern findet man große Einfachheit, namentlich auch in der Kleidung; doch halten nicht alle mehr auf alten Schnitt und alte Form derselben. Die Frauenzimmer tragen ihre kurz geschnittenen Haare unter einer hinten, weit ausstehenden Haube. Die Quäcker sind meistens wohlhabend, wenn nicht sehr reich. Im Handel sind sie kurz und lassen nie markten. Es soll aber auch bedeutender Verfall unter ihnen eingerissen sein — das Schicksal aller Kirchen und Kirchlein.
In Bekanntschaft mit einem liebenswürdigen Russen wohnte ich einige Zeit vor der Stadt und vergnügte mich mit ihm an schönen astronomischen Instrumenten. Er machte, so oft es angieng, Betrachtungen über die Veränderungen der Sonnenflecken und war überhaupt ein großer Liebhaber der Astronomie. Ich lernte auch Lancastersche Schulen kennen, welche auf Kosten eines würdigen reichen Quäkers unterhalten werden.
Auf der Themse wurde ich in die schwimmende Kirche geführt — ein großes zu einer Kirche eingerichtetes Schiff,
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dessen untere Verdecke ausgebrochen sind. Man glaubt auf dem Lande in einer schönen Kirche zu sein. Sie faßt sehr viele Menschen, hat Galerien, eine Kanzel. Die schöne Kajüte ist die Wohnung des Aufsehers. Das Licht fällt vom obern Verdeck durch große Fenster hinein. Sie führt eine große Flagge mit dem Worte „beth el“ (Gotteshaus), und wird von den Kapitäns und Matrosen auf der Themse liegender Schiffe und auch von Stadtbewohnern besucht. Baptisten-Prediger halten hier oft Vorträge. Diese Baptisten, deren eine große Anzahl in England ist, haben vieles mit den Mennoniten gemein, unterscheiden sich aber von ihnen dadurch, daß sie die Erwachsenen bei der Taufe in weiten Hemden ganz unter Wasser tauchen, wozu in ihren Kirchen große Bassins gebaut sind. Auf dem Lande geschieht es auch wohl in Flüssen. Ferner sind sie, im Gegensatze der Mennoniten, eifrige Anhänger der Prädestinationslehre. Sie halten viel auf die äussern Zeichen von Taufe und Abendmahl, versammeln sich sehr oft, beten sehr viel und ungewöhnlich lange. Ich konnte mich dabei der Ungeduld und des Gedankens an Heuchelei oder heidnisches Geplapper nicht erwehren, wiewohl sehr ernstlich gebetet wird. Lieber weis’ ich darin mich selbst zurecht, als daß ich meinen Muthmaßungen Raum lasse. Dies lange und viele Beten fand ich auch in vielen Häusern der bischöflichen Kirche.
Von London segelte ich auf dem Paquetboot nach Ostende zurück. Als wir die schöne Fahrt die Themse herunter zurückgelegt, erhob sich Abends über Gravesand hinaus Sturm. Das Schwanken des leichten Fahrzeugs war so stark, daß bald alle Passagiers, d. h. gegen vierzig, unter ihnen auch Damen, seekrank wurden. Die Bänke waren rings um das
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schöne Zimmer mit Menschen besetzt, die ein Porcellangeschirr in der Hand hielten. Bei dem allgemeinen Uebelbefinden kümmerte sich Niemand sehr um das Krachen des Schiffes, das Getöse der Wellen, das Gelärm der Matrosen, das Fluchen und Schelten des Kapitäns auf dem Verdeck. Dem von heftiger Seekrankheit Befallenen wird das Leben gleichgültiger.
Ein heftiger Stoß, bei den wir Alle hart aufeinander fielen und ein widerlicher knarrender Ton des Schiffskiels zeigte, dass wir auf eine Sandbank gerathen waren. Die hohen Wellen warfen das Schiff jedoch wieder in die Höhe; noch einmal knarrte es gräßlich über dem Sand hin und dann befanden wir uns wieder in tieferm Wasser und freier See. Der Sturm war so heftig, daß ein nach der französischen Küste bestimmtes Schiff untergieng und wir froh waren, statt an den Niederlanden noch in der Nacht wieder an der Küste Englands in den schönen kleinen Hafen Margate einlaufen zu können. Hier mußten wir dem Sturm einen vollen Tag ausharren und fuhren in folgender Nacht mit gutem Winde nach Ostende über.
Preußen.
Von Aachen bis Thorn.
Von Ostende gieng die Reise wieder über Brügge und Gent, diese großen und merkwürdigen Städte der Niederlande, und durch die Hauptstadt von Brabant, die zweite
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Residenz des Königs, das schöne und große Brüssel, dann durch Löwen und Lüttich nach der preußischen Gränze und der merkwürdigen Kongreßstadt Aachen in reizender Lage; von hier durch die Festung Jülich nach Cölln, wo ich mich im Kreise theurer Freunde erquickte. Dann gieng es über Düsseldorf, Elberfeld und Barmen, Hagen, Iserlohn, Arnsberg, Brillon und Arolsen nach Kassel. Die herrliche Wilhelmshöhe konnte ich nur von ferne sehen; aber einer malerischen Aussicht genoß ich von der Bellevue in der schönen, regelmäßig gebauten Oberneustadt.
Durch das Kurfürstenthum Hessen waren die Straßen und die Eil- oder Postwagen sehr schlecht. Ueber Heiligenstadt, Worbis, Nordhausen, das Harzgebirge, Stollberg, Quedlinburg kam ich nach Egeln, von wo ich einen Abstecher nach Gnadau machte und dann nach dem stark befestigten Magdeburg fuhr, von wo eine gute Chaussee über Brandenburg an der Havel und das schöne Potsdam nach Berlin führt. – Nach einem Aufenthalt von nicht mehr als vier Tagen setzte ich meine Reise über Freyenwalde, Königsberg, Stargard, Stolpe, Danzig, Marienburg, Marienwerder und durch die kleine Festung und Stadt Grandenz nach Thorn und der preußischen Gränze fort.
Einige interessante Gegenden kamen in Brabant, in den neupreußischen Provinzen am Rhein, im Wupperthale, Westphalen und Hessen, im Rothlager und Harzgebirge vor; einförmig waren sie hingegen über Magdeburg, Berlin und Pommern und besonders tiefer Sand von Marienburg bis Thorn.
In Brabant werden die Eilwagen von Privaten gehalten
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und man findet in einer Stadt mehrere Eilwagen-Bureaux, so dass sich der Fremde vorerst zu erkundigen hat, wo er am schnellsten und billigsten bedient wird. Wer dieses unterläßt, kann sehr angeführt werden; wer hingegen bekannt ist, der kann dann auch wohlfeiler reisen, als da, wo diese Wagen vom Staate unterhalten werden, wie dies in Preußen und Oesterreich der Fall ist. Es mag aber letztere Art dem Reisenden im Ganzen angenehmer sein, indem er vor Betrug gespeichert ist, seinen Postschein erhält und die Taxe bezahlt, in welcher alles inbegriffen ist, Trinkgelder für Postillons, Packträger, Wagenschmierer u. s. w. Der Reisende hat für wenig zu sorgen; Beamte und Condukteurs sind angehalten, ihm mit Höflichkeit zu begegnen; die Zeit der Ankunft und Abreise ist aufs Bestimmteste festgesetzt; der Reisende findet auf gewissen Stationen gedeckte Tafel, warme Speisen, entweder in Wirthshäusern oder auf den überall eingerichteten Passagierstuben, die zur Winterszeit geheizt sind. Auf diesen findet man ein Beschwerdebuch, in welches der Reisende mit Unterschrift seines Namens Klagen über das Betragen des Kondukteurs und Postoffizianten, über Mangel an warmer Passagierstube, schlechte Speisen u. s. w. Eintragen kann. Den Tarif für diese und für die Getränke findet er an der Thüre dieses Zimmers.
Besonders Reiseabentheuer stieß mir keines auf. Das Umwerfen des Postwagens in Pommern und andere dergleichen kleine Vorfallheiten sind der Aufzählung nicht werth. Postwagengesellschaft gab es auf der Strecke von Ostende bis Thorn (wie man sich’s wohl denken kann) von jeder möglichen Art, wie man sie kaum suchen würde, sich oft nicht einmal träumen könnte.
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Nachrichten, die ich am Rheine erhalten hatte, mißstimmten mein Gemüth und zogen Dunkelheit über meinen äussern Lebensweg. Zur Schwermuth nicht geneigt, gieng ich mehr zu Trutz und Leichtsinn über. In dieser Stimmung hatte ich wenig Lust, Besuche zu machen. Ueberdies hatte ich mich an Schilderungen tatarischen Lebens und Charakters völlig satt erzählt und sah doch bei neuen Besuchen nur neuen Wiederholungen entgegen, da jeder Freund und Bekannte gerne etwas dieser Art wissen wollte. Ich fühlte mich innerlich ausgeleert und ermüdet. Gleichwohl that ich Unrecht, Freunde zu meiden, die ich liebte und deren Umgang mir bei meiner Gemüthslage um so mehr hätte lehrreich und nützlich sein können.
Warschau. Brody. Odessa.
Ueber die Weichselbrücke kam ich von Thorn durch Sluzew, Brzesz, Gostinen, Gombin, Sochkzew, Blonie mit gutem Postwagen nach Warschau. Den Aufenthalt in mehrern Städten abgerechnet, hatte die Reise von Ostende bis hieher 26 Tage erfordert.
Abends spät kamen wir in der Residenz an, der Paß mußte an der Barriere abgegeben werden. Den folgenden Morgen, sehr früh, zeigte mir ein Polizeioffizier an, dass ich um 9 Uhr auf dem Paradeplatz erscheinen solle, um dem Großfürsten vorgestellt zu werden.
Man sagte mir, dass dieser Fürst sehr oft sich besonders französisch ausgestellte Pässe geben und Reisende vor sich
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kommen lasse. Nach Beendigung der Parade kam der Großfürst an der Spitze seiner Generale, sprach eilig ein paar Worte mit einem andern neben mir stehenden Fremden und gieng in sei Palais hinein. Der Polizeimeister sagte, dass die Sache beendigt wäre.
Ich gedachte schnell durch Warschau zu reisen, wurde aber wegen dem Paß einen vollen Monat aufgehalten und würde ohne gemachte Bekanntschaft mit angesehenen Personen auch damit noch nicht weggekommen sein. Die große, zum Theil schöne Stadt gewährt aber der Unterhaltung genug. Es wird noch viel zu ihrer Verschönerung gethan und das Leben auf den Straßen ist groß durch den Aufenthalt eines beträchtlichen Theils des polnischen Adels. Täglich mustert der Großfürst Konstantin im Beisein einer zahlreichen Generalität verschiedene Abtheilungen der prächtigen polnischen Armee vor dem sächsischen Palais. Der Garten dieses Palastes ist ein angenehmer, viel besuchter öffentlicher Spaziergang. In dem Gebäude befindet sich ein kleines aber gut besetztes französisches Theater; ein anderes, großes, polnisches hingegen in der Stadt. Warschau hat mehrere schöne öffentliche Plätze und viele Paläste. Eine lange Brücke führt über Weichsel nach Praga. Vor meiner Abreise hatte ich noch Gelegenheit, eine große vortreffliche Privat-Gemäldesammlung zu besehen.
Einen guten Postwagen, der nach Krakau geht, konnte ich bis Zamosk benutzen. Er geht über Gora, Ritschiwal, Granica, Pulawy, Kurow, Lüblin, Krasnasta und Tarnagora. Zamosk ist eine sehr gut unterhaltene und schöne Festung. Von hier gieng es über Tomasow nach Belsez auf die Gränze Galliziens. Es besteht
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dieser Ort nur aus einigen Zollhäusern und einem jüdischen Wirthshause. Hier ward ich drei Tage aufgehalten, um einen österreichischen Paß aus Lemberg par estafette kommen zu lassen. Der Paß kostete mich, den theuren Aufenthalt im Judenwirthshause und das schon bezahlte Postgeld von Zamosk nach Lemberg nicht mitgerechnet, für Taxe und den Expressen 50 Gulden polnisch. Mein schönes und gut bezahltes Viso von österreichischer Gesandtschaft in Warschau gültig zur Durchreise durch Gallizien nach Rußland wurde nicht respektirt. Zudem hatte ich an diesem Orte keine andere Wahl, als um jeden Preis die Fuhre des Juden bis Lemberg oder direkte nach Brody zu nehmen. Leider war ich diesmal auf eine Fußreise nicht eingerichtet, sonst hätte ich Juden und Zolbeamten wenig nachgefragt.
Noch nie aber hatte ich Aufenthalt oder Widerwärtigkeit zu bereuen. Der Aufenthalt in Warschau und Belsez war mir besonders angenehm geworden durch Bekanntschaften‚ die ich zu machen Gelegenheit fand.
Mit Judenfuhre gieng es dann über Belz, Dobrytin, Toporow nach Brody und über die russische Gränze nach Radziwilow. In Brody wurde ich von einer Krankheit befallen, die bei der beschwerlichen Art, mit der ich hier reisen mußte, bald so überhandnahm, daß ich 100 Werste hinter Radziwilow und noch über 500 Werste von Odessa in einem polnischen Städtchen liegen bleiben mußte. Von Kindheit an — die Pocken ausgenommen — nie krank gewesen, konnte ich nun neue und eigne Erfahrungen machen und die Gesundheit mehr schätzen lernen. Wie wohlthätig ist eine kleine Lektion dieser Art, wenn man seines Körpers nicht geschont hat! Vier Wochen brachte ich in einer kleinen polnischen
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Bauerhütte zu, hatte aber das Glück, von einem teutschen Arzte, zu dem die Edelleute weit und breit Zuflucht nehmen, sehr gut behandelt zu werden. Hier wurde ich des größten Theils meiner Effekten los, die ich bisher mit Kosten und Mühe über mehrere Gränzen gebracht hatte. Von Brody aus hatte ich nur das nöthige Reisegeld bis Odessa aufgenommen und da ich für Quartier, Aufwärter und Apotheke Geld haben mußte und selbst mich mit dem Verkauf einiger Sachen nicht abgeben konnte, so mußte ich mich den guten Juden überlassen, die gewiß gerne solche Kranke in der Stadt sehen.
Jetzt wollte ich wieder zu Fuß geben, aber körperliche Schwäche ließ es nicht zu; ich mußte einen Judenwagen miethen. So gieng es denn, wie es eben mit diesen Juden geht, unter Streit und Zank, durch Schmutz und Elend über Alt- und Neu-Konstantin, Lyttin, Tultschin, Olgopol und Balta nach dem schwarzen Meere. Am Vorabende des Sabbats der Juden kamen wir spät auf einer Station, 30 Werste von Odessa, an; da hätte ich also einen ganzen Tag in der Nähe der Stadt unter Juden zubringen müssen. Ich zog vor, die Fuhre zu verlassen und zu Fuße nach Odessa zu geben, wo ich mich zur Stärkung der Gesundheit mehrere Tage aufhielt und aufs freundschaftlichste und beste gepflegt wurde.
Fußreise durch die Halbinsel Krimm.
Mit Empfehlungen an den Gouverneur von Taurien und den Chef der Nogayen-Tataren versehen, reiste ich von
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Odessa ab und schlug den gewohnten Weg ein über Nicolajew, Cherson, Bereslaw und den Dnjeper. Von diesem Fluß an setzte ich die Reise zu Fuß über die einsame Steppe bis nach der Landenge von Perekop fort. Abends wurde ich von einem heftigen Gewitter, mit Schlossen und strömendem Regen überfallen. Von Schweiß und Regenwasser triefend brachte ich die Nacht auf der nassen Steppe zu; denn kein Haus war zu erreichen. Der Regen hielt noch einen Theil der Nacht an, so daß in meinem Tornister Kleider, Bücher, Landkarten ganz naß wurden. — Den folgenden Tag erreichte ich ein Dorf und Abends Perekop. Nachdem ich, ein paar Werste von Perekop entfernt, im Städtchen Armensky übernachtet und alles getrocknet hatte, setzte ich den Weg über Usun Tereklu, Djürmen, Aibar, Treablan und Menlerczik fort. Eine Tagreise weit von Perekop sprengte nach Sonnenuntergang ein Kurier daher, mit dem ich sogleich einig wurde, die Nacht noch ein paar Stationen für ein Trinkgeld mitzufahren. Es gieng aber so ausserordentlich schnell und die Stöße des kleinen Wagens waren so heftig, daß ich, von der Fußreife ermüdet, es kaum aushalten konnte. Ich hatte Mühe, mich am Wagen so zu halten, dass ich nicht herausgeschmissen wurde. Jeden Augenblick glaubte man das leichte Gefährt in viele Stücke zerschmettert und sich unglücklich zu sehen. Das Athemholen wurde durch den Zug der Luft sehr erschwert. Die Pferde waren am ganzen Leibe mit Schaum bedeckt. Der Kurier, mit der Kantschu oder Peitsche hinter dem Fuhrmann, war bereit, bei’m geringsten Anhalten diesem statt den Pferden die Peitsche fühlen zu lassen. — Bei der zweiten Station, noch in der Nacht stieg ich aus, da mir
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ein Stiefel nicht weit vom Posthause aus dem Ranzen geflogen war. Ich gieng zurück und fand ihn. Der Kurier war unterdeß wieder abgereist und auf der Station wollte ich mich aus Gründen nicht sehen lassen. Ich setzte also zu Fuße meinen Weg bei'm Mondschein fort nach einem Tatarendorfe. In diesem waren die Hunde alle durch den Kurier wacker geworden und stürzten nun auf mich, der ich in ungewohnter teutscher Tracht ankam, los. Ein einziger Schlag mit dem Stock und ich wäre gebissen, wenn nicht ganz zerrissen worden. Ich bediente mich gegen diese wüthende Rotte des einzigen Mittels, das mir früher schon geholfen hatte, legte meinen Ranzen schnell ab, so wie ich die Hunde auf mich zukommen sah und setzte mich ruhig auf solchen nieder. Die Hunde Hunden stutzten und waren wie erschrocken. Sie stellten sich in einen Kreis um mich herum, fiengen dann auf’s fürchterlichste zu heulen an und drängten sich Iangsam mir näher zusammen. Hob ich die Hand schnell in die Höhe, so wich der ganze Kreis wieder etwas zurück. Sie wagten nicht anzugreifen und wurden endlich des Geheuls müde; ermüdet zogen sie sich, einer nach dem andern, still nach ihren Häusern zurück. Die Hunde sahen mich nun aufstehen und langsam weiter gehen, ohne daß sie Luft hatten, noch mehr zu bellen. Ich gieng auf ein Haus zu und bat um Aufnahme. Der Tatar guckte durch’s Fenster und mag nicht wenig erschrocken sein, bei Mondschein einen russischen Militär zu sehen, wofür er mich in meinem Frack, sammt Mütze und Tornister ansehen mochte. „Wenn du mir hundert Rubel giebstt, sagte er, „so mache ich dir mein Haus nicht auf!“ Mein wenig Tatarisch konnte mir nicht helfen. Er hielt mich für einen Orus oder Kasak. Wie hätte ich’s dem
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armen Kerl verargen können!? Im zweiten nahen Tatarendorfe, welches ich noch in derselben Nacht erreichte, würde ich bald von Hunden zerrissen worden sein. Ich schrie aus Leibeskräften; aber kein Dorfbewohner wollte mich hören. Ein großer, weißer Hund packte mich, als zu besonderm Glücke im nämlichen Augenblick ein Piquet russischen Militärs mit einem Wagen um die Ecke eines Hauses kam, was nun die Hunde beschäftigte und also von mir abwandte. Mit diesem Trupp setzte ich dann auch meine Reise fort.
Sehr abgemattet erreichte ich den Salghirfluß und die Hauptstadt Simferopol, von wo ich durch die teutschen Kolonien, durch Karasubasar und Arabat und über die Landenge Zenike in die Steppe oder die vormalige kleine Tatarei hinüberwanderte und dort meinen guten Ali wieder fand.
Noch ein kurzer Aufenthalt bei den Nogayen-Tataren.
In der Zeit meiner Abwesenheit von dem Tatarendorfe Burkud hatte sich in dem Hause meines Wirthes Vieles geändert. Ali hatte die träge und nachläßige Tasche, seine Frau, aus dem Hause gejagt, doch ohne sich von ihr förmlich geschieden zu haben. Ein altes Weib, seine Anverwandte, besorgte kümmerlich die Kinder Abdullah, Kutlukan und Nasepgan und die Küche. Kutlukan konnte ich kaum wieder erkennen, so sehr war sie durch Pockennarben entstellt. Ali war im Handel um eine Frau begriffen und hielt dann auch in den ersten Tagen nach meiner Ankunft Hochzeit. Es war
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eine junge Wittwe, die er wohlfeil gekauft hatte, eine sehr lüderliche, lügenhafte Person. Ich sagte Ali, daß er dies wohl hätte in Erfahrung bringen können, worauf er achselzuckend erwiederte: Sie ist wohlfeil. Gott weiß.. Dem Geschick sei’s überlassen! Ali liebte dieses Weib nicht; der schönen Tasche hingegen war er noch nicht überdrüssig. Er wollte sie durch das Wegjagen und durch eine zweite Frau nur demüthigen. Tasche war klug genug, dem Mann ihren Mangel fühlen zu lassen und die Wiedervereinigung nicht zu suchen; Ali hingegen, stolz genug und, da er sie weggejagt hatte, die Folgen fürchtend, wenn er ihr die Hand böte, wollte sie zwingen, Abbitte zu thun und ihn wieder zu suchen. Er schickte mich mehrmals unter dem Vorwande von Geschäften in das Dorf, in welchem sie bei ihren Aeltern wohnte, um ihre Gesinnung auszuforschen. Wiewohl sie es bei diesen armen Leuten recht schlecht hatte und gerne wieder mit Ali vereint gewesen wäre, so spielte sie doch lange die Gleichgültige, oder sagte wohl gar lachend, daß Ali sie werde bitten müssen. Endlich ward es ihr doch zu lange und sie suchte Gelegenheit, zu ihm zu kommen. Sie vermochte ihren alten Vater nebst einem Oheim, mit ihr durch Burkud (wo Ali wohnt) in ein anderes Dorf auf Besuch zu einer Schwester zu fahren; als sie in Ali’s Dorf ankamen, bat sie ihren Vater, die Kinder ihres Mannes besuchen zu dürfen. Sie hatte aber die Absieht, nicht wieder fortzugehen und Ali war entschlossen, sie, im Betretungsfalle, nicht mehr gehen zu lassen. Er war zufrieden, daß sie wenigstens den Anfang zur Aussöhnung gemacht hatte. Der Vater wollte sie holen, um weiter zu reisen. Jetzt entspann sich ein Streit, bei welchem die alten Verwandten
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mit geschwollenen Köpfen davon kamen und Tasche dem Ali überlassen mußten.
Tasche vertrug sich aber schlecht mit ihrer neuen Konkurrentin und war im Stande, diese Wittwe bald aus dem Hause zu verdrängen. Eine schlechte Handlung, welche letztere begieng, gab Ali Anlaß, sie durchzuprügeln und aus dem Hause zu jagen. Tasche war nun wieder allein mit ihrem Manne.
Nur drei Monate hatte ich bei den Nogayen mein früheres Leben fortgesetzt und die gewöhnliche Arbeit verrichtet, als sich wieder ein Krankheitsanfall bei mir einstellte, bei welchem ich nur mit großer Anstrengung schwerere Arbeit verrichten konnte. Meine Kraft schwand mit jedem Tage; ich war nicht mehr im Stande, auch nur Wasser zu schöpfen, um das Vieh zu tränken. Ali that alles Mögliche für mich; aber ich hätte, wenn nicht ihm, doch der Frau zur Last fallen müssen, da ich mich legen und bedient werden mußte. Ali führte mich also, meinem Wunsche gemäß, in die teutschen Kolonien, wo ich nach allen Kräften und mit vieler Freundschaft verpflegt wurde. — Nachdem ich mich hergestellt glaubte, versuchte ich, meine vorige Lebensart bei den Nogayen fortzusetzen, sah mich aber bald neuerdings genöthigt, abzustehen. Ein zu dreien Tagen sich wiederholendes Fieber, in welchem starker Frost mit großer Hitze abwechselte, hielt sechs Monate an. Krämpfe, starke Geschwulst am Leib und an den Füßen und große Schwäche waren im Gefolge; auch zeigten sich wieder Spuren meiner frühern Krankheit in Polen. Die Chinarinde mit Wein soll das einzige Mittel sein, welches von dem dreitägigen Fieber ohne Schaden befreien kann; doch werden von den Kolonisten
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noch viele andere, vielleicht eben nicht dienliche Mittel gebraucht. Manche halten dafür, daß man dies Fieber nicht vertreiben soll. Bei Vielen arten diese Fieber in Wassersucht und andere tödtliche Krankheiten aus.
Ali besuchte mich oft und kam auch mehrmals mit den Kindern zu mir. Seine Familie hatte sich nun noch mit einem Knaben vermehrt, dem der Name Ruftla gegeben wurde.
Einen ungewöhnlich harten Winter, in welchem die Kälte oft auf 15 bis 20, eines Tages bis auf 26 Grad Reaumur stieg, brachte ich bei den Teutschen zu, unter denen ich so viele wahrhaft aufrichtige und treue Freunde gefunden. Den Namen eines Freundes, der mir unausgesetzt Beweise seiner aufrichtigen und gastfreundlichen Liebe gegeben hat; hier zu nennen, sei mir vergönnt. Es ist Johann Cornies, in der Kolonie Ohrlof an der Molotschna.
Reise von der Molotschna nach Neu-Taganrok.
Da ich mich zu Anfang des Monats April wieder ziemlich hergestellt, jedoch zu Tataren-Arbeiten noch zu schwach fühlte, so nahm ich das Anerbieten eines teutschen Kolonisten gern an, mit ihm eine kleine Reise nach der neuangelegten Stadt am Asowschen Meere zu machen, die nach einigen Nogayzg nach andern Neu-Taganrok genannt sein soll.
Durch mehrere teutsche Kolonien kam ich nach Steinbach, einem kleinen Planzorte, wo der Reisende in einer
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Vertiefung, zu seiner Verwunderung und Freude, neben einigen guten Gebäuden ein kleines Wäldchen erblickt, das vor etwa zehn Jahren am einem mit Wasser gefüllten Schlunde, Namens Judschaulu, von den Teutschen angelegt worden ist. Geht man von hier längs dem Wasser durch eine Krümmung der Schlucht, so kommt man zu großem Erstaunen an Felswände, die sich hier tief hinabsenken und dem Auge oben auf der Steppe gänzlich verbergen.
Es ist ein tiefer Schlund, dessen Seiten Felswände sind und in dessen Tiefe große Felsblöcke, über das kleine Wasser sich erhebend, zerstreut liegen. Ein schönes, kleines Thal, freilich noch nicht das romantische Klönthal (im Kanton Glarus), an welches ich hier erinnert wurde.
Es befanden sich in Steinbach einige Ungarn aus Pesth, welche von Armeniern und Tataren Pferde für die österreichische Remonte aufkauften. Sie bezahlten für das Stück guter Auswahl 120 Rubel Banco oder etwa 60 Gulden rheinisch. Oben schon ist der Leser mit der gefährlichen Art, wilde Pferde zu fangen und festzuhalten, um ihnen das Zeichen, tamga, auf den Schenkel und an die Kinnlade zu brennen, bekannt geworden.
Von Steinbach kamen wir durch einige teutsche und tatarische Dörfer nach den Kolonien der würtembergischen sogenannten Separatisten, die, statt nach ihrem Wunsche zu ihren Landsleuten nach Grusien reisen zu dürfen, hier in drei Dörfer angesiedelt wurden. Sie haben ein gut gelegenes und vortrefflich fruchtbares Stück Land erhalten. Ein großer Theil scheint aber mit der Lage nicht zufrieden zu sein und wünscht sich daher weiter — in ein Reich, wie sie es sich träumen, voll Pracht und Herrlichkeit, Genuß und Freude.
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Auch in Rußland haben sie Babel gefunden und nicht erkannt, daß das, was sie so nennen, in ihnen mit in’s Land gekommen ist. Der Chiliasmus, in welchem ein großer Theil von ihnen befangen ist, hemmt Thätigkeit und Wohlstand. Der größere Theil glaube an ein baldiges Weiterziehen — nicht in dem Sinne, wie jeder Christ, als der da nicht weiß, wann die Stunde des Aufbruchs und Abreisens schlägt und der darin einen Ruf zu möglichst treuer Vorbereitung erkennt; sondern ihr Sinn steht ihnen nach einem irdischen, sinnlichen Friedensparadiese. „Nur das junge Volk“, sagten Einige, „will nicht durchweg daran glauben.“ — Wie sauer muß diesen Menschen die Arbeit, die Bestellung ihrer Felder, die Erfüllung der Pflicht gegen ihre Familie und ihren Nächsten sein, so wie auch die Erfüllung ihrer Pflichten gegen Staat und Obrigkeit!? In der Gegenwart, in ihrer nunmehrigen Lage sehen sie nichts als Uebels, in dem Treiben und Leben Anderer um sie her nichts als Antichristenthum. Sie glauben sich bekehrt, weil sie all’ das Wundersame und Ausserordentliche, was von Einigen in prophetischem Tone verkündigt und wodurch Neugierde und seltsame Erwartungen gespannt, der Sinn auf äussere zukünftige Begebenheiten und wichtige Veränderungen mißleitet worden, als Orakelsprüche annehmen.
Der Chiliasmus und namentlich auch die Schriften des theuren seligen Jung-Stilling haben Rußland manchen Arm zugeführt; dennoch läßt sich ohne Scharfrichterei behaupten, daß diejenigen, die am meisten daran hängen, nicht die Thätigsten zum Guten sind.
In Grusien sollte das Friedensreich zu finden sein oder seinen Anfang nehmen; aber die dort angesiedelten würtembergischen
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Kolonien; Anfangs durch ihr Verhalten der Regierung eine Last, wurden in neuerer Zeit durch viele Trübsale und schwere Erfahrungen geführt, vor einigen Jahren von kaukasischen Gebirgsvölkern überfallen und geplündert, wobei ihre Dörfer zerstört und mehrere Familien in Sklaverei geführt, jedoch wieder ausgelöst wurden. — Vieles zu ihrem äussern und innern Wohl trägt ihr jetzigen würdiger Seelsorger bei.
Von den würtembergischen Kolonien sind’s nur noch etwa 15 Werste bis_an’s Ufer des Asowschen Meeres. Der Weg führt an dem russischen Dorfe Nowaspaskoy vorbei, längs der Berda und durch das Tatarendorf Robotaiaul (ein russischer Name; teutsch Arbeitsdorf, weil die Einwohner desselben früher als Arbeiter bei Russen gestanden haben).
Die neuangelegte Stadt bietet noch keinen schönen Anblick dar und besteht erst aus 40 bis 50 kleinen, elenden Erdhütten, die von Russen, Juden, Tataren und Zigeunern bewohnt sind. Nur ein für diese Gegend schön zu nennendes Gebäude ist hier von der Krone für Beamte erbaut. Das Meer soll hier sehr tief und die Gegend zu einem Seehafen vortrefflich gelegen sein, da hingegen der Hafen von Alt-Taganrok sehr seicht ist. Kaiser Alexander hat noch kurz vor seinem Tode auf der Reise von Taganrok nach der Krimm die Stelle in Augenschein genommen und die Anlegung eines Hafens und einer Stadt angeordnet. Alt-Taganrok würde viel verlieren, wenn dieser Plan ausgeführt und Handelsschiffe von Odessa, Konstantinopel, Anatolien und der Krimm hier ihre Ladung löschen und russische Produkte ausführen könnten. Die vielen teutschen Kolonien hingegen würden ausserordentlich gewinnen, wenn sie ihre
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Produkte in dieser Nähe absetzen könnten, da sie jetzt noch genöthigt sind, Butter und Käse, so wie Getreide nach Taganrok, nach Odessa oder in die Krimm zu führen und von da wieder Tücher, Kaffee, Zucker, Weine und andere nöthige oder Luxusartikel aufzunehmen. Die weite Reise kostet, so sparsam man auch auf diesen Steppen leben kann, doch viel Zeit und Geld.
Noch scheinen freilich die Umstände vor der Hand nicht günstig genug, daß sich ein schnelles Aufblühen dieser neuen Seestadt erwarten ließe.
Da ich hier vom Fieber überfallen wurde, so hüllte ich mich gut ein und fuhr mit meinem Freunde längs dem Asowschen Meere, und durch Abitoschna, einem russischen Dorfe an dem linken Ufer der Molotschna, — dem Grafen Orlof-Demisow gehörend, — nach Nogayzg oder Djalangatsch, dem Hauptorte des Nogayen-Gebiets, welches irrig auch Abitoschna genannt wird.
Vor Kurzem ward hier auf hohe Verordnung eine Schule zum Unterricht junger Nogayen errichtet, an welcher ein Mollah als Sprach- und Schreiblehrer im Tatarischen und Arabischen und ein Russe als Lehrer der russichen Sprache mit guter Besoldung, angestellt sind.
Von Nogayzg kommt man bei dem Tatarendorfe Araklu I. zu einem für diese Steppenländer hohen Berge, oder an die sogenannte Kursack-Döbe (Bauchhöhe), die in der Schweiz freilich nur als Hügel gelten würde.
Glücklich nach Ohrlof zurückgekommen, konnte ich, was meine körperlichen Umstände betraf, wenig Hoffnung zu völliger Wiederherstelllung der Gesundheit und früherer Kräfte haben.
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Reise von der Molotschna nach dem taurischen Gebirge und der Südküste der Halbinsel Krimm, in den Monaten Mai und Juni 1828.
Von Burkud bis Sewastopol.
Da meine Gesundheit noch immer nicht wieder hergestellt war und ich den Entschluß, nach der Schweiz zurückzukehren, noch aufschieben wollte, so gedachte ich vorerst die Wirkung des veränderten Klima’s, das ich an der Südküste der Krimm finden würde, und die Gebirgsluft oder auch die Seebäder zur Stärkung zu benutzen, wobei ich Gelegenheit hätte, die taurischen Gebirgs-Tataren, die so sehr von den Nogayen verschieden sind, näher kennen zu lernen.
In dem Tatarendorfe Akkhermann hatte ich einen zweirädrigen Wagen (araba) gemiethet. Der Nogaye Bailgara wollte mit mir die Reise bis nach der teutschen Kolonie Zürichthal in der Krimm machen. Es war eben Kurban Bairam und mein Fuhrmann (arabadsche) hatte mit andern Tataren noch eine Kuh zu opfern und hoffte, daß die Reise dann um so glücklicher von statten gehen würde.
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Ich nahm also noch Theil an dem Feste und reiste dann nach Burkud, wo ich von dem guten Ali und seinen Kindern Abschied nahm.
Durch mehrere Tatarendörfer kamen wir über den Milchfluß nach dem russischen Dorfe Kisliar (eigentlich Kisler d. i. die Mädchen; dem tatarischen Kisliar am Therek entnommen). Hier wurde eben Jahrmarkt gehalten. Könnte man plötzlich von der Leipziger Messe sich auf einen solchen russischen Markt versetzt sehen, so müßte es äusserst interessant sein, den Kontrast zu sehen zwischen Marktplatz, Buden, Waaren und Menschen. Man könnte, wenn man den teutschen Kolonisten ausnimmt, in nichts eine Aehnlichkeit finden als etwa in dem polnischen Juden, der sich hier und dort einfindet. Wie in Leipzig, so zeigt er sich auch an der Molotschna mit seinen Locken, Bart, schwarzem, von Schmutz klebenden Gewand und seiner Pelzmütze. Die elenden Buden, die geringen, zum Theil elenden Holz- und Eisenwaaren, die schlechten Zeuge und Tücher, die ausgeboten werden, das Gedränge von Russen, Tataren, Zigeunern, Juden, die tatarischen Arabas und russischen Powosgen oder Wagen auf dem Markte, die Kameele und was man um sich her sieht, die Sprachen, die man hört — Alles machte beim ersten Besuch eines solchen russisch-tatarischen Marktes einen eigenen Eindruck auf mich, der mir unauslöschlich bleiben wird. Ali wollte mir recht oft die Freude und das Vergnügen machen, solche Märkte zu besuchen; — denn der Russe und Tatar hält begreiflich nicht weniger darauf, als unter unserm großen Haufen so Manche, die, oft ohne etwas kaufen zu können oder zu wollen, doch recht viel versäumt zu haben glauben, wenn sie nicht im Putz sich selbst ausstellen,
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und all das Neue und Schöne, was in den Buden und um dieselben herum ist, betrachten können. Der teutsche Kolonist selbst macht sich auf solchen russischen Märkten gerne lustig und die russischen Blondinen verweigern ihm keinen Tanz. Auch der Mennonite kommt in seinem Spazierwagen angefahren, sieht dem Ding nicht ungern zu und läßt sich ein Glas Schnapps oder krimmschen Wein gut schmecken.
Von Kisliar gieng es auf dem wenig merkwürdigen Weg über öde Steppe und über die Taschenak und As-Otluk nach der Meerenge bei Tonke, von den Tataren die Dünne genannt. Wegen heftigem Wind und schlechten Anstalten zur Ueberfahrt wurden wir hier lange aufgehalten und setzten dann nach der Landzunge über. Auf dieser sah man jetzt da und dort Fahnen ausgesteckt, welche Ingenieurs und Landmessern zu Zeichen dienten. Meine Reisegefährten, die Tataren, behaupteten aber, daß diese Bairak’s wegen den Türken da wären und wurden sehr neugierig, — hätten gerne diese ihre Stamm- und Glaubensgenossen in der Krimm bewillkommt, doch nicht als Gefangene, wie sie nun solche in den Seehafen Kertsch, Feododia und Sewastopol sehen mußten.
Kein nachdenkender, vernünftiger Tatar wünscht sich Türkenherrschaft zurück, — selbst in der Krimm nicht; wie viel weniger sollte es der Nogaye wünschen, welcher mit Chan und Sultan unzufrieden, sich freiwillig unter russischen Schutz gestellt hat.
Mein Fuhrmann wollte nie bei Russen einkehren; ich blieb also mit ihm Tag und Nacht auf dem Felde. — Wir hatten uns mit Nahrung und Kochkessel versehen. Wir kochten Schorba. Dicke Milch dazu hatten wir in einem leinenen
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Sack, nach Tatarenart, unten an den Wagen gebunden, damit bei der Scheidung der Milch, das Wasser abtropfen könne. Durch das lange Fahren und Rütteln des Wagens wurde eine Art Käse daraus, der eine dicke Kruste von Straßenstaub, der durchgedrungen war, um sich hatte.
In der teutschen Kolonie Zürichthal nahm ich Abschied von den Tataren. In dem Pfarrhause war ich erstaunt, einen der Tataren vor einem der vielen Gemälde und Porträts in der Wohnstube unverwandten Blickes stehen zu sehen und mich fragen zu hören, „ob die Leute im Hause , die Allah so an die Wand hängen, auch meiner Religion wären?“ — Es war ein großer Christuskopf, der aber keinen Heiligenschein oder sonst ein besonderes Zeichen hatte. Ich erklärte ihm, daß dieses Bild keineswegs zur Anbetung, sondern nur zum Andenken und zur Erinnerung an den einst Mensch gewordenen, im Fleische geoffenbarten Gott an der Wand hänge, was ihm, dem Muselmann, freilich thöricht und ärgerlich vorkam; denn ihm, so wie den Weisen der Welt, ist das Wort vom Kreuze Thorheit. Seinen Gott verehrt er, wie vormals die Athenienser, als den „unbekannten Gott!“ Daß ich Gott meinen Vater nannte , wie ich es denn auch mit Freude und dankbarem Herzen thun kann und darf, war den Nogayen immer anstößig.
Die Clairvoyante, die ich früher in der Krimm kennen gelernt, lebte nun hier in Zürichthal, an einen schlichten, vermöglichen Kolonisten verheirathet, recht glücklich und, wie in ihren frühern Jahren, mit Feldarbeit beschäftigt.
Ueber Karasubasar reiste ich nun nach der Gouvernementsstadt Simferopol, wo mir der geschätzte teutsche Arzt; Dr. M…….., auf seinem herrlichen Landsitze,
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eine Viertelstunde von der Stadt in dem schönen Salghirthale, mit gewohnter Gefälligkeit seine Rathschläge ertheilte. — Auf dem Wege nach Baghdschisarai, 10 Werste von Akmedschet, in dem angenehmen Alma-Thale, besuchte ich dem ehmaligen Chef der Nogayen-Tataren, den verdienten Grafen Dumaison, auf seinen Gütern. Man findet an ihm einen freundlichen, in seinem hohen Alter noch sehr lebhaften Franzosen. — Spät Abends kam ich in die 30 Werste von Akmedschet entfernte Stadt Baghdschisarai (Gartenpalast), die ehemalige Residenz der Tataren-Chane, wo der alte Palaft dieser Fürsten wieder ausgebessert und in alter Schönheit hergestellt ist. Baghdschisarai ist eine sehr merkwürdige Stadt; die Bauart derselben, so wie die Sitten und Gebräuche der Bewohner sind ganz orientalisch. Sie hat gute Schulen, ist aber übrigens noch ächt tatarisch und es wird hier das beste Tatarisch der Krimm gesprochen. Die Lage der Stadt ist höchst sonderbar. Sie ist an den steilen Abhängen eines großen natürlichen, durch zwei hohe Berge gebildeten Grabens erbaut. Wenn der Reisende sich der Stadt nähert. *), wird er durch den Anblick der höchst unregelmäßigen und ganz zerstreuten Lage derselben plötzlich überrascht; die Felsen und Abgründe, von denen er sich überall umringt sieht, verlieren durch die vielen lebendigen Wasserquellen, die sprudelnden Brunnen, die Gärten, Terrassen und gleichsam in der Luft schwebenden Weingärten und Lustwäldchen
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*) Es sei mir erlaubt, aus des Engländers Clarke’s Reise hier Einiges über die Natur der südlichen Krimm auszuheben und mit meinen Bemerkungen zu verschmelzen.
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von schwarzen Pappeln, nicht nur einen großen Theil ihrer Schrecknisse, sondern das Ganze bringt sogar einen angenehmen und sehr erfreulichen Eindruck hervor.
Durch eine schöne Felsgegend und über weite Flächen und mehrere Tatarendörfer kam ich an die, 30 Werste von Baghdschisarai entfernte große Bai von Achtjar oder Sewastopol. Um von da zur Stadt zu kommen, muß man eine kleine halbe Stunde zu Wasser zurücklegen. In der Bai liegt sonst die große russische Kriegsflotte, welche jedoch jetzt vor Anapa und an den Küsten von Anatolien beschäftigt war. Der Hafen von Achtjar soll einer der schönsten und größten sein und überall vortrefflichen Ankergrund haben. Die Stadt Achtjar (die Alte) ist schön situirt, gut angelegt und hat breite Straßen. Nicht weit von ihr am Hafen liegt die kleine Stadt Inkhermann (Höhlenstadt), deren Häuser in den Felsen eingehauen sind. Hier wohnen viele der Karaiten, eine eigene Sekte von Juden, sehr verschieden von ihren polnischen und allen übrigen Glaubensgenossen.
Die Karaiten werden von den Nogayen Schiput oder Dschufut‚ die polnischen Juden Sölpeln genannt. Die Karaiten findet man häufig in der Krimm. Bei Baghdschisarai bewohnen sie die Festing Dschufut-Kalä. In Odessa sind sie sehr zahlreich. Man lobt sie dort wegen ihrer Rechtlichkeit im Handel. Sie gehen sämmtlich reinlich und ordentlich gekleidet, nach Art der Armenier, mit hohen schwarzen Filzmützen. Ihre Sekte soll sich, nach ihrer Versicherung, schon in den allerältesten Perioden der jüdischen Geschichte von dem Hauptstamme getrennt haben, und sich von der Zeit der babylonischen Gefangenschaft herschreiben. Die wesentlichste Verschiedenheit zwischen ihrem Glauben und
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dem der gewöhnlichen Juden besteht darin, daß sie den Talmud, alle Arten von Traditionen, alle rabbinischen Schriften und Auslegungen und alle Randglossen zu dem Texte der heiligen Schrift gänzlich verwerfen und bloß den reinen Buchstaben des Gesetzes als einzige Richtschnur ihres Glaubens annehmen. Sie behaupten, den Text des alten Testaments in seinem ächtesten, ganz unverdorbenen Zustande zu besitzen.
Die Südküste. Der Dschaderdagh.
Nachdem ich in Sewastopol einen Fieberanfall ausgehalten, nahm ich meinen Ranzen auf den Rücken und gieng über die Länder des alten Chersonesus nach dem Hafen von Balaklawa. Dieser merkwürdige Hafen erscheint von der Stadt aus wie ein großer Landsee, der rings umher mit hohen, steil abgeschnittenen Bergen eingefaßt ist. Er soll sehr tief sein. Die Stadt ist von Griechen aus Morea bewohnt, die sich früher als kühne Seeräuber auszeichneten. Auf den Höhen über der Einfahrt in den Hafen liegen die Ruinen einer prächtigen Festung, die von den Genuesen erbaut worden ist. Von Sewastopol bis Balaklawa (Fischerstadt) sind’s 15 Werste. — Es war Nachmittags, als ich hier ankam, wo mir dann gerathen wurde, nicht ohne Führer weiter ins Gebirge zu gehen. Doch wollte sich keiner der Griechen bereden lassen, mir diesen Dienst zu leisten. Sie wollten mich zwingen, noch zwei Tage zu warten, bis ein Schiff nach Ursof, an der Küste gegen Aluschta zu, abgeben würde.
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Die Griechen gefielen mir überhaupt nicht und ich zog vor, weiter zu gehen und ein Tatarendorf im Gebirge aufzusuchen. Von Balaklawa lief ein kleiner Fußpfad gleich sehr steil einen hohen Berg hinan; aber von Haus aus an’s Bergsteigen gewohnt, Iagen die hohen Burgen der Vorzeit bald sehr tief unter mir. Der Fußweg verlor sich über hohe Berge und schöne Thäler gieng ich in der Richtung nach Süd und Ost vorwärts. Hin und wieder genoß ich der herrlichsten Aussicht auf das Meer oder in die Ebenen der nördlichen Krimm. Endlich kam ich auf eine kleine Straße, die auf Umwegen von Balaklawa nach Baidar führt und zu einem Kosakenposten (cordon), deren auch hier, wie am kaukasischen Gebirge, zu finden sind, wo sie die sogenannte Linie bilden. Die Sonne war noch nicht untergegangen und ich wünschte bei Tataren übernachten zu können, erreichte auch in ein paar Stunden ein Tararendorf , nicht sehr weit von dem herrlichen, berühmten Thale Baidar. Weiber und Kinder verbargen und verkrochen sich vor mir und ich konnte in diesem einfachen, von Fremden nicht oft besuchten Dorfe mir keine gute Aufnahme versprechen, da mein Anzug, Tornister, Schnurrbart mich als russischen Militär zu bezeichnen schien. — Vor der Moschee saßen viele alte Tataren, welche eben ihr Abendgebet verrichtet hatten. Ich legte ab und setzte mich zu ihnen.
Einige Worte — und schon war ich versichert; Quartier zu finden. Als ich ihnen von den Nogayen erzählte und von Stambul und Ismir, ward ich bald in ein Haus geführt; als ich da anfieng etwas Tararisch zu schreiben und ihnen einen gewaltig großen Firman mit dem Zeichen des Großheern zeigte, so rief Alles: Allah! Allah! und man küßte den Firman mit Mund und Stirne. „Elwet djachsché!
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(mehr als schön!) bir djachsche Adam der!“ (das ist ein guter Mensch!) sagte man sich: — Für alles Nöthige wurde nun in einem reinlichen Zimmer gesorgt; der Weiber Furcht war verschwunden; die Hausfrau that alles Mögliche, mich gut zu bedienen und — was nicht oft geschieht — sie legte sich mit ihrer Tochter neben ihren Mann und mich in gleichem Zimmer schlafen. Kleine Silbermünzen, türkische Parah’s, und einige Näh- und Stecknadeln‚ deren ich zum Austheilen immmer einen Vorrath bei mir trug‚ machten viele Freude. Alles schien reich und zufrieden.
Des folgenden Morgens gieng ich nach dem schönen Baidar-Thale, das aber freilich weder so wild romantisch, noch so üppig und schön als so viele Schweizerthäler ist. Kein Bergwasser, kein Gießbach, kein See, kein Glätscher erfreut das Auge; gewiß ist es jedoch immer ein herrliches Thal, das gerühmt zu sein verdient. Seine Länge beträgt ungefähr zwei teutsche Meilen, die Breite etwas über eine Meile; dabei ist es durchgängig angebaut, so daß das Auge mit einem Blick üppige Wiesen, liebliche Wälder, reiche, mit Iebendigen Hecken eingefriedigte Kornfelder und die schönsten Gartenanlagen übersieht. Durch die Gebirgskette, die es umringt, ist es gegen alle heftige Stürme geschützt. Die Dörfer haben ein gutes Aussehen. Die Berge und Ebenen sind mit Eichen, mit wilden Birn- und Apfelbäumen bedeckt.
Auf gut Glück gieng ich vom Dorfe Baidar aus dem Thale in die Gebirge, welche dasselbe gegen Süden umringen; da ich mich wenig bekümmerte, wo ich eigentlich hinkommen würde, sondern mehrere Theile des Gebirges besehen wollte‚ so folgte ich durch Waldung und Gebüsch einem sehr gähen Fußpfade, der sich aber als ein Holzweg bald verlor.
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Durch dichtes Gebüsch mußte ich mich durchwinden und kam an so steile Felswände, daß ich mich mit den Händen halten und mir also kletternd forthelfen mußte. Den Ranzen auf dem Rücken, konnte ich längs einer Felswand nicht mehr gerade fortkommen, ich mußte den Reisesack in die rechte Hand nehmen, um mich links näher an die Felswand anschließen zu können. Auf eines Berges Spitze angekommen, sah ich statt der Meeresküste noch ein tiefes Thal und einen steilen Berg vor mir, kam aber endlich im Thale wieder auf eine kleine Straße, welche auf die Höhe führt, von welcher ich dann einer überraschenden, majestätischen Aussicht genoß. Tief unter mir erblickte ich die herrliche Südküste der Halbinsel und das schwarze Meer. Von hier kommt man, zwischen kahlen, senkrecht abgeschnittenen Felswänden an die berühmte Merdunen oder Merdeban, welches eine Treppe bedeutet. Die Stufen derselben sind in den lebendigen Felsen eingehauen; unter sich hat man das Meer und ein herrliches fruchtbares Gelände. Am Fuße der Felswand traf ich, welche Freude! auf klares Quellwasser, welches aus dem Felsen durch eine eiserne Röhre in einen Brunnentrog geleitet ist. Solcher Anblick war mir so neu; ich trank nach Herzenslust und aß dann auf einem Baume Maulbeeren, welche von den Eigenthümern nicht abgelesen, sondern guthmüthig dem Wanderer zur Erquickung überlassen werden. Meine wunden Füße verband ich mir und kam nach Sonnenuntergang nach Kutschuk-koi. (Kleindorf), wo ich von den Tataren sehr gut aufgenommen wurde.
Die Tataren, welche das taurische Gebirge und die Südküste der Krimm bewohnen, sind in Hinsicht ihrer Bildung, Lebensart und Sprache von den Nogayen sehr verschieden.
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Sie scheinen mit Mongolen weniger als vielleicht mit Türken und Genuesen vermischt zu sein und mehr zur kaukasischen Race zu gehören. Sie sind kultivirter, gesitteter als die Nogayen. Sie treiben wenig Viehzucht, mehr Acker-, Garten- und Seidenbau, Baum- und Bienenzucht. Die Sprache hat Vieles mit der türkischen gemein und, wie man bemerken will, auch Worte, die aus dem Italienischen herstammen. Sie weicht ein wenig von dem Tatarischen ab, welches an der nördlichen Seite des taurischen Gebirges gesprochen wird. Die krimmschen Tataren, von den Nogayen als Unächte und Bastarde gering geachtet, Iachen nicht wenig über die Sprache der Nogayen, über ihre Unreinlichkeit und daß sie Pferdefleisch essen. Hinsichtlich der Religion sind sie eben so gute Muselmänner als diese, doch immer noch nicht so fanatisch und devot als die Türken. Sie kleiden sich sehr gut und sind darin, so wie auch in den Wohnungen, sehr reinlich. Dem, der unter gemeinen Russen, polnischen Juden und Nogayen wohnte, gewährt es eine wahre Freude, bei einem dieser krimmschen Küsten-Tataren, selbst bei dem ärmsten, sich aufhalten zu können. – Die Häuser bestehen aus einem einzigen Stock, haben meistentheils flache Dächer und sind unter Bäumen erbaut. Die Dörfer können daher aus einiger Entfernung nur an dem dichten Wäldchen‚ in welchem sie verborgen liegen, erkannt werden. Wenn sich der Reisende diesem Wäldchen nähert, so ist noch aus einer geringen Entfernung nirgends ein Haus darin zu bemerken und nur, wenn er sich mitten darin befindet, erblickt er die von Nuß- und Maulbeerbäumen, von Weinstöcken, Feigen-, Oliven-, Pflaumen- und Kirschbäumen dicht beschatteten Hütten. Bei jeder Hütte befindet
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sich ein Garten mit Melonen, Gemüse, Taback und mit — Bienenkörben.
Der kleine schmale Landstrich des südlichen Abhanges des taurischen Gebirges gegen das schwarze Meer und bis an dasselbe hat ein vortreffliches Klima, gleich dem von Anatolien, Syrien und der besten Gegenden Italiens. Eine neue, durch russisches Militär mit vieler Mühe gebaute, jedoch nur für Fußgänger und Reiter brauchbare Straße führt an dem Abhang der Felsen hoch über dem Meere längs der Küste, über Klüfte und Hügel, Vorgebirge und Felsen, durch herrliche Wein- und Baumgärten, dann wieder in Thäler und an den Meeresstrand hinab mit abwechselnder Aussicht bis nach dem Stadtchen Aluschta; zur linken Hand hat man steile kahle Felswände, die sich bis an die Wolken erheben und in sie sich einhüllen. Der Kaiser und viele Große des Reichs haben hier Ländereien, herrliche Landhäuser und Gärten. Längs dieser Küste stößt man auf Posten bewaffneter Arnauten, welche in der Krimm ein eignes Korps bilden. Ich wurde jedoch nie angehalten oder um meinen Paß befragt. Da mich das Fieber überfiel, so mußte ich einen halben Tag auf dem Gute des Gouverneurs Narischkin liegen bleiben, wo die Verwalter, welche gehalten sind, jeden Fremden gastfreundlich aufzunehmen, sich für eine kleine Portion Wein doppelt bezahlt machten. Etwas weiter kam ich bei Alupta oder Alupka, auf den Ländereien des Grafen Woronzow, an eine prachtvolle, im schönsten türkischen Style neuerbaute Moschee mit hohem Minaret. Sie ist auf Kosten des Grafen erbaut worden und steht an einem der schönsten Plätze der Küste. Eine alte Moschee, welche in eine Gartenanlage des Grafen fiel, soll abgebrochen
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und dafür diese erbaut werden sein, die, wie ich zu meiner Verwunderung hörte, nun wirklich von den Muselmännern zum Gebete benutzt wird. Das Dorf Alupka hat eine sehr schöne Lage. Ueberhaupt ist vielleicht nirgends in der Welt auf einer Meeresküste eine solche ausserordentliche Fruchtbarkeit, verbunden mit so viel romantisch erhabenen Gegenständen, anzutreffen. Wenn irgendwo ein Landesstrich als ein irdisches Paradies gepriesen zu werden verdient, so ist es die Gegend zwischen Kutschuk-Koi und Sudagh auf der südlichen Küste der Krimm. Auf der Landseite ist sie durch hohe Felsen eingefaßt, welche gegen kalte Winde schützen; von den Gebirgen strömen Wasserbäche in die Gärten der Bewohner. Der Erdboden bringt, wie in einem Treibhause, in unglaublicher Schnelligkeit eine Menge der köstlichsten Produkte hervor.
In der Gegend von Alupka liegen auch die schönen Güter, herrlichen Anlagen und Gebäude der Fürstin Gallizin; weiter herrliche Obst- und Weingärten des Baron Berkheim, des ehemaligen Gouverneurs Borosdin und ein unvergleichlicher, großer Kronsgarten. Längs dieser Küste kann der Reisende in den Tatarendörfern Postpferde haben, die einen sehr sichern Schritt gehen und denen man sich auf den schmalen Pfaden mit Ruhe anvertrauen kann. Es wird gewöhnlich, weil es unaufhörlich Berg auf und ab geht, nur im Schritte geritten und ein Tatarenjunge von einer Station zur andern mitgegeben, welcher die Pferde dann zurückreitet. Wer eine Podroschna (besondern Postschein) hat, bezahlt 8 Kopeken oder etwa 3 Kreuzer für die Werst, ohne solche aber auch 12 bis 20 Kopeken oder für die Meile etwa 30 Kreuzer rheinisch.
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Von dem kleinen Städtchen und Hafen Jalta führt die Straße über ein hohes Vorgebirge, welches bei den Tataren der Ajudagh *) heißt. Sehr ermüdet kam ich in das Städtchen Aluschta, von wo ich den Dschaderdagh, den höchsten Gipfel des taurischen Gebirges, zu besteigen gedachte. In einem Tatarenhause in der Nähe der Ruinen eines alten Schlosses, brachte ich eine Nacht zu und machte mich des folgenden Morgens vor Sonnenaufgang auf den Weg, um mich von der Höhe des Dschaderdagh oder Zeltenberges — des Trapezius (Tischberges) der Alten — noch einmal an einer schönen Aussicht über die Krimm zu erquicken. Die relative senkrechte Höhe dieses Berges wird von 1300 bis 1800 Fuß angeschlagen; allein da er von der Küste bei Aluschta bald sehr steil emporsteigt, so scheint er beträchtlich höher zu sein. Eine schöne Chaussee und fahrbare neue Bergstraße führt in 45 Wersten oder 2 Stationen über einen hohen Berg am Fuße des Dschaderdagh vorbei nach der Gouvernementstadt Simferopol. Einige Werste gieng ich von Aluschta durch ein angenehmes Thal und dann links von der Straße ab über Stock und Stein, durch steile Buchenwälder und Gebüsch und noch höher über Rollsteine und Felsen auf den langen Rücken des Berges. Man kann bis auf diesen Rücken hinaufreiten; aber vergeblich suchte ich — noch etwas schwach und mit schwerem Tornister beladen — in einem Tatarendorfe Pferde oder einen Tararen als Führer. Alles war auf dem Felde beschäftigt.
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*) Kaum bedarf’s wohl der Bemerkung, daß das Wort dagh (tatarisch gesprochen dau) hier so wie in der Türkei Berg bedeutet.
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Die Aussicht auf diesem Berge ist nordwärts auf die Steppe sehr ausgedehnt. Man überschaut den ganzen nördlichen Theil der Halbinsel bis nach Perekop; die herrliche Südküste und ein großer Theil des Meeres aber wird durch Vorberge bedeckt. So schön, weit und erhaben die Aussicht ist, so hat sie doch zu viel Einförmigkeit, als daß sie zu den ausserordentlichsten gezählt werden und namentlich den Schweizer befriedigen könnte. Die großen Steppen bieten eine einförmige Fläche dar, auf welcher, wegen zu großer Entfernung, kein einzelner Gegenstand unterschieden werden kann; die Dörfer zeigen sich höchstens als dunkle Flecken; näher, in der Gebirgsgegend, erblickt das Auge überall nur wilde, rohe Natur. Von bebautem Land ist wenig zu sehen. Es versteckt sich dasselbe hinter Bergen und Wäldern, so wie auch die Tatarendörfer, die ohnehin wenig Bemerkbares haben und deren Häuser viele ganz oder zum Theil an Felsen mit flachen und mit Erde bedeckten Dächern gebaut sind. Selbst größere Häuser und Moscheen sind nicht leicht bemerkbar, da das Dorf gewöhnlich dergestalt von Bäumen und dichten Buchenwäldern umgeben ist, daß selbst in der Nähe nicht bald etwas dieser Art wahrgenommen werden kann. Nur die Gegend von Akmedschet zeigt menschliches Leben. Es fehlen zu der schönen Aussicht auch Flüsse und Binnenseen; denn vom Salghirfluß ist wenig zu sehen. Ueberhaupt mangelt das Mannigfaltige und die Abwechselung, durch die man z. B. auf dem Rigiberg in der Schweiz in so hohem Grade angesprochen und erfreut wird.
Heranrückendes Gewölk, welches mich auf diesem hohen Bergrücken einhüllte, bestimmte mich, nicht weiter längs der Höhe fortzugehen, sondern auf der nördlichen Seite des
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Berges herabzusteigen. — Sehr steil abwärts und dann durch wilde Thäler kam ich nicht weit von der Poststation zwischen Aluschta und Simferopol wieder auf die schöne Heerstraße. Durch das reizende und angenehme Salghir-Thal kommt man bei mehrern Edelsitzen vorbei. Ueber den Salghirfluß sind aber noch wenige Brücken gebaut und ich mußte, da der Fluß unzählige Krümmungen macht, als Fußgänger vielmal durch das Wasser waten.
Sudagh.
Von Simferopol aus wollte ich die vielgerühmte Gegend und die herrlichen Weingärten von Sudagh (Wasserberg) besuchen. Ich gedachte dort eine kleine Zeit zu bleiben und Seebäder zu benutzen. — Angeschlossen an ein Kommando russischen Militärs, welches türkische Gefangene von Feodosia abführen sollte, machte ich den Weg nach der teutschen Kolonie Neusatz, von da nach Karasubasar. Da hier eben großer Markt gehalten wurde, so fand ich Gelegenheit, mit Gebirgstataren auf Wagen, von Büffeln und gemeinen Ochsen gezogen, gegen Sudagh hin tief ins Gebirg zu fahren; anfangs durch merkwürdige schöne Thäler, dann über furchtbar steile Berge und Hohlwege, über welche die Ochsen den Wagen kaum fortschleppen konnten. Wir blieben unter freiem Himmel auf einem Berge über Nacht und kamen dann in ein tiefes Thal und durch ein Flußbett nach dem einsamen Dorfe Burun, wo ich in einem Tatarenhause recht gastfreundlich behandelt wurde. Von hier nahm ich einen
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Tataren als Wegweiser mit, um über die Gebirge auf dem nächsten Wege nach Sudagh zu kommen. Wir hatten ausserordentlich steile und hohe Berge zu übersteigen, auf welchen jedoch köstliche Aussichten der Mühe Preis waren. Dann kamen wir durch Tatarendörfer und in anmuthige, herrliche Thäler. Von dem letzten Berge, von welchem herab man nach dem Dorfe Tharaktasch gelangt, hatten wir beständig die unvergleichliche Aussicht Ins Sudagher-Thal, das voll der schönsten Landhäuser und herrlicher Wein- und Obstgärten ist, und auf die gegenüberliegenden schönen Berge, besonders den merkwürdigen Tharaktasch (Kammstein), welcher auf seinem Rücken viele Spitzen und Zacken nackter und hoher Felsblöcke hat, so daß der ganze Berg wirklich einem Kamme gleicht. An dessen Fuße liegt das große tatarische Dorf Tharaktasch, wo ich mit meinem Führer nirgends Aufnahme fand. Ich war nur noch einige Werste von Sudagh entfernt und hatte an den dortigen Direktor des Krongartens, so wie auch an andere Teutsche Empfehlungsbriefe; aber ich zog immer vor, bei Tataren einzukehren und bot im mehrern Häusern einen Rubel (was hier zu Lande schon sehr viel ist), um Nachtlager zu bekommen. Vergeblich! ich mußte abziehen und gieng also zu dem nächstwohnenden Teutschen, welcher Aufseher über einen großen Weingarten ist, der einem reichen Tataren in Karasu zugehört. Dieser Teutsche sprach besser tatarisch als teutsch. Er erklärte mir das Benehmen der Tharaktascher-Tataren, und ihre Abneigung gegen Russen, zu denen ich gezählt wurde, da ich zum Unstern nur halb tatarisch gekleidet war.
Das Dorf Sudagh liegt eigentlich zerstreut in dem Thale. Um die neue, geschmackvolle armenische Kirche stehen
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mehrere Häuser. Einige Werste davon kommt man an den Hafen, in welchem jedoch keine Schiffe liegen. Ich brachte einige Tage auf der sogenannten Festung zu, einem hohen Berge, der aus dem schwarzen Meer aufsteigt und auf dessen Höhe viele Ruinen einer alten Festung stehen. Unter derselben, zwischen hohen Felsen, wohnen mehrere teutsche Familien, welche etwas Viehzucht, hauptsächlich aber Wein- und Obstbau treiben. Neben ihren Wohnungen steht auf einem kleinen Hügel eine Kapelle für den reformierten Gottesdienst, welcher dem Prediger aus Zürichthal zu besorgen obliegt. Ruinen der Schlösser, wahrscheinlich aus der Zeit der Griechen oder Genuesen, sind äußerst merkwürdig. Man sieht noch große und lange Mauern, mehrere Thürme und auf der höchsten Spitze des Berges, wohin in den Felsen eingehauene Tritte führen, steht ein noch ziemlich gut erhaltenes Schloß, mit drei Zimmern, zu deren einem nur der Schwindelfreie, und auch er mit Lebensgefahr, gelangen kann. Es befindet sich dasselbe ganz oben im Schlosse und wird im Innern nicht leicht bemerkt, da weder eine Treppe dazu führt, noch auch nur eine Oeffnung zu sehen ist. Man muß also von aussen die Mauer erklimmen und zwar auf jener Seite, welche in senkrechter Linie mit der hohen glatten Felswand nach dem Meere zugeht, und welche letztere sich in ausserordentlicher Höhe aus demselben erhebt. Man verliert sich bei dem Gedanken an den Bau dieses Schlosses auf solch steilem, hohen Berge. Unter den Mauern der alten Festung sind große russische Kasernen, noch unausgebaut, zum Theil schon wieder verfallen, zu sehen. In diesen wohnt jetzt ein Invalide zur Bewachung der Ruinen; die man nun noch zu erhalten sucht, nachdem lange Zeit die Anwohner Theile von diesen Ueberresten
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zum Bau ihrer Häuser und zu Mauern um die Weingärten weggeschleppt hatten.
Seebäder bekamen mir nicht wohl, und ich fand, daß es mit meiner Gesundheit nicht mehr war wie gestern und ehegestern. Dies brachte den Entschluß in mir zur Reife, wieder nach der Schweiz zurückzukehren. Ich holte mir daher, um Rußland verlassen zu können, einen Reisepaß in der Gouvernements-Stadt Simferopol. Der Weg aus dem schönen Sudagh-Thal führte mich nach Zürichthal, wieder an dem Fuße des Tharaktasch vorbei und durch merkwürdige Bergparthien in der Nähe von Eski-Krimm oder der alten Krimm vorbei, durch Waldungen und Thäler, welche vor nicht langer Zeit Aufenthaltsorte tatarischer Räuberbanden gewesen. Abends nach Sonnenuntergang sah ich neben der Straße ein gesatteltes Kosakenpferd weiden und im Grase einen Kosaken in Montur und Armatur liegen. Zu meiner Verwunderung redete er mich sogleich teutsch an. Es war wirklich ein Teutscher aus der Kolonie Heilbronn, der seit einigen Jahren in Diensten des Donanen-Cordon am schwarzen Meere steht und der seine Verwandten besuchen wollte. Wir blieben im Walde über Nacht. Es kamen noch Tataren zu uns, die sich mit uns an einem großen Feuer wärmten. Früh Morgens zogen wir durch mehrere Tatarendörfer und ein bulgarisches nach Zürichthal. Nachdem ich von hier aus noch einmal die Reise nach Simferopol gemacht, kehrte ich über Arabat, die Landzunge Zenike nach der Molotschna zurück. Auf der Landzunge trafen wir auf einen ungeheuren Schwarm von Zugheuschrecken, welcher von einer großen Menge Seevögel verfolgt wurde, die während ihres Fluges Heuschrecken erhaschten und verzehrten. Die Länge des Zuges der
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Heuschrecken mochte wenigstens eine Meile Weges einnehmen.
In dem niepromskischen Kreise, zwischen der Landzunge und der Molotschna, in welchem die Tataren der Rekrutirung unterworfen sind, sah ich in allen Dörfern öffentliche Freudenfeste oder Bairams halten, weil Nachricht gekommen war, daß die jüngst ausgehobenen Tataren ihres Dienstes entbunden seien und nicht zur Armee abgehen sollten. Abgesehen von der Furcht, die der Tatar, so wie der gemeine Russe, vor dem Militärdienste hat, wie wohl mußte es jenem als Muselmann thun, wenigstens nicht gegen Glaubensgenossen fechten zu müssen.
Bei einem großen Steppenbrande vorbei kam ich glücklich nach dem Milchflusse zurück, wo ich mich zur Abreise nach der Schweiz bereit machte.
Abschied. Reflexionen.
So gern ich in Rußland und bei den Tataren war, so fand ich es doch gerathener, meiner wenigen übrigen Kräfte noch zu schonen und sie wenn möglich wieder zu stärken und zu mehren. Bei den Tataren wußte ich für einmal keine Beschäftigung, welche weniger Gesundheit, Kraft und Anstrengung erfordert und bei welcher ich auch meinen Unterhalt und mein Fortkommen gefunden hätte, als die frühere, bei der ich nicht mehr bestehen konnte. Ich fühlte mich noch so schwach, daß ich nicht einmal einer kleinen Heerde Vieh aus der Cisterne das nöthige Wasser zu schöpfen vermochte. —
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Getrennt von den Tataren suchte ich in Rußland kein Unterkommen und zog also vor, nach der schönen Schweiz zurückzukehren.
Ich hatte auf der letzten Reise aus der Schweiz thöricht mir an der Gesundheit geschadet und würde also, auf früherer Lebensweise unter den Tataren beharrend, nur den Schein einer Hingabe für’s Gute behalten, nicht für's Gute selbst mich aufgeopfert und mein äusseres Leben hingegeben haben. Mein Körper, durch Krankheit in Polen und Rußland geschwächt und für alles empfindsamer geworden, war zwar noch nicht untüchtig zu mancher Beschwerlichkeit und Arbeit, aber doch nicht mehr stark genug, um Tataren- und Steppenleben zu theilen.
Was mir die Trennung von den Nogayen schwer machte, war besonders auch ihr Zustand, im welchem ich sie nun kennen gelernt hatte. Ich konnte zwar nur ein sehr geringes Scherflein zur Verbesserung ihrer Lage beitragen und ich wage nicht einmal zu behaupten, daß mein Leben unter ihnen wirklich einige gute Folgen für einen der Tataren gehabt habe. Wir sind in der Zusammenstellung von Ursachen und Wirkungen so mancher Täuschung und — so mancher Versuchung ausgesetzt. Es könnten auch andere Umstände, ohne mein Mitwirken, die Folgen gehabt haben, die ich diesem zuschreiben würde. Einzig so viel bin ich mir bewußt, dass ich das Wohl dieser Leute wünschte und suchte. Meine Neigungen sah ich nun erfüllt. Ich hatte die Freude genossen; auch einmal Theil nehmen zu können an dem Wohl und Weh eines von denen im Abendlande so verschiedenen Volkes. Auch darf ich glauben, für meine innere Ausbildung Manches gewonnen zu haben.
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Namentlich dann auch ward meine Theilnahme an dem Geschick heidnischer Völker überhaupt genährt und gesteigert. Mein diesfälliges Glaubensbekenntnis ist kurz folgendes: Wenn auch der Heide, wie früher gesagt, sein Unglück nicht so fühlt und das Glück anderer nicht kennt, – so ist er doch wenigstens nicht glücklich und die Unkenntnis und das Nichterreichthaben dessen, was die Menschen auf dieser Erde beglücken kann, ist schon ein Unglück für ihn. Ich rede nicht von bloß äusserer Lage oder davon, dass sie glücklich wären, eingeführt zu sein in alles, was bloß äussere oberflächliche Bildung, eine größere Höhe sinnlicher Kultur und äussern Wohlstandes dem Menschen bringt. Darin nur möchte der Rohe, Ungebildete eher einen Vortheil haben, dass er den Mangel so mancher Bedürfnisse des Herzens und der Sinne weniger fühlt und die vielen Leiden, Disharmonien, Kämpfe , Widerwärtigkeiten nicht kennt, die aus dem Unbefriedigtsein der erhöhten Bedürfnisse entstehen und also bloß Folgen so vieler erwachten und vermehrten Wünsche, Folgen äusserer Bildung und oft auch der falschen Aufklärung sind. Ich schätze den rohen, uncivilisirten Heiden und Muhammedaner in seiner Einfachheit und Unwissenheit glücklicher als den Vielwissenden und Vielbedürftigen, der weiter nichts gelernt hat, als das anzustreben und zu wünschen, was er nicht haben kann und soll oder was ihm schädlich und verderblich ist; nur gelernt hat, dieser Welt zu leben und nicht das Leben auf dieser Welt als Erziehungs- und Bildungsanstalt für ein besseres und vollkommneres Jenseits anzusehen und zu benutzen weiß.
Wie viele, wie mannigfache Leiden und Trübsale sieht man nicht in kultivirten Ländern unter den gebildeten Menschen;
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Leiden, von denen der Nogaye nichts weiß und für die bei ihm keine andere an die Stelle treten. Die Leiden aber, die dieser mit jenem zu tragen hat: Armuth, Krankheit u. s. w. greifen bei ihm doch nicht so tief ein, machen ihn nicht so gepeinigt, so bitter leiden. Er fühlt den Schmerz an Geist und Körper weniger.
Man wird nicht dafür halten, daß es Gott angeklagt sei, ein Volk unglücklich zu nennen; denn derselbe Fall wäre ja auch bei einzelnen Menschen, die wir unglücklich nennen, die Leiden, Noth und Trübsal auszustehen haben oder die doch glücklich sein könnten und es nicht sind; bei Menschen, deren Leid uns betrübt, an deren Schicksal wir als fühlende Menschen theilnehmen wollen und müssen.
Der sich aufgeklärt und gebildet Dünkende, der so weit gekommen ist, daß er rohe, wilde, unwissende Menschen, Heiden und Muhammedaner, nicht in diesem ihrem Zustand gestört, demselben entzogen, sie belehrt und unterrichtet wissen mag, beweist eben dadurch, daß er nicht wahrhaft aufgeklärt und gebildet ist, oder daß er die Vortheile und das Glück, es zu sein, weder gehörig kennt noch würdigt, da er den Unwissenden so glücklich oder glücklicher schätzt als sich selbst. Dieser ist auch wirklich unglücklicher in seinem Wissen und Erkennen, in seinen Bedürfnissen und Leiden als der Heide; aber glücklicher als alle ist der durch Gottes Wort Gebildete, in welchem Stand und in welchem Verhältniß er sich befinden mag, so viel Leid und Trübsal auch auf ihm liege — er leidet zwar mehr als der Heide, mehr als der Ungläubige, Verbildete; er kann aber auch mehr tragen, weil er weiß, von wem es alles kommt und wozu es dient, und darum bleibt ihm dann auch in dem Schmerz die
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Freude, die Niemand von ihm nimmt, und er überwindet im Glauben an den, der die Welt überwunden hat, i, Glauben an Jesum Christum, der uns mit Gott, unserm Vater, durch sein Blut versöhnet hat und uns aus Gnade und Liebe hier und dort selig macht.
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Rückreise nach der Schweiz.
Rußland.
Nach schmerzlichem Abschiede von dem guten Ali und dessen Familie, so wie von den teutschen Freunden an der Molotschna, reiste ich, von einem wackern Teutschen geführt, den gewohnten Weg in sieben Tagen nach Odessa. Die Anwesenheit des kaiserlichen Hofes, vieler Militärs, auswärtiger Diplomaten und der Offiziere eines großen Theils der hier im Hafen liegenden Kriegsflotte machte diese Handelsstadt jetzt sehr lebhaft. Vor der Stadt sah man ein großes Lager, an dem Hafen fast täglich Truppen nach Varna einschiffen. Es wurden Dankfeste wegen den Siegen der Russen jenseits des Kaukasus gefeiert. Kosaken trugen eroberte Fahnen durch die Straßen, in Begleit von Uhlanen und unter dem Hurrahgeschrei des Volkes. Der Kaiser und die Kaiserin verrichteten ihr Dankgebet in der griechischen Kirche und die Kriegsschiffe ließen ihre Kanonen donnern. — Die kaiserlichen Majestäten bewohnten den prachtvollen, neuerbauten Palast des General-Gouverneurs Woronzow. Das Wohl der Völker beachtend und in Theilnahme der Leiden der Menschheit wurden Einladungen zu Lustbarkeiten, zu
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denen die Stadt Odessa kostbare Vorkehrungen getroffen hatte, ausgeschlagen.
Die neue Promenade am steilen Meeresufer, an welcher jener geschmackvolle Palast und noch andere Prachtgebäude stehen, war jetzt besonders lebhaft und die Aussicht auf die vielen Kriegs- und Kauffahrteischiffe, auf zwei schöne Dampfboote und das schwarze Meer ausnehmend schön. In der Mitte der Promenade ist vor Kurzem ein kostbares Monument zum Andenken des ehemaligen General-Gouverneurs von Neu-Rußland, des Herzogs von Richelieu, aufgestellt worden. Es ist die mehr als lebensgroße Statüe des Herzogs in Bronze. Eine Verschönerung von Odessa ist nun auch die im neuesten Styl erbaute evangelische Kirche und um herrliches Straßenpflaster.
Nach einem Aufenthalte von vierzehn Tagen in Odessa fuhr ich mit noch einigen Reisenden in einem gemietheten Judenboot (Judenwagen) nach der russischen Gränze bei Radziwilow. In einer Strecke von zwei- bis dreihundert Wersten kamen wir durch eine herrliche fruchtbare und stark bevölkerte Thalgegend einen Weg, den ich noch nicht gemacht hatte. Meine Gefährten, alle bewaffnet, schossen viele Arten von Wildvögeln, die im großen Heerden sich zeigten und die wir uns zum Mahle zubereiteten. — Die Stadt Balta blieb uns rechts liegen und wir kamen unter ernsten und spaßhaften Begebenheiten nach der Stadt Bar. Schon hatten wir einen Schabis (Sabbath) mit dem Judenfuhrmanne still gelegen und hier sollten wir abermal zwei Feiertage (es war die Jahresfeier der Juden) passiv mitmachen; da aber in dem geschriebenen Kontrakt die Sache anders lautete,
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so mußte uns der Jude russische Fuhrleute bis an die Gränze verschaffen.
Mit den jüdischen Fuhrleuten hat sich der Reisende sehr in Acht zu nehmen. Sie suchen ihn auf jede Weise zu hintergehen; selbst dann noch, wann Kontrakte gemacht worden sind. Sie nehmen auf dem Wege da und dort um wenig Geld Juden auf, bis der Wagen ganz vollgestopft ist und man kaum mehr sitzen kann, auch in dieser nahen Verbindung mit Juden voll Ungeziefers wird. Ist der Jude mit guten Pferden abgefahren, so wechselt er wohl unterwegs oder man sieht sich einem andern Juden mit schlechten Pferden und schlechtem Wagen übergeben und jener ist wieder nach dem Orte der Abreise zurückgekehrt. Der Judenfuhrmann läugnet auch nicht selten den ausgemittelten Fuhrlohn ab und fordert, wenn er einmal eine Strecke weit gefahren ist, den doppelten Preis; oder er führt in schlechte Judenwirthshäuser, wo nur er wohlfeil gehalten und mit dem Wirth übereingekommen ist, den Reisenden tüchtig zu prellen. Die geringste Freundlichkeit und Nachgiebigkeit mißbrauchen sie bald auf die unverschämteste Weile und wer ihnen schon zu viel Handgeld gegeben, der sieht sich ganz in ihrer Gewalt; er muß mit dem Juden an jedem Orte lange sitzen, oder dieser läßt ihn gar im Stiche. Wer nicht russisch spricht, der kommt mit seinem Kontrakt vor den russischen Behörden, die er zu Hülfe nimmt, nicht gut fort, da er nur Juden zu Dollmetschern haben kann und diese unter sich und oft auch mit den Beamten gegen den Fremden einverstanden sind. — Wer den Juden jedoch einmal kennt und zu behandeln weiß, der kann dann wohl fortkommen und wer russisch spricht, der hat immer vor den Behörden gegen
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die Juden gewonnen Spiel. Die Juden haben in diesem Falle große Furcht und viel Respekt vor den russischen Beamten. Der Judenfuhrmann, um die Möglichkeit einer Anklage zu verhüten, wählt sich mit Reisenden, die des Weges nicht kundig sind, immer die einsamsten Straßen, an denen nur hie und da einzelne Judenwirthshäuser zu finden sind und er macht wohl noch bedeutende Umwege, um größere Ortschaften, besonders Kreisstädte, nicht zu berühren.
Von den Reisegefährten gaben mir zwei Griechen viel Stoff zu Betrachtungen. Es war ein Bojar oder moldauischer Edelmann mit seinem Sohne, der lange in Konstantinopel gewohnt und als ein reicher Mann in Bujukdereh am Kanal ein Landgut besessen hatte. Er mußte sich vor mehren Jahren mit seiner Familie nach Odessa flüchten und wollte nun bei dem Präsidenten der neuen Regierung Griechenlands, an den er Empfehlungsschreiben bei sich hatte, um Anstellung sich bewerben. Er war daher Willens, über Brody, Wien und Venedig nach Griechenland zu reisen. Beide waren in ihrem Benehmen äusserst seltsam, von stolzem und heftigem Charakter. Traurige Schicksale, von denen der Alte aus seinem Leben erzählte, schienen auf mehrere seiner Organe stark zu seinem Nachteil eingewirkt zu haben; und ich zweifle, ob man so bereitwillig zu seiner Beförderung sein wird, als er sich vorstellt. Er erklärte sich nämlich deutlich, daß er nur eine hohe Stelle annehmen würde.
Alle Griechen in den Städten der Moldau und in Odessa nannte er ohne Ausnahme beständig nur des dégénérés, des scélérats , für was sie denn auch wirklich fast allgemein gehalten werden. Er aber glaubte selbst eine ehrenwerthe Ausnahme
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zu machen. In Konstantinopel und Smyrna hatte ich von den Franken überall die große Klage über die Griechen in den Städten gehört. Die Aeusserung, daß doch wohl die Landbewohner Morea’s und der Inseln unter dem türkischen Despotism noch nicht so tief gefallen wären, wollte keine Zustimmung erhalten. — Wenn die Versunkenheit denn wirklich so groß ist, um so mehr erregt der Zustand dieses Volkes das Mitleid des Menschenfreundes und die wärmste Theilnahme an seinem Schicksal; um so mehr bedarf es einer Wiedergeburt. Uebrigens konnte ich mir die Ueberzeugung nicht rauben lassen, daß diese kräftige und einst so berühmte Nation nicht jetzt noch viele vortreffliche, edle Menschen in ihrer Mitte habe.
Oesterreich.
Glücklich in Radziwilow angekommen, fuhr ich mit Extrapost über die russische Gränze nach der Freistadt Brody. Froh, wenn mir der russische Schlagbaum geöffnet wurde, war ich es nicht weniger, ihn jetzt auf österreichischem Boden hinter mir fallen zu hören. Die Gränzen und Gränzbureaux waren mir nie angenehm, und doch hat nun einmal alles auf der Welt seine Gränze, und auch alles Widerwärtige sein Maaß und Ziel, so wie auch seinen Nutzen.
Um österreichische Pässe aus Lemberg zu erhalten, mußte ich drei Tage in Brody verweilen und die Plage des Judengedränges ausstehen. Man sieht sich von einer zudringlichen Schaar von Kleinkrämern und Mäklern, wo man steht und
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geht, umringt. Sie sind so dienstfertig, daß man sie selbst mit Derbheit und Grobheit kaum vom Halse bringt. Sie laufen dem Fremden in großer Menge auf den Straßen nach, und ist man im Hôtel, so sieht man sich genöthigt, das Zimmer zu verriegeln, damit nicht Alles durch die Thüre sich eindränge. Die Gesprächigkeit, welche sie bei Anbietung ihrer Dienste und ihrer Waaren an den Tag legen, so wie die List, mit der sie den Fremden zu hintergehen und zu betrügen wissen, ist sehr groß, und es gewährt ein gewisses Interesse, diese Kinder Israels zu beobachten, in diesem ihrem Getriebe für ihre Existenz, besonders aber, wie ich diesmal in Brody Gelegenheit hatte, — gestutzt und zubereitet, um der Armee einverleibt zu werden und dem Staate zu dienen.
Zum letztenmal fuhr ich nun noch mit Juden nach Lemberg, der Hauptstadt Galliziens. Nach einem angenehmen Aufenthalt in dieser Stadt setzte ich mich in den schönen Eilwagen, welcher in 4 Tagen und 5 Nächten, von welch letztern eine der Ruhe gewidmet ist, nach Wien geht. Der Preis eines Platzes ist bis Wien 43 Gulden Münze. Man fährt die sogenannte Kaiserstraße durch Gallizien über die Städte Jaroslaw, Pschemisl, Lanzut, Rschesow, Robtschiz, Dembis, Tarnow, Woiniz, Bochnia, Wielitschka, Podgorze, dann Krakau vorbei über Istebnik, Wadowiz, Kenty, Biala in die öfterreichische Provinz Schlesien — nach Bieliz, Stotschau, Teschen, Friedek, über das Südetengebirg nach Freiberg, in die Provinz Mähren, nach Neu-Titschheim, Weiskirchen, Augez, nach der schönen Stadt und Festung Olmütz — über Prosniz, Wischau, nach der Hauptstadt
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475
Brünn, die in herrlicher Gegend liegt und der schönen Ansicht des berühmten Spielbergs genießt; von da über Pohorlitz, Nikolsburg, nach Oesterreich unter der Enns, über Poisdorf, Wülfersdorf, Gaunersdorf, Woltersdorf und Stammersdorf und über die Donaubrücke nach der großen und prächtigen Kaiserstadt Wien. Eines großen Uebungslagers wegen, das vor der Stadt so eben abgehalten wurde, waren alle Gasthöfe mit Fremden angefüllt; daß man gute Herberge nur um theuern Preis und die Eilwagen auf mehrere Tage hinaus schon besetzt fand, weßhalb ich vier Tage mich in der schönen Residenz aufhalten mußte, welche ich zu den genußreichsten und angenehmsten meines Lebens zähle. Die reizende Lage und Umgegend der Stadt, die großen prächtigen Vorstädte, die herrlichen Promenaden auf den Glacis, der Prater, die kaiserliche Burg und die Menge der Paläste, die öffentlichen Plätze und Denkmale, die Stephanskirche, das Leben auf den Straßen und noch so Vieles machte mir Wien nach Konstantinopel zur anziehendsten Hauptstadt, die ich je gesehen hatte. An dem dritten Tage meines Aufenthaltes besuchte ich noch das kaiserliche Lustschloß Schönbrunn, besah die herrlichen Anlagen, die prachtvolle Aussicht auf dem Berge, die nachgeahmten Ruinen und die Menagerie, in welcher viel Volks die Giraffe beguckte, welche jetzt der Mode den Namen lehnt.
Von Wien eilte ich über Linz, Salzburg und Innsbruck, den Adlerberg, Feldkirch und Bregenz nach St. Gallen, – wo ich den 2. des Oktobers glücklich anlangte.
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476
Anhang.
Privilegium der Mennoniten in Rußland.
Wir durch Gottes hülfreiche Gnade Paul der Erste, Kaiser und Selbstherrscher aller Reussen, von Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Czaar von Kasan, Czaar von Astrachan, Czaar von Sibirien, Czaar des taurischen Chersones, Herr von Pskow und Großfürst von Smolensk, Lithauen, Volhynien und Podolien, Fürst von Esthland, Liefland, Kurland und Semgallen, Samogizien, Karelien, Twer, Ingorien, Perm, Wätka, Boegarien und anderer Länder, Herr Herr und Großfürst von Nowgorod, des niedern Landes Tschernigow, Räsan, Polozk, Rostow, Jaroslaw, BeIoosero, Udorien, Obdorien, Kandien, Witepsk, Mstislaw und der ganzen nördlichen Gegend‚ Gebieter und Herr des Iwerischen Landes, der Kartalinischen und Grusinischen Czaaren und des Kabardinischen Landes, der Tscherkesirischen und Gebirgs-Fürsten, Erb- und Lehns-Herr, Erbe zu Norwegen, Herzog zu Schleswig-Holstein, Stormarm, Ditmarsen und Oldenburg und Herr zu Jewer, wie auch Großmeister des souveränen Ordens des heiligen Johannes von Jerusalem u. s. w.
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477
Zu Urkunden Unserer allergnädigsten Genehmigung der an uns gelangten Bitte von den in dem neurussischen Gouvernement angesessenen Mennoniten, die, nach dem Zeugnisse ihrer Aufseher, wegen ihrer ausgezeichneten Arbeitsamkeit und ihrem geziemenden Lebenswandel den übrigen dort angesiedelten Kolonisten zum Muster können dargestellt werden, und dadurch Unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen, – haben Wir durch diesen ihnen von Uns geschenkten Kaiserlichen Gnadenbrief nicht nur allein die in den vorläufig mit ihnen geschlossenen Bedingungen enthaltenen Rechte und Vorzüge allergnädigst bekräftigen, sondern auch, um ihren Fleiß und ihre Sorgfalt zur Landwirthschaft noch mehr aufzumuntern, ihnen noch andere in nachstehenden Punkten enthaltene Vortheile, in Gnaden bewilligen wollen.
Erstens: Wir bekräftigen die ihnen und ihren Nachkommen versprochene Religionsfreiheit, vermöge welcher sie ihre Glaubenslehren und kirchlichen Gebräuche ungehindert befolgen können. Auch bewilligen wir allergnädigst, daß vor Gericht, wenn es der Fall erheischen sollte, ihr mündlich ausgesprochenes Ja oder Nein an Eidesstatt als gültig angenommen werde.
Zweitens: Die einer jeden Familie bestimmten fünf und sechszig Desetinen brauchbaren Landes bestätigen Wir ihnen und ihren Nachkommen zum unbestreitenden und immerwährenden Besitze; verbieten aber hiebei, daß keiner unter ihnen, unter welchem Vorwande es auch sein möge, auch nicht den geringsten Theil davon, ohne ausdrückliche Erlaubniß der über sie angestellten Obrigkeit, an irgend einen fremden überlasse, verkaufe oder gerichtlich verschreibe.
Drittens: Sowohl allen schon anjetzt in Rußland angesessenen,
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478
als auch denen hinfüro unter Unserer Bothmäßigkeit sich niederzulassen gesonnenen Mennoniten, verstatten Wir nicht nur auf ihrem Gebiethe, sondern auch in den Städten Unsers Reichs Fabriken anzulegen, Handlung und andere nützliche Gewerbe zu treiben, wie auch in die Gilden und Zünfte zu treten, und ihre Fabrikate ungehindert zu verkaufen, wobei sie die hierüber emanirten Landesgesetze zu befolgen schuldig sind.
Viertens: In Gemäßheit des Eigenthums-Rechtes erlauben Wir den Mennoniten den Genuß aller Arten von Benutzungen ihres Landes, wie auch zu fischen, Bier und Essig zu brauen‚ ebenso für ihre Bedürfnisse und zum Verkauf im Kleinen auf denen ihnen gehörigen Ländereien Branntwein zu brennen.
Fünftens: Auf denen den Mennoniten gehörigen Ländereien verbiethen Wir nicht nur allen fremden Leuten Krüge und Branntweinschenken zu bauen; — sondern auch den Branntweinspächtern ohne die Einwilligung der Mennoniten Branntwein zu verkaufen und Schenken zu halten.
Sechstens: Wir geben ihnen Unsere allergnädigste Kaiserliche Versicherung, daß Niemand, sowohl von denen anjetzt schon angesessenen Mennoniten, als auch von denen in Zukunft zur Niederlassung in Unserm Reiche Geneigten, noch ihre Kinder und Nachkommen, zu keiner Zeit in Krieges- oder Civildienste ohne eigenen, dazu geäußerten Wunsch zu treten gezwungen werden solle.
Siebentens: Wir befreien alle ihre Dörfer und Wohnungen von aller Art Einquartierung (ausgenommen, wenn etwa Commando’s durchmarschieren sollten; in welchem Falle nach den Verordnungen über die Einquartierung verfahren werden soll);
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deßgleichen von Vorspann oder Podwoden und Kronsarbeiten; — dagegen aber sind sie schuldig die Brücken, Ueberfahrten und Wege auf ihrem ganzen Gebiethe in gehöriger Ordnung zu halten und nach den allgemeinen Veranstaltungen zur Unterhaltung der Posten das Ihrige beizutragen.
Achtens: Wir gestatten allergnädigst allen Mennoniten und ihren Nachkommen die völlige Freiheit, ihr eigenes wohlerworbenes Vermögen (worinnen jedoch das ihnen von der hohen Krone gegebene Land nicht mitbegriffen ist) nach eines jeden eigenen Willen, so anzuwenden, wie er es für gut befinden wird. Wenn aber jemand unter ihnen, nach der vorhero von ihm geschehenen Abzahlung aller auf ihm haftenden Kronsschulden, Verlangen trüge, sich mit seinem Vermögen aus Unserm Reiche hinweg zu begeben: so ist er schuldig eine dreijährige Abgabe von dem in Rußland erworbenen Kapital zu entrichten, dessen Betrag von ihm und dem Dorfs-Vorgesetzten nach Pflicht und Gewissen anzugeben ist. Eben so ist auch zu verfahren mit den Nachlassenschaften der Verstorbenen, deren Erben und Anverwandten sich in fremden Ländern befinden, und an die, nach dem unter ihnen gebräuchlichen Rechte der Erbschaftsfolge, die Erbschaft zu verschicken ist. Anbei gestatten Wir auch den Dorfschafts-Gemeinden das Recht, nach ihren eigenen hergebrachten Gebräuchen, Vormünder über die den Unmündigen zugehörigen Nachlassenschaften der Verstorbenen zu wählen.
Neuntens: Wir bekräftigen allergnädigst die ihnen verliehene zehnjährige Befreiung von allen Abgaben und erstrecken sie auch auf alle hinfüro im neurussischen Gouvernement sich niederzulassen gesonnenen Mennoniten. Da aber nach jetzt geschehener Untersuchung ihres Zustandes sich erwiesen: daß
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480
sie durch mehrmaligen Mißwachs und Viehseuchen in eine nothdürftige Lage gerathen und auf dem Chortiger-Gebiete zu gedrängt angesiedelt sind, weßhalben beschlossen worden ist, eine Anzahl Familien auf ein anderes Land zu versetzen, *) so bewilligen Wir allergnädigst, in Rücksicht ihrer Dürftigkeit und Armuth; nach Verlauf der ersten zehn Freijahren denen, die auf ihren jetzigen Wohnörtern verbleiben, noch fünf, denen zur Versetzung bestimmten aber noch zehn Freijahre, und befehlen, daß jede Familie nach Verlauf dieser Zeit von denen in Besitz habenden fünfundsechszig Desetinen fünfzehn Kopeken jährlich bezahle, übrigens aber von allen andern Kronsabgaben befreit bleibe; den erhaltenen Geldvorschuß aber haben, nach Verlauf der erwähnten Freijahre, die auf ihrem Wohnor. Verbleibenden zu gleichen Theilen in zehen und die anderwärts zu Versetzenden in zwanzig Jahren abzutragen.
Zehntens: Zum Beschluß dieses Unsers Kaiserlichen den Mennoniten verliehenen Gnadenbriefes, durch welchen Wir ihnen ihre Rechte und Vorzüge allergnädigst zusichern, befehlen Wir allen Unsern Militär- und Civilvorgesetzten, wie auch Unsern Gerichtsbehörden, besagte Mennoniten und ihre Nachlommen nicht nur in dem ruhigen Besitze der ihnen zugehörigen Wohnungen und Ländereien und in der Benutzung derselben zu lassen, wie auch sie in dem Genusse der ihnen von Uns allergnädigst geschenkten Privilegien nicht zu stören, sondern ihnen vielmehr in allen Fällen alle Hülfe, Beistand und Schutz widerfahren zu lassen.
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*) An der Molotschna.
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481
Gegeben in der Stadt Gatschina, am sechsten September des Jahres nach Christi Geburt Eintausend achthundert, Unserer Regierung aber im Vierten und des Großmeisterthums im Zweiten.
Im Original von Seiner Kaiserlichen Majestät eigenhändig unterschrieben.
(L. S.) Paul.
Mit der Copie des Originals gleichlautend.
Graf von Rostopschin.
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482
Uebersicht der teutschen, bulgarischen und jüdischen Kolonien in den Gouvernements Ekatherinoslaw, Taurien, Cherson und der Provinz Bessarabien; vom Jahr 1826.
I. Ekatherinoslawsche Ansiedlung.
A. Im Ekatherinoslawschen Gouvernement
|
|
Seelen |
1) |
Im Nowo-Moskowischen Kreise. |
|
1a) |
Im Josephthalischen Gebiete: |
|
|
3 Kolonien: 2 Evangelisch und Katholisch |
726 |
|
1 Mennoniten |
142 |
2) |
Im Ekatherinoslawischen Kreis und Gebiete. |
|
|
1 Kolonie: Katholiken |
425 |
2a) |
Im Chortitzer-Mennoniten-Gebiete: |
|
|
16 Kolonien und |
|
3) |
Im Alexandrowskischen Kreise. |
|
3a) |
Im Alexandrowskischen Gebiete: |
|
|
1 Kolonie: Mennoniten, zusammen |
3992 |
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483
|
|
Seelen. |
3b) |
Im Mariopolschen Gebiete: |
|
|
17 Kolonien Preußen, |
|
|
1 Kolonie Badner: Evangel. und Kathol. |
2572 |
B. Im Chersonschen Gouvernement.
|
|
Seelen. |
1) |
Im Chersonschen Kreise. |
|
1a) |
Im schwedischen Gebiete: |
|
|
4 Kolonien: Evangelische und Katholiken |
604 |
|
8 Kolonien Hebräer und |
|
2) |
Im Eliasethgradschen Kreise. |
|
|
1 Kolonie Hebräer, zusammen |
6845 |
|
1 Kolonie Danziger Evangelische |
331 |
C. Im Taurischen Gouvernement.
|
|
Seelen. |
1) |
Im Kreise Melitopol. |
|
1a) |
Im Molotschner Mennoniten-Gebiete: |
|
|
39 Kolonien Mennoniten |
6269 |
1b) |
Im Molotschner-Kolonien-Gebiete: |
|
|
23 Kolonien Evangel. und Kathol. |
5806 |
1c) |
Im Berbjanschen Gebiete: |
|
|
3 Kolonien Würtemberger, Evangelische |
517 |
2) |
Im Kreise Simferopol. |
|
2a) |
Im Krimmschen Bezirk: |
|
|
5 Kolonien: Evangel. Reform. u. Kathol. |
|
|
1 Kolonie Griechen. |
|
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484
|
|
Seelen. |
3) |
Im Theodosischen Kreise. |
|
|
3 Kolonien Evangelisch, |
|
|
1 Kolonie Katholisch, |
|
|
2 Kolonien Griechisch-Russisch, |
|
|
1 Kolonie Evangelisch (Im Thal Otusy) |
|
|
In 12 Kolonien des Kreis-Bezirks |
2770 |
D. Im Tschernigowschen Gouvernement.
|
|
Seelen. |
|
Im Krolewetzkischen Distrikte |
|
|
2 Kolonien Mennoniten |
269 |
|
|
---------- |
|
Summe der Ekatherinoslawschen Ansiedlung: |
|
|
59 Kolonien Mennoniten |
10672 |
|
61 Kolonien Kolonisten |
12695 |
|
3 Kolonien Bulgaren und Griechen |
1056 |
|
9 Kolonien Hebräer |
6845 |
|
---------------- |
---------- |
|
132 Kolonien. |
31268 |
II. Odessaische Ansiedlung.
|
|
Seelen. |
1) |
Im Kreis Tirapol. |
|
1a) |
Im Liebenthalschen Gebietsamt: |
|
|
10 Kolonien: Evangel. und Katholische |
5700 |
1b) |
Im Kutschurganschen Gebiete: |
|
|
6 Kolonien: Evangel. und Katholische |
2657 |
1c) |
Im Glücksthalschen Gebiete: |
|
|
5 Kolonien: Evangel. und Katholische. |
3273 |
____
485
|
|
Seelen. |
1d) |
Im Bujalykschen Gebiete: |
|
|
4 Kolonien: Griechisch-Russisch |
3378 |
1e) |
Im Parkanschen Gebiete: |
|
|
2 Kolonien: Griechisch-Russisch |
1764 |
2) |
Im Chersonschen Kreise. |
|
2a) |
Im Beresanschen Gebiete: |
|
|
11 Kolonien: Evangel., Reform. u. Kathol. |
4354 |
|
1 Kolonie: Bulgaren, Griechisch-Russisch |
716 |
3) |
Im Olwiopolschen Kreise. |
|
|
2 Kolonien: Reform., Evangel. u. Kathol. |
936 |
|
Summe in der Odessaischen Ansiedlung: |
|
|
4 teutsche Kolonien |
16920 |
|
7 Bulgaren, Griechisch |
5860 |
|
------------- |
|
|
41 Kolonien. |
22780 |
III. Bessarabische Ansiedlung.
|
|
Seelen. |
|
Provinz Bessarabien. |
|
1) |
Im Akkhermannschen Zymuth oder Kreis. |
|
1a) |
Erster Bezirk: |
|
|
9 Kolonien: Evangel. und Katholisch |
4183 |
1b) |
Zweiter Bezirk: |
|
|
10 Kolonien: Evangelisch und Katholisch |
|
|
(worunter Sarata Evangelisch) |
4498 |
|
|
-------------- |
|
19 Kolonien. |
8681 |
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IV. Bulgaren. Ansiedlung der Donauschen Uebersiedler.
|
Provinz Bessarabien. |
|
1) |
Ismaelscher Kreis. |
|
|
|
Seelen. |
1a) |
Pruthsches Gebiet: |
|
|
11 Kolonien: Griechisch-Russisch |
5182 |
1b) |
Kagulskisches Gebiet: |
|
|
9 Kolonien: Griechisch- Russisch |
4652 |
1c) |
Ismaelsches Gebiet: |
|
|
13 Kolonien: Griechisch- Russisch |
8258 |
1d) |
Budschjakssches Gebiet: |
|
|
29 Kolonien: Griechisch- Russisch |
11148 |
|
Von 4 Kolonien ist die Anzahl noch nicht bekannt. |
|
|
|
---------- |
|
Summe in der Donauschen Ansiedlung |
29240 |
|
Im südlichen Rußland, in 254 Kolonien: |
91969 |
Neue Kolonien werden in Bessarabien von Donauschen Uebersiedlern gegründet, da im Jahr 1828 eine große Anzahl der alten sogenannten Zaporoger Kosaken (Zaporogztzi , oder jenseits der Wasserfälle wohnend — weil sie früher um die Katarakten des Dnjepers wohnten) — vom rechten, zum linken Donau-Ufer sich begeben und unter russischen Schutz gestellt haben.
Auch die teutschen Kolonien haben sich seit 1826 wieder mit mehrern Dörfern vermehrt.
Ueber hundert teutsche Kolonien befinden sich auch nördlich von Saratow an der Wolga, mit etwa 30,000 Seelen, schon seit mehr als 50 Jahren. Am nur einige Namen dieser
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487
Dörfer anzumerken, so finden sich da: Katharinenstadt, Nieder- und Ober Monjou, Beauregard, Susannenthal, Unterwalden, Zug, Luzern, Solothurn, Zürich, Basel, Glaris, Schaffhausen, Ernestinendorf, Boisroux, Cäsarsfeld und viele russische Namen. Bei den teutschen Kolonien am Dnjeper, Bug, um Odessa und in Bessarabien findet man fast alle Namen der Hauptstädte Teutschlands und auch mehrere Namen von Schlachtfeldern.
Ferner findet man an der Wolga nicht sehr weit von Astrachan, wo das kleine Flüßchen Sarpa in die Wolga fällt, in der Kalmüken-Steppe , die Herrnhuter- oder Brüdergemeinde Sarepta, welcher der jetzige Kaiser Nikolai ihre schönen Privilegien auf’s Neue bestätigt hat; in der Gegend des Kuban die teutschen Kolonien Karaß und Madschar, und über dem Kaukasus in Grusien sind die sieben würtembergischen Kolonien: Marienfeld, Petersdorf, Alexandersdorf, Elisabeththal, Katharinenfeld, Annafeld und Helenendorf. — Noch da und dort findet man in Rußland zerstreute teutsche Kolonien, mehrere auch im Königreich Polen, bei Warschau u. s. w.
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488
Vergleichung verschledener Benennungen der Gegenden, Flüsse, Gebirge und Ortschaften an den Ufern des schwarzen und Asowschen Meeres und dieser Meere selbst. *)
Alte Zeit, zum Theil bis zur Herrschaft der Byzantiner und Genuesen oder bis gegen das 16te Jahrhundert |
Unter der Herrschaft der Tataren und Türken. 16tes bis 18tes Jahrhundert |
Unter russischer Herrschaft. 18. und 19. Jahrhundert |
Pontus Euxinus. |
Kara denghis. |
Tscherno-more (schw. Meer.) |
Palus mäotis. |
Balik denghis (Frisch-Meer). |
Asowsches Meer. |
Byzes palus. |
Siwasch. |
Faules Meer. |
Kimmerischer Bosporus |
Bogas djenikalä. (Schlund, Neu-Festung.) |
Straße von Zabache. Schlund von St. Johann. |
Karkinitischer Bosporus. |
. . . . . . . . |
Meerenge bei Kinburn. Akmedschet-Limann. |
Propontis. |
Ak denghis (weißes Meer). |
Marmara-Meer. |
Thrakischer Bosporus. |
Bogas (Schlund) |
Kanal von Konstantinopel |
Hyrkanisches Meer. |
El heser denghis. |
Kaspischer See. |
Ister (Danubius). |
Tuna-sui. |
Donau. |
Poras. |
. . . . . . . . |
Pruth. |
Tyras. |
Turla-sui. |
Dnjester. |
Hypanis. |
. . . . . . . . |
Bug. |
Borysthenes. |
Özi-sui. |
Dnjeper. |
Pantikapes. |
. . . . . . . . |
Inguletz |
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*) Für die Großzahl der Leser dieses Buches bestimmt; für manche vielleicht überflüssig; für den Kritiker ungenügend.
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Thapsis. |
Salghir. |
Salghir. |
Gerrhus. |
Süt (Milchfluß). |
Molotschna. |
See Buges. |
. . . . . . . . |
Molotschna-See. |
Tanais. |
. . . . . . . . |
Don. |
Vardanus. |
Kuban. |
Kuban. |
Kyros. |
Kur. |
Kur. |
Rha. |
Bulga. |
Wolga. |
Rhymmus. |
Jaik. |
Uralfluß. |
Thrakien. |
Rum-Ili. |
Romelien. |
Ili. |
Bulgarei, Budschjak-Tartarei (Ektatarei). Jedissan. |
Jetzt zum Theil Bessarabien. Theil des Chersonschen Gouvernements. |
Pontisches Skytien. |
( Kaptschak. |
) Theile des Taurischen |
Land der Mäoten. |
( Wüste Ongul |
) und Ekatherinos- |
Land der Jazygen. |
( Kleine Tatarei |
) lawischen Gouverne- |
|
( Steppe der Nogayen. |
) ments. |
Taurischer Chersonesus. |
Krimm. |
Halbinsel Krimm; süd- licher Theil des Tau- rischen Gouvernem. |
Trapezius. |
. . . . . . . . . |
Dschader-Dagh. |
Zenonis Chersonesus |
Zeniske. Djüngste (die Dünne). |
Landzunge Arabat. Tonke. |
Kaukasos |
Kaff-Dagh. |
Kaukasus. |
Iberia. |
. . . . . . . . . |
Grusien. |
Media und Persis. |
Argemistan. |
Iran (West-Persien). |
Asia propria. |
Anadolie. |
Anadoli (westliches Kleinasien). |
Byzantium. |
Istambul. |
Konstantinopel. |
Odyssus. |
Kojabey oder Gadjibei. |
Odessa. |
Taphrä. |
Orkapu (goldene Thüre). |
Perekop, auch Morekop. |
|
Ak-Medsched (Weiß-Moschee, Bethaus). |
Simferopol. |
Eupatoria. |
Kiöslew |
Koslow, auch Ewpatorisk. |
Chersonesus. |
Achtjar (die Alte). |
Sewastopol |
|
Baghdschi sarai (Gartenhaus, Gartenpalast) |
Baghdschisarai. |
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|
Karasubasar. (Schwarz-Wasser-Markt.) |
Karasubasar. |
Athenaeum (später Sugdaja). |
Sudagh (Wasserberg). |
Asimei. |
Theodosia (später Kapha). |
Djarem Stambul (halb Konstantimopel) auch Kafa oder Kefae. |
Feodosia. |
Panticapæum, auch Bosporus. |
Ghieritsch. |
Kertsch, auch Wosfor. |
Parthenium. |
Djeni-Kalä (Neuenburg, Neufestung). |
Jenikale. |
Korokondame. |
Taman. |
Tmutarakan (Halbinsel). |
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491
Verzeichniß — der in der Charte von dem Gebiete der angesiedelten Nogayen-Tataren und angränzenden Ländern vorkommenden Kolonien.
A. Gebiet der Nogayen-Tataren.
a) Aus der Horde Jedissan. Vermischung mit Bulgaren.
1) Ak-kehrman. 2) Ober- oder Djogarra-Burkud. 3) Nieder- oder Dömenge-Burkud. 4) Bauerdak. 5) Issibe I. 6) Jedenochta I. 7) Jedenochta II. 8) Karru-Keneges, auch Karreruga. 9) Tulga. 10) Tetlu-Kulak-Nokus, auch Djüman-Nokus. 11) Djansur-Keneges, auch Djansogur. 12) Maitogai-Nokus. 13) Issibe II. 14) Diantrün-Keneges. 15) Tasch-Keneges. 16) Tüsge-Keneges. 17) Emir-Keneges. 18) Topal-Keneges. 19) Ikon Sasseg-Togan. 20) G’sgenä Sasseg-Togan. 21) Alschin-Bodai. 22) Schaukai. 23) Maschkir. 24) Kahatsch II. oder Kahatsch-Mussalo. 25) Kahatsch I. oder Sultan Mürat. 26) Kakbasch. 27) Tscheklu. 28) Quike. 29) Beschaul,
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492
30) Keneges II. auch Robotai-Aul. 31) Temergodscha. 32) Emant (wo der Unter-Mufti). 33) Kischlik. 34) Bodai. 35) Kolatamgale. 36) Alschin (mit Gebietsamt). 37) Aküe (mit Gebietsamt).
b) Aus der Horde Jediskul. Vermischung mit kaukasischen Völkern.
38) Atamgalu (mit Gebietsamt). 39) Ati aul. 40) Kasch Oglu. 41) Kauschegalu. 42) Bodran. 43) Schonschelu. 44) Durtamgalu. 45) Name unbelannt. 46) Kotur-Ohglu.
c) Von der Horde Djembuiluk oder Dschambuiluk. Vermischung mit Kalmüken.
47) Togalu (mit Gebietsamt), 48) Karakursak. 49) Kandausdschu. 50) Kangurbasch. 51) Bellai-Uermek. 52) Sarailu. 53) Kolonda Dscheklu. 54) Araklu I. 55) Kanglera. 56) Araklu I. 57) Ikon Beschkeklu. 58) G’sgenä Beschkeklu. 59) Aklekodscha, auch Asligdschi. 60) Orman, auch Ormandschi. 61) Sassukan. 62) Sarler. 63) Asangodscha. 64) Asilchodscha. 65) Begg-Burdschi. 66) Arschin.
67) Nogayzg oder Djalangadsch, Hauptort des Gebiets, von Tataren, Armeniern und Russen bewohnt.
Auf der rechten Seite der Molotschna sind noch die Tatarendörfer: Schagaltai, Karadsche, Tschomat, Zerbulu, Borasch, As-birde, Omar, Kaschudar, Akus.
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493
Bäche befinden sich an und im Gebiete der Nogayen:
Die Molotschna , tatarisch Süt- oder Milchfluß.
Die Abitodschna oder Djalangatsch.
Die Judschanlu.
Die Kiltedsche.
Die Berda.
Ausgetrocknete Bäche oder Schluchten, auch Ritschgen genannt: Dschekeulu, Tetlu-Kulak, Donghslu, Apanlu I. Apanlu II. Adsche, Mintschagai, Tschokrak, Donghslu-Nekoi, Arap und Tlagluglak.
B. Namen der Dörfer in dem Gebiete der Mennoniten.
1) Halbstadt (mit Gebietsamt). 2) Petershagen (mit Bethaus). 3) Ladekop. 4) Fürstenau. 5) Schönsee, 6) Liebenau. 7) Wernersdorf. 8) Felsenthal. 9) Montau. 10) Tiegenhagen. 11) Schönau. 12) Fischau. 13) Lindenau. 14) Lichtenau (mit Bethaus). 15) Blumenstein. 16) Münsterberg. 17) Altenau auch Altona genannt. 18) Ohrlof (mit Bethaus und Freischule). 19) Tiege. 20) Blumenort. 21) Rosenort. 22) Tiegerweide. 23) Rückenau. 24) Fürstenwerder. 25) Alexanderwohl (mit Bethaus). 26) Gnadenheim. 27) Friedensdorf. 28) Morgenau. 29) Lichtfeld. 30) Neukirch. 31) Prangenau. 32) Steinbach. 33) Elisabeththal. 34) Alexanderthal. 35) Schordau. 36) Pordenau. 37) Marienthal. 38) Rudnerweid (mit Bethaus). 39) Großweid. 40) Paßtwa. 41) Franzthal.
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494
Im Jahr 1828 sind noch einige neue Kolonien angesiedelt worden, unter andern ein Dorf von den sogenannten Huttenschen Brüdern, eine Art Herrnhuter, die früher in Siebenbürgen gewohnt, dann in’s Innere von Rußland gezogen, früher Güter-Gemeinschaft hatten, von den Russen Wodschinken genannt werden. Sie tragen die meisten lange Bärte und werden den Mennoniten beigezählt.
Dann findet man noch einzelne Kuter oder Wirthschaftsgebäude, Schäfereien, Branntweinschenken an den Tschumalen oder Karavanenstraßen, worunter die zu den drei Rosen.
Dörfer im Gebiete der kurzweg sogenannten teutschen Kolonien am rechten Ufer der Molotschna.
C. Reformiert, lutherisch und katholisch.
1) Prischep oder Molotschna (Hauptort mit Gebietsamt und Kirche). 2) Heidelberg (mit katholischer Kapelle). 3) Hoffenthal. 4). Alt-Nassau. 5) Weinau. 6) Durlach. 7) Karlsruh. 8) Reichenfeld. 9) Kostheim. 10) Leitershausen. 11) Wasserau. 12) Neu-Nassau. 13) Hochstädt. (mit Pfarrhaus — die Kirche soll jetzt erbaut werden). 14) Friedensfeld. 15) Rosenthal, 16) Neu-Monthal. 17) Grünenthal. 18) Blumenthal. 19) Tiefenbrunn. 20) Walldorf. 21) Alt-Monthal. 22) Neudorf. 23) Kronthal.
Dann noch Gemeinde-Schäferei und eine schöne Plantage, Baumschule oder Garten an der Molotschna, für die Verbesserung der Baumzucht in den Kolonien angelegt.
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495
Prischep, Name des Hauptorts, heißt Raubnest, was es in früherer Zeit gewesen sein soll.
D. Duchoborzen-Kolonien.
1) Bogdanowka. 2) Troyezky. 3) Terpeni. 4) Tambowka. 5) Radowonowfa. 6) Ochrinowka I. u. II. 7) Hawrilowka I. 8) Hawrilowka II. 9) Wasilowka.
E. Dörfer der Malokaner.
1) Nowa Wasilowka. 2) Nowa Astrachansky. 3) (Unbekannter Name) im Jahr 1828 angesiedelt.
F. Dörfer der würtembergischen Kolonisten oder sogenannten Separatisten.
4) Neuhoffnungsthal. 2) Rosenfeld. 3) Neuhoffnung.
G. Land des Grafen Mordwinow, mit Dorf dieses Namens, von Russen bewohnt.
H. Ländereien des General Popow. Mit Kuters.
I. Land des Grafen Orlow-Denisow. Landzunge Vissarionowa.
K. Land der Krone, zum Fischfang verpachtet. Landzunge Berdinskaya.
L. Malorussianer — Alt-russisch-griechisch.
1) Zemenowka. 2) Nowa Alexandrowka. 3) Das Edeldorf Apolonsky (Besitzer). 4) Tarnabarsky. 5) Besruk. 6) (Name unbekannt) ebenfalls Edeldorf.
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Das russische Städtchen Takmak besitzt ein Stück Land an dem linken Ufer des Talmakbaches im Gebiete der Mennoniten.
Das Flüßchen Tschinhul, welches in die Molotschna fällt, wird auch die Kurkulak genannt.
Die Kurujudschanlu im Gebiete der Mennoniten hat oft bedeutend viel Wasser; im Jahr 1828 wurde das erstemal auf selbem mit einem Kahn herumgefahren.
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Bemerkung: Die Charte ist von dem Verfasser selbst, nach guten Quellen, über die aber hier keine Rechenschaft gegeben werden kann, entworfen worden.
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Gedruckt bei Wegelin und Rätzer in St. Gallen.
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Charte: Gebiet der Angesiedelten Nogaÿen-Tataren am Asowschen Meere nebst den angrenzenden Ländern und teutschen Colonien 1829.
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Berichtigungen. Zusätze.
Die angegebenen Berichtigungen wurden in den Text eingearbeitet.
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Gedruckt bei Wegelin und Rätzer in St. Gallen.
Quelle:
Das Buch ist als Digitalisat (einschließlich der Karte auf Seite 297) über die Zentralbibliothek Zürich (e-rara.ch) unter folgendem Link zugänglich:
https://doi.org/10.3931/e-rara-25039
Die Planerkolonien am Asowschen Meere
Schriften des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart
A: Kulturhistorische Reihe / Band 22
Herausgegeben im Auftrag des Wissenschaftlichen Beirats
von Geh. R. Professor Dr. Walther Goetz - Leipzig. Geh. R. Professor Dr. Karl Sapper - Würzburg, Professor Dr. Paul Traeger - Berlin, Professor Dr. Carl Uhlig – Tübingen und Geh. R. Professor Dr. Wilhelm Volz - Leipzig
Die Planerkolonien am Asowschen Meere
von Dr. Joseph Aloys Malinowsky
Direktor des Akademikerheims in Freiburg im Uchtland (Schweiz)
Mit einer Kartenbeilage und einem Plan im Text
Stuttgart 1928
Ausland und Heimat Verlags-Aktiengesellschaft
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Alle Rechte vorbehalten.
Druck von H Laupp jr in Tübingen.
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Inhalt.
Seite
Übersicht über die benützten Quellen . . . 5
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. Abschnitt. Siedlungsland . . . . 11
1. Landesnatur. . . . . . . . . . . . 11
2. Bevölkerung . . . . . . . . . . .13
II. Abschnitt. Ansiedler. . . . . 20
1. Russische Angebote . . . . . 20
2. Auswanderung . . . . . . . . . . 25
3. Ansiedlung . . . . . . . . . . . . . 33
III. Abschnitt. Siedlerleben . . . . . 42
1. Wirtschaftliche Entwicklung . . . 42
2. Rechtliche Stellung . . . . . . . . . . 50
3. Religiöses Leben . . . . . . . . . . . . 57
Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Die Nöte der jüngsten Zeit . . . . 69
Anhang I. Russische Maße, Gewichte, Hohlmaße und Münzen, mit deutschen verglichen. . . . . . . . 76
Anhang II. Die Planersage . . . . . . . 77
Anhang III. Memorandum des Ministers des Innern, bestätigt von Alexander I. . . 80
Anhang IV. Zirkularaufforderung des Fürsorge-Komitees . . . 85.
Anhang V. Tabellen.
I. Die älteren deutschen Kolonien im Kreise Mariupol . . . . . 88
II. Tochterkolonien mit eigenem Land aus dem Mariupoler Kolonistenbezirk . . . 90
III. Deutsche Siedlungen dreier Kreise des Taurischen Gouvernements . . . 93
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Übersicht über die benützten Quellen.
A, Ungedrucktes Material,
Als Hauptquellen kamen in Betracht:
I. Die ungedruckten Akten des Fürsorge-Komitees für ausländische Ansiedler aus dem Archiv des Odessaer (früher Jekaterinoslawer) Generalgouvernement vom Jahre 1848 über die Kolonien des Mariupoler Kreises, die der sogenannten „Planer“ 1), namentlich aber der Katholiken unter ihnen. Diese Akten, die 1927 von mir veröffentlicht wurden (39), betreffen: a) Auswanderung und Abstammung, b) Ort und Zeit der Ansiedlung, c) Ursprung des Namens der Niederlassung, d) Landmenge, e) wirtschaftliche Entwickelung der Kolonisten, f) verschiedene Notizen: Epidemien, Erdbeben usw. Auf Verlangen des Staatsrates Eugen von Hahn, des Präsidenten des Fürsorge-Komitees für die ausländischen Ansiedler im südlichen Rußland, mußten die Gebiets- und Dorfbehörden über diese Punkte Auskunft geben und ihre Berichte dem „Comptoir” in Odessa zuschicken.
II. Ferner benützte ich mannigfaches ungedrucktes Material vom „Verband südrussischer Kolonisten und Bürger“, Kreis Mariupol, Donsches (früher Jekaterinoslawer) Gouvernement, Ukraina, vom Jahr 1922 mit Angaben über: a) Einwohnerzahl, b) Landbesitz früher und jetzt, c) Bestand der Mobilien und Immobilen, d) Mangel an Lebensmitteln, Aussaat, Kleidern usw. Sie wurden auf Wunsch von Johann Lamboy, dem Deputierten des „Katholischen Hilfswerkes für die Kolonisten des Schwarzen und Asowschen Meergebiets” in Berlin, im Jahre 1922 zusammengestellt und geben ein klares Bild des Ruins der Kolonisten durch den Krieg und die Revolution.
III. Die Fragebogen, die ich im Jahre 1914 an alle Geistlichen, Lehrer und Schreiber ohne Unterschied des Glaubens der betreffenden Gebiete versandte. Nur die Nichtkatholiken beantworteten die Fragebogen nicht.
IV. Das rohe, fast noch unberührte Material der Diözesan- und Pfarrarchive und die in der russischen Reichsgesetzsammlung zerstreuten Erlasse der Regierung konnten infolge des hereinbrechenden Krieges und der ihm folgenden Revolution nur unvollkommen verwertet werden, da fast alle archivalischen Schätze entweder verschlossen oder als Opfer des Umsturzes vernichtet wurden.
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1) Siehe Abschnitt II, 3.
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B. Gedruckte Werke.
1. Augerii Cislini Busbequii, Legationis Turc. Epistolae quattuor. Monaci 1620.
2. Baßler, T., Das Deutschtum in Rußland. München 1911.
3. Batton, A., Wilhelm von Rubruck (Franziskanische Studien, Beiheft 6). Münster i. Westfalen 1921.
4. Böhme, Franz Magnus, Deutsches Kinderlied und Kinderspiel. Leipzig 1897.
5. Beratz, Gottlieb, Die deutschen Kolonien an der untern Wolga, Saratow 1915.
6. Bilbassow, B. V., Istoria Ekateriny II. St. Petersburg 1890.
7. Bonmariage, A., La Russie et l’Europe. Bruxelles-Paris 1903.
8. Bonwetsch, G., Geschichte der deutschen Kolonien an der Wolga. Stuttgart 1919.
9. Braun, F., Die letzten Schicksale der Krimgoten, St. Petersburg 1890.
10. Brun, F., Czernomorskie Goty i sledy ich dolgago prebywaniaw juschnoj Rossij (Sapiski Imperatorskoj Akademii Nauk, XXIV). St. Petersburg 1874 (= Die Goten am Schwarzen Meer und die Spuren ihres langen Aufenthaltes im Süden Rußlands (Annalen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, XXIV).
11. Buhmann, A, Evangelisch-separierte Gemeinden, Südrußland. Neuhalbstadt (Rußland) 1906.
12. Castres, le Comte de, Relation d’un voyage sur le bord septentrional de la mer d’Azof en Crimée. Paris 1826.
13. Deutsche Monatsschrist 1/XI, 1912.
14. Deutsche Post aus dem Osten, herausgeg. von Ed. Schmid. Berlin 1922.
15. Deutsche Rundschau, herausgeg. von einer kath. Fidesgesellsch. Odessa 1911.
16. Deutsche Zeitung, Bessarabien 1921.
17. Duckmeyer, Die Deutschen in Rußland. Berlin 1916.
18. Ebert, Max, Südrußland im Altertum, Bonn und Leipzig 1921.
19. Eiffe, Carl Cesar, Zwei Millionen Deutsche. München 1915.
20. Freytag=Loringhoven, Frhr. v., Geschichte der russischen Revolution. München 1919.
21. Geheimarchiv, Berlin, Minister. Inn. (Vol. 4, Acta generalia 1812, 706).
22. Grimm, I, Deutsche Mythologie. Göttingen 1854.
23. Herodot IV.
24. Hettiner, A., Rußland, eine geographische Betrachtung von Volk, Staat und Kultur. Berlin-Leipzig 1921.
25. Hoops, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Stuttgart. Hierin: Much, Krimgoten, Bd. III (1915—16).
26. Hrušewskyi, M, Geschichte des Ukrainischen (Ruthenischen) Volkes I. Leipzig 1906.
27. Hylkema, T. O., De geschiedenis van de Doopsgezinde Gemeenten in Russland in de oorlogs- en revolutiejaaren 1914 tot 1920. Vlissingen (Nederland) 1921.
28. Jordanis Getica, Monum. Germ. Auct. antiqu. V.
29. Karamsin, M., Rossijskaja Istoria, Moskwa 1842.
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7
30. Keller, K., Die deutschen Kolonien in Südrußland. Odessa I (1905), II (1914).
31. Klaus, A., Naschi kolonii... istoria inostrannych kolonisazii. St. Petersburg 1869. (= Unsere Kolonien... Geschichte der ausländischen Kolonisation.)
32. Kleinschmidt, U, Katharina als Civilisatorin (Deutsche Zeit- und Streitfrage, Jahrg. V H. 65-80). Hamburg 1891.
33. Klemens, Wochenschrist. Saratow 1899. Jahrg. VI. Herausgeg. von Prälat J. Kruschinsky (Art. Hieronymus anonym = J. Kruschinsky), Die Jesuiten in Rußland.
34. Koeppen, P. v., Landesverhältnisse zwischen dem Dnjepr und dem Asowschen Meer. St. Petersburg 1845.
35. — —, Ueber die Deutschen im Petersburgischen Gouvernement. St. Petersburg 1855.
36. Kunik, A., O sapiske gotskago toparcha (Sapiski Imperatorskoj Akademii Nauk XXIV). St. Petersburg 1874.
37. Kupczanko, G., Rußland in Zahlen. Leipzig 1902.
38. Lerner, Nemezkija kolonij w Noworossij. (Wiedomosti Odesskago Gradonaczalnika, osen 1903 cz. 1. S. 3. Is archiwa bywschago Nowoross. Gradonaczalnika.) (= Die deutsche Kolonien in Neu-Rußland. Nachrichten des Odessaer Stadthauptmanns, Herbst 1903, I. T. 3. Aus dem Archiv des gewesenen Stadthauptmannes von Neurußland.)
38a. Lindeman, Karl, Von den deutschen Kolonisten in Rußland. Stuttgart 1924.
39. Malinowsky, J. A, Die deutschen katholischen Kolonien am Schwarzen Meer. Stuttgart 1927.
40. Mariupol i jego okrestnosti. Otczet ob uczebnych ekskursiach Mariupolskoj Alexandrowskoj Gymnasii, Mariupol 1892 (= Mariupol und seine Umgegend. Bericht über den Schulausflug des Mariupoler Alexander Gymnasiums.)
41. Matrod, H., Le voyage de frère Guillaume de Rubruck (Etudes Françiscaines XIX, XX). Paris 1908.
42. Monumenta Germ. Auct. ant. V.
43. MS. Germ. Fol. 1242 (Berlin. Bibliothet acc. ms. 1909, 340).
44. Naschiwin, J., Sapiski o revolutii, Wena 1921.
45. Nowoje Wremja. Petersburg 1914 (= Die Neue Zeit).
46. Ostdeutsche Monatshefte. Berlin, März 1925.
47. Pallas, P. S., Reisen im Russischen Reich. Leipzig 1803, Bde. I, II.
48. Paulys (Wissowa), Realencyklopädie, Stuttgart (Art. Graef, Amazones, Bd. I (1894), S. 1754 ff. (Tomaschek, Bulgaren, Bd. III, 1040), (Kießling, Hunni, Bd. VIII (1913), S. 2584.
49. Pissarewsky, Grigorij, Is inostrannoj kolonisazii w Rossij w XVIII. weke (Po neisdannym archiwnym dokumentam) Doppeltitel. Grègoire Bissarewsky, Recherches sur l’histoire de la colonisation étrangère en Russie au XVIIl-e siècle (D’après documents inèdits). Moskwa 1909.
50. Rudnickyi, Step, Ukraina I (1910), II (1914) (ukrainisch) Lemberg-Kiew.
51. Schilder, R. K, Imperator Alexander I. St. Petersburg 1905.
52. Schlesische Zeitung 1918, 20/IV.
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53. Schmid, Ed., Die deutschen Kolonien im Schwarzenmeergebiet Südrusslands. Berlin 1919.
54. Schmid-Frankfurt a. O., Die deutschen Bauern in Südrußland. Berlin 1917.
55. Schnell, St. Nicolaus, der hl. Bischof und Kinderfreund. Brünn 1883 bis 1885,
56. Schrader-Kehring, Reallexikon der indg. Altertumskunde I, 586 und Zeit und Kultur der Indg., 404 f.
57. Sestrenzewicz-Bogusch, Istoria o Tawrii. I. (St. Petersburg 1806.)
58. Ségur, Le comte de, Mémoires ou souvenirs et anecdotes. Paris 1826,
59. Solowjew, Istoria Rossii, VI. kniga, t. 28.
60. Skalkowsky, Apol., Chronologiczeskoje obosrenie istorii Noworossijskago kraja s 1730-1823 goda. Odessa 1838 (= Chronologische Uebersicht der Geschichte von Neu-Rußland).
61. Stach, J. u. Dr. K. Ott, Jahrbuch des „Landwirt“-Kalender f. d. deutschen Landwirte Rußlands f. d. Jahr 1914. Eugenfeld (Rußland).
62. Stumpp, R., Die deutschen Kolonien im Schwarzenmeergebiet, dem früheren Neu-(Südrußland). Stuttgart 1922.
63. Tott, baron de, Mémoires sur les Tures . . . Amsterdam 1784,
64. Travels to Tana and Persia by Josafa Barbaro and Ambrogio Contarini. Translated from the italian by William Thomas. London 1873.
65. Unterhaltungsblatt f. d. deutschen Ansiedler im südlichen Rußland. 1846 ff., Odessa, Stadtbibliothek, Abt. II. 89.
66. Voyages autour du monde en Tartarie et en Chine, Voyage de Guillaume de Rubruquis 1253 (trad. par. Bergeron). Paris 1830.
67. Wais, Ks. K., Kosmologia ogólna. Kraków-Lwów 1910, cz. I.
68. Weil, G., TausendundeineNacht. Bern 1897.
69. Wuesing, Geschichte des deutschen Volkes bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin 1821.
70. Zakon Polnoje Sobranie Sakonow Rossiekoj Imperii isdan., Petersburg. 1857 goda (Tom XII, XVII . . . u. a.). Ustaw o koloniach inostrannych. (= Gesetz. Vollständige Russische Reichsgesetzessammlung, herausgeg. in Petersburg 1857, Bde. XII., XVI u. a.). Reglement über die ausländischen Kolonien,
71. Zottmann, Al., Franz Xaver Zottmann, Bischof von Tiraspol, München 1904.
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Vorwort.
Die ausländische Kolonisation in Rußland und ihre Geschichte ist noch wenig bearbeitet worden. Von den Planerkolonien weiß man noch soviel wie nichts. Während im Odessaer Wirtschaftskalender im Jahre 1914 einige Dokumente zur Geschichte der evangelischen Kolonisten am Asowischen Meer erschienen sind, ist über die dortigen Katholiken noch gar nichts veröffentlicht worden. Die folgenden Blätter wollen diese Lücke ausfüllen und behandeln die Planerkolonien am Asowschen Meere, unter besonderer Berücksichtigung der Katholiken.
Die wichtigsten Urkunden für die vorliegende Arbeit wurden erst nach vielen mühevollen Umwegen in dunklem, feuchtem Keller unter den bereits dem Untergange geweihten Akten aufgefunden. Für die letzten Jahrzehnte vor allem gilt die eigene auf persönliche Erfahrung gegründete Anschauung.
Der Verfasser beklagte den Verlust des größten Teiles seiner Materialsammlung, als da sind Erzählungen und Berichte der ältesten Ansiedler, ihre Erlebnisse, Notizen aus den Archiven, Auszüge aus russischen Quellenwerken, manch Wertvolles vom Mariupoler Landschaftsamt. Das alles wurde ein Opfer der Revolution; und ihm selbst gelang es nur mit knapper Not sein Leben zu retten. Wenn deshalb in dieser Arbeit noch manche Lücken klaffen, so ist das sicher zu bedauern. Aber der Verfasser weiß, daß sie nicht mehr auszufüllen sind; denn das beste Material hat die Revolution unwiederbringlich vernichtet.
Die an zweiter Stelle für unsere Arbeit in Betracht kommenden Druckwerke habe ich in alphabetischer Reihenfolge im Literaturverzeichnis zusammengestellt.
Zum Schluß erachte ich es als Dankespflicht, dem Hochwürdigsten Herrn Prälaten Josef Kruschinsky und dem Hochwürdigen Herrn Pfarrer
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Conrad Keller, beide in Rußland, die mir wertvolles Material zustellten, den geziemenden Dank auszusprechen. Besondern Dank schulde ich den Herrn Professoren Dr. Josef Nadler an der Universität Königsberg und Dr. Gustav Schnürer an der Universität Freiburg (Schweiz), die während der Arbeit mir hilfreich zur Seite standen, ebenso Herrn Professor Dr. Carl Uhlig in Tübingen, der mich bei der Drucklegung der vorliegenden Arbeit mit Rat und Tat unterstützte.
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I. Das Siedlungsland.
1. Landesnatur.
Der weite Raum zwischen dem unteren Dnjestr und Don wird gewöhnlich die südrussische Steppe genannt. Bei dieser Bezeichnung darf man keineswegs an Unfruchtbarkeit denken. Vielmehr findet sie hier in weiter Verbreitung die überaus fruchtbare Schwarzerde. Sie ist am besten für Weizen geeignet, aber auch Gerste, Roggen, Hafer, Mais, Hirse gedeihen sehr gut, während der Boden für Kartoffeln weniger günstig ist. Die Schwarzerde besitzt eine geradezu staunenswerte Fruchtbarkeit, auch wenn sie nicht gedüngt wird. Falls ein schneereicher Winter vorausgeht oder hinreichend Regen eintritt, Iiefert sie unfehlbar eine reichliche Ernte. Doch läßt sich auch hier die Ertragsfähigkeit des Bodens durch gute Bearbeitung noch erhöhen.
Das Klima (40, 45) 2) ist im Winter sehr rauh, im Sommer dagegen sehr trocken und heiß. Die Nähe des Meeres wirkt jedoch ein wenig mildernd, so daß eine Kälte von mehr als 24° C selten ist. Der Frühling beginnt gewöhnlich schon anfangs März. Die „Märzenglöcklein” (Anemonen) in den Tälern künden ihn an. Aber in der Regel wird das junge Grün noch durch Frost und heftige kalte Winde im Wachstum behindert, bis im April die Sonne sommerwarm scheint und keine Fröste mehr zu befürchten sind. Scharen von Störchen, Kranichen, wilden Enten, Gänsen und vielen anderen Zugvögeln zeigen dann allüberall den endgültigen Sieg des Frühlings an. Während der ersten Hälfte des Mai sind Wiesen und Felder mit wilden Tulpen(Tulipa biflora und sylvestris), Butterblumen, Wicken usw. besät und die von den Planern sehr gepflegten Blumengärtchen prangen in vollem Schmucke. Die zweite Hälfte dieses Monats bringt meist schon drückende Hitze. Ende Mai ist die entscheidende Zeit für den Bauern. Wenn es dann genügend regnet, fällt die Ernte sicherlich gut aus. Im Juli pflegt die Hitze bis auf 38° C zu steigen; in Mariupol kommt sie trotz der Lage
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2) Von den in Klammern gesetzten Zahlen gibt die erste den Hinweis auf die Nummer des Literaturverzeichnisses, Seite 6 ff., die letzte den auf die Seitenzahl des Werkes; beim Zitieren des ungedruckten Materials jedoch geben die Zahlen Seite und Seitenabschnitt des vorliegenden Buches an.
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am Meere zuweilen bis auf 45° und mehr (40, 59). Der Herbst ist in Südrußland die angenehmste Jahreszeit. Bringt auch der September zuweilen heftige Stürme mit Regenschauern und trüben Nebeln, so ist doch dafür der Oktober gewöhnlich lind und sonnenklar. Alljährlich treten Ende Oktober oder Anfang November 6-8 prächtig warme, sonnige Tage auf, die man wie in Deutschland Altweibersommer oder Großmuttersommer nennt. Der Winter, dessen plötzlicher Beginn im Lauf des Novembers erfolgt, ist sehr launenhaft. Ganz unvermittelte Übergänge von + 10° zu - 10° in einer Nacht sind keine Seltenheit. Die Monatsmitteltemperaturen in °C für Mariupol sind vom Januar bis Dezember: -4,8, -2,7, 4,4, 10,9, 15,1, 18,8, 21,1, 18,1, 11,7, 5,7, -0,2, -5,1. Danach betragen die Mittelwerte des Winters -4,8, des Frühjahrs 10,1, des Sommers 19,3 des Herbstes 5,7 und das Jahresmittel 7,6° (40, 56). Das bedeutet im allgemeinen ein maßvoll kontinentales Klima. Es gab Jahre, wo das Vieh den ganzen Winter über auf die Weide ging, so z.B. 1806 und 1807. Dann aber kam es auch vor, daß das Vieh im Stalle erfroren ist, so z.B. 1812, 1814 und 1825 (39,9).
Südrußland ist reich an Wind (40, 61). Der Nordwind ist im Sommer seiner Kühlung wegen sehr beliebt, und ebenso gefürchtet im Winter. Schlimmer wirkt dann noch der Nordostwind, der, mit Schneegestöber verbunden, Schneeschanzen aufhäuft, die die Häuser überragen. Es ist vorgekommen, daß der Hausherr des Morgens zum Schornsteinloch herausklettern mußte, so z. B. in Göttland. Der Westwind ist im Winter ziemlich gelind, im Sommer mehr feucht. In einzelnen Fällen hat er aber Sturm im Gefolge. Der Südwind zeichnet sich im Frühling durch angenehme Wärme aus; im Herbst begleiten ihn Nebelwolken. Der Ostwind ist nicht sehr heftig und bringt im Frühling und Sommer oft Regen, im Winter aber Glatteis.
Die mittleren monatlichen Niederschlagsmengen in Millimeter in Jekaterinoslaw sind: 23, 25, 39, 42, 46, 58, 50, 53, 26, 30, 51, 33, also beträgt die Jahressumme 475 mm (62, 11). Danach ist das Land durchaus nicht niederschlagsreich. Immerhin genügt die Menge meist. Ein bis zwei gründliche Regen im April und Mai gewährleisten fast eine gute Ernte. Schnee fällt nur wenig und bleibt selten länger als 1 bis 2 Wochen liegen. Das bedingt wohl die tiefe Lage des Grundwasserspiegels, zugleich die Tiefe der Brunnen (34, 65).
Wir haben in Südrußland das bezeichnende russische Landschaftsbild vor uns: die große Ebene, von Wasserläufen durchzogen, fast baum- und strauchlos. Eine gewisse Melancholie liegt zu allen Jahreszeiten über dem Lande; aber sie hat ihren eigenen Reiz und prägt sich auch
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in den schönen schwermütigen Weisen der ukrainischen Lieder aus. Die Schönheit des Sonnenunterganges z. B. ist einzig.
Ursprüngliche Wälder fehlen dem Land; aber in den letzten Jahrzehnten sind kleine Wälder angepflanzt worden.
Hin und wieder sieht man gewaltige hohe Erdhügel (russisch: Kurgany). Sie stammen aus der skythischen Zeit (39,18 und 40, 377). Natürliche Bodenerhebungen sind echt selten. Aber hie und da trifft man doch auf 50 bis 100 m hohe Hügel aus anstehendem Gestein. Sie sind z. B. bezeichnend für die Gegend von Großwerder, wo sie Gami-Oba genannt werden (61, 171); einer von ihnen, an den sich die Planersage knüpft (vgl. Anhang II.), bedeckt 217 Deßjatinen (39, 18). In den dortigen Brüchen werden die Steine zum Bau der Fundamente der Häuser gewonnen, auch werden Dreschsteine hergestellt.
Das Land wird von großen und meist flachufrigen Flüssen durchzogen, die alle von Nord nach Süd fließen und in das Asowische Meer münden. Zwischen dem Don mit seinem breiten Delta und dem Dnjepr, der von Kiew bis Jekaterinoslaw und von Alexandrowsk bis zum Schwarzen Meer schiffbar ist, sind mehrere kleine Flüsse zu nennen: der fischreiche Kalmius, früher Kalka genannt, wo die Polowzer (1224) von den Türken geschlagen wurden, die Krinka, an deren Mündung Taganrog, die heute bedeutendste Hafenstadt liegt, die kleinere Berdjanka, nach der Berdjansk seinen Namen trägt, und endlich die Molotschna (Moloko = Milch), so benannt nach ihrem milchigen Wasser.
Das Gebiet, mit dem wir uns im folgenden vornehmlich zu beschäftigen haben, liegt zwischen Kalmius und Molotschna und umfaßt in erster Linie das Hinterland der Hafenstädte Mariupol und Berdjansk.
Die flache Küste wird bespült vom Asowischen Meere, das in den heißesten Sommertagen während des sogenannten Meerblühens (zwetenie morja) ein einzigartiges Farbenbild bietet und Tausende von Neugierigen anlockt. In seiner hellgrünen Färbung sticht dann das Asowische Meer, die Palus Maeotis der Alten, sehr stark gegen die dunklen Töne des eigentlichen Schwarzen Meeres ab, was ihm im Mittelalter den Namen Weißes Meer eingetragen hat (40, 326). Seine jetzige Bezeichnung trägt es nach der an der Mündung des Don liegenden Stadt Asow, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wichtigste Handelstadt hier war.
2. Bevölkerung.
Schon die ältesten geschichtlichen Erinnerungen zeigen, daß immer wieder Nomaden von Osten her durch das große Völkertor zwischen dem
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Ural und dem Kaspischen Meer nach Westen vordrangen, und die zuletzt vor ihnen ansässigen Völker unterjochten oder verjagten.
Von den Meeresküsten her wirkten andere Einflüsse, mehr kultureller Art. Schon die Phönizier besuchten die Ufer des Asowischen Meeres, an denen sie Edelmetalle sowie Blei, Zink und Bernstein, ferner die schmackhaften Fische der Maeotis und des Tanais samt ihrem Kaviar Ikra einhandelten. Auch die Griechen machten sich hier heimisch; auf sie geht die Gründung von Kremnö (23, IV, 20), dem heutigen Berdjansk (40, 356) zurück 3).
Mehr im Innern des Landes wohnten die Kimmerer, nach Herodot (23, IV, 11) die Urbevölkerung. Sie wurden von den Skythen unterworfen (56, I, 586), auf die im 2. Jahrhundert v. Chr. die ihnen nahe verwandten Sarmaten folgten. Nach Herodot (23, IV, 116) sind letztere Nachkömmlinge der Skythen und Amazonen (48, I, 1756), die zu Schiff nach Kremnö kamen (23, IV, 110). Die Sarmaten wurden von den Alanen aufgesogen.
Die Goten kamen im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. auf ihrer Südwanderung von Skandinavien (42, V, 60) in die südrussische Steppe. Im Jahre 375 erlagen König Ermanerich und sein Reich dem Angriff der Hunnen (48, VIII, 2583, vgl. 28, 121). Die Reste der Goten auf der Taurischen Halbinsel — Krimgoten genannt — nahmen im 4. und 5. Jahrhundert das Christentum an (25, III, 110 und 10,7). Deutsch sprachen sie noch bis ins 13. Jahrhundert (64, 248) und 16. Jahrhundert (1, IV, vgl. 57, 283), wurden dann zuerst gräzisiert, dann tatarisiert, kamen im Jahre 1778 mit ihrem Metropoliten Ignatius von Gotien und Kaffa (40, 10 ff; 70, XVI, Ukas 1787, 7/III) in das Asowische Gouvernement und sind jetzt unter dem Namen Mariupoler Griechen die nächsten Nachbarn der deutschen „Planer“ (s. u.). In ihren Adern fließt wahrscheinlich noch mancher Tropfen gotischen Blutes (10, 56; 36, 142).
Nach des Hunnen Attilas Fall kamen die Avaren (Obry) ins Land, und fast gleichzeitig mit ihnen auch die Bulgaren (48, III, 1040 ff.) und Chazaren. Bulgariiche Wörter finden sich heute noch in der russischen Sprache, so z. B. Bojar (= Magnat), bogatyr (= Held), san (= Würde), quansa (= Kessel).
Tiefere Spuren haben die Petschenegen hinterlassen. Sie verwüsteten weithin Städte und Dörfer, so daß die Bevölkerung zur Flucht gezwungen wurde und große Gebiete verödeten. Den Petschenegen folgte ein für Rußland noch gefährlicherer Feind, die Polowzer. Die byzantinischen Geschichtsschreiber führen sie unter dem Namen
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3) Eingehendere Behandlung der früheren Bewohner Südrußlands im Altertum in 18 (siehe Lit.-Verz.); ferner bis zum 11. Jhr. In 26.
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Kumanen oder Komanen auf; auch die Bezeichnungen Balven und Blaven kommen vor. Der russische Geschichtsschreiber Kostomarow nimmt an, daß aus den damals in Rußland zurückgebliebenen Polowzern das Kosakentum entstanden sei 4). Während im 10. Jahrhundert Südrußland Chazarien (48, III, 2204) genannt wurde 5), hieß es jetzt nach den neuen Bewohnern Kumanien, welchen Namen es dann im 12. Jahrhundert mit der Bezeichnung „Wilder Steppe” (dikoje pole) oder auch „Kleine Tatarei” vertauschte. Zwei Jahrhunderte lang suchten die Polowzer Rußland heim. Die russischen Fürsten konnten gegen diesen mächtigen Feind nicht aufkommen, und mußten ihren Bedrängern schwere Steuern zahlen.
Schlimmer wurde es noch, als 1224 durch den Sieg an der Kalka (s. S. 13) an Stelle der Polowzer die Blutherrschaft der Tataren trat. Rußland mußte bis zum 15. Jahrhundert unter ihrer Botmäßigkeit bleiben und verdankte nur der klugen Politik des Fürsten Alexandro-netwski 6), der die Tataren durch große Geschenke (Pominki) befriedigte, schonende Behandlung.
Als das Gestirn der türkischen Großmacht am Himmel Europas zu sinken begonnen hatte, drangen langsam erobernd im 17, und 18. Jahrhundert nach Südrußland die Kosaken vor. Sie hausten in der „wilden Steppe” zwischen Alt (= Groß)-Rußland und der Tatarei. Unter selbst gewählten Anführern (Atamany) bildeten sie unabhängige kriegerische Gemeinwesen, Zufluchtsstätten für alle Bedrängten, die das Vaterland von sich stieß. Ihre Kampfeslust rang den Nomadenvölkern große Länderstrecken ab, die dann die Moskowitische Regierung bei günstiger Gelegenheit sich angliederte. Die donischen Kosaken hatten in Gzerkas (47, I, 27) am Don ihren Hauptsitz. Die ukrainischen oder kleinrussischen Kosaken wurden meist Saporoger (Saporoszkaja Sitsch) genannt, nach ihren Wohnsitzen jenseits der Wasserfälle (zaporogami wörtlich = hinter den Steinschwellen) des Dnjepr. Ihr ehemaliger Hauptort (glawny stan), esistiert heute noch unweit der Planerkolonien unter dem den Kolonisten wohlbekannten Namen Rasdory (= Zwist).
Schon Peter der Große drang 1696 bis zu den Ufern des Asowischen Meeres erobernd vor, konnte sich dort aber nicht lange behaupten; 1711 fiel Ajotw wieder an die Türken zurück. Wohl aber bestrafte Peter den Verrat Masepas, der in der Schlacht bei Poltawa 1709 zum Schwedentönig Karl XII.
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4) Nach anderen sind die Kosaken russische Flüchtlinge, die in der Fremde ein freieres Leben suchten.
5) Tanais wurde von den Polowzern nach ihrem Fürsten Asak damals Asow genannt,
6) Ihm zu Ehren wurde die Kolonie Grunau in Alexandronewsk umbenannt.
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übergegangen war, damit, daß er die ukrainischen Kosaken fast aller ihrer Vorrechte beraubte und die damalige Ukraina als einen Bestandteil des russischen Reiches erklärte.
Erst unter Kaiserin Elisabeth beginnt ein für unser Gebiet höchst wichtiger Vorgang, die zielbewußte Kolonisation. Sie ließ erstmals, 1751, wenn auch zugleich unter militärischen Gesichtspunkten, österreichiiche Serben unter der Führung des Obersten Cherwat ansiedeln. Die Niederlassung entstand am Ingul, einem Nebenfluß des Bug, wo es bis heute noch ein Neuserbien (Nowaja Serbia) gibt, ferner am Donez an der Bachmutka und am Lugan, wo ein Slawjaneserbien (jetzt Slaw- janoserbsk) mit dem Mittelpunkt Bachmut gegründet wurde. Gleichzeitig erbaute Elisabeth auch die nach ihr benannte Festung Elisabetgrad (= Elisabethstadt).
Fürst Potemkin befestigte 1774 endgültig Rußlands Macht am Schwarzen und Asowischen Meer: Asow, Kertsch, Jenikale und Kinnburn fielen an Rußland. Potemkin wurde Generalgouverneur des von nun an Neu-Rußland benannten Gebietes. Er machte auch der Selbständigkeit der Saporoger ein völliges Ende. Längst war der Chan der Krim, auf dem Papier noch ein Vasall der Türkei, von Rußland politisch ganz abhängig. Katharina II. benutzte 1783 eine günstige Gelegenheit, um dies Räubernest, unter dem Rußland zwei Jahrhunderte lang gelitten hatte, zu annektieren. Bald fielen das Chanat von Kasan und Astrachan dem gleichen Schicksal anheim. Zu den Ueberresten der alten mongolischen Riesenreiche gehört auch noch die westlich von Berdjansk liegende Stadt Nogaisk (47, 363). Der Name kommt daher, daß dort Nogajer wohnen. Die Nogajer werden auch Kara-Tataren oder schlechthin Kirgisen genannt. Leute ihres Stammes erscheinen noch jetzt jährlich ein bis zweimal auf großen Jahrmärkten, wie in Mariupol, in Grunau usw. mit ihren wilden Pferdeherden, die, weil unbändig wie ihre eigenen Herren, trotz ihres billigeren Preises schwer Absatz finden.
Das Mongolenjoch hat während der zweieinhalb Jahrhunderte seines Druckes in allen Schichten der russischen Bevölkerung tiefe und noch heute sehr deutliche Spuren zurückgelassen: Unterwürfigkeit, Fatalismus, Verschlagenheit und Lügenhaftigkeit, Roheit und Grausamkeit sind Charaktereigenschaften, die dem Russen ursprünglich fremd waren, heute aber nicht selten zu finden sind 6a). Auch in äußeren Dingen verrät der Russe noch manches mongolische Erbstück, den langen Kittel, in der Ukraina „Tschumarka” genannt, oder das unablässige Teetrinken bei der tagsüber dampfenden Teemaschine (= Samowar). Endlich aber ist erst seit der Mongolenherrschaft die ehedem freie, geachtete Stellung
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6a) Vgl. auch Platonow, s. Russkaja istoria, Kolomea (1900) S. 88 ff.
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der russischen Frau stark gesunken. Die Knute im Stiefel des Bräutigams und der Schuhverkauf der Braut auf den Hochzeiten des Mittelstandes sind sehr bezeichnende Züge.
Vom Beginn der Kolonisation der menschenarmen, gewaltigen Ebenen Neu-Rußlands war schon die Rede. Katharina II. nahm diesen Gedanken in großem Maßstabe auf. Am Ende des 18. Jahrhunderts ließ sie zunächst durch Potemkin aus der Krim nach dem jetzigen Nowomoskowst (Jekaterinoslawer Gouvernement) armenische Katholiken mit ihrem Pfarrgeistlichen Pater Jakob überführen (9, 71). Schon 1778 wurden 20 000 orthodoxe Griechen (40, 10), deren zum Teil gotische Abstammung oben (S. 12) erwähnt wurde, an den Fluß Kalmius übersiedelt. Dort gründeten sie zwei Jahre später die Stadt Mariupol. Diese Goten hatten sich mit Griechen vermischt, die im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. zwischen Chersones und Theodosien die Küsten besiedelt hatten. Der Druck des tatarischen Mohammedanismus hatte sogar ihren orthodoxen Glauben lange gefährdet, die Sprache der meisten war ihm schon zum Opfer gefallen. Noch heute sprechen die Griechen von Mariupol und Umgegend türkisch-tatarisch. Der Protohierej Serafim, die rechte Hand des Metropoliten Ignatius, schrieb in türkischer Sprache mit griechischem Alphabeth (40, 10) und der Metropolit selbst predigte in der Kirche zu Mariupol tatarisch (40, 11). Die Mehrzahl der Nachkommen dieser 20 000 sind heute Bauern.
Einzelne Italiener und österreichische SIaven haben sich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts wegen der ganz besonders vom Generalgouverneur Woronzow gebotenen Handelsvorteile in den Hafenstädten Mariupol und Berdjansk als Kaufleute oder Schiffer niedergelassen. Die Namen der großen Getreidefirmen Membelli, Gallano, Widowitisch, Tripkowitsch und anderer verraten heute noch die Abstammung ihrer Inhaber.
Etwas weiter nördlich entstanden seit Ende des 18. Jahrhunderts auch vereinzelte großrussische Soldatendörfer. Sodann finden sich in jedem Dorfe Juden polnischer Herkunft, die sich als Handelsleute oder Hausierer niedergelassen haben. Jüdische Bauern, die die Regierung hier 1846 ansiedelte, haben sich trotz der Hinzuziehung deutscher Musterlandwirte (70, XII, N 108) nicht bewährt (7, 410), so daß die Regierung ihnen große Landflächen wieder abnahm.
Großrussen trifft man selten in geschlossenen Dörfern; meist leben sie in den Städten als Großhändler; oder sie ziehen von Dorf zu Dorf als Handwerker.
Gelegentlich zeigen sich auf dem Lande auch herumziehende Zigeuner, meist aus Serbien oder aus Ungarn, die sich als Schmiede
Malinowsky, Planerkolonien.
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oder Pferdehändler betätigen, während die Frauen durch Wahrsagen Geld verdienen.
Ihrer Sprache nach sind die Ukrainer Ostslawen. Ihre Urheimat scheint das mittlere Dnjepr-Gebiet gewesen zu sein (26, 6). Von den oben erwähnten Wanderzügen mongolischer Völker bedrängt, verließen sie ihre südlichen Sitze und suchten in den mehr nördlichen, von Wäldern und Sümpfen geschützten Gegenden Schutz. Mit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ließ der Druck der nomadisierenden Stämme nach, was die Rückwanderung großer Teile des ukrainischen Volkes zur Folge hatte. Fest seßhaft aber wurden die Ukrainer in der südrussischen Ebene erst im 18. und 19. ‚Jahrhundert. Ihre politische Selbständigkeit verloren sie schon im 14. Jahrhundert, als sie anderen Reichen, vor allem Rußland einverleibt wurden (26, 15). Erst nach der russischen Revolution (März 1917) Ioderte das ukrainische Nationalgefühl in hellen Flammen auf, Der Universitätsprofessor Hrušwskyj stellte sich als „tschirij ukrainez“ mit einer Rada (Rat) umgeben in der alten Stadt Kiew an die Spitze dieser Bewegung, sie errangen sich die Anerkennung der Autonomie. Winitschenko (der Dichter), Hrušwskyjs Nachfolger, proklamierte beim Auftauchen des Boschewismus die Ukraina als unabhängige Republik. Doch schon mit dem Abzug der deutsch-öfterreichischen Besatzungstruppen (Februar 1919) brach unter Hetmann Storopadsky, die junge Republik zusammen. Nach wiederholten erfolglosen Erhebungen haben die Ukrainer es schließlich im Rahmen des Bundes Sozialistischer Rätestaaten (SSSR) zu einer politischen Scheinunabhängigkeit gebracht. In kultureller Hinsicht gilt für sie die sogenannte Autonomie, die ihnen tatsächlich den so lange ersehnten Gebrauch ihrer Sprache gestattet.
Die Ukrainer sind rotwangige, meist dunkelharige, kräftige Gestalten. Ein starker Schnurrbart wird am Manne sehr geschätzt. Unter dem russischen schönen Geschlecht nehmen die zierlichen Ukrainerinnen zweifellos den ersten Platz ein. Ihre Gastfreundschaft und Aufrichtigkeit wird allgemein gerühmt. Müßiggang und Trunk sind bedenkliche Schattenseiten des ukrainischen Charakters. Bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten wird „Wodka“ (d. h. Schnaps) getrunken, eine Sitte, die die ukrainische Sprache mit „Magaritsch”, d. h. Bewirtung bei Abschluß eines Handels, bezeichnet. Die Ukrainer sind ein frohes, musikliebendes 7) und dichterisch veranlagtes Volk von gutmütigem, etwas melancholischem Charakter; doch können unter der Wirkung aufgepeitschter
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7) Die beliebtesten Instrumente sind: Balalaika ımd Ziehharmonika. Ein Urteil von deuscher Seite über die Ukrainer siehe Wertheimer, Fritz: Durch Ukraine und Krim. Stuttgart 1918.
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Leidenschaften auch ganz andere Züge zum Vorschein kommen. In Acker- und Gartenbau, sowie in der Viehzucht haben sie vieles von den deutschen Kolonisten übernommen, insbesondere den Gebrauch landwirtschaftlicher Maschinen. Die deutschen Kolonisten leben mit ihnen in gutem Einvernehmen. Viele Kleinrussen stehen im Dienste der Deutschen. Zur Sommerzeit ziehen ganze Scharen aus der Gegend von Poltawa, die sog. Poltawzy, durch die Kolonistendörfer und suchen Arbeit.
Nach der bis 1918, teilweise bis 1925, geltenden Verwaltungseinteilung des Landes gehören die Bewohner unseres Gebiets zu den Gouvernements Dongebiet, Jekaterinoslaw und Taurien. Seit dem 1. Juli 1925 ist bekanntlich die Ukraine in 42 kleinere Verwaltungsbezirke geteilt; die Krim, die einst zu Taurien gehörte, ist ein autonomer, zu Innerrußland gehöriger Rätestaat.
Den Anteil der einzelnen Nationalitäten an der Gesamtbevölkerung der ehemaligen Gouvernements nach dem Stande von 1902 zeigt folgende in Prozent gegebene Tabelle:
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Jekaterinoslaw |
Dongebiet |
Taurien |
Kleinrussen |
68,9 |
28,1 |
42,2 |
Großrussen |
17,3 |
67,2 |
27,9 |
Juden |
4,7 |
0,6 |
3,8 |
Deutsche |
3,8 |
1,4 |
5,4 |
Griechen |
2,3 |
— |
1,3 |
Tataren |
0,8 |
— |
13,0 |
Weißrussen |
0,7 |
— |
0,7 |
Polen |
0,6 |
— |
0,7 |
Türken |
0,3 |
— |
0,2 |
Bulgaren |
— |
— |
2,8 |
Rumänen |
0,4 |
— |
0,2 |
Armenier |
— |
1,1 |
1,1 |
Andere Völker |
0,2 |
2,1 |
1,2 |
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II. Die Ansiedler.
1. Russische Angebote,
Die Kolonisation der Planerkolonien geht in erster Linie auf Katharina II. (1762—96) zurück. Als deutsche Prinzessin von Anhalt Zerbst hatte sie den russischen Thronfolger, den späteren Zaren Peter II., geheiratet und wurde nach dessen Ermordung im Jahre 1762 Herrscherin des Landes. War dies schon damals ein Riesenreich, so wurde es während ihrer Regierung nach Süd und Nord, West und Ost noch um Vieles ausgedehnt. Auch das Schwarzmeergebiet vom Dnjestr bis zum Don kam an Rußland.
Diese weiten Landstriche waren zum großen Teil fast gar nicht oder nur sehr spärlich bevölkert, und so stellte sich Katharina II. alsbald die ungemein wichtige Aufgabe, diese gewaltigen Gebiete zu besiedeln. Zugleich griff ihr rastlos schöpferischer Geist (32, 6) den Plan Peter des Großen auf, Rußland durch Heranziehung einzelner Ausländer sowie durch Anlegung von Kolonien ausländischer Handwerker und Bauern zu europäisieren. Politische und wirtschaftliche Gründe sprachen für Vermehrung der Bevölkerung Rußlands. Im Norden und Osten brauchte es einen Grenzschutz gegen die unbändigen Kirgisen (8, 10). Katharina schuf daher eine Reihe meist deutscher Kolonien an der Wolga. Im Süden, in Neurußland, waren in erster Linie wirtschaftliche Gründe maßgebend (60, I, 183). Die wüsten Steppen Neu-Rußlands sollten urbar gemacht, der Ackerbau vervollkommnet werden (31, 14 ff.). Daneben fielen auch hier politische Gründe in die Wagschale. Rußland brauchte eine bevölkerte Heerstraße ans Schwarze und Asowische Meer, um im Falle eines Krieges mit der Türkei in nächster Nähe Nahrung für das Heer zur Verfügung zu haben. Daher wurde Neu-Rußland mit Ansiedlern aus der Moldau, aus der Walachei, aus Bulgarien, Montenegro und Serbien bevölkert. In den Jahren 1760-70 entstand ein Neu-Serbien im Elisabetgrader Kreis und Slawjano-Serbien im Bachmuter Kreis, Sie waren zunächft Militärkolonien und dienten als Grenzschutz gegen die Angriffe der Krimtataren vom Süden her. Diese Völker ließen sich leicht ansiedeln, da sie gerne dem Türkenjoche entflohen und von ihren Glaubensgenossen in Rufland Freiheit und
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Schutz erwarten durften. Doch diese Kolonisation befriedigte Katharinas Ansprüche nicht. Sie forderte eine größere Zahl von Kolonisten, die hauptsächlich mehr Wirtschafts- und Ackerbaukenntnisse aufweisen sollten. Graf Rumjanzew Sadamajsky richtete den Blick der Kaiserin nach dem Westen, wo er zwischen Danzig und Elbing während des Siebenjährigen Krieges den Aufschwung der Landwirtschaft und besonders der Viehzucht bewundert hatte (60, I, 183).
Bevölkerungspolitik war im 17. und 18. Jahrhundert der Lieblingsgedanke der europäischen Staatsmänner (49, 1). Man ging von der Theorie des Merkantilismus aus und folgerte so: je mehr die Volkszahl wächst, desto größer muß der Verbrauch, und die Produktionsnotwendigkeit werden. Dies muß die Hebung der Fabrikation und des Handels notwendig zur Folge haben und weiterhin den Wohlstand des Staates fördern. Bei den Staatlenkern fiel auch noch der Gedanke ins Gewicht, daß eine höhere Zahl der Untertanen die nötige Zahl der Krieger sichere. So finden wir damals Ansiedlungsarbeiten in England, Oesterreich, Dänemark und besonders in Preußen.
Dieser Gedanke war auch in Rußland schon unter Peter dem Großen und der Kaiserin Elisabeth in die Tat umgesetzt worden. Aber erst Katharina II. war es vorbehalten, das große Siedlungswerk durchzuführen. Sie war Physiokratin (49, 47). Rußland sollte nicht nur die für das eigene Volk nötigsten Nahrungsmittel erzeugen, sondern auch) durch eine ergiebige Ausfuhr den Wohlstand vermehren. Schon im ersten Jahre ihrer Regierung, am 4. Dezember 1762 erließ die Kaiserin ein Manifest (70, XVI, N 11, 720), das alle Ausländer zur Einwanderung nach Rußland einlud. Doch war es ohne Erfolg; denn es fanden sich keine Mutigen, die das Wagnis unternehmen wollten, sich in der südrussischen Steppe niederzulassen. Bis 1763 erfolgte überhaupt keine Anmeldung (31, 7). Der Grund lag wohl darin, daß das Manifest gar keine bestimmten Angaben über die künftige politische und bürgerliche Stellung der Ansiedler enthielt. Unter solchen Umständen konnte sich niemand in den europäischen Ländern zur Auswanderung entschließen, um so weniger, als überall starkes Mißtrauen gegen Rußland und seine barbariichen Zustände vorhanden war.
Die Zarin erließ deshalb am 22. Juli 1763 ein zweites Manifest 8) (70, XVI, 11, 880), in welchem den Auswanderern weitgehende Zusicherungen gemacht wurden. Mittellose sollten Zehrgeld und Reisegeld erhalten. Es wurde den Einwanderern freigestellt, ob sie sich bei der
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8) Dieses Manifest wurde in deutscher Uebersetzung gedruckt in Thornische Wöchentliche Nachrichten und Anzeigen, 21. Nov. 1763. Dem Herausgeber der Zeitung befahl Katharina 100 Tscherwonzy Belohnung zu geben. (Vgl. 49, 66.)
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Kaufmannschaft oder bei den Handwerkerzünften einschreiben wollten, ob sie als Kleinbürger oder als Bauern zu leben wünschten. Auch die Wahl der Gegend und des Ortes war innerhalb des großen Kolonisationsgebietes dem freien Ermessen der Leute anheimgestellt. Ein jeder konnte den Untertaneneid nach den Vorschriften seines religiösen Bekenntnisses ablegen, überhaupt war freie Religionsübung versprochen. Die Anstellung der erforderlichen Anzahl von Geistlichen war zugesichert. Die Ansiedler sollten in den ersten 30 Jahren von allen Steuern und Abgaben entbunden bleiben und von militärischer Einguartierung verschont werden. Bei der Gründung einer beruflichen Existenz wollte der russische Staat den Ankömmlingen alle nur mögliche Hilfe leisten. Zum Häuserbau, zum Ankauf der nötigen Geräte, des Viehes usw. wurden unverzinsliche Darlehen in Aussicht gestellt, welche erst nach Ablauf von 10 Jahren rückzahlbar sein sollten. Von ganz besonderer Bedeutung aber war die Bestimmung, daß die Kolonisten in ihren neugegründeten Ortschaften das Recht völlig freier Selbstverwaltung haben sollten, so daß kein russischer Beamter sich in ihre Angelegenheiten mischen durfte. Nur dem allgemeinen bürgerlichen Rechte blieben sie unterworfen. Wichtig war auch die Befreiung vom Heeresdienfte, besonders in Anbetracht der damals 20—25jährigen Dienstzeit des russischen Soldaten, sowie die Bestimmung, daß auch die Nachkommen der Neusiedler — selbft die in Rußland geborenen — im Besitze derselben Rechte bleiben sollten.
Dieser zweite Erlaß der Kaiserin verfehlte seine Wirkung nicht, zumal als bekannt wurde, daß die russische Regierung die gegebenen Zusagen treu erfüllte. Mit der Langsamkeit der russischen Staatsmaschine wohlbekannt, errichtete Katharina ein eigenes Kolleg „Kanzelaria Opekunstwa Inostrannych .. (70, XVI, Nr. 11, 879) (= Tutel-Canzelei für Ausländer = Vormundschaftskontor) und betraute mit der Leitung den ihr ergebenen Grafen Gr. Grigoriew Orlow. Dieses Kollegium kam in seinen Befugnissen einem Ministerium gleich. Beträchtliche Summen wurden ihm angewiesen, wofür Agenten im Ausland angestellt werden konnten. Mit Hilfe dieses Vormundschaftskontors wurden in den Jahren 1763—82 die Wolgakolonien 9) gegründet, ferner die 7 Beloweser
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9) Im Wolgagebiet entstanden folgende kath. Kolonien: Brabander (Kasizkaja), Chasselois, Degott (Kamenny Owrag), Dehler (Beresowka), Göbel (Ust-Gräsnucha), Gattung (Zug), Graf (Krutojarowka), Herzog (Susli), Hildmann (Panowka), Holstein (Werchnaja Kulalinka), Hölzel (Kotschetnoje), Husaren (Jelschanka), Kamenka, Katharinenstadt (gemischt), Keller (Krasnorynowka), Köhler (Karaulny Bujerak), Leichtling (Ilawla), Leitsinger (Kustarewo), Louis (Otrogowka), Ober-Monjou, Pfannenstiel (Tonkoschurowka), Pfeifer (Gniluschka) Preuß (Krasnopolje), Remmler (Zuzern), Rohleder (Raskaty), Rothammel (Podstepnoje), (i. d. Stadt Saratow), Schönchen (Paniskoje), Schuck (Gräsnowatka), Seelmann (Rownoje), Semenowka, Sewald (Werchoeje), Volmar (Kopenka), Witman (Solothurn), Beauregard, Podstepnoje), (i. d. Stadt Saratow), Schönchen (Paninskoje), Schuck (Gräsnowatka), Seelmann (Rownoje), Semenomka, Sewald (Werchowje), Volmar (Kopenka), Witman (Solothurn), Beauregard, Ressechi (weiteres s. Lit. 5).
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(2, 40) Kolonien, darunter die kath. Groß- und Kleinwerder (Czernigower Gouvernement), die 10 Petersburger (31, Beilage S. 21), auch Jamburger genannt, und die 18 Chortitzer Kolonien.
Einen weiteren geschickten Griff tat Katharina, indem sie den Fürsten G. A. Potemkin an die Spitze des Generalgouvernements Neu-Rußlands stellte, einen Mann, der für die Siedlungsidee Feuer und Flamme war. Katharinas Gouvernementsreformen vom Jahre 1782 machten die Tutel-Canzelei überflüssig (70, XXI, Nr. 15, 411), weil durch sie die örtlichen Verwaltungsbehörden mit umfangreichen Vollmachten ausgerüstet wurden. Dazu kam, daß man das Siedlungsgebiet vom Norden nach dem Süden verlegt hatte und den Einwanderungsweg, der früher zu Schiff über Petersburg ging, jetzt zu Lande über Riga leitete, durch das neuerworbene Weißrußland, über Kremenczuk und Jekaterinowslaw nach dem Süden (Lit. 49, 204). Schließlich würde der „allmächtige” Potemkin eine Einmischung in sein Reich überhaupt nicht geduldet haben; er war die Seele der Neusiedlungen Südrußlands, allerdings unter Katharinas Oberleitung.
Zur Anwerbung von Siedlungslustigen bedurfte es der Agenten. An diesen mangelte es nicht. Rußlund mußte allerdings mit ihnen manche traurige Erfahrung machen, ebenso mit den Angeworbenen (49, 124). Besonders verdient machte sich damals der Kollegialassessor Georg Trappe (49, 266). Versehen mit einem Empfehlungsschreiben der Großfürstin Maria Feodorowna (Gemahlin des Großfürsten Paul Petrowitsch) wandte sich Trappe am 2. Mai 1786 an Potemkin und schloß mit diesem einen förmlichen Kontrakt ab. Trappe begab sich vor allem nach Danzig und Umgegend, das nominell (59, 857) noch zu Polen gehörte. Sein erster Erfolg war die Anwerbung von gegen 300 Mennonitenfamilien, die allerdings ihren endgültigen Entschluß von den Eindrücken abhängig machten, die ihre Sendboten von Rußland zurückbringen würden. Die Danziger Deputierten kamen gerade zu einer Zeit in Südrußland an, als Potemkin ganz und gar in den Vorbereitungen zum Empfang der Kaiserin aufging, welche damals ihre berühmte Reise (58, III, 110, 156 ff.) durch Neu-Rußland und die Krim machte. Gleichwohl ließ der Fürst es sich angelegen sein, diese Vertreter am 2.—13. Mai 1787 in Krementschuk der Monarchin persönlich vorzustellen. Die Kaiserin empfing sie sehr huldreich und verhieß ihnen Schutz und Wohlwollen (49, 298). Auch ihre Bedingungen, die die
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Mennoniten in mehreren Punkten schriftlich niedergelegt und durch Potemin der Zarin unterbreitet hatten, genehmigte sie.
Es zeigten sich aber andere Schwierigkeiten. Der Danziger Magistrat glaubte jetzt, da Rußland mit Schweden und der Türkei zugleich Krieg zu führen hatte, seinem lange verbissenen Aerger Luft machen zu dürfen. Er verlangte die unverzügliche Entfernung Trappes und verbot die Ausfuhr von Kolonisten bei strenger Strafe. Auch mittelbar wurde gegen die Auswanderung gearbeitet, indem Stücke aus Totts Memoiren 10) in der Elbinger Zeitung veröffentlicht wurden, wo es hieß, daß die Ansiedler aus Rußland und namentlich vom Gute des Grafen Rumjanzew-Zadunajsky fliehen würden. Doch Totts Verleumdungen waren bald entlarvt (6. XII/I, 305) und Trappes Willenskraft siegte. Anderthalb Tausend Auswanderer folgten ihm nach Rußland.
Mit dem Tode Potemkins (1791), des eigentlichen Kolonisators Neu-Rußlands, war auch Katharinas Tatkraft gelähmt. Von ihr waren die großen Anregungen gekommen, er hatte ihre Siedlungspläne genial ausgeführt. Großes hatte Potemkin in kurzer Zeit (1782—91) geleistet: die wüstliegenden Steppen Südrußlands waren zu einer blühenden Provinz geworden (60, I, 196). Sein Werk war auch die Ueberführung von 31386 christlichen Griechen, Armeniern und Grusinern aus der durch den Frieden von Kütschükkainardschi (1774) unabhängig erklärten Krim in den Mariupoler, Nowomoskower und Nachitschewaner Kreis gewesen. Er gründete ferner Altschweden und Mühlhausen, die Schwedendörfer (die Leute wurden von der Insel Dagö überführt, Lit. 49, S. 221) bei Berislaw (hieß bis 1784 Kisi-Kermena), wozu 1804 Klosterdorf und Schlangendorf hinzukamen. Jamburg bei Jekaterinoslaw (1789), Josefstal, Rübalsk (1789) und der Bezirk von Chortitza, der damals 12 Kolonien umfaßte, wurde 1790 unter Potemkins unmittelbarer Mitwirkung gegründet u. a. m. Was nicht vollendet war, war so begonnen, daß sich das in Schwung gebrachte Rad von selbst weiter drehte. Da von der Zarin die Anregung zur ganzen Ansiedlung ausging, und da sie ihrer Siedlungspolitik bis zum Tode im Jahre 1796 treu blieb, so bestrebten sich auch Potemkins Nachfolger das Werk im Sinne der Monarchin fortzuführen. Aber die Erfüllung all dieser großzügigen Pläne hat Katharina nicht erlebt.
Ihr Enkel Alexander I. (1801-25) sollte diese Kolonisationsarbeit zu Ende führen. Auch er hielt sich an das Manifest von 1763. Er sah ein, daß ein Siedlungswerk, das nur Russen verwandte, keinen vollen Erfolg bieten konnte. Der Versuch mit russischen Freibauern, denen viel umfangreichere Rechte eingeräumt wurden, als den ausländischen
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10) Tott war franz. Konsul beim Krimer Khan (Lit. 63) 1767—69.
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Ansiedlern, mißlang gänzlich (31, 2 und 147), Alexander läuterte Katharinas Gedanken in einem ihm vom Minister des Innern zur Genehmigung unterbreiteten Memorandum (Doklad) vom 20. März 1804 (70, XXVIII, Nr. 21, 163). Durch Erfahrung gewitzigt, fing man an, eine Auswahl unter den Anzuwerbenden zu treffen und nicht jeden beliebigen zu nehmen; nur zu oft hatten sich minderwertige Elemente als die reiselustigsten erwiesen. Die Agentenwirtschaft, die Rußland viel gekostet und nur ausnahmsweise genützt hatte, wurde abgeschafft. Auswanderungslustige mit Zeugnissen über gutes Betragen und genügende Kenntnisse in der Landwirtschaft oder in einem Handwerk konnten sich bei den amtlichen russischen Vertretern im Auslande melden. Statt der vielen kostspieligen angeworbenen Begleiter wurden jetzt Aelteste aus der Mitte der Auswanderer gewählt oder von den Obern bestimmt. Ihnen hatten auf der Reise alle übrigen zu gehorchen. Die Vorschüsse im Auslande beschränkte die Regierung bis auf die nötigsten Schiffs- und Fuhrgelder. Ja von den Auswanderern selbst wurde ein Vermögensnachweis von nicht weniger als 300 Gulden verlangt. Durch die gleichzeitige Verordnung, daß jährlich nicht mehr als 150—200 Familien aufgenommen werden dürften, wurde vielem Elend der Einwanderer vorgebeugt und der russischen Reichskasse so mancher Rubel gespart; denn die Erfahrung hatte gelehrt, daß sich eine größere Zahl von Familien (über 200) in einem Jahre nicht einwandfrei ansiedeln ließ und die Nichtangesiedelten der Regierung oft 2—3 Jahre zur Last fielen. Alten, Schwächlichen, mit schweren Krankheiten Behafteten, aber auch jungen unverehelichten Leuten wurde die Aufnahme verweigert. Alexanders Massensiedlungen ausländischer Ackerbauern wollten den „öden" Ländereien und Grenzmarken des Kaiserreichs eine seßhafte, wertvolle Bevölkerung geben. Keller (30, I, 27 ff.) behandelt das erwähnte Memorandum unter dem Namen Manifest. Was er bringt, ist aber unvollständig und weicht auch sonst zum Teil vom Originale ab; deshalb gebe ich im Anhang III eine wörtliche Uebersetzung des russischen Gesetzestextes.
2. Die Auswanderung.
Auf Grund des Manifestes und des Privilegiums setzten sich viele deutsche Auswanderer in Bewegung. Zuerst ließen sich 1802—04 Mennoniten an der Molotschna in 51 Kolonien nieder, Hierauf, 1804—06, brachen Deutsche aus Bayern, Sachsen, Württemberg, auch einzelne aus Preußen, ferner Franzosen und Schweizer auf und siedelten sich
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im Bezirk Odessa 11) und auf der Krim 12) an. Etwa gleichzeitig, 1806—10, ließen sich die süddeutschen Kolonisten an der Molotschna nieder 13), und ein Jahrzehnt später folgen die Kolonien der Planer. Doch ehe wir auf diese eingehen, sei noch kurz erwähnt, daß in den Jahren 1815—42 viele deutsche 14) und bulgarische Kolonisten nach Bessarabien kamen. Mit der Überführung zahlreicher Judenkolonisten aus Polen ins chersonische und jekaterinoslawische 15) Gouvernement in den Jahren 1809 bis 1851 schließt die Ansiedlung auf Kronland und damit im wesentlichen auch die Einwanderung ab.
Wir wenden uns nun den Planern zu. Ihre ersten 17 Kolonien stammen aus Westpreußen. Das zeigen schon die Namen ihrer Dörfer, die wir dort zum großen Teile wiederfinden. Wir lassen die Namen der Planerdörfer folgen und stellen ihnen die entsprechenden Orte in Westpreußen gegenüber.
Liste der Dörfer aus den Gründungsjahren 1823—24:
Nummer |
Namen |
Kreis |
Regierungsbezirk |
1 |
Kirschwald 16) |
|
|
2 |
Tiegenhof |
Marienburg |
Danzig |
3 |
Rosengart |
Marienburg |
Danzig |
4 |
Schönbaum |
Danzig |
Danzig |
5 |
Kronsdorf 17) |
|
|
6 |
Grunau |
Elbing |
Danzig |
7 |
Rosenberg |
Danzig |
Danzig |
8 |
Wickerau |
Elbing |
Danzig |
9 |
Reichenberg |
Danzig |
Danzig |
10 |
Kampenau |
Marienburg |
Danzig |
11 |
Mirau |
Marienburg |
Danzig |
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11) Folgende katholischen Dörfer wurden hierbei gegründet: Kleinliebental, Mariental, Josefstal, Franzfeld, Selz, Kandel, Baden, Mannheim, Elsaß, Landau, Speier, Katherinental, Karlsruhe, Sulz, Rastatt, München, Straßburg.
12) Hier sind katholischer Gründung: Kronental, Rosental.
13) Hier sind katholisch: Kostheim, Heidelberg, Leitershausen, Waldorf, Blumental und konfessionell gemischt Hochstädt sowie Prischib (gemischt).
14) Hier ist Krasna katholisch.
15) Im Mariupoler Kreis die Judendörfer: Gorkaja, Grassskoje, Selenoje-Pole, Kadejnaja, Sladkowodnaja, Satischa.
16) Kirschwald ist in Meyers Orts- und Verkehrslexikon des Deutschen Reiches (5 A, 1912) nicht zu sinden. Der Name mag daher nicht, wie die Alten des Fürsorge-Komitees, Nr. 1, Kirschwald andeuten, aus Preußen, sondern anderswoher stammen, vielleicht von den Kirschhecken, die sich früher in der Nähe des Dorfes befanden.
17) Kronsdorf hat den „Namen ohne besondere Veranlassung bekommen” (61, 149); unserer Ansicht nach ist das Dorf so betitelt worden aus dem Grunde, weil es auf Kronland gegründet wurde.
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Nummer |
Namen |
Kreis |
Regierungsbezirk |
12 |
Kaiserdorf (Königdorf) 18) |
Marienburg |
Danzig |
13 |
Göttland = Güttland |
Marienburg |
Danzig |
14 |
Neuhof |
Marienburg |
Danzig |
15 |
Eichwald |
Marienburg |
Danzig |
16 |
Tiegenort |
Marienburg |
Danzig |
17 |
Tiergart |
Marienburg |
Danzig |
Auch die Familiennamen 19) führen uns oft auf die rechte Spur, da die Personennamen der Planerkolonien denen in Westpreußen entsprechen. Wir geben hier in alphabetischer Reihenfolge zum Vergleich mehrere derselben an: Baranowsky, Bermann, Bludau, Böhm, Bönig, Bojarsky; Dambrowsky, Domnik, Dyck; Fansky, Fensky, Fritz, Fröse, Grobowsky, Gröneck, Gröning; Hänig, Hermann, Hinz, Hopp; Jablonsky, Jahn, Jankowsky, Kalinowsky, Koch, Kosakowsky, Koschke, Koslowsky, Krall (Korell, Kranich, Kreft, Kroschinsky, Küstner, Lemke, Lange, Linke; Malinowski, Mankowsky, Marguart, Menings, Monkowsky,; Neumann, Nilke, Nord; Ohm, Ollenberger, Osowsky; Päsch, Posch; Radke, Reddig; Sawatzky, Schimanowsky, Schmidt, Schröter, Schulz, Schinkowsky, Sprenger (Sprengel), Stein, Stellinski; Terletzki, Titz, Turinsky; Walter, Wedler, Wermut, Wiebe Wiede, Witte, Wittowsky, Wolf; Ziez, Ziegler…
Namen wie Görke, Linke usw. weisen offenbar auf preußischen Ursprung hin, aber auch die rein polnischen — wie: Goraçy (= Grunsky, d. h. Hitzig), Baranowski, Sawitzki usw. — weisen auf germanisierte Polen, somit auf Danzig hin. Auch die polonisierten deutschen Namen: Buschkowsky, Fortowsky führen uns denselben Weg. Einzelne französische Familien wie: Zerf (cerf = Hirsch) usw. dürften wohl zufällig mit dem Auswanderungstrom mitgegangen sein.
Nicht minder beachtenswert sind auch die Vornamen, die mit den noch von der alten Heimat her gewohnten übereinstimmen 20): Agnes, Andreas (Andres), Anna, Anton, Augustin (Gust), Babara (Busch), Charlotte (Lotte), Christoph, Daniel, Dorothea (Drott), Elisabet (Lies), Eva, Franz, Friedrich (Fried), Fritz, Gertrud, Gottlieb (Lepper), Helena,
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18) Wurde von den Bewohnern „Königsdorf” nach ihrer alten Heimat benannt, von der russischen Regierung aber umgetauft, weil in Rußland ein Kaiser herrsche (39, 8 ff.).
19) Die Familiennamen sind zum großen Teil den Fragenbogen von 1914 entnommen. Siehe S. 5, III.
20) Die Namen der letzten Jahrzehnte können für uns nicht in Betracht kommen, da der Drang nach Neuerung mit dem alten „Mächel” und der alten „Trine” gänzlich aufgeräumt hat.
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(Len), Jakob, Johann, Josef, Sosephine (Fine), Julius, Karl, Katharina (Thrine), Ludwig, Martin, Matthias, Mathilde (Tille), Michel, Mächel), Paul, Peter, Philipp, Regina, Rosa, Simon, Theodor, Theresia (Tres), Ulrich, Valentin, Vinzenz (Cent), Wilhelmine (Mine).
Die nieberdeutsche Umgangssprache der meisten Kolonisten am Asowischen Meere dienen neben der hochdeutschen Schulsprache als Beweis für die norddeutsche Herkunft. Hier bloß einige Sprachproben:
a) Das allbekannte Wiegenlied (4, 111, Nr. 51):
„Eia popeia, wat ruschelt äm Stroh?
De Janzkes sänd barfutt än hawe kene Schuh,
De Schuster hawt Lader, ken Lestke dortu,
Drum kann he den Janskes uck mocke kene Schuh.
b) An den Kuckuck als Prophet (4, 150, Nr. 700):
Kuckuck
Spackbuck (= au) Dickbûk),
Äk bäd di,
Sag mi dod, Auch in folgender Variante:
Wo väel Joer Wo väel Joer brock äk doch
Läw äk noch? Bät to minem Befrie noch?
c) Bezeichnend sind im folgenden Spruch die beiden gesperrt gedruckten Wörter:
Molketewer 21), satt di!
Kömmte Pogg (Frosch), de fratt di.
Wie die Namen der Kolonien und der Kolonisten, so weist auch die noch vereinzelt anzutreffende alte Bauart der Häuser und besonders der hölzernen Scheunen, namentlich der Querscheunen, die ihrer außerordentlichen Geräumigkeit wegen geeignet sind, hochbeladene Leiterwagen aufzunehmen, auf Westpreußen als Ursprungsland hin.
Die Ankunft der westpreußischen Auswanderer in Südrußland beschreibt uns Sonderegger, der Redakteur des damaligen Kolonistenblattes, (laut den Papieren der Dorfämter des Mariupoler Kolonistenbezirkes) (65) folgendermaßen: „Gegen 500 Familien, einige sogar zu Fuß, waren in den Jahren 1818 und 1819 aus Preußen ausgewandert und in den Molotschnaer-, Mennoniten- und Kolonistenbezirken einquartiert worden, wo sie sich durch verschievene Handarbeiten und Gewerbe teils ihren Lebensunterhalt erwarben, teils noch etwas Geld erübrigten. Mit einigen Ausnahmen hatten dieselben wenig oder gar kein Vermögen vom Auslande mitgebracht.”
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21) Molketemerer (= Molkenzauberer) bezeichnet den Schmetterling als Zauberer, der das Feuer unter dem Zauberkessel schürt (22, 998).
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Diese Worte besagen uns, daß trotz der weiten Entfernung des Zieles nicht einmal alle Auswanderer über Pferd und Wagen verfügten. Manche mußten den Weg zu Fuß zurücklegen. Die 500 Familien kamen nicht einmal, sondern in Gruppen „zu 5—6 Familien ohne besondern Führer” (89, 13 ff.). Diese Auswanderer hatten es allerdings in einem Punkt wesentlich leichter als die Mennoniten von 1802—4 und die Molotschnaer Kolonisten von 1806—10; sie fanden bei diesen, also bei Landsleuten, Unterkunft, und in den vier Jahren, die sie als Taglöhner oder als Handwerker in der Molotschna verbrachten, konnten sie sich so manche brauchbare Lehre für die Landwirtschaft mitnehmen.
Später kamen zu den 17 Planerkolonien noch mehr als 100 Familien aus Württemberg, Baden, Hessen und vom Niederrhein. Sie gründeten 1825 die Kolonie Nr. 18, Elisabetdorf, benannt nach der russischen Kaiserin, die aus Baden stammte (61, 159), 1828 Nr. 19, Ludwigstal, (das vom ersten Dorfschulzen Ludwig seinen Namen trägt (61, 158), 1842 Nr. 25, Darmstadt, und Nr. 26, Marienfeld, jenes benannt nach der Hauptstadt der alten Heimat (61, 165), dieses nach der Gemahlin des russischen Thronfolgers, Maria, die aus dem Herzogtum Hessen stammte 61, 166).
Die dritte Welle der Planeransiedler kam schon aus Rußland selbft und siedelte auf dem Mariupoler Plan. Ihre Vorfahren hatten sich von 1766 an in Tschernigow, nördlich von Kiew, niedergelassen. Landmangel trieb den Nachwuchs in der Stärke von 122 Familien in die Nähe des Asowischen Meeres. Im Jahre 1832 gründeten sie die Kolonien Nr. 20, Belye Weschi 22), Nr. 21, Kaltschinowka, Nr. 22, Rundewiese, Nr. 23, Klein-Werder, Nr. 24, Groß-Werder. Diese fünf Kolonien tragen die Namen ihrer Mutterkolonien im Tschernigowschen Gouvernement (39, 16—18). Dort, in Tschernigow, hatten die deutschen Bewohner dieser Dörfer unter dem Einfluß der russischen Umgebung ihr Deutschtum fast ganz verloren 23). Aber in neuen Siedelungen, im Planergebiet, haben sie, dank der Nachbarschaft so vieler anderen Deutschen, wieder zur deutschen Sprache, zu deutschen Sitten und Gebräuchen zurückgefunden.
Die vierte Welle der Planerankömmlinge — waren Mennoniten aus dem Chortitzer Mennonitengebiet. Ihre Vorfahren hatten
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22) Auch Belowesh (vgl. 2, 40). Von diesen Ortsnamen werden die Bewohner dieser fünf Kolonien noch bis heutigentages Beloweser genannt (häufig sprachlich verderbt zu Belomeser).
23) Der Verfasser kennt mehrere noch heute in Tschernigow lebende junge Leute, die ihre deutsche Sprache vergessen haben und höchstens noch ihre Gebete in einem sehr unverständlichen Deutsch hersagen können. Mit der Sprache der Russen haben sie sich auch deren Sitten angeeignet.
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sich schon 1790 zu Katharinas Zeiten am Dniepr bei Alexandrowsk, Jekaterineslawer Gouvernement niedergelassen. Wegen des dort entstandenen Landmangel wurde den Nachkommen laut Allerhöchstem Ukas (70, Ukas 30, III, 1833) im Jahre 1833 9,540 Deßjätinen Land im Alexandrower (jetzt Mariupoler) Kreis des Jekaterinoslawer Gouvernements auf der sogenannten Judensteppe (39, 19) zur Besiedlung angewiesen. Dieses neue Siedlungsland grenzte nördlich an das Mariupoler Kolonistengebiet, südlich an die Griechenkolonien. Die Mennoniten gaben ihren Siedlungen, in bekannter Vorliebe, Namen, die das Landschaftsbild widerspiegeln sollen: Nr. 1, Bergtal (im russischen Volksmunde Bodny (61, 169) = d. h. Wassertal (1836 gegr.), Nr. 2, Schönfeld (1837), Nr. 3, Schöntal (1838), Nr. 4, Heubuden (1841), Nr. 5, Friedrichstal (1852).
Die letzte Planersiedlung auf Kronland ist die der Petersburger. Sie kamen, 37 Familien stark, aus der Kolonie Jamburg, angelegt bei Petersburg im Jahre 1767 (vgl. 35, 12), und gründeten ebenfalls auf der schon erwähnten Judensteppe im Jahre 1848 Neu-Jamburg.
Es bedarf noch der Erklärung, warum zu Beginn de 19. Jahrhunderts so viele und besonders Deutsche den Wanderstab ergriffen. Der gesellschaftlichen Stellung nach waren die Einwanderer nach Rußland hauptsächlich Minderbemittelte, ja selbst Mittellose, die ihr Glück in der Fremde zu finden hofften. Indes ist es eine alte Erfahrung, daß, wer nicht viel zu verlieren hat, bereitwillig das Letzte einsetzt, um vielleicht ein besseres Los zu erringen. Unter den Wohlhabenden finden wir wenige, welche die Heimat um eines unsicheren Glückes willen verließen.
Für die in den Jahren 1802—04 auswandernden Mennoniten wird die in Aussicht gestellte Befreiung vom Militärdienst (27, 15) besonders verlockend gewesen sein, zumal die napoleonischen Kriege, deren Ende nicht abzusehen war, ihnen das Leben in ihrer Heimat schwerer und unerträglicher als je erscheinen ließen. Aber auch das „Landverbot“ und der Zwang, zum Unterhalt der Iutherischen Kirche beizusteuern (27, 13), waren ein starker Anlaß zur Auswanderung.
Die zweite große Welle der Auswanderer an das Asowische Meer, die sich in den Jahren 1818—19 in Bewegung setzte, wurde ohne Zweifel angetrieben durch die unglücklichen wirtschaftlichen Verhältnisse, die 1816 und 1817 in Preußen herrschten. Diese Jahre unmittelbar nach den Freiheitskriegen waren Hungerjahre, die auf die ganze Bevölkerung schwer drückten (69, 87), weshalb sich viele leicht bereit fanden, den Wegen der früheren Auswanderer zu folgen. Halten wir uns die erwähnten Beweggründe vor Augen, im wesentlichen die große Armut weiter Volkskreise auf der einen Seite und die glänzenden Versprechungen
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Alexanders I. auf der andern Seite, so wird uns die Auswanderungsbewegung wohl verständlich.
Diese Massenauswanderungen bewogen den preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1797—1840) zu einem Erlaß, in dem die Auswanderung verboten wurde. Wie zahlreich diese in jener Zeit war, geht aus einer Notiz des Ministeriums des Innern hervor (15, vol. 4. Acta gen. 1812, 706) „Marienwerder 20. VI. 1814 — Bitten 56 mennonitische Familien um Erlaubnis nach Rußland auswandern zu dürfen, nachdem von 1802—04 schon 600 mennonitische Familien nach der Molotschna an das Asowische Meer (Rußland) ausgewandert waren.” Da man wohl wußte, daß man die Auswanderung nicht ganz unterbinden konnte, so wurde sie in einem neuen Erlasse nur mit starken Einschränkungen, die vor allem die Militärpflichtigen betrafen, gestattet. Wir veröffentlichen diesen Erlaß hier erstmals im Wortlaute in der damaligen Rechtschreibung.
Edikt Friedrich Wilhelms (III.)
die Auswanderung aus Preußischen Staaten ins Ausland betreffend.... (Berlin, Minist. Inn. Geh. Staatsarchiv Rep. 77. Tit. 226 n. 2 vol. 4.)
(Ges.-Samml. 1818 —. 15.)
Wir Friedrich Wilhelm von Gottesgnaden König von Preußen usw. usw. thun kund und fügen hiermit zu wissen:
„Die öffentlichen Verhältnisse, welche das Edikt, welches vom 2. Juli 1812, betreffend die Auswanderungen unserer Unterthanen, veranlaßten, finden gegenwärtig nach hergestelltem allgemeinem Frieden nicht mehr statt, und Wir verordnen daher nunmehr, nach erfordertem Gutachten Unseres Staatsrats Folgendes:
1. Alle Auswanderer sind künftighin unter den nachumstehenden Bedingungen freigegeben und wird das Edikt vom 2. Juli 1812 hiermit aufgehoben, so daß fortan die Auswanderungs-Fälle nur nach den Grundsätzen des allgemeinen Landrechts in allen Provinzen unserer Monarchie behandelt werden sollen.
2. Da indeß durch das Gesetz vom 3. Sept. 1814 mit Aufhebung der früheren Kanton-Verfassung eine ganz allgemeine Militairpflichtigkeit eingeführt ist, so finden Vorschriften Unseres Allgemeinen Landrechts, welche früher nur für die den Regimentern verpflichteten Kantonisten gegeben waren, namentlich die §§ 48 u. f. Tit. 10 Th. II. nunmehr ohne weitern Unterschied, auf alle diejenigen Staatsbürger Anwendung, welche nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 3ten September 1814 zum Dienst im stehenden Heere verpflichtet sind.
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3. Mit gleicher Ausdehnung und Einschränkung sollen auch in Hinsicht des Verfahrens gegen ausgetretene Militairpflichtige in allen Unsern Provinzen die Vorschriften des Allgemeinen Landrechts Th. II Tit. 20 § 468–473 zur Anwendung kommen.
4. Niemand darf ohne Vorwissen und Genähmigung der vorgesetzten Regierung aus seiner Provinz auswandern, weshalb auch alle Gesuche um Erlaubnis zur Auswanderung mit den obwaltenden Gründen unterstützt, bei der betreffenden Regierung angebracht werden müssen. Die Regierungen sind ermächtigt, die Erlaubnis zu erteilen, wenn sie sonst kein Bedenken dabei haben. In diesen Fällen müssen sie an das Staatsministerium berichten.
5. Bei der Erteilung der Erlaubnis haben die Regierungen jedoch folgende Bestimmungen zu beachten:
a) Ist der Auswandernde in einem Alter von 17—25 Jahren, so kann ihm die Erlaubnis nur dann erteilt werden, wenn er zuvor ein Zeugnis der Ersatzkommission seines Kreises beibringt, daß er nicht bloß in der Absicht auswandere, um sich der Militärpflicht im stehenden Heere zu entziehen.
b) Allen im Dienste des stehenden Heeres, also auch Kriegsreserve-Mannschaften kann die Auswanderung nicht eher gestattet werden, bis sie von ihrer Dienstbehörde die Erlaubnis erhalten haben.
c) Dasselbe findet auch auf alle active Civil Beamte Anwendung.
d) Denen, die nicht im wirklichen Dienste des stehenden Heeres sich befinden, kann die Erlaubnis zur Auswanderung ohne Erlaubnis der Militärbehörde erteilt werden.
6. Desertion wird nach bestehenden Gesetzen bestraft.
Unsere Ministerien des Innern und des Krieges sind mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt.”
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedruckten Insiegels. So geschehen und gegeben, Berlin, den 15. Sept. 1818.
Friedrich Wilhelm
L. S. c. Fürst von Hardenberg von Allenstein
Beglaubigt: Friese.
Die amtlichen Blätter brachten den Aufruf zur Auswanderung (39, 11) wie auch den Entscheid der preußischen Regierung, welcher die Auswanderung angesichts der Not im eigenen Lande gestattete.
Die Reife war weit und hart. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um uns eine Vorstellung zu machen, was das heißt, von Danzig nach Riga, durch Weißrußland nach Kremenczug, von dort nach Jekaterinoslaw (49, 335) und schließlich in die Molotschna am Asowischen Meere zu
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wandern. Und diese große Strecke war mit schwachen Pferdchen, somit zum größten Teil zu Fuß (61, 145 ff.) zurückzulegen. War auch der meiste Besitz in flüssiges Geld verwandelt worden, um die allernötigsten Zehrgroschen für den langen Weg aufzubringen, so fanden sich doch noch etwas Handgeräte (39, 9) und Weib und Kind als Zugabe. Es war ja der ausdrückliche Wunsch der Regierung, womöglich verheiratete Personen (70, XXVIII, 1804, Nr. 21 163) anzuwerben, um eine seßhafte Bevölkerung und nicht Wanderburschen ins Land zu ziehen. Die meisten Auswanderer waren unbemittelte Leute und verzehrten ihre paar Taler schon vor Erreichung ihres Reisezieles, so daß sie auf dem Wege Schulden machen mußten (61, 152). Doch beseelt von der Hoffnung, im verheißenen Lande ein unabhängiges Heim gründen zu können, überwanden sie mannhaft alle Reiseschwierigkeiten; dabei vertrauten sie auf Gottes Vorsehung (61, 146) und auf die Hilfe der Regierung. Gruppenweise zu fünf oder sechs Familien (39, 13) und ohne Anführer (39, 10, 14) trafen sie in den Jahren 1818 und 1819 in dem Molotschnaer (39, 11) und Chortitzaer (61, 150) Kolonistenbezirk ein. Hier wurden ihnen die Reisepässe und Konsense abgenommen; sie wurden gegen Bezahlung bei den ihnen vorausgegangenen Kolonisten einquartiert (61, 151), bei denen sie als Taglöhner und Handwerker (39, 11) nicht bloß ihr Brot verdienen, sondern sich sogar etwas für die Zukunft ersparen konnten. 3—4 Jahre mußten sie hier verbleiben, bis sie rechtlich in ihre neue Heimat verpflanzt wurden.
3. Die Ansiedlung.
Sonderegger 24) berichtet uns vom Mariupoler Kolonistenbezirk (Gouvernement Jekaterinoslaw) Einiges über die vorbereitenden Arbeiten, die zur Ansiedlung getroffen wurden. Diese Angaben sind um so wichtiger, als sie mit den Dorfberichten vollständig übereinstimmen. Er sagt: „Im Märzmonat 1820 erwählten sich die Einwanderer auf Befehl des Vormundschaftskontors der ausländischen Ansiedlungen zu Jekaterinoslaw drei Bevollmächtigte, welche vom Kontor bestätigt wurden und für die Sache der Ansiedlung sich bemühten, bis im Herbst 1822 den Ansiedlern das Land angewiesen und die äußern Grenzen von Griechen und Russen in Gegenwart des Gouverneurs und des Mitgliedes vom Kontor Babijewski abgepflügt wurden. Die hilfsbedürftigen Ansiedler erhielten
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24Joh. Heinrich Sonderegger, den 2. Juli 1810 in Gais (Kt. Appenzell, Schweiz) geboren, kam 1817 mit seinen Eltern nach Rußland in die französische Kolonie Chabag (Beßarabien) (61, Jahr 1913, 81). Dolmetscher am Kontor für die ausländischen Auswanderer und Redakteur des „Unterhaltungsblattes für die deutschen Ansiedler im südlichen Rußland“, (vgl. 65), Nr. 1, Jahrg. VIII, Stadtbl. Abt. I, Nr. 1189,
Malinowsky, Planerkolonien.
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auf jede Familie 300—450 Rubel Banko-Vorschuß zum Bau der Häuser und zur ersten wirtschaftlichen Einrichtung, welche Gelder im zweiten Jahrzehnt rückstandlos abgetragen worden sind.”
Es mag wohl manchen der Mut gesunken sein angesichts der wüsten baumlosen Steppe, als sie daran gehen sollten Haus und Herd zu gründen und aus dem Nichts ihren Unterhalt zu gewinnen. Aber die Kolonisten hatten ja nicht nur guten Willen und arbeitstarke Arme mitgebracht, sondern auch Kenntnisse, die sie hier besonders gut verwerten konnten. Bodenbeschaffenheit und Klima des Landes waren nicht sehr verschieden von denen an der Weichsel. Auch hier saßen sie in der Nähe des Mündungsgebietes breiter Ströme, die einen fruchtbaren Boden angeschwemmt hatten. Der Weichsel in der alten Heimat entsprach hier der Don; die gleichen breiten Strombetten, dieselben flachen Ufer mit ihren Schilfgewächsen und kleinen Inseln, dieselben natürlichen Grundlagen für Getreidebau und Viehzucht fanden sie hier vor.
Ueber die Verhältnisse, unter denen die Deutschen sich hier eine neue Heimat schufen, geben uns ein klares Bild die im Jahre 1848 auf Anordnung des Präsidenten des Fürsorgekomitees, v. Hahn, abgefaßten Berichte der Dorfschulzen. Schon längst wäre aus ihnen eine Geschichte der deutschen Ansiedler in Rußland erwachsen, wenn nicht v. Hahn so früh gestorben wäre. Die Akten lagen vor der Revolution von 1917 im Odessaer, früher Jekaterinoslawer Generalgouvernement (S. 5 ff.). Die Berichte über die protestantischen Dörfer der Planer sind bekanntlich bereits veröffentlicht worden (61, S. 143 ff.).
Die Berichte über die katholischen Ansiedlungen habe ich kürzlich herausgegeben (39, 1— 36). Es fehlt nur der Bericht über Neuhof, der aber durch andere wichtige Mitteilungen ersetzt werden kann, und der von Neu-Jamburg, das exst 1848 gegründet wurde.
Diese Berichte, auf die ich mich im folgenden stütze, enthalten höchst wertvolle Angaben über die Herkunft der Kolonisten, die Geschichte des Namens der Ansiedlung, über Bodenbeschaffenheit, Ernten, hauptsächlichste Ereignisse, Einwohnerstatistik, über die materielle Lage der Leute bei der Ankunft, den zurückgelegten Weg, über Unterstützung durch die Regierung beim Bau der Häuser und Ankauf des Viehes, Hilfe der Regierung bei Mißwachs und Teuerung. Manchmal wird auch über den sittlichen Zustand berichtet. Hin und wieder finden wir in diesen amtlichen Berichten auch treuherzige Dichtungen, die allerdings nicht formvollendet sind (39, 15).
Soweit ich diese Berichte mit dem Kolonialreglement (70, XII, VI) vergleichen konnte und mir die örtlichen Verhältnisse persönlich bekannt sind, konnte ich außer einigen Ungenauigkeiten (wie z. B. in der Angabe
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der Entfernung vom Ort der Zentralverwaltung) keinerlei fachliche Unrichtigkeiten entdecken. Die Übereinstimmung in der Stellungnahme zu verschiedenen Fragen führte mich frühzeitig zu der bestimmten Vermutung, daß von der oberen Kolonialbehörde an die nachgeordneten Dienststellen Fragebogen ausgegeben worden sind. Die von mir später in der Berliner Staatsbibliothek aufgefundene Zirkular-Aufforderung, die hier im Anhang IV im vollen Wortlaut gebracht wird, bewies die Richtigkeit meiner Annahme. Der Einklang in der Darstellungsweise aber ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß jeweils eine Beratung der Verwaltung der Abfassung der Antwort vorangegangen ist. Die Verfasser bemühen sich augenscheinlich stets, wahrheitsgemäß zu berichten.
Während des vierjährigen Aufenthaltes unserer Kolonisten in den Molotschnaer und Chortitzer Bezirken wurden die Vorbereitungen zu ihrer Ansiedlung getroffen. Da die Regierung allen gerechten Wünschen und den jeweiligen Verhältnissen der Ansiedler Rechnung tragen wollte, so ließ das Jekaterinoslawer Vormundschaftskontor im März 1820 zwei Bevollmächtigte aus der Mitte der Kolonisten wählen. Von katholischer Seite ging der spätere Eichwalder Kolonist Johann Majewsty (61, 151) aus der Wahl hervor, Iutherischerseits Christian Claassen, der sich im Jahre 1823 in Grunau niederließ. Diese beiden Männer waren die Sprecher der Kolonisten im Verkehr mit den Behörden. Sie hatten die Interessen ihrer Mitbürger zu vertreten und deren Wünsche kundzutun. Die Regierung aber brauchte solche Vertrauensmänner des Volkes schon zur sprachlichen Verständigung mit den Kolonisten. Außerdem aber sollten sie herangezogen werden bei der Aufsuchung und Abgrenzung des Landes, der Abschätzung des Vermögenszustandes und Erwirkung der Vorschüsse für die Unbemittelten sowie bei der Zusammenstellung der Listen der Wirtschaften, die in einer Größe von 60 Deßjatinen (70, XII, Nr. 155) auf die einzelnen arbeitsfähigen Familien verteilt wurden (vgl. Anhang III). Alte wie überhaupt alle zu schwerer Arbeit untauglichen Leute durften sich nur als Anwohner (39, 19) oder als Kleinhäusler 25) niederlassen und es wurde ihnen nur eine Hofstelle zugeteilt. Gruppen von 26—32 Familien sollten ein Dorf bilden (s. Tab. S. 88). Selten ging man unter oder über diese Zahl.
Bis zum Herbst 1822 waren die vorbereitenden Arbeiten so weit gediehen, daß man zur Abgrenzung des Siedelungslandes schreiten konnte. Sie wurde feierlich vorgenommen in Gegenwart des Jekaterinoslawer Gouverneuers (61, 151), des Mitgliedes des Kontors Babijewsky
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25) Manche wollten damals nicht Landwirte werden. So tauschte einer z. B. in Göttland mit P. Bojarsky seine 60 Deßi. Landes gegen ein Pferd unter Zuzahlung von 100 Rub. um, um „steuerfrei” zu sein.
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und im Beisein von Russen und Griechen. Die Wahl war auf jenes Land gefallen, das die im Jahre 1778 zwischen Kalmius und Berda angesiedelten Griechen übrig gelassen hatten und höchstens als Weide für ihre Schafe benützten (39, 11, 14). Dem Metropoliten Ignatius war es nämlich nicht gelungen, die von ihm der russischen Regierung in Aussicht gestellte Zahl von Kolonisten im Verlauf von zehn Jahren in der Krim aufzubringen (70, 24, III, 1780, Nr. 1817). Viele von den Mariupoler Griechen kehrten sogar, nach der Annexion der Krim durch Rußland, in ihre alte Heimat zurück. Die Regierung mußte Maßregeln ergreifen, um Massenrückwanderungen zu unterbinden. Nach Ablauf der zehn Freijahre war ihre Anspruchsrecht auf das nicht besiedelte Land verfallen (40, 34).
Dies brachliegende Land wurde unseren Kolonisten nach einem von der Regierung entworfenen Plane (31, 14) zur Besiedlung (40, 40 ff.) angewiesen. Das ganze ihnen zugefallene Gebiet nannten die Ansiedler schlechthin Plan 26). Diese Bezeichnung war um so treffender, als auch die Dörfer nach einem behördlich vorgezeichneten Plane angelegt wurden. Daher hießen auch diese Kolonisten zum Unterschiede von den anderen Planer, und unter diesem Namen sind sie bis zum heutigen Tage in der Krim, in der Molotschna, in Chortitza und im Dongebiet bekannt.
Da auf dem „großen Plane” außer vereinzelten elenden Hirtenhütten (39, 9, 13) keine Herberge zu finden war, so mußten die Ansiedler in Anbetracht der vorgerückten Jahreszeit bis zum kommenden Frühling (1823) (61, 146) in ihren vorläufigen Aufenthaltsorten bleiben. Wahrscheinlich wurden den Schwachbemittelten die Regierungsvorschüsse von 300—450 Rubel banko (39, 11) pro Familie schon im Winter 1822— 23, wenn nicht ganz, so doch zum Teil ausgehändigt. Das fürsorgliche Komitee wollte seine Schützlinge in den arbeitslosen Wintertagen nicht müßig sitzen lassen. Mit den Vorschüssen sollten sie sich Pferde (61, 144) Wagen, Ackergerätschaften und so vieles andere für den Wirtschaftsbetrieb noch vor Frühlingsanfang beschaffen.
Sobald die kalte Jahreszeit zu Ende ging, regte sich neues Leben auch unter den Planern. Aus der Molotschna und aus Chortitza strömten sie auf den Plan, um von ihrem langersehnten Stück Land Besitz zu ergreifen. Aber noch gab es viele Schwierigkeiten zu überwinden. Mancher wollte angesichts der ungeheueren Aufgaben verzagen, beim Anblick der offenen Steppe, unter freiem Himmel, auf weiter Flur kein Haus (39, 13), kein natürlicher Schutz auch nicht für eine Nacht! Auch der abgehärtete Mann hat da wohl manches Gefühl von Bangigkeit unterdrücken müssen. Und erst das feinfühlendere Geschlecht wird wohl Tränenbäche haben fließen lassen, — weinte doch auch der Himmel die ersten 14 Tage
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26) Ich hatte Gelegenheit mit Leuten zu sprechen, die, wie sie sich ausdrückten, „auf dem Plane geboren waren”.
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gleich nach ihrer Ankunft auf den Plan (61, 146). Doch durften Leute, die unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen einen Weg von Danzig bis ans Asowische Meer zurückgelegt hatten, die eine vierjährige mit vielen Unannehmlichkeiten verbundene Wartezeit hinter sich hatten, nach all den Strapazen am Endziel ihrer Reise den Mut nicht verlieren. Rasch entschlossen griffen sie denn auch zu Spaten und Schaufel und begannen mit dem Bau einfacher Hütten. Sie gruben Löcher in die Erde, führten niedere Seitenwände auf, überzogen als vorläufigen Unterschlupf einen Teil des Baues mit „Plänen” (auch Presente genannt: große, grobe Wagendecken). An ihre Stelle traten aber bald Bretter, die man mit Erde überschüttete, so daß nun das Dach dem Unwetter stand hielt. So wuchs eine Lehmhütte (39, 19; 61, 146) um die andere aus dem Boden, und aus dem ganzen Plan entstand Gassendorf um Gassendorf. Die Regierung hatte die Hauptgrenze um den ganzen Plan gezogen und jedem Dorfe seine Markung angewiesen, wobei nur kulturfähiges Land angerechnet wurde, nicht aber das Unland 26a). Aber auch dies ist später meist angebaut worden. Daher kommt es, daß schließlich manche Dörfer eine verhältnismäßig zu große Markung haben. Die Regierung sonderte auch gleich das sogenannte Schäfereiland für eine Mutterschafzucht, im ganzen 2140 Deßjatinen (s. Tab. I. Anhg. V) aus. Auch das Pfarrland für das katholische Eichwald und für das Iutherische Grunau zu je 120 Deßjätinen (70, XII cz. II, Nr. 155) war genau abgesteckt. Das Fürsorge-Komitee führte die Ansiedlung (vgl. die Karte und die Tab. I, Anh. V) unter Berücksichtigung der konfessionellen Gliederung (31, 11 ff.) durch, so daß dem Geistlichen die Seelsorge erleichtert war.
Den Namen des Dorfes zu wählen, war den betreffenden Bewohnern anheimgestellt (39, 12 auch 61, 163). Doch hatte sich das Kontor das Bestätigungsrecht vorbehalten (39, 8, 9). Bei dieser Wahl zeigte sich so recht die Liebe zur alten Heimat; nach deren Dörfern wurden die meisten Kolonien benannt (vgl. S. 23). Mitunter war auch eine hervorragende Persönlichkeit, ein besonders verdienter Kolonisator oder die örtliche Lage (39, 19; 61, 159) ausschlaggebend.
Damit sich alles nach den von dem Fürsorge-Komitee vorgezeichneten Grundlinien entwickelte, war für eine örtliche Verwaltung gesorgt worden. Zur Dorfverwaltung zählten der Schulz (starosta) und zwei Beisitzer (70, XII cz. II, Nr. 16). Mehrere Dörfer waren jeweils zu einem Gebiet zusammengefaßt, dessen Haupt der Oberschulz (wolostnoj starschina = Gebietsvorsteher) (70, XII, II, 15) war, der in unmittelbarer Berührung mit den Kolonisten stand und aus deren Mitte gewählt wurde.
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26a) Unland nennt man im Süden Rußlands für den Ackerbau wenig geeignetes, steiniges oder sumpfiges Land, das aber doch als Viehweide benutzt werden kann.
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Dieser Verwaltung lag es ob, das dem Dorfe zugewiesene Land zu verteilen. Die Regierung hatte das Land als Erbgut auf ewige Zeiten geschenkt, doch nicht als persönliches Eigentum, sondern als Gemeingut 27). Dementsprechend wurde auch der Wirtschaftsanteil mit 60 Deßj., für die Mennoniten 65 Deßj. (70, XII, II, Nr. 155) nirgends in einer umgrenzten Parzelle angewiesen. Vielmehr wurden nur Hof und Garten in einem Ausmaß von 30 x 80 bis 30 x 120 Faden (61, 171) jedem besonders zugeteilt. Dagegen bildeten Weideplätze, Heuschlag, Wald und Ackerland gemeinschaftliches Gut. Letzteres war in eine größere Anzahl von Gewändern oder Gewannen 28) geteilt, die in verschiedenen Richtungen und Entfernungen lagen. Diese Landzerstückelung hatte ihre Vorteile; denn da die Ertragsfähigkeit und die Entfernung der einzelnen Grundstücke keineswegs überall gleich waren, so wurde dadurch eine gerechte Verteilung des Feldes ermöglicht. Nachteilig dagegen war, abgesehen von der zeitraubenden Bearbeitung, die eine solche Flurteilung erfordert, vor allem die Bestimmung, daß das Land alle 15—20 Jahre neu verlost und vermessen werden sollte. Die Regierung aber verfolgte mit der Schenkung des Landes als Gemeindegut noch einen besonderen Zweck: sie wollte den Massenrückwanderungen, wie sie bei den Bulgaren und Griechen (40, 40) vorgekommen waren, vorbeugen und zugleich die ganze Gemeinde für die Steuerleistungen haftbar machen.
Die großen Land- und Dorfstraßen mußten laut Gesetz mindestens sechs Faden (12½ m) breit sein (70, XV und I, 1394), fielen übrigens in Wirklichkeit meist sehr viel breiter aus. Zu beiden Seiten der Straße zog sich je eine Häuserreihe. Die Bevorzugung der Nähe eines Baches (39, 19) erklärt sich aus dem allgemeinen Wassermangel oder der schlechten Beschaffenheit des Grundwassers, die im Fall von Tiegenhof sogar zu einer Umsiedelung führte (61, 145, 169). Die Brunnen sind 3—15 Faden tief, haben aber oft nur 1—2 Arschin tief Wasser (34, 30) 29).
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27) Durch das Stolypinsche Landgesetz von 1906 wurde der Gemeindebesitz aufgehoben und Eigentumsrecht eingeführt. Für die meisten Kolonisten bedeutete dieses bloß eine Bestätigung de jure, was sie de facto besaßen.
28) Der Anteil des einzelnen Wirtes an der Gewann betrug etwas weniger als eine Deßjatine,
29) Kaiser Alexander I. ließ in den Jahren 1825–30 an den sogenannten Tschumakenwegen (Tschumak = kleinrussischer Fuhrmann, der, ehe die Eisenbahnen aufkamen, meistens mit Ochsenmwagen Salz, Fische u. a. Waren transportierte), in Abständen von 25—30 Werst auf Kosten der Krone Brunnen graben. Sie sind zum Teil auch weiterhin in Ordnung gehalten worden; so trifft man sie z. B. auf dem Wege nach Mariupol in Grunau und Kaltschick. Im Volksmunde heißen sie Alexander-Brunnen (Alexandrowskie kolodzy). Seit 1838 hat sich ihr Wasserstand merklich gebessert (vgl. 34, 65).
Zur Aufspürung des Wassers wendet man folgende bewährte Methode an: Man nimmt 5 Lot (64 8) ungelöschten Kalk, 5 Lot gestoßenen Schwefel, 5 Lot Grünspan, 5 Lot weißen Weihrauch, zerstößt alles zu feinem Pulver, legt obendarauf 5 Lot verlorene Schafwolle, tut alles in einen unglasierten Topf, deckt ihn mit einem unglasierten Deckel zu, wiegt ihn mit feinem Inhalt ab, vergräbt ihn einen Fuß tief (30,5 cm) in der Erde, wo man den Brunnen graben will, und deckt ihn mit der ausgegrabenen Erde zu. Nach 24 Stunden nimmt man den Topf heraus und wiegt ihn ab. Ist das Gewicht dasselbe geblieben, dann ist an dem betreffenden Orte keine Hoffnung auf Wasser. Hat das Gewicht aber zugenommen, dann findet man Wasser und zwar bei der Zunahme von 2 Lot (25,6 g) auf 75 Fuß (22,8 m) Tiefe, 4 Lot — auf 50 Fuß, 6 Lot — auf 37½ Fuß, 10 Lot — auf 10½ Fuß usw. (65, vom 3. X. 1848).
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Anfangs waren die Höfe durch eine Furche, später durch einen Graben oder Strohzaun abgegrenzt. Letzterer wurde aber bald durch einen Bretterzaun ersetzt. Seit einigen Jahrzehnten werden gegen die Straße in der Regel kleine Mauern aufgeführt, während die Seitengrenzen vielfach von Kirsch- oder Maulbeerhecken gebildet werden. Rechts der Einfahrt steht das Wohnhaus mit einer großen, kleinen und Sommerstube, einem Vor- und Hinterhauszimmer mit Küche und Kammer sowie mit einem gewölbten oder mit Brettern überdeckten Keller. Unter gleichem Dach reiht sich der Viehstall an. Die Scheune, die entweder eine weitere Verlängerung des ganzen Baues oder einen Querbau bildet, schließt das Ganze ab. Zwei dem Dorfe Göttland entnommene Beispiele von Hof und Haus zeigt die hier beigefügte Zeichnung 29a).
Dem Wohnhaus gegenüber stehen die Nebengebäude, deren äußere Längsseite fast die Hofgrenze berührt: es sind der Getreidespeicher, Schafstall, Hühnerstall, Remise und der Raum für Brennzeug. Wo der Speicher fehlt, müssen Haus- und Stallboden seinen Dienst versehen. Vor dem Hause nach der Straße zu befindet sich der Blumengarten, der in der Regel mit dem großen Obstgarten in Verbindung steht (s. S. 87). Blumen erfreuen sich bei den Planerinnen einer ganz besonderen Pflege. Von Hunderten von Arten erwähne ich nur die seltene Fünfwundenblume (Passiflora) mit allen Insignien des Leidens Christi und die Wachsblume (Cerinthe), die mit ihrem starken, lieblichen Duft beim Aufblühen einer Knospe das ganze Haus erfüllt.
Besonders genaue Angaben finden sich in den Berichten an das Fürsorge-Komitee über die Familien der einzelnen Kolonien und über die Entfernung der Dörfer von der Gouvernementshauptstadt Jekaterinoslaw, der Kreisstadt Alexandrowsk und der Hafenstadt Mariupol. Es ist dies leicht erklärlich, wenn man bedenkt, daß Jekaterinoslaw bis zum Jahre 1837 (vgl. S. 52) der Sitz des Vormundschafts-Kontors für ausländische Ansiedler war und daher namentlich in Siedlungsangelegenheiten
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29a) Vgl. den Plan von Höfen und Häusern im Dorfe Göttland S. 87
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immer wieder aufgesucht werden mußte. Alexandrowsk lag ohnehin am Weg nach Jekaterinoslaw, so daß auch die Entfernungen nach dieser Stadt immer wieder sich einprägten, und Mariupol, die Hafenstadt, wurde als Platz für den Absatz des Getreides ihrer viel näheren Lage wegen, der Kreisstadt vorgezogen. Mit der Aufhebung der Kolonistengesetze durch Alexander II. (4. April 1871) (s. S. 53) wurden die Planer dem Mariupoler Kreise zugeteilt. Von da an war Mariupol der Treffpunkt der Kolonisten aus der ganzen weiteren Umgegend, selbst aus dem Dongebiet.
Mit Gründung der Jefaterinoslawer Statthalterschaft wurde Mariupol zur Kreisstadt erhoben. Von 1807 an gehörte Mariupol zur Taganroger Stadthauptmannschaft, fiel 1871 an das Jekaterinoslawer Gouvernement zurück (vgl. 40, 81).
Die statistiiche Tabelle I—III im Anhang ist nun zu betrachten. Sie gibt ein vollständiges Verzeichnis 1. der alten deutschen Dörfer im Mariupoler Kolonistenbezirk, einschließlich der Mennonitensiedlungen, 2. der Tochterkolonien mit eigenem Land im gleichen Bezirk und 3. der deutschen Dörfer im Berdjansker und im Molotschnaer Kolonistenbezirk. Die unter 1. und 2. aufgeführten Siedlungen lagen (s. S. 88—90) im Gouvernement Jekaterinoslaw, die unter 3. im Taurischen. Die Angaben über das Gebiet (Wolost), zu dem das einzelne Dorf gehört, und über seine Poststation beziehen sich auf die Zeit vor 1917, gelten vermutlich noch heute.
Die Zahlenangaben über das Kronland, die Häuser, die Seelen und die Schule sind den Dorfberichten entnommen, dürften zum Teil nur annähernd richtig sein.
Um die zwei wichtigsten Angabenreihen der Tabellen I bis III zusammenzufassen und einen Überblick über das gesamte Deutschtum und seinen Landbesitz in den Gouvernements Jekaterinoslaw, Taurien und Dongebiet zu geben, ist die nachfolgende Tabelle zusammengestellt (nach 53, 21 ff.) 30), die ich für einigermaßen zuverlässig halte. Sie gilt für das Jahr 1912. Von Taurien und dem Dongebiet sind nur die Kreise aufgeführt, in denen Deutsche in größerer Zahl siedeln. S. Tab. S. 41.
Die Gesamtheit der Kolonien oder „der Kolonieplan” wurde in Bezirke und diese in Gebiete eingeteilt. Zu jedem Gebiete gehörte eine Gruppe von Kolonien, von denen jede ihre besondere Nummer führte. Noch bis heute spielt die Nummer des Dorfes in der Umgangssprache
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30) (53, 21 ff.). Herr Edmund Schmidt lebte 20 Jahre in Rußland, war daselbst mehrere Jahre Redakteur und beschäftigte sich eingehend mit der Land- und Bodenstatistik der Ansiedler. Seine Zahlenangaben gehören bis jetzt zu den genauesten, die man überhaupt von Rußland haben kann.
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Gouvernement |
Kulturland |
Bevölkerungszahl |
Kreise: |
Deßjät |
Deßjät. |
% |
insgesamt |
deutsche |
% |
Mariupol 31) |
578672 |
193677 |
33,48 |
368800 |
32657 |
8,85 |
Alexandrowsk |
631659 |
250076 |
39,6 |
413500 |
22810 |
5,51 |
Jekaterinoslaw |
774404 |
181026 |
38,18 |
504300 |
26956 |
5,34 |
Bachmut |
581614 |
191631 |
33,0 |
527500 |
22581 |
4,28 |
Wechne-Dnjeprowsk |
442328 |
35813 |
8,09 |
312100 |
4500 |
1,44 |
Nowo-Moskowsk |
411830 |
55273 |
13,42 |
397900 |
7478 |
1,88 |
Pawlograd |
5555852 |
72368 |
13,0 |
389900 |
6289 |
1,6 |
Slawjanoserbsk |
320909 |
22659 |
7,0 |
300900 |
1534 |
0,5 |
Gouv. Jek. ganz |
4297268 |
1012523 |
|
3214900 |
124905 |
|
Gouv. Taurien ganz
davon Kreise: |
3536782 |
1352609 |
38,2 |
1965900 |
135875 |
6,91 |
Berdjansk |
512645 |
238944 |
46,6 |
427000 |
36324 |
8,5 |
Melitopol |
774691 |
183596 |
23,7 |
532600 |
27929 |
5,24 |
Simferopol |
264908 |
183839 |
77,78 |
175000 |
16061 |
9,18 |
Perekop |
340188 |
263669 |
77,5 |
66100 |
27162 |
41,0 |
Feodosia |
330403 |
199744 |
60,5 |
131101 |
10733 |
8,18 |
Dnjeprowsk |
763443 |
206454 |
27,0 |
308800 |
6790 |
2,2 |
Eupatoria |
335462 |
73652 |
22,0 |
81700 |
7600 |
9,3 |
Jalta |
97510 |
589 |
0,6 |
108800 |
3240 |
2,98 |
Dongebiet-Kreise:
Taganrog |
893183 |
196236 |
22,0 |
607800 |
21300 |
3,5 |
Rostow |
- |
33024 |
- |
524600 |
4300 |
- |
1. Don |
- |
24768 |
- |
387900 |
2900 |
- |
Sal |
- |
8256 |
- |
111300 |
1100 |
- |
Ust-Medwiedizkaja |
- |
49536 |
- |
352800 |
5900 |
- |
eine große Rolle und nur selten werden die Dörfer nach dem Namen benannt,
Auch die benachbarten Russen und Griechen und selbst der „ewige“ 32) Vorsitzende des Mariupoler Landschaftsamtes, Gosatinow, pflegen die Kolonien nur nach den Nummern zu bezeichnen. Diese Art der Benennung geht sogar so weit, daß allem Großvieh die Dorfnummer auf dem rechten oder Iinken Bein eingebrannt wird.
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31) Der Kreis Mariupol, der für uns von besonderem Interesse ist, hat eine Gesamtgröße von 8064 Quadratwerst (9176,89 qkm) = 853,656 Deßj., Kulturland 578 672 Deßj. (6322,057 qkm), deutscher Besitz 193 677 Deßj. (2115,9 qkm). das ganze Gouvernement Jelaterinoslaw umfaßt 55 705 Quadratwerst (53, 22) Kulturland 38 436 Quadratwerst (43 739,6 qkm), deutscher Besitz 9642 Quadratwerst (10 972,5 qkm), 25 % des Kulturlandes.
32) Von den Planern so genannt, weil er 40 Jahre ununterbrochen seines Amtes als solcher waltete.
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III. Abschnitt, Siedlerleben.
1. Wirtschaftliche Entwickelung.
Das erste Jahrzehnt nach der Niederlassung war eine Zeit schwersten Ringens um den nackten Lebensunterhalt. Die Kolonisten mußten unter äußerst erschwerenden Umständen mehrere Aufgaben zugleich in Angriff nehmen. Das für die erste Not errichtete Obdach (vgl. S. 37 f.) konnte für die Dauer nicht standhalten und mußte durch eine vollkommenere Wohnung ersetzt werden. Aber es waren auf dem ganzen Plane außer dem nur zum Fundamente tauglichen Gestein (vgl. 39, 14, 17) keine Baumaterialien aufzutreiben. Zur Herbeischaffung des Bauholzes, zu der sich in der Regel der größte Teil der Gemeinde gleichzeitig auf den Weg machte, brauchte man eine bis zweieinhalb Wochen. Die Luftziegel (39, 13) zur Aufführung der Mauern wurden an Ort und Stelle aus Lehm oder Grand, vermischt mit angefaultem Bocht (= Stroh) und Pferdemist, gestrichen und an der Luft getrocknet. Das Lehmdach, wurde durch ein Rohr- oder Strohdach ersetzt. Bei allen diesen Arbeiten half man sich, dem Hinweis des Gesetzes entsprechend, gegenseitig aus (39, 19 und 70 XII cz. II Nr. 323), eine Sitte, die sich vielfach bis heute erhalten hat. So entstanden in den Jahren 1824-25 dauerhafte und hübsche Häuser. Gleichzeitig mußte aber auch für die Bestellung der Felder gesorgt werden, und das war bei dem großen Mangel an Ackergerätschaften nicht leicht (39, 9). Dazu kam der Kampf um das tägliche Brot, wie aus allen Berichten zu ersehen ist. Die Regierungshilfe wurde zwar gewährt, aber in Geld; und das Fehlen von Verkehrsmitteln und die Unkenntnis der Landessprache erschwerten die Lage der Kolonisten sehr, konnten sich doch die Planer mit ihren Nachbarn, den Griechen, und mit den Russen nur durch Zeichen verständigen. Am schwersten drückten die Notzeiten, die durch unvorhergesehene Ereignisse hervorgerufen wurden. Im ersten Jahre (1828) konnte trotz der guten Ernte der geringen Aussaat wegen nur soviel eingebracht werden, als zur Nahrung erforderlich war (61, 147). Die Ernteaussichten des Jahres 1824 berechtigten zu glänzenden Hoffnungen, doch Heuschreckenschwärme, die über das Asowische Meer (39, 9) herflogen, vernichteten die prangenden Felder und Wiesen. Da die Heuschreckennester nicht zerstört
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worden waren, so wurden in den beiden folgenden Jahren (1825 bis 1826) die Saaten vom gleichen Schicksal betroffen, wenn auch nicht im selben Umfang (61, 147). Nur die unentgeltliche Beschaffung des Saatguts durch die Regierung konnte das Los der Heimgesuchten etwas mildern. Im strengen Winter 1825 mußten Mensch und Vieh frieren und hungern. Das acht Wochen lang andauernde Schneegestöber (39, 11) verschüttete Brennzeug und Futter und unterband jeden Verkehr. Zu all dem kamen für einzelne Kolonien noch besondere Schicksalsschläge. Ein Platzregen verursachhte 1824 bei Eichwalde eine große Überschwemmung und riß alles Heu mit fort (39, 12). Den Kirschwäldern raffte 1827 eine Viehseuche das Vieh weg (61, 144). 1828 vernichtete ein Hagelwetter die besten Ernteaussichten der Kaiserdörfer (30, 9).
Allerlei Krankheiten, die natürlichen Begleiter der Armut und des Elends, blieben auch hier nicht aus (61, 147). Kaum konnten die Leute etwas aufatmen, brach das Schreckensjahr 1833 herein, von den Planern auch das Hungerjahr oder das Schwarze Jahr genannt. Eine furchtbare Dürre verwandelte Wiesen und Felder zu grauen Wüsten. Tobende Stürme hatten ganze Erdschanzen aufgehäuft und der Erde jegliche Feuchtigkeit entzogen. Die Schnitter gingen zur Zeit der Ernte mit leerer Hand aus: die Erde war schwarz, nicht einmal gekeimt hatte die Saat. Der große Futtermangel hatte Viehseuche und Pocken im Gefolge, so daß Rinder und Schafe massenhaft starben (39, 15). Dort mußte die Regierung tatkräftig eingreifen, wollte sie nicht das große Siedlungsunternehmen zerstört sehen; die evangelischen Planer wurden außerdem auch noch von ihren Glaubensbrüdern unterstützt (61, 156). So bedeutete das Jahr 1833 für die Planer einen Höhepunkt des Elends. Aber auch nachher noch wurden die Planer, wenn auch nicht mehr so allgemein, von herben Schicksalsschlägen betroffen. So raffte eine Viehseuche im Jahre 1834 in Kleinwerder (39, 17) und Bellowesch (61, 163) und im Jahre 1838 in Tiegenort (30, 14) fast alle Rinder weg. Ein starkes Hagelwetter vernichtete im Jahre 1837 in Elisabetsdorf (61, 161) die Hälfte des noch auf dem Halm stehenden Getreides, Am 11. Januar 1838, abends 9 Uhr, wurde ein etwa eine halbe Minute dauerndes Erdbeben wahrgenommen, das zum Glück keinen Schaden verursachte. Die in den Jahren 1842 (61, 149), 1843 (39, 10) und 1844 (61, 150) zahlreich auftretenden Steppenmäuse richteten in den Getreidefeldern erheblichen Schaden an. Doch wurde dank der energischen Maßregeln von seiten des Fürsorgekomitees diesem Uebel bald gesteuert. Es mußte nämlich jeder Wirt jährlich 80 Paar Hinterbeine von eingefangenen Steppenmäusen (Zieselmäuse = susliki) im Schulzenamte einliefern (61, 158). Die Akten berichten ferner von Orkanen, unter deren Gewalt 1842 Elisabetsdorfs
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(61, 161) Glockenturm und Mühle einstürzten, ferner von pestartigen Viehkrankheiten, die 1844 in Elisabethdorf und 1848 in Großwerder (39, 18) und Belowesch starke Lücken in den Viehstand rissen. 1847—48 ergriff die Seuche in Kronsdorf und Tiegenort auch die Pferde, ein besonders harter Schlag, da gerade Erntezeit war (61, 150). Und schließlich wurden alle Gemeinden nacheinander von einem drei Wochen lang anhaltenden, heftigen Schneegestöber (25. Dezember 1847 bis 15. Januar 1848, siehe Lit.39, 9) betroffen, das nicht bloß an Gärten und Zäunen großen Schaden anrichtete, sondern auch Menschen und Vieh mancherlei Leid zufügte.
Trotz dieser anfänglichen Notlage haben sich die Kolonisten verhältnismäßig rasch emporgearbeitet, und es ist daher der Untersuchung wert, wie es kam, daß es jene armen Leute in nicht allzu langer Zeit fast durchweg zu Wohlstand brachten.
Zwei Gründe haben wir schon in anderem Zusammenhange erwähnt, nämlich die Fruchtbarkeit des Bodens (vgl. S. 9) und die Strebsamkeit der Planer. Dazu kamen noch die Steigerung des Bodenwertes und die besondere Gesetzgebung Rußlands. Die eigens für die Kolonisten verfaßten Gesetze (70 XII cz. II) bedeuteten den Ausbau der in den Manifesten Katharinas II. und Alexanders I. enthaltenen Gedanken. Diese Gesetzgebung hat die wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Ansiedlungen in Rußland entscheidend beeinflußt. Es war das aufrichtige Bestreben der Regierung, die Wohlfahrt unter den Ansiedlern in jeder Hinsicht zu fördern. Fassen wir daher die einzelnen hier in Frage kommenden Bestimmungen näher ins Auge.
Zur Abwendung von Getreidemangel durch Mißernten war bestimmt, daß in sämtlichen Kolonien Getreidemagazine (39, 10, 15) (sapasny chlebny magasin) angelegt werden sollten. Zur Füllung derselben hatte jeder Wirt nach der Ernte alljährlich ein halbes Tschetwerik Winterkorn und ein halbes Garnetz (etwa 1 kg) Sommerkorn abzuliefern (70 XII, cz. II Nr. 302—307). Das war zwar auf den einzelnen eine sehr geringe Menge, aber es ergab im Laufe der Jahre doch einen stattlichen Vorrat. Das alte Getreide wurde fast alljährlich gegen neues umgetauscht.
Die Oberschulzen und Dorschulzen hatten die gesetzliche Pflicht, sich die Hebung der Landwirtschaft angelegen sein zu lassen (70 XII, II, 310 ss.). Sie sollten auf Grund von regelmäßigen Beobachtungen der Boden- und Klimaverhältnisse bei der Behörde Vorschläge zur Förderung der Landwirtschaft machen. Kein Kolonist durfte seine Wirtschaft übergeben oder verkaufen. Ausgenommen waren alte Leute, die keine Nachkommen hatten und zur Wirtschaftsführung nicht mehr fähig waren. Aber auch in solchen Fällen war die Zustimmung der Ortsbehörde
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nötig (70 XII, cz. II 309). Die Oberschulzen und Schulzen sollten die Kolonisten dazu anhalten, ihre Wirtichaft, insbesondere auch die Ackergeräte in Ordnung zu halten, und mußten darauf achten, daß ein jeder stets das Doppelte an nötigem Saatkorn für die einzelnen Getreidearten vorrätig hatte. Während der Saatzeit im Frühling und im Herbst waren sie verpflichtet, die Ackerfelder zu besichtigen und sich zu überzeugen, ob dieselben zweckentsprechend bearbeitet wurden. Das Dreschen der Frucht sollte bei gutem Wetter geschehen. Zu ihrer Aufbewahrung hatte man aus Weiden geflochtene und mit Lehm beworfene Behälter. Falls eine Familie nicht imstande war, ihre Feldarbeit allein zu bewältigen, hatte die Gemeinde Hilfe zu leisten (70 XI, cz. II Nr. 323). Zu solcher Hilfeleistung wurden häufig die zu Gemeindearbeiten Verurteilten herangezogen (70, XII, 438).
Neben der Sorge für den Feldbau hatten die Gebiets- und Dorfsvorsteher auch auf die Viehzucht ihr Augenmerk zu richten (70 XII, II, 327). Sie sollten die Kolonisten zur Zucht geeigneter Vieh- und Schafrassen aufmuntern und zur sorgfältigen Pflege von Vieh und Pferd anhalten. Zweimal im Jahre mußten sie dem Fürsorgekomitee kurze tabellarische Verzeichnisse des Viehstandes einreichen. Ferner hatten sie zur Zeit der Heuernte darauf hinzuwirken, daß die Wirte sich genug Winterfutter besorgten und das Heu richtig behandelten. Wo Heumangel herrschte, mußten künstliche Wiesen angelegt werden.
In ähnlicher Weile gab es zahlreiche gesetzliche Bestimmungen über Gemüse- und Gartenbau, über Weinbau, Weinbereitung usw.
Auch für eine vernünftige Forstwirtschaft waren gesetzliche Anordnungen gegeben. Schon Kantenius, der dritte Präsident des Fürsorgekomitees in Neu-Rußland, schrieb den Regenmangel dem Fehlen von Wäldern zu und traf daher die Bestimmung, daß alle Kolonien sich befleißigen sollten, Waldungen anzulegen. Auf jeder Wirtschaft mußte eine halbe Desj. Wald 33) angepflanzt werden (39, 18). Die Setzlinge erhielten die Kolonisten damals aus der großen Baumschule bei Jekaterinoslaw; eine eigene besitzen die Planer seit einigen Jahrzehnten in Grunau 34). Unnötiges Abholzen war verboten (70, XII, cz. II, 348), ebenso der Holzverkauf nach anderen Gegenden. Staatsrat von Hahn war es, der den berühmten Befehl ergehen ließ: „Die Bäume müssen wachsen“, und sie wuchsen. Wie wohltuend stechen diese Kolonien mit ihrem reichen Grün heute von den Russen- und Griechendörfern ab. Die Pflege der Maulbeerbäume
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33) Es bestand damals bereits unter den Kolonisten ein Waldgarten-Verein (30, 17).
34) Auch sind in nächster Nähe — in Gajczul und in Kalczik — von den Mennoniten unterhaltene Fermen, die Setzlinge aller Art sehr wohlfeil liefern.
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wurde ganz besonders empfohlen, um die Seidenwurmzucht, die am Ausgang der Neunziger besonders blühte, zu ermöglichen (70, XII, cz. II, 340, 344 und 61, 148). Alle diese gesetzlichen Bestimmungen mögen kleinlich erscheinen, und vielleicht wurden die Leute — nach russischer Art — wirklich etwas reichlich bevormundet. Jedenfalls aber haben die Verordnungen einen sehr günstigen Einfluß auf die Entwicklung der Kolonien gehabt, wie wir in folgendem sehen werden.
Südrußland gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Europas und ist daher für den Anbau sehr vieler Kulturgewächse im hervorragenden Maße geeignet. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war bei den Kolonisten die Vierfelderwirtschaft allgemein verbreitet. Obwohl sie sich gut bewährte, konnte man sich das Brachfeld nicht mehr leisten, als die Bevölkerung mehr und mehr zunahm. So gingen schon in den 50er Jahren des verflossenen Jahrhunderts die Mariupoler Kolonisten zum Dreifeldersystem über und zwar in der Weise, daß sie auf frisch umgebrochener Wiese oder auf Brachland im ersten Jahr Weizen, im zweiten Roggen und im dritten Gerste oder Hafer säten. Vom Brachland wurde der größere Teil zur Viehweide, ein zweiter zu Burjan (Heuschlag) benützt, während man auf einem dritten — und zwar auf dem am meisten verunkrauteten Teile — Welschkorn (Mais — Kukurusa) pflanzte oder Boschtany (Feldgärten) anlegte. Nur von einzelnen Wirten und nur auf den dem Dorf nächstliegenden Äckern wurde gedüngt.
Die Anlegung des Seehafens in Mariupol (40, 306 und 61, 157) durch die Regierung im Jahre 1832 trug zur Hebung der Wirtschaft sehr viel bei. Die Preise gingen rasch in die Höhe, z. B. für Weizen von 4 Rubel banko (61, 152) auf 22 Rubel (39, 14) pro Tschetwert, für Hafer von 20 Kopeken banko auf 4—6 Rubel und für Roggen auf 24 Rubel das Zschetwert (61, 161 35). So ist es erklärlich, daß unter den verschiedenen Zweigen der Landwirtschaft der Getreidebau bei den Kolonisten bald an erster Stelle stand. Die Felder wurden vor allem mit Weizen, Roggen, Gerste, versuchsweise auch mit zweizeiliger Sommergerste bestellt. Besonders pflanzten die Planer Girka, eine Weizenart ohne Grannen, welche bis zur Hälfte des 19. Jh. in den Häfen des Mittelmeeres als die beste galt (40, 310). Aber auch andere Arten, wie Krasnokolskfa, eine griechische Weizenart mit rötlichen, langen Aehren und kurzen Bärten, und Czernokoloska (schwarzbärtiger, von den Nachbargriechen Kara- Kiltschik genannt) wurden vielfach angebaut und besonders von Italien
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35) Die Errichtung der Eisenbahnlinie Elenowka-Mariupol (1880–91) (40, 306) und ganz besonders die von Alerandrowsk bis Wolnawacha (1898 bis 1912) hoben die Preise für Butter, Eier, Gemüse, Geflügel usw. um das 4—6fache.
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zur Fabrikation der Makkaroni gesucht (47, II, 345). Hafer wurde fast nur am Asowischen Meere angebaut. Dagegen waren Mais, Spelz, Hirse, Flachs, Lein und Kartoffeln wieder überall zu treffen. Die Kolonisten holten oft von weither die Saatfrucht, um durch Fruchtwechsel die Ertragsfähigkeit zu steigern. Weizen wurde als Sommer- und Winterfrucht angebaut. Nicht zu vergessen sind die Boschtany mit ihren süßen Arbusen (Wassermelonen), Zucker- und Putzmelonen, die monatelang eine leckere und nahrhafte Zukost unserer Kolonisten bilden. Kürbisse und rote Rüben, aus denen die Planer auch einen ausgezeichneten Syrup bereiten, wurden in großer Menge für Schweine und Kühe gezogen.
Zum Lobe der Planer Frauen sei noch bemerkt, daß sie fast alle Gemüsearten wie Gelbrübe, Wruke, Petersilie, Zwiebel, Kraut usw. selbst anpflanzen.
Die Pferdezucht machte ebenfalls große Fortschritte. Viele Kolonisten brachten Pferde aus ihrer alten Heimat mit. Aber diese Pferde waren für die südrussische Steppe anscheinend nicht geeignet. Schon der dritte Vorsitzende des Fürsorgekomitees, der Staatsrat Kantenius (1800—1830), bemühte sich um die Veredlung der Pferderasse. Später wurden von den Mennoniten einige Hengste friesischer und normannischer Rasse angeschafft, um die einheimische Zucht zu veredeln. Und die Regierung stellte oft Zuchthengste an bestimmten Orten unentgeltlich zur Verfügung. Ebenso haben Edelleute und Gutsbesitzer in Südrußland viel zur Verbesserung der Pferdezucht beigetragen.
Die Rindviehzucht dagegen kam schon viel schneller in die Höhe. Anfangs hatten die Kolonisten meist Kühe von der podolischen oder Steppenrasse, die freilich nicht zu den besten zählte. An der Molotschna hielt man auch Schweizer- und Friesländer Vieh, das dann zusammen als „Molotschnaer Vieh“ bezeichnet wurde und als solches auch in das Mariupoler Kolonistengebiet kam. Nachher wurde von den Mennoniten die sogenannte Cholmogorer Rasse eingeführt und mit der einheimischen vermischt. Aus dieser Kreuzung entstand eine sehr gute kräftige, große Rindviehart. In neuerer Zeit kam noch die ungarische Rinderrasse dazu.
Die gesetzlich vorgeschriebene (70 XII cz. II, 327) Schafzucht (61, 154) wurde von Anfang an betrieben. Die ersten und besten Einnahmen erzielten die Kolonisten oft aus dem Verkauf der Wolle; einzelne sind durch ihre Schafzucht zu Millionären geworden 36). Auf Kantenius’ Bemühen verschrieb die Regierung teure spanische Mutterschafe. Am meisten hielt man die „Merinoschafe”, die zwar nicht viele, aber eine sehr feine und teure Wolle lieferten. Später trat die Schafzucht mehr
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36) z. B. Schneider, Dannenhauer, Falz-Fein, Kornies.
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in den Hintergrund, so daß in den letzten Vorkriegsjahren nur noch einige reiche Kolonisten auf ihren Landgütern große Schafherden hielten.
Auch die Schweinezucht (in der Regel jedoch nur für den eigenen Bedarf) war unter den Planern von jeher verbreitet. Außer der örtlichen kam hauptsächlich die englische Schweinerasse vor.
So bietet die Landwirtschaft der Planer durchweg ein erfreuliches Bild. Freilich wurde der blühende Wohlstand durch lange harte Arbeit erzielt. Die erste Generation der Ansiedler mußte sich opfern, um den nachfolgenden den Weg zu einer besseren Zukunft zu bahnen. Die auf dem neuer Boden und in den neuen Verhältniffen aufgewachsene zweite Generation wurzelte schon fester in der Steppe. Es wurde jung geheiratet und große Familien wuchsen heran. Schon in der dritten Generation reichte das Land nicht mehr aus für die zahlreichen Söhne. Da zeigte sich die ungebrochene Bauernkraft und Unternehmungslust der Planer. Die überzähligen Söhne blieben nicht in den Dörfern sitzen, sondern zogen — oft mit Weib und Kind — hinaus, um sich in der weiten umliegenden Steppe ein neues Stück Erde zu bebauen, mit Hilfe des Pferdes, der Ackergeräte, des Saatgutes usw., das der Vater ihnen mitgegeben hatte. Solche Weiterwanderungen fanden von den fünfziger bis siebziger Jahren sehr häufig statt. Die Tochterkolonien waren bald zahlreicher als die Mutterkolonien (vgl. Anhg. V, II). Mit der Zeit lösten sich immer mehr neue Tochterkolonien ab, die sich bis nach Sibirien und Nordamerika ausbreiteten. Allein in Sibirien und Mittelasien gibt es 350 deutsche Ansiedlungen mit einem Landbesitz von etwa 750000 Deßi. Land (54, 18). Als Ministerpräsident Stolypin 1914 Sibirien bereiste, rief er beim Anblick dieser Kolonien aus: „Zdies nowaja Germania !“ (Siehe da, ein neues Deutschland !).
Zur Zeit jener Weiterwanderung der Deutschen (1850—70) gab es in der südrussischen Steppe riesige Adelsgüter, neben denen die wenigen selbständigen russischen Bauerndörfer völlig verschwanden. Bei ihrer ungeheuren Ausdehnung war eine vernünftige Bewirtschaftung ein Ding der Unmöglichkeit. Den weitaus größten Teil des Betriebes bildete die Schafzucht. Von diesen adeligen Gutsbesitzern pachteten die weitergewanderten Ansiedler verwildertes Steppenland. Sie behielten die Schafzucht bei, nahmen aber soviel Land, als ihnen irgend möglich war, unter den Pflug. Nach kurzer Zeit konnten sie meist das gepachtete Land kaufen. Der Bevölkerungszuwachs unter den Kolonisten war sehr stark. Der Verfasser konnte noch zu Anfang des 20. Jh. mehrere Familien mit 17, 18, 19 Kindern (so Jäger in Göttland, Eberhardt in Ludwigstal u. a. m.) nennen. E. E. Eiffe (19, 37) berichtet uns sogar von 30 Kindern in einer Kolonistenfamilie. Je mehr die Familien wuchsen, desto mehr
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Land wurde gekauft. Tierische und menschliche Arbeitskräfte wurden voll ausgenützt. Russische Knechte wurden herangezogen. Auf diese Weise hatten die Kolonisten schon gewaltige Landstrecken für den Getreidebau gewonnen, als die ersten landwirtschaftlichen Maschinen auf die Steppe kamen. Man griff mit allen Händen darnach. Sä-, Ernte und Dreschmaschinen ermöglichten jetzt mehr und mehr einen Großbetrieb. Die Schafzucht, die sich schlecht rentierte, trat zurück. Die deutschen Kolonisten schufen für Europa eine neue, fast unerschöpfliche Kornkammer in Südrußland. Sie sind es im Grunde gewesen, die das Gebiet von der Wolga über den Don, den Dnjepr bis zum Dnjestr urbar gemacht und friedliche Kultur und treuen Bürgersinn ins Land gebracht haben. Einzelne Bauern kauften sich ganze Güter oder tauschten ein kleineres gegen ein größeres ein. Es kam auch oft vor, daß mehrere Kolonistengebiete gemeinsam Land kauften, oft Zehntausende von Deßjätinen auf einmal. Die Mittel hierzu hatten sie von der Verpachtung des Schäfereilandes (siehe Anhg. V. I.) angesammelt. In jedem Gebiete war nämlich ein Areal für Musterschäfereien abgeteilt. Dieses Land überließ die Regierung den Gebieten, auch nachdem der Ackerbau in den Vordergrund trat und die Schafzucht aufgehoben wurde. Es sollte eine immerwährende Quelle sein, um aus deren Einkünften für die armen Landlosen Land ankaufen zu können. Auf solchem Land wurden Dutzende von neuen Dörfern angelegt, in denen man bisher Landlose ansiedelte. So dehnte sich das kolonisierte Gebiet weithin aus überall im Jekaterinoslawer Gouvernement, aber auch im Dongebiet. In manchen Kreisen erwarben die Kolonisten mindestens die Hälfte des gesamten Kulturlandes.
Ueber das bis 1910 aus eigenen Mitteln erworbene Land im Vergleich zu dem von der Krone zugeteilten gibt folgende Tabelle Aufschluß (64, 46 und 62, 46).
Zur Ansiedlung von der Krone angewiesen: |
Selbsterworbenes Land bis 1910: |
|
Deßjät. |
qkm |
Deßjät. |
qkm |
Jekaterinoslaw |
55 000 |
= 600,87 |
957 160 |
= 10 456,08 |
Taurien |
210 584 |
= 2 300,66 |
1175 344 |
= 12 844,54 |
Cherson |
194 963 |
= 2 129,99 |
961 291 |
= 10 502,01 |
Bessarabien |
142 000 |
= 1 551,36 |
260 000 |
= 2839,62 |
Dongebiet |
— |
— |
315 000 |
= 3440,54 |
Charkow |
— |
— |
79 941 |
= 872,52 |
|
602 547 |
= 6 582,88 |
3 748 736 |
= 40 955,31 |
Bis zum Weltkriege haben die südrussischen Kolonisten den Preis des Landes um das Hundertfache gesteigert. Sie haben außer den ihnen
Malinowsky, Planerfolonien.
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verliehenen 600 000 Deßjätinen Landes mindestens das Zehnfache an Land urbar gemacht und während des Krieges dem russischen Staate mehr als 100 000 seiner besten Soldaten gestellt.
Die soziale Stellung der südrussischen deutschen Bauern entsprach ihrem Wohlstande. Sie waren sich stets ihres Wertes bewußt. Mit gesundem Stolz und Selbstbewußtsein saßen sie auf ihren Bauerngütern und sahen sich nicht viel nach den russischen Beamten um, die für das Russenvolk einen Gegenstand der Anbetung bildeten. Sie gestalteten ihr Familienleben mit patriarchalischer Einfachheit. Unter den Deutschen selbst spielten die sozialen Unterschiede keine sehr große Rolle.
In neuester Zeit freilich wurde hierin manches anders. Das jüngere Geschlecht wollte sich vielfach den überkommenen patriarchalischen Sitten nicht mehr fügen. Die Ansprüche wurden größer. Man kaufte Häuser in der Stadt als Winterwohnungen. Es gab auch junge Gutsbesitzer, die ihre Ländereien verpachteten, um den Ertrag in der Stadt zu verjubeln. Allerlei Auswüchse begannen sich zu zeigen: Landflucht, Verachtung des Bauernstandes, Spekulationssucht, äußerliches Vornehmtun der Frauen und Töchter, alles betrübende Anzeichen eines beginnenden Verfalls, Damit ging auch oft eine törichte Verleugnung der Muttersprache Hand in Hand. Doch blieb es bei vereinzelten Erscheinungen. Und man darf wohl hoffen, daß die Leiden der Revolutionzzeit und ihre Folgeerscheinungen wie ein reinigendes Feuer gewirkt haben, so daß auch in kommenden besseren Zeiten solche Mißstände nicht wieder auftreten werden.
Für die wirtschaftliche Entwicklung war von größter Wichtigkeit die rechtliche Stellung, die die Kolonisten im russischen Staate einnahmen. Sie sei daher im folgenden noch näher betrachtet.
2. Rechtliche Stellung.
In dem zweiten Erlaß der Kaiserin Katharina II. vom 22. Juli 1763 wurden den Reiselustigen, wie wir oben gesehen haben (vgl. S. 19), bestimmte Privilegien und Garantien zugesichert. Dieses Manifest wirkte sehr gut, zumal bekannt wurde, daß die russische Regierung die gegebenen Zusagen ernsthaft zu erfüllen trachtete. Als Belege dafür mögen einige Mitteilungen dienen, die Lerner (38, vgl. auch 61, Stach) auf Grund der Akten des ehemaligen Archivs des Generalgouverneurs von Neu-Rußland macht. In einer Vorschrift Kaiser Alexanders I. vom 24. Juli 1803 an den Chersonischen Kriegsgouverneur Generalleutnant Bekleschow (es handelt sich hier um die Uebersiedlung der Kolonisten unter der Leitung der Kommissare Ziegler und Schurter) heißt es: „Ich beauftrage Sie, mit allen Ihnen zu Gebote stehenden Mitteln dahin zu
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wirken, daß diese Übersiedler sicher und bequem gemäß den Bestimmungen des Neurussischen Vormundschaftskontors angesiedelt werden.“ Im Briefe des damaligen Ministers des Innern, Grafen Rotschubej, an den Kriegsgouverneur Bekleschow Iesen wir: „Nachdem ich alle nötigen Anordnungen zur Förderung ihrer (d. h. der Ansiedler) Reise im Auslande getroffen, habe ich zugleich den Allerhöchsten Willen dem Odessaer Stadtgouverneur kundgetan, daß ihnen nach ihrer Ankunft in Rußland die erforderliche Fürsorge zugewendet werde. Unterdes erhält das Neurussische Vormundschaftskontor eine ausführliche Vorschrift über ihre Ansiedlung und die vorläufig dazu erforderlichen Geldsummen. Im Sinne der ihm gegebenen Instruktion wird er sich an Ew. Exzellenz in allen denjenigen Fällen wenden, wo seine Mittel nicht ausreichen. Sie aber, mein hochgeehrter Herr, werden es natürlich nicht unterlassen, nicht bloß durch ihre Mitwirkung seine Maßregel zu bestärken, sondern auch den Uebersiedlern jede von Ihnen abhängige Unterstützung zukommen zu lassen. Zwei Erwägungen sind es vornehmlich, die dies notwendig machen. Erstens, daß nach den hier eingegangenen Nachrichten diese Kolonisten größtenteils gute Landwirte sind, und zwar Weinbauern, Landwirte und Handwerker, wovon jedem seinem Berufe entsprechend eine anständige Ausrüstung zukommen muß. Die Winzer sollen in der Krim, die Landwirte ins Chersonische und Jekaterinoslawische Gouvernement gebracht werden. Den Handwerkern ist die Möglichkeit zu bieten, in den Städten zu bleiben. Zweitens von dem Verfahren bei der Ansiedlung dieser ersten Einwanderer und von der Art dieser Ansiedlung wird der Erfolg bei der Uebersiedlung auch noch anderer ihrer Landsleute abhängen, die sie natürlich von allem unterrichten werden” (38).
Ferner wurden, um Verordnungen zu vermeiden, die unter sich in Widerspruch standen, vom Minister des Innern Regeln über die Ansiedlung der ausländischen Kolonisten zur Allerhöchsten Bestätigung eingereicht und 1800 die ganze Kolonisation in die Hand des Fürforgekomitees gelegt.
In dessen Namen erfolgte dann auch am 23. Februar 1804 eine Vorschrift des Kaisers Alexander I. mit den bestätigten Regeln, aus denen ich einige Punkte entnehme: 1. Zur Gründung von Kolonien in den Gouvernements Cherson, Jekaterinoslaw und Taurien werden die unweit der Seehäfen Odessa und Theodosia sich befindenden Gebiete abgeteilt. 2. In Taurien sollen Winzer und im Gartenbau erfahrene Leute angesiedelt werden. 3. Die Ackerbauern sind in die Molotschna zu leiten. 4. Sobald die Zahl der Einwanderer steigt, sind die Ländereien, welche früher für die ins Gebiet der Donkosaken abgeschobenen Kalmücken als Weideplätze dienten, für die Kolonisten zu verwenden. 5. Die Nagaizen sollen in andere Gegenden überführt und ihre Grundstücke den Deutschen zur
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Verfügung gestellt werden. 6. Nach Besiedlung des Kronlandes ist den Kolonisten von dem Lande zuzuteilen, das vom Grafen Potocki gekauft worden ist.
Der Generalgouverneur von Neu-Rußland gab auch eine Verordnung heraus, wonach die meisten Quarantänemaßregeln den einwandernden Kolonisten erlassen wurden. Alle diese Bestimmungen zeigen die wohlmeinende Absicht der Regierung und konnten ihre Wirkung nicht verfehlen.
Von der Errichtung der Tutelkanzlei, dieser klugen Maßregel Katharinas II., war schon oben die Rede (S. 19). Graf G. Orlow wurde zum Präsidenten derselben ernannt. Er ließ eigene Instruktionen hierfür ausarbeiten (Instruktii kanzelarii innostrannych (70 XVI, Nr. 11 879), denen gemäß gehandhabt werden mußte. Die Saratower, Petersburger und Wolyner Kolonisten sind alle durch diese Kanzlei nach Rußland gekommen. Nachdem diese Behörde infolge anderer Verwaltungsmaßnahmen im Jahre 1782 aufgehoben worden war, wurden die ausländischen Ansiedler den Kronbauern zugeteilt, somit den Direktoren der Hauswirtschaft unterstellt. Viele nur zu berechtigte Klagen bewogen die Regierung, das schon von 1766—1782 in Saratow bestehende Tutelkontor am 30. Juni 1797 wieder zu eröffnen. Am 26. Juli 1800 wurde dann auch in Neu-Rußland ein Kontor oder Fürsorgekomitee mit dem Sitz in Jekaterinoslaw errichtet.
Das Komitee wechselte wiederholt seinen Standort. General der Infanterie Inzow, Präsident des Fürsorgekomitees (1818—45), wurde 1822 zum Verwalter der 1812 neuerworbenen Provinz Bessarabien ernannt und nahm den ganzen Beamtenstab des Fürsorgekomitees mit sich nach Kischinew, wo es 1822—33 verblieb. Es hatte das infofern seine Berechtigung, als damals gerade in Bessarabien die Kolonisation mit Bulgaren eifrig betrieben wurde und zwar nach den nämlichen Grundsätzen, die bei der Ansiedlung der deutschen Kolonisten zwischen Dnjestr und Don angewandt wurden (49, 296) 37. Als Nachfolger des Generalgouverneurs Graf Langeron kam 1833 General Inzow nach Odessa, und der ganze Apparat des Fürsorgekomitees folgte ihm. Hier verblieb es bis zu seiner Aufhebung im Jahre 1871. Es unterstand von 1800—37 dem Ministerium des Innern, von 1837 dem der Reichsdomänen (70 XII, cz. II Nr. 451). Dem Fürsorgekomitee waren drei Kontore untergeordnet: in Jekaterinoslaw, in Odessa (Sitz in der Bulgarenkolonie Katarschina)
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37) Deutsche Ansiedlungen werden die ausländischen Kolonien in Rußland schlechthin alle genannt. Auch die Regierung bedient sich dieses Terminus (31, 269), da die übrigen Nationalitäten, z. B. Franzosen, Holländer, Schweden, Böhmen, Polen (vgl. Hochland, 17/IX, 1927), Bulgaren, Griechen, Serben, Korsikaner, Juden usw., im Vergleich zur den deutschen Ansiedlern zahlenmäßig verschwindend klein sind.
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und in Kischinew (Sitz in Kauschan), ferner drei Fürsorgeschaften: in Kamrat (für die 43 Bulgarenkolonien), in Großnagartaw (für die 20 Chersonischen Hebräerkolonien) und in Grunau für die 16 Hebräerkolonien 37a) im Jekaterinoslawischen Gouvernement. Von den neun Inspektoratsbezirken (70 XII, cz. II Nr. 12), die dem Fürsorgekomite unterstanden, erwähnen wir nur den zweiten Bezirk des Jekaterinoslawer Gouvernements mit dem Sitz in Grunau. Zu dessen Verwaltung gehörten die Mariupoler Kolonisten (27 Kolonien), die Mariupoler Mennoniten (5 Kolonien) und die Berdjaner Kolonisten (4 Kolonien). In den Akten werden von den Inspektoren erwähnt Stabsrittmeister von Stempel, der sich um die Hebung der Sitten verdient gemacht hat (61, 150), und Inspektor Kirchner, der auf wirtschaftlichem Gebiete verbessernd eingegriffen hat (61, 171).
Um die Kolonisation in Südrußland hat sich der erste Generalgouverneur von Neurußland, Fürst Potemkin, unvergeßliche Verdienste erworben; während Potemkins Bemühungen dem wirtschaftlichen Wohl galten, suchte Herzog Armand, Emmanuel Josef Herzog von Richelieu (1805—14 Generalgouverneur von Odessa), mehr das sittliche und religiöse Leben zu fördern.
Aus den Manifesten und aus allen Instruktionen erwuchs das Kolonialreglement. Diese Sammlung von Erlassen wurde systematisch geordnet (alle übrigen russischen Gesetzessammlungen sind chronologisch zusammengestellt) und unter dem Namen „Ustaw inostrannoj kolonizatii“ in dem II. Teil des XII. Bandes der „Vollständigen Russischen Reichsgesetzsammlung” bis zur Auflage des Jahres 1857 aufgenommen. In den spätern Auflagen ist jener Ustaw nicht mehr erschienen, weil die Selbstverwaltung der Kolonisten 1871 aufgehoben wurde.
Betrachten wir nun das für die Entwicklung der Kolonien geltende Recht näher.
Zur Oberleitung war, wie gesagt, ein Fürsorgekomitee eingesetzt. Es bestand aus einem Vorsitzenden, auch Hauptkurator genannt (Glawny Popeczitel) (70 XII, cz. II Nr. 8 ss.), und zwei Mitgliedern, nebst der nötigen Schreibern, Landmessern, vier Uebersetzern, einem Arzte, einem Veterinärarzt und sonstigen Beamten. Diesem Komitee lag die politische Verwaltung der Kolonien ob. In den Zeiträumen von 1763 bis 1770, 1782—87 und 1804—22 hatten sich 29 Kolonistenbezirke gebildet. Ich beziehe mich hier näher nur auf den 12,, d. i. den Mariupoler Kolonistenbezirk mit 27 Kolonien (gegründet 1822), den 4., der die Berdjansker Kolonien (gegründet 1822), und den 5., die Mennonitenkolonien
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37a) Der dortige Fürsorger wurde seiner ausgedehnten Gewalt wegen vom Volke nur „Judenkönig” genannt.
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(gegründet 1832). Eine bestimmte Zahl von Dörfern unterstanden einem Inspektor (70, XII, cz. II Nr. 12), zu dessen Obliegenheiten die Gerichtsbarkeit, die Polizeiordnung und das Eintreiben von Steuern gehörte. Im Mariupoler Kolonistenbezirk war lange Jahre der sehr geschätzte Kirchner als Inspektor tätig. Jedes Inspektorat umfaßte mehrere Gebiete. Dem Gebietsamt (wolost) stand ein Oberschulz (wolostnoj starschina) (70, XII, cz. II Nr. 15) mit zwei Beisitzern (sassedatelli) 38) vor. Der Schreiber (Wolostnoj pisar) freilich als der gebildetste spielte in der Praxis die ausschlaggebende Rolle. Die Planer gründeten zuerst in Grunau, als dem Mittelpunkt der Planerkolonien, ein Gebiet, dann ein zweites in Bergtal, dem Mittelpunkt des Mariupoler Mennonitenbezirks, und schließlich noch ein drittes, nicht aber in dem Mittelpunkt dieser Gruppe von Kolonien — in Eichwald — sondern durch Hintertreibung einiger einflußreicher Männer, an der äußersten Grenze dieser Koloniegruppe — in Ludwigstal. Die Regierung hat Eichwald als Mittelpunkt bezeichnet und behält es bis heute als Pferdestation der Landamtsführer bei.
Die Kolonisten des einzelnen Dorfes bildeten die Dorfgemeinde (Selskoje obczestwo) (70 XII cz. II Nr. 18). Aus ihr wurde von der Dorfgemeindeversammlung (schod) der Schulz (starosta) gewählt. Auch ihm stand wieder ein Schreiber zur Seite, der für die Dorfgemeinde dieselbe Rolle spielte, wie der Wolostschreiber für das Gebiet. Die Zehntmänner, d.h. von je zehn Wirtschaften ein Mann, vertraten mit dem Schulzen die Gemeindeinteressen im Gebiet.
Lehrreich ist die russische Rechtsbestimmung, daß alle Versammlungsteilnehmer Ruhe zu beobachten und den Verhandlungen mit Aufmerksamkeit zu folgen hätten (70, XII, cz. II N. 21).
Die Anstellung und Entlassung der Mitglieder des Fürsorgekomitees war Sache des Ministeriums des Innern. Dieses Recht ging 1837 auf das Ministerium der Reichsdomänen über (70, XI, II, 22). Der Minister stellte für die deutschen Kolonisten regelmäßig deutsche Beamte an. Die Wahl der nachgeordneten Behörden aber hing nur vom Fürsorgekomitee ab (70, XII, II, 23) nur die Dorfbehörden wurden von der Dorfgemeinde gewählt. Der Oberschulze wurde jeweils auf drei, der Dorfschulze auf zwei Jahre gewählt. Ersterer wurde von den Schulzen und Zehntmännern,
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38) Das Wolostgericht ist eine wohl nur ausschließlich in Rußland vorkommende eigenartige Einrichtung. Die Richter, Laien, nicht unter 35 Jahren, aus der Mitte der Kolonisten gewählt, schlichten alle Rechtsstreitigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen unter Berücksichtigung des örtlichen Gewohnheitsrechtes. Es unterliegen ihm alle bürgerlichen Streitigkeiten bis zum Werte von 300 Rubel (bei Nachlässen bis 500 R.). Die höhern Instanzen waren das Fürsorge-Comité (70, XII, II, 485), die Palate des Ministerrums der Reichsdomänen (70, XII, II, 487) und schließsich der Senat (70, XI, II, 497).
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letzterer von den Gemeindemitgliedern gewählt. — Bei den Dorfwahlen waren stimmberechtigt alle Kolonisten vom vollendeten 20. Lebensjahre ab, wenn sie eine Wirtschaft besaßen (70, XII, II, 152, 153).
Zur weiteren Festsetzung der staatsrechtlichen Stellung der Kolonisten waren folgende Bestimmungen von Bedeutung. Seit 1862 wurden nur noch Landwirte als Kolonisten anerkannt, dagegen die neu ankommenden Händler und Handwerker nicht mehr. Gemäß den alten Bestimmungen Katharinas II. ging der Kolonist seines Standesrechtes verlustig durch Uebertritt in einen anderen Stand 38a), durch Rückkehr ins Ausland 39) sowie durch gemeine Verbrechen. Es war den Kolonisten ohne Erlaubnis der Obrigkeit nicht gestattet, den Bauernstand aufzugeben. Diese Erlaubnis mußte jedoch gegeben werden, wenn sich ein anderer fand, der an Stelle des Scheidenden die Wirtschaft weiterführte.
Jeder Kolonist hatte freies Erwerbsrecht, freie Verfügung über sein Vermögen, Geld und Grundbesitz. Nur die Geistlichen konnten über das ihnen angewiesene Land nicht verfügen; es mußte dem Amtsnachfolger verbleiben (70, XII, II cz. Nr. 175).
Starb der Bauer ohne Testament, so erhielt die Witwe den vierten Teil des Vermögens; alle Töchter erhielten zusammen ebenfalls ein Viertel, das übrige wurde zu gleichen Teilen unter die Söhne verteilt (70, XII, II, 178).
Durch das Manifest von 1763 wurde den Ansiedlern eine 30jährige Befreiung von Abgaben bewilligt. Durch den Ukas Alexander I. vom 27. September 1806 wurde diese Frist für die Neuhinzukommenden auf 10 Jahre herabgesetzt.
Die Bestimmungen über die Selbstverwaltung der Kolonisten blieben bis 1871 in Kraft, von da an waren alle Kolonisten den allgemeinen russischen Gesetzen unterworfen, auch in bezug auf die Militärpflicht, von der sie vorher völlig befreit gewesen waren. Freiwilliger Eintritt in die Armee war freilich auch bis dahin immer erlaubt. Der Freiwillige erhielt in diesem Falle ein Geschenk von 9 Rubeln 40). 1874 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und in Mariupol eine Militärgerichtsbehörde eröffnet (40, 113). Nach Ablauf der Freijahre mußten die Kolonisten dieselben Abgaben leisten, wie die übrigen steuerpflichtigen Landbewohner Rußlands. Für jede Deßjatine kulturfähigen Landes waren jährlich 15—20 Kopeken Krongeld zu entrichten. An Gemeindeabgaben
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38a) Wer also Kaufmann wurde, verlor die Kolonistenvorrechte und war den andern russischen Staatsbürgern rechtlich gleichgestellt.
39) In diesem Falle verlor er natürlich überhaupt die russische Staatsangehörigkeit.
40) Sie hatten etwa eine Kaufkraft wie 25 M. in Deutschland vor dem Kriege.
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aber mußten die Dorfmitglieder, entsprechend ihrem Landbesitz, für den Unterhalt der örtlichen Behörden, der Geistlichen und Lehrer Zahlungen leisten (70, XIII, cz. II Nr. 230).
Für Reisen innerhalb Rußlands bedurfte der Kolonist — wie übrigens die Russen selbst (70, XII, II, 431) — bis 1905 einer besonderen Erlaubnis. Diese konnte der Oberschulze erteilen. Bei Auslandsreisen war der Kolonist denselben Paßbestimmungen unterworfen wie die eingesessenen Russen.
Die Dorfgemeinde hatte nach dem Buchstaben des Gesetzes keine Strafgewalt. Diese lag in den Händen der Gebietsbehörde (70, XII, cz. II Nr. 436); tatsächlich aber konnten die Dorfschulzen in ziemlichem Umfang Strafen verhängen. Denn auch diese Obrigkeit genoß großes Ansehen, Auf das für die Kolonisten bis zur Aufhebung der Selbstverwaltung geltende Strafrecht müssen wir seiner Eigenart halber noch ganz kurz eingehen. Für Beleidigung von behördliden Personen (Schulzen usw.) gab es empfindliche Geldstrafen in Höhe von 20—30 Rubeln, daneben bis zu drei Tagen Haft. In jedem Dorfe befand sich ein Arresthaus (Ostrok). Die Strafe sollte bei Wasser und Brot verbüßt werden; aber man nahm es in der Regel nicht immer so genau. Sonstige Beleidigungen wurden nur leicht und nur auf Antrag des Beleidigten geahndet.
Wer seine christlichen Pflichten nicht erfüllte, d. h. an Sonn- und Feiertagen dem Gottesdienste fernblieb, wurde das erste- und zweitemal vom Schulzen ermahnt. Dann aber wurde für jedesmaliges Ausbleiben eine Geldstrafe von 3—15 Kopeken erhoben (70, XII, II 463). War jemand dreimal im Jahre so bestraft worden, ohne sich zu bessern, so wurde die Geldstrafe jedesmal verdoppelt und ein Tag Gemeindearbeit als Strafe hinzugefügt. Ungehorsam gegen den Schulzen hatte ebenfalls die Auferlegung von Gemeindearbeiten und geringe Geldstrafen zur Folge.
Dauernder Müßiggang, Händelsucht, Trunksucht und andere, zumal sittliche Verfehlungen waren ebenfalls unter Strafe gestellt. Besserte sich der Sünder nicht, war die Gemeinde befugt, ihn aus der Kolonie auszuweisen.
Zur Nachtzeit durfte in den Häusern kein offenes Licht gebrannt werden. Es war auch verboten, mit brennender Tabakspfeife auf der Straße zu gehen.
Wer nicht imstande war, eine über ihn verhängte Geldstrafe zu bezahlen, mußte sie durch Gemeindearbeiten nach Taglöhnersatz abverdienen. Zu diefen Arbeiten gehörten Ausbesserung von Brücken und Wegen, Ziehen von Gräben, Anlegung von Gärten und ähnliches. Wer
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nach mehrmaliger Bestrafung durch Gemeindearbeiten sich nicht besserte, mußte die Arbeiten im Fußblock oder mit dem Halseisen leisten. Diese Verschärfungen wurden erst unter Alexander II. abgeschafft.
Derart war die staatsrechtliche Stellung der Kolonisten bis zu dem Ukas Alexanders II. vom 2. Juli 1871, durch den die Selbstverwaltung aufgehoben wurde (70, 1871 goda). Nunmehr war der Ansiedler in öffentlich-rechtlicher Beziehung genau so gestellt wie die anderen Bewohner des Reiches. Die alte Einteilung in Gebiete (Wolost) und deren Selbstverwaltung blieb bestehen, da sie auf einem Staatsgrundgesetz beruhte. Aber an die Stelle des wohlwollenden Fürsorgekomitees trat der gestrenge Landvogt (Zemskij naczalnik). Der Kolonist war nun rechtlich ein Russe geworden. Trotzdem machte man gerade in den siebziger Jahren den Deutschrussen und polnischen Russen mancherlei Schwierigkeiten. Manche Berufe und Beamtenstellen, z. B. solche im Telegraphendienst, blieben ihnen vielleicht infolge Geheimerlassen verschlossen. Besonders hatten die Katholiken zu leiden, namentlich nach den Polenaufständen 1863 und 1875. Nach der Revolution von 1905 wurde vieles besser.
Im übrigen entwickelten sich die staatsrechtlichen Verhältnisse der Kolonisten in Rußland seit 1871 in derselben Weise wie die der übrigen russischen Bürger. So kam z. B. 1905 auch für sie das allgemeine Dumawahlrecht. In der Reichsduma hatten sie ihre Vertreter, wie Johann Münch aus der Kolonie Großliebental, ev.-luth., Heinrich Schellhorn, ein Wolgakolonist, röm.-kath., Widmer, Lutz u. a. Natürlich konnten diese Abgeordneten keinen maßgebenden Einfluß auf die Gesetzgebung ausüben. Aber das war kein so großer Übelstand. Denn es muß anerkannt werden, daß die russische Regierung gegen ihre Untertanen deutscher Nationalität stets eine wohlwollendere Haltung eingenommen hat als etwa den Polen, Litauern, Juden usw. gegenüber. Im Weltkrieg änderte sich das freilich sehr.
3. Das religiöse Leben.
Die russischen Gesetze befaßten sich auch mit dem religiösen Leben der südrussischen Kolonisten.
Die Patres — so wurden und werden die katholischen Geistlichen genannt, da anfangs Ordenspriester vom Auslande die Seelsorge versahen, die ja überall so bezeichnet werden (70 XII cz. II, Nr. 383) — und die lutherischen Pastoren waren durch Gesetz angehalten, wenigstens einmal im Jahre alle Kolonien ihres Sprengels zu besuchen, ihre Pfarrangehörigen in den Glaubenslehren zu bestärken und der Jugend Religionsunterricht zu erteilen. Für solche Reisen mußten die Kolonien
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entweder das Reisegeld aufbringen oder ein Fuhrwerk zur Verfügung stellen (70, XII, II, 389). Die Geistlichen waren ferner verpflichtet, die Lehrer (Schulmeister) zu beaufsichtigen, damit diese ihre Pflichten in gehöriger Weise erfüllten (70, XII, II, 390). Bezüglich Wahl und Anstellung hatten die einzelnen Religionsbekenntnisse volle Freiheit; auch in die inneren Angelegenheiten griff das Gesetz nicht ein. Indessen diente eine Reihe von gesetzlichen Bestimmungen, welche die Aufrechthaltung der Sittlichkeit betrafen, auch sehr der Förderung des religiösen Lebens. So sollten z. B. die Oberschulzen und Dorfschulzen vor versammelter Gemeinde Belehrungen über die guten Sitten im öffentlichen und privaten Leben geben (70, XII, II, 391). Die Jugend sollte gegenüber den Eltern und ältern Leuten zum Gehorsam und zur Hochachtung angehalten werden. Die Obrigkeit hatte darauf zu achten, daß die Kolonisten sich nicht dem Müßiggang, der Trunksucht, der Rauferei oder der Verschwendung hingaben, sondern ein mäßiges, ruhiges und arbeitsames Leben führten. Sie sollten streng darauf sehen, daß niemand in seinem Hause unzüchtige Weiber beherbergte. Die aufgeführten Bestimmungen galten für Angehörige aller Bekenntnisse.
Unter der deutschen Bevölkerung Südrußlands waren von Anfang an drei Hauptkonfessionen: Katholische, Evangelische und Mennoniten vertreten. Die Katholiken wurden anfangs durch die Jesuiten versorgt (vgl. 51, 204 ff.), die durch die Vermittelung des Herzogs von Richelieu 41) nach Rußland gekommen waren. Da sie aber bereits 1820 durch Alexander I. aus Rußland ausgewiesen und ihr Vermögen beschlagnahmt wurde, rief man an ihre Stelle Dominikaner und Franziskaner, meist aus polnischen Klöstern. Da diese vielfach die deutsche Sprache nur sehr unvollkommen beherrschten, kam zwischen Seelsorgern und Gläubigen kein inniges Verhältnis zustande. So trat eine religiöse Verflachung ein, der erst erfolgreich begegnet werden konnte, als für die Katholiken im Jahre 1848 nach langen Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl und der russichen Regierung ein eigener Bischofsitz in Tiraspol gegründet wurde, der dem hl. Clemens Romanus geweiht wurde 42). Aus praktischen Gründen nahmen die Bischöfe von Tiraspol erst in Odessa,
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41) Als General-Gouverneur von Neu-Rußland berief er sofort seinen Mitschüler P. Nicolle nach Odessa, wo letzterer als Visitator (1811—20) aller kath. Kirchen in Südrußland bestimmt wurde. P. Nicolle entfaltete nicht bloß als oberster Kolonistenseelsorger, sondern auch als Pädagoge eine umfangreiche Tätigkeit. Er gründete (1814) ein pädagogisches Institut, aus dem 1817 das Richelieusche Lyzeum und in der Folge die jetzige Neurussische Universität in Odessa entstanden. (30, I, 83).
42) Archiv der Diözese Tiraspol vom Jahre 1856. — Ebenda 1857; vgl. auch Deutsche Monatsschrift 1. Nov. 1912.
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dann in Saratow ihren Wohnsitz. Sie besaßen in ihrem Sprengel Autonomie, die nur eingeschränkt wurde durch die Rechte der russischen Staatskirche. Wenn die katholischen Bischöfe von Tiraspol wie auch die übrigen Katholiken dieser Diözese bis zum Ausbruch der Revolution in Rußland manches zu leiden hatten, so lag dies vor allem daran, daß man sie wegen ihrer Konfession vielfach mit den Polen verwechselte, deren nationalistiich-religiöse Tendenzen den Russen immer ein Dorn im Auge waren.
Mit Rücksicht auf die überwiegende Zahl von deutschsprechenden Katholiken wurde im Jahre 1857 für die Diözese Tiraspol 43) ein deutsches Priesterseminar in Saratow an der Wolga gegründet (13, 1. November 1912). Bis zur Gründung dieser Diözese unterstanden die Kolonisten der Jurisdiktion des Erzbischofs von Mohilew mit dem Sitz in Petersburg. Zar Nikolaus I., der am 13. Dezember 1845 Papst Gregor XVI. aus eigenem Antrieb besuchte, verspradh ein Konkordat mit Rom zu schließen, welches dann auch mit Pius IX. am 3. Juni 1848 zustande kam. Durch die Bulle „Universalis ecclesiae“ (3. Juli 1848) wurde die Gründung der neuen Diözese mit dem Bischofssitz in der Stadt Cherson (Dioecesis Chersonensis) verordnet. Desgleichen wurde ein Weihbischofssitz in Saratow an der Wolga errichtet. Da der fanatische orthodoxe Bischof Gefahr witterte für seine Gläubigen und eine Beschwerdeschrift in Petersburg einreichte, wurde durch die Bulle „Ad procurandum Christifidelium“ (18. September 1852) die Residenz des katholischen Bischofs in die kleine Stadt Tiraspol am Dnjestr (Dioecesis Tiraspolensis) verlegt. Hier lag bereits Material zum Bau der Kathedrale, des Seminars und des bischöflichen Palais bereit, als der Ausbruch des Krimkrieges alles vereitelte. Der erste Bischof, Kahn, der bis dorthin noch von Petersburg aus seine Diözese verwaltete, zog im Jahre 1856 mit Zustimmung der russischen Regierung nach Saratow. Hier verblieb der Bischofsitz bis zum Jahre 1917 (46, 1925, J. 1172).
Die Regierung hielt mit ihrer Unterstützung des genannten Priesterseminars nicht zurück und trug sogar Sorge, daß das seinerzeit den Jesuiten beschlagnahmte Vermögen den Katholiken erhalten blieb. Dazu kam ein gewisser Anteil am sog. Weinpachtkapital 44) und
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43) Die Nachrichten über die Diözese und die Pfarreien sind alle, mit Ausnahme der anderslautenden Zitate, aus den Diözesan- und Pfarrarchiven entnommen (vgl. S. 8 IV).
44) Die Bildung des Weinpachtkapitals (kapital winnago otkupa) entstand durch Ausbieten des Branntweinverkaufs, der nach allgemeinen Regeln in Privatpacht gegeben wurde; die Einkünfte aus der Branntweinpacht wurden zum Nutzen der Kolonien verwandt (70, XII, II, 367). 1868 hatte sich ein Kapital von 222 057 Rubeln angesammelt (31, 74).
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Privatsammlungen, die es der Seminarverwaltung ermöglichten, 35 Freistellen zu eröffnen. Aus dem Priesterseminar ging eine so große Zahl von Priestern hervor, daß in fast allen Pfarreien wie auch in der Verwaltung der Diözese und im Lehrkörper des Seminars das fremde Element durch eigene Kräfte ersetzt werden konnte.
So engherzig sonst in Rußland die leitenden Stellen gegenüber religiösen und politischen Auffassungen waren und so sehr sie sich auch zur Proselytenmacherei hinreißen ließen, den Katholiken der Tiraspoler Diözese gegenüber waren die Russen wie überhaupt in ihrer Kolonialpolitik immer tolerant. Auf die religiösen und wirtschaftlichen Interessen der deutschen Ansiedler nahm man stets Rücksicht. Dieses Wohlwollen der russischen Regierung verdient besonders hervorgehoben zu werden, denn es war nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, sondern hielt seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts an und fand mit jedem Bischofswechsel erneute Bestätigung.
Der erste deutsche Bischof von Tiraspol war der schon erwähnte Dominikaner Ferdinand Helanus Kahn. Er war vorher deutscher Prediger und Kurat in Riga, wurde von Nikolaus I. zum Bischof ernannt und am 10. September 1850 von Pius IX. präkonisiert. Als Bischof Kahn 1850 seinen Posten antrat, eröffnete er das Konsistorium und betrachtete es als eine seiner Hauptaufgaben, für einen deutschen Klerikernachwuchs zu sorgen. Deshalb eröffnete er auch 1856 das genannte Priesterseminar.
Damit entsprach er zugleich dem Wunsche des Papstes, der in der Ernennungsbulle die Verbesserung der Seelsorge unter den deutschen Kolonisten als Hauptgrund zur Errichtung des Bistums bezeichnet hatte (S. 5, IV, J. 1850).
Im Jahre 1859 führte die Vorsehung dem greisen Bischof einen Mann zu, der in der Folge auf die Diözese einen tiefgehenden Einfluß ausüben sollte. Franz Xaver Zottmann, geboren am 27. Juni 1826 zu Ornbaum in Bayern (71, 7), kam nach mancherlei Schicksalen nach Petersburg, wo er beim Zaren als Erzieher wirkte und sich erst in reiferen Jahren für den Priesterberuf entschied. Er wurde Leiter des Diözesanseminars, brachte es rasch in die Höhe und gewann 1864 Professoren aus Deutschland für seine Anstalt. Nach Kahns Tod war das Bistum acht Jahre verwaist; erst 1872 erhielt es in Zottmann einen neuen Oberhirten. Mit fester Hand griff er in die zerrütteten Verhältnisse ein und führte die im Interesse der Kirche notwendige Germanisierung des Seminars und des Pfarrklerus durch. Aus Kollekten entstand eine des Bistums würdige Kathedrale; Priester- und Knabenseminar erhielten ein geeignetes
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Gebäude 45). Überanstrengungen zwangen Zottmann schon 1889, den Kirchensstab niederzulegen und sich ins Privatleben zurückzuziehen.
Sein Nachfolger auf dem Bischofsstuhle des hl. Clemens war der bisherige Weihbischof Anton von Padua, Johannes Zerr. Mit ihm wurde der erste Kolonistensohn zur bischöflichen Würde erhoben. Welche Aufgabe feiner harrte, zeigt uns ein Blick in die inneren Verhältnisse seines Sprengels, der an Ausdehnung einer der größten und hinsichtlich der Völker- und Sprachenzusammensetzung einer der vielfarbigsten der Welt ist. Das Tiraspoler Bistum umfaßt nämlich eine Fläche, welche die des Deutschen Reiches noch um die Hälfte übertrifft. Im Osten grenzt es an die Gebiete der uralischen Stämme und Kirgisenhorden sowie an die Gestade des Kaspischen Meeres, im Süden an Persien, Armenien, das Asowische und Schwarze Meer, im Westen an Rumänien und Galizien, und im Norden an die west-, mittel- und nordrussischen Provinzen 46). Hier wirkten vor dem Weltkrieg 180 Priester des lateinischen Ritus in 114 Pfarreien mit über 100 Filialen und rund an 400 000 Seelen, 75 des armenischen Ritus an 157 411 Seelen. Seit dem 12. September 1909 haben die katholischen Armenier ihren eigenen apostolischen Administrator mit dem Sitz in Tiflis. Nach Nationalitäten zählte die Diözese vor dem Weltkriege: 330 555 Deutsche, 57 411 Armenier, 40 000 Polen und Litauer, 5000 Russen, 5000 Franzosen, Italiener, Spanier, Portugiesen, 5000 Grusiner, 261 Tscherkessen und 280 Chaldäer. Auch gibt es noch daselbst Katholiken nach dem Georgischen Ritus.
Hier klingt neben der ukrainischen, russischen und deutschen Sprache in ihren verschiedenen Mundarten (plattdeutsch, bayrisch, schwäbisch, schweizerisch usw.) die italienische, polnische, französische, litauische, böhmische, armenische, türkische und grusinische Zunge. In fast drei Zehnteln der Pfarreien wird neben dem Deutschen auch das Polnische gesprochen. Größere Gruppen von Litauern finden sich in der Stadt Odessa und im Samarischen Gouvernement.
Das eigentliche Gepräge aber erhält das kirchliche und nationale Bild der Diözese durch das machtvoll überwiegende (¾) deutsche, größtenteils bäuerliche Element. Die Kopfzahl der einzelnen Pfarreien schwankt zwischen 1000 und 15 000 Seelen. Das Priesterseminar lieferte mit der Zeit so viele Priester, daß die weiträumigen Pfarrbezirke geteilt werden
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45) Bisher war das Saratower kath. Seminar in einem Privatgebäude in der Moskauerstr. 1862 nahm man Besitz von dem jetzigen Seminargebäude, wozu die russische Regierung 20 000 Rubel aus dem konfiszierten Jesuitenkapital, das vor der Revolution etwa 50 Mill. Rubel betragen haben soll, beisteuerte.
46) Die Tiraspoler Diözese nimmt einen Flächeninhalt von etwa 140 000 Quadratmeilen ein.
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konnten, womit eine eingehende Seelsorge möglich wurde. Hand in Hand mit dem äußeren Wachstum ging die innere Erstarkung. An jedem Sonn- und Feiertag wurde gepredigt; Sonntag nachmittag vor der Vesper war Katechese für die Jugend, die vielfach auch von Erwachsenen besucht wurde. Ein eigener Diözesankatechismus erschien im Druck. Die Sakramente der Buße und des Altars wurden zu Ostern und im Advent regelmäßig von allen, im Mai- und Oktobermonat von sehr vielen empfangen. Vielerorts hatten Jünglinge und Jungfrauen ihre Vereine, die sich als besondere Patrone den hl. Aloysius, bzw. die hl. Agnes wählten und monatliche Kommunion hielten. Schöne Gotteshäuser wurden an verschiedenen Orten gebaut. Gotischer und Barockstil herrschen vor, mitunter war aber auch starker byzantinischer Einfluß vorhanden. Auch die Malerei kommt in der kirchlichen Kunst sehr zur Geltung. Ausländische Maler haben in mehreren Kirchen Nennenswertes geleistet. Hübsche Statuen von Stufflesser und Vogel sind in den meisten kathohischen Kirchen anzutreffen.
Der Kirhengesang in der Muttersprache wurde neben dem lateinischen Choral freudig gepflegt. Bischof Keßler, Jäger, Magister der Theologie, Hilfer und andere Fachkundige sichteten den gesamten Liederstoff, wobei das Gesangbuch des Bistums Rottenburg stark benutzt wurde und legten ihn in dem Gesangbuch „Alleluja“ nieder. Auch ein vom Kolonisten Weber in ähnlicher Weise hergestelltes Gesangbuch ist in der Diözese weit verbreitet. An vielen katholischen Kirchen wurden in den letzten Vorkriegsjahrzehnten Kolonistensöhne als Organisten angestellt, die ihre musikalische Ausbildung im Ausland erhalten hatten; sie führten oft klassische Stücke auf.
Die katholische Presse der Tiraspoler Diözese ist noch jung, aber sie war vor dem Weltkriege in kräftigem Aufschwung begriffen. Neben dem Diözesanwochenblatt „Klemens”, das Prälat Josef Kruschinsky 1896 gründete, bestanden noch für die Katholiken des Südens „Die deutsche Rundschau” und für die des Nordens „Die deutschen Stimmen”, um die sich Redakteur P. Augustin Baumtrog sehr verdient gemacht hat. Ferner erschienen noch jährlich der Reichertskalender, so benannt nach seinem Begründer P. Reichert, der Volkskalender, dieser über 300 Seiten stark, und der Abreißkalender „Daheim“.
In den letzten Jahrzehnten hatte sich die karikative Tätigkeit segensreich entwickelt. Waisen- und Armenhäuser stehen unter Aufsicht der Pfarrgeistlichkeit. Überall waren erfreuliche Erfolge zu verzeichnen.
Das Seminar hatte seit den Tagen des Bischofs Zottman Tüchtiges geleistet, dafür spricht auch die Tatsache, daß aus ihm Männer wie Bischof Zerr, Erzbischof von Mohilew (Petersburg), Graf von Schembeck
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und der jetzige Bischof von Tiraspol, Josef Aoysius Keßler, hervorgegangen sind. Mit der Zeit aber wurde ein äußerer und innerer Ausbau nötig. Um ihn zu ermöglichen, regte schon Bischof Zerr eine große Kollekte an.
Sein Amtsnachfolger, Eduard Baron von der Ropp, verwirklichte diesen Plan mit größtem Eifer, und Keßler, der zweite Bischof nach Zerr, setzte ihn fort. Die schöne Summe von 300 000 Rubeln, die in einigen Jahren zusammenkamen, spricht hinreichend für den guten Willen und den Opfersinn der Kolonistenbevölkerung. Leider fiel auch dies Vermögen der Revolution zum Opfer. Das Seminar, nicht zum wenigsten die Abteilung für Knaben, hat den Kolonisten unschätzbare Dienste geleistet; hat es doch jährlich eine größere Zahl von jungen Leuten als tüchtige und kirchentreue Lehrer in die Kolonistenschulen entlassen.
In der Erkenntnis, daß neben der Kirche die Schule die wichtigste Pflanzstätte für Religion und gute Sitte ist, regten schon die Jesuiten die Errichtung von Schulen in allen Dörfern an. Soweit es die Amtspflichten gestatteten, erteilten die Priester selbst nicht nur Religions-, sondern auch Elementarunterricht. Jeder Lehrer mußte vor der Anstellung durch eine Prüfung vor dem Parrgeistlichen seine Befähigung zur Erteilung des Unterrichts nachweisen (70, XII, 390). Dadurch war die Erteilung des Unterrichts in der Muttersprache gesichert. In der Regel hatte der Lehrer auch den Religionsunterricht unter Aufsicht des Pfarrers zu erteilen und die Küsterdienste zu versehen (70, XI, Ust. Uczebn. Saw. 3428, 3484, 3470, 3485, 3432 und 14, Nr. 101, 119). Der Einfluß der Jesuiten auf die Gestaltung des Volksschulwesens war mannigfaltiger und tiefgreifender, ihrem Streben in dieser Richtung blieben sie bis zu ihrem Weggange mit unvergleichlicher Hingebung treu (33).
In dem hierauf folgenden halben Jahrhundert zeigt die Entwicklungsgeschichte der katholischen Volksschule ein trauriges Bild. Unter den polnischen Geistlichen, die an die Stelle der Jesuiten traten, änderte sich das Verhältnis völlig: das kirchliche Leben erschlaffte, das Schulwesen verkümmerte. Der Lehrer bedurfte von nun an keines Befähigungsnachweises mehr; konnte er lediglich lesen und schreiben, so durfte er seines Amtes walten. Was der gewöhnliche Drill nicht zustande brachte, das mußte der Stock ersetzen. Von Veredlung der Gefühle und von wirklicher Geistesentwicklung war keine Rede mehr. Infolge solcher Mißstände gestalteten sich die kulturellen Verhältnisse der Katholiken viel schwieriger als die ihrer Iutherischen Stammesgenossen. Der evangelische Kolonistenpastor hatte in jener Zeit schon seine Kolonistenschule, wo Lehramtskandidaten vorbereitet wurden, sowie die Einrichtung von Lehrerkonferenzen
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und Schulprüfungen, während die Katholiken ohne Führer dastanden. Die auf Anregung des Fürsorgekomitees 1865 in Grunau eröffnete Zentralschule 47) wurde von protestantischer Seite verständnisvoll gewürdigt, während das ablehnende Verhalten der Katholiken zur Folge hatte, daß an Stelle der fünf für katholische Schüler bestimmten Freistellen nur zwei benötigt wurden. Neues Leben unter den Katholiken erwachte erst wieder mit der Gründung des Saratower Seminars, das die Kolonien mit Lehrern, Schreiben und Küstern versah. Vor dem Weltkriege konnte man von einer Rückständigkeit der Katholiken im Unterrichtswesen nicht mehr sprechen, da jetzt alle Kolonistenschulen unter dem Ministerium der Volksaufklärung standen und der Unterricht überall in Ziel und Methode derselbe war. Die Gegenwart mit ihren höhern Anforderungen verlangt Lehrer mit beruflicher Vorbildung, die in Lehrerseminarien oder wenigstens in pädagogischen Kursen an Zentralschulen gegeben werden muß. Für die Errichtung besonderer fachlicher Bildungsanstalten ist auf dem „Plan“ freilich noch nicht allzuviel geschehen. Kotschubei, Landau und Karlsruhe besaßen vor dem Weltkriege Gymnasien, die von Geistlichen gegründet wurden. Für die Besserung der materiellen Lage der Lehrer hatte sich in letzter Zeit mehr Verständnis gezeigt. Auch ist in den letzten Jahrzehnten eine Reihe neuer hübscher Schulgebäude mit entsprechender Innenausstattung entstanden, so in Kaiserdorf, Göttland, Eichwald usw. Pfarrer Brungart führte zuerst (1878) in Göttland die Landamtschaftsschule (zemskoje uczilicze) ein (S. 5, III). Diesem Beispiel folgten nach und nach auch andere Dörfer. Die Nützlichkeit der Einrichtung lag so auf der Hand, daß die Gemeinden sich entschlossen, erhebliche Zuschüsse zu gewähren. Wo das Schulwesen vom Klerus eifrig gefördert wurde, gestaltete es sich besonders günstig. Die Planer Zentralschule in Grunau wurde nunmehr auch seitens der katholischen Schüler zahlreich besucht, und so wurde die frühere Rückständigkeit allmählich wieder ausgeglichen.
Kurz noch einige Worte über die Gründung der katholischen Pfarreien. Die erste entstand in Eichwald (S. 5, IV), dem Mittelpunkt der katholischen Gemeinden. Es wurden ihr von der Regierung 120 Deßjätinen Land angewiesen. Die jetzige Kirche in Eichwald wurde unter dem ersten Geistlichen dieser Pfarrei, Gentillo, einem Litauer, der 21 Jahre im Amt war, im Jahre 1871 aus Gemeindemitteln erbaut. Vordem stand hier nur ein Bethaus. Zu der Pfarrei gehören: Eichwald, Neuhof, Tiergart,
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47) Sie wurde in der leerstehenden Wohnung des ehemaligen Inspektors des Fürsorgekomitees untergebracht und wird von den Zinsen des örtlichen Landlosenkapitals, dem Beitrag der Kreislandschaft in der Höhe von 400 Rubel sowie den Schulgeldern unterhalten. Um die Erweiterung des Schulprogramm haben sich Pastor Holloch von Grunau und Schulrat Nikolaus Fischer von Neu-Jamburg sehr bemüht.
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Tiegenort, Blumenfeld, Orlinskoje, Chutor (Weiler) Burlatzki, Jermin, ferner die Katholiken in Ludwigstal und den umliegenden Russen- und Griechendörfern. Auch die Katholiken der Stadt Mariupol wurden bis 1860 von Eichwald aus versehen.
In diesem Jahr wurde in Mariupol die „Italienische katholische Kirche” (Italjanskaja zerkow) (40, 144) gebaut. Sie entstand aus den Einkünften der freiwilligen Getreidesteuer, von den großen, meist italienischen Getreidefirmen Membelli, Galleno, Hag, Widowicz, Tripkowicz (Österreicher) u.a., sowie aus einer Stiftung des Königs Victor Emanuel in der Höhe von 10 000 Franken. Heute gehören zu dieser Pfarrei auch die Katholiken von Nikopol—Mariupol, Providence, der Eisenbahnstationen bis Wolnowache, Rosowka, Pologi, Orechowo-Jusowo, der Dörfer Neu- Mannheim, Frösenchutor (Chutor auch — Meierhof), Gerke, Wolynzewo, Debalzewo u. a. Die letztgenannten fünf Orte werden jetzt zur Enakiewer Pfarrei gerechnet. Die Kirche zählt mehrere Häuser zu ihrem Eigentum. Dank den Bemühungen des Kanonikus Reichert opferten die Fabriken seiner Pfarrei soviel Baumaterial, daß er ein großes, mehrstöckiges, für ein Gymmasium geplantes Schulgebäude errichten konnte.
Die dritte katholische Pfarrei wurde im Jahre 1842 in Großwerder gegründet (siehe S. 5, IV) Sie besitzt ebenfalls 120 Deßjätinen Pfarrland. 1898 ersetzte Pfarrer Peter Müller das bisherige Bethaus durch eine Kirche. Die Regierung machte anfangs große Schwierigkeiten, erlaubte aber schließlich unter Zustimmung der orthodoxen Nachbargeistlichkeit den Bau einer Kirche ohne Turm. Die Auslagen, die sich auf über 30 Rubel für die einzelne Wirtschaft beliefen, bestritten die Gründer der Pfarrei, die Bewohner von Groß- und Kleinwerder. Außer ihnen zählen zu dieser Pfarrei noch die Katholiken von Grunau und die von den polnischen Aufständen her in die naheliegenden Russendörfer verpflanzten Polen.
Im Jahre 1875 trennten sich Göttland und Kaiserdorf von der Eichwalder Pfarrei und bauten sich auf eigene Kosten eine Backsteinkirche mit Turm (S. 5, IV). Vorübergehend hatte sich Blumenfeld dieser Pfarrei angeschlossen. Jetzt gehören auch die in Kampenau, auf dem Chutor Chotzky und in Haiczul wohnenden Katholiken hierzu. Auf dem Friedhofe ruht der Geistliche P. Sikard. 1891 segnete P. Josef Loran in der Blüte seiner Jahre daselbst das Zeitliche. Dur Ausschmückung der Kirche hat sich Pfarrer Joh. Baptist Fix ein dauerndes Andenken in der Gemeinde gesichert. Zur Unterhaltung der Pfarrei waren 120 Deßjätinen Land bestimmt. Eine Kommission zur Abmessung desselben war bereits herausgesandt, doch ungeschickte Führer vereitelten diesen Plan.
Malinowsky, Planerkolonien.
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Die Bergtaler richteten das von den Mennoniten 1875 käuflich erworbene Bethaus zum katholischen Gottesdienst ein (5, IV). Als erster Seelsorger hat Pfarrer Jos. Röther seine besten Arbeitsjahre dieser Pfarrei gewidmet. Die Ansprüche, die die nichtkatholischen Dörfer auf dieses Bethaus machten, wurden nach langen heftigen Prozessen als ungesetzlich zurückgewiesen. Der Bergtaler Pfarrei schlossen sich Neu-Jamburg, Grünfeld, Katholiken von Kaltschik und die der Ferme (Plantage) an. 1910 baute sich Neu-Jamburg aus eigenen Mitteln eine hübsche Kirche ohne Turm.
So läßt sich auf Grund dieser Berichte ein allgemeiner Fortschritt in Schule und Kirche nicht leugnen. Die Bewegung zugunsten des Bildungswesens, die immer weitere Kreise zieht, berechtigt zu der Hoffnung, daß in einem vollkommen beruhigten Rußland die deutschen Geistlichen und Laien ihre Arbeit der Fortbildung und Erziehung der Jugend und des Volkes widmen und die schlimmen Folgeerscheinungen der Revolutionszeit auf diesen Gebieten überwinden werden.
Der fromme Kindersinn der katholischen „Planer“ zeigt sich auch in vielen ihrer Sitten und Gebräuche. Eines ihrer beliebtesten religiösen Spiele ist das „Schimmelgehen“ anläßlich des Nikolaustages, — der hl. Nikolaus wird von den Planern kurz Netklos genannt. — Es ist ein großartiges Jünglingsfest, an dem groß und klein Anteil nimmt. Am Abend des 24. (nicht am 6.) Dezember setzt sich in jedem Dorf ein Zug von Jünglingen in Bewegung, der von Haus zu Haus geht. Einer von ihnen ist der Führer, der „Leper”. Ihm folgt gewöhnlich der größte unter ihnen, der ein von Holz gebautes, einem natürlichen Pferde vollkommen ähnlich sehendes, weißes Pferd trägt und neben dem Leper dem Zug voranreitet. Der Leper ist reichlich mit Gold- und Silberschmuck behängt und seine hohe Mütze kommt mindestens seiner halben Körperlänge gleich. Wo man dem Schimmelreiter Einlaß gewährt, tritt zuerst der Leper allein ins Zimmer und spricht entblößten Hauptes einen langen Weihnachtswunsch. Erst auf die Worte: „Eins, zwei, drei, Schimmel herein!” kommt der Schimmelreiter und dann die ganze Schar der JüngIinge, die als Geister des Himmels und der Hölle verkleidet sind, unter großem Getöse in die Stube. In ganz ähnlicher Weise wie bei den Planern findet sich das Schimmelgehen noch in Ratibor in Schlesien (55, 65), nur daß hier der hl. Nikolaus seinen Umzug auf einem lebendigen Schimmel hält. Auch in Mähren (55, 66) trifft man noch Spuren dieser Sitte, ferner nach Berichten von Augenzeugen auch in Holland und am deutschen Niederrhein.
Soviel über die geschichtliche Entwicklung der religiösen Verhältnisse der katholischen Deutschen.
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Zum evangelischen Bekenntnisse zählt man in Rußland auch die separierten Gemeinden, welche die Landeskirche nicht anerkennen (Lt. 11), ebenso eine kleine Zahl von reformierten Gemeinden, sowie die Baptisten und Stundisten. Einzelne Uebergriffe von Seiten der russischen Staatskirche waren auch hier wahrzunehmen. Im übrigen waren die äußeren kirchlichen Verhältnisse bei den Protestanten denen der Katholiken, wie wir sie oben dargelegt haben, analog. Die evangelische Landeskirche (russ. meist nur „kircha”) war ebenfalls autonom. Sie wurde vom Generalkonsistorium in Petersburg verwaltet (70, XII, 381). Die Evangelisten des Mariupoler Kreises haben zwei Kirchen: in Grunau und in Ludwigstal. Das Grunauer Kirchspiel wurde im Jahre 1826 gegründet. Zum Bau der Kirche gab die Regierung 17000 Rub. banko und zur Unterhaltung 120 Dess. Land. Sie zählt 1200 Sitzplätze. — Ludwigstal baute sich 1873 eine Kirche mit 600 Sitzplätzen. Im Kirchenregiment spielen die evangelischen Küster eine große Rolle, da sie in abgelegenen Ortschaften den Pastor fast vollständig vertreten müssen. Das hat zuweilen zu Reibereien und Kompetenzstreitigkeiten Veranlassung gegeben. Mit Gefühlen des Dankes gedenken die Evangelischen des Pastors Holtfreter, der um die Linderung der Not im Hungerjahre (1833) und um die Ausrottung der eingerissenen Laster sich sehr bemüht hat (61, 150, auch 162).
Die dritte Hauptgruppe, die in Rußland nicht zu den Evangelischen gezählt werden, sind die Mennoniten. Bei ihnen spielte das religiöse Moment von Anfang an die ausschlaggebende Rolle.
Während die Ansiedler anderer Bekenntniffe zumeist aus wirtschaftlichen Gründen zum Wanderstab gegriffen hatten, waren für die Mennoniten religiöse Beweggründe maßgebend gewesen. Da sie sich aus religiöser Ueberzeugung zur „Wehrlosigkeit” (Weerloos-heid), wie sie es nennen, verpflichtet hielten (27, 27) und daher jeglichen Militärdienst verweigerten, so entstanden ihnen überall große Schwierigkeiten. Es ist darum nicht verwunderlich, daß sie immer wieder neue Länder aufsuchen mußten. Aus Holland, wo die Sekte entstand, kamen viele von ihnen im 16. Jh. als Flüchtlinge in die Gegend von Danzig. Von dort stammen auch unsere südrussischen Mennoniten (31, 101—258).
Der Zwang zum Militärdienst hatte sie aus Preußen vertrieben. Nach dem Manifest Katharinas II. bot sich ihnen zum ersten Male in ihrer Geschichte die Möglichkeit, frei nach ihren religiösen Grundsätzen zu leben. Im Jahre 1874 gab es allerdings eine kleine Störung. Damals ordnete Alexander II. die allgemeine Militärdienstpflicht an; auch die Mennoniten wurden nicht ausgenommen. Da entschlossen sich viele von ihnen zu einer abermaligen Auswanderung und erbaten Reisepässe von
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Petersburg. Diese Haltung machte einen großen Eindruck auf die russische Regierung. Der Zar soll geweint haben, als ein Minister ihm sagte: „Wenn die Mennoniten fortziehen, sind ihre Kolonien, die sie aus der Wildnis zu blühenden Gärten gemacht haben, in drei Jahren wieder die alte Wildnis” (27, 19). Alexander sandte diesen Minister zwecks persönlicher Verhandlungen zu den Mennoniten. Die Folge war, daß sie nach wie vor vom Heeresdienste befreit blieben, dafür aber mußten sie sich verpflichten, dem Staate durch Anlegung von Fermen und Wäldern zu dienen.
Aber etwa 15000 Mennoniten, darunter auch die von Bergtal, Schönfeld, Schöntal, Heubuden und Friedrichstal, trauten dem Worte des Zaren nicht und wanderten nach Amerika aus. Indes hat die russische Regierung tatsächlich die Mennoniten bis zum Spätherbst 1914 nicht zum Heeresdienst herangezogen. Während des großen Weltkrieges mußten sie Sanitätsdienste versehen, bis dann 1918 die Maximalisten doch mehrere tausend Mennoniten im Frontdienst mit der Waffe verwandten.
Die Mennoniten führten von allen Kolonisten das abgeschlossenste Leben. Diese Zurückgezogenheit im Verein mit ihren Besonderheiten in Religion und Sitte hat ihnen grade in Südrußland ein ganz eigenartiges Gepräge gegeben, so daß sie heute fast den Eindruck eines besonderen Volksstammes erwecken, was selbst von amtlicher Seite berücksichtigt wurde (31, 21). Als Sprache hat sich aber auch bei ihnen das Danziger Plattdeutsch erhalten.
Die nachstehende Tabelle zeigt Seelenzahl und Grundbesitz der drei genannten Konfessionen für Anfang 1911 (54, 47):
Gouvernement |
Katholiken |
Deßjät. Land |
Evangelische |
Deßjät Land |
Mennoniten |
Deßjät. Land |
Jelaterinoflaw |
48 109 |
386 153 |
26 811 |
260 104 |
48 240 |
365 904 |
Taurien |
27 050 |
276 826 |
56 581 |
668 268 |
50 293 |
440 834 |
Cherson |
99 072 |
694 630 |
66 663 |
439 684 |
3 578 |
21 980 |
Bessarabien |
4 944 |
22 397 |
57 931 |
236 006 |
— |
— |
Dongebiet |
13 879 |
153 575 |
13 927 |
152 309 |
540 |
6 000 |
Charkow |
2 617 |
33 309 |
2 367 |
31 044 |
1 719 |
15 546 |
Zusammen: |
195 671 |
1 566 880 |
224 280 |
1 787 415 |
104 370 |
850 264 |
Die Katholiken und die Evangelischen stehen sich etwa gleich an Seelenzahl und Landbesitz. Kellers Zahlenangabe (im Wirtschaftskalender S. 209) von 350 981 Katholiken darf uns nicht irreleiten, sie stammt aus dem Diözesankalender (Direktorium), worin auch die katholischen Nichtkolonisten mitgerechnet sind.
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Schluß.
Die Nöte der jüngsten Zeit,
Der große Weltkrieg hat völlig umgestaltend in die Verhältnisse der Kolonisten eingegriffen und die bisher so angenehme, vielfach glänzende Lage vernichtet. In der denkwürdigen Sitzung der Reichsduma vom 26. Juli bis 8. August 1914 gelobte der Abgeordnete Baron Fölkersahm in Gegenwart des Zaren Nikolaus II., daß die Kolonisten (Deutsche, Österreicher, Holländer-Mennoniten) bereit seien, nach dem Beispiel ihrer Vorfahren Gut und Blut für die Einheit und Größe Rußlands zum Opfer zu bringen. Er sprach hiermit die Gesinnung aller Deutschrussen aus; alle waren gewillt, ihrem Adoptivvaterlande die Treue zu halten. Trotzdem eröffnete noch im selben Jahre die einflußreiche Petersburger „Nowoje Wremja” (45) einen heftigen Feldzug gegen die Deutschrussen. Festgewurzelt waren die deutschen Kolonisten in Rußland, aber sie waren dennoch in ihrer ganzen Art Deutsche geblieben. Deshalb war es so tragisch, daß sie beim Ausbruch des Weltkriegs gegen Deutschland zu Felde ziehen mußten. Bezeichnende Äußerungen deutsch-russischer Soldaten finden wir in den Berichten der Bewohner Ostpreußens aus der Zeit des Russeneinfalles (17, 91). Ähnliches bestätigt Prof. Dr. Müller in seiner Begegnung mit dem Adjutanten des Höchstkommandierenden, einem Deutschrussen, der sein Bedauern aussprach, gegen Deutschland zu Felde ziehen zu müssen, aber er habe dem Zaren den Eid geschworen und müsse seiner Pflicht genügen. Ein einflußreiches Mitglied aus der Gesellschaft zum Kampfe gegen die deutsche Vergewaltigung (Obczestwo borby protiw nemezkago tiranstwa), der Petersburger Oberlehrer Iwan Iwanowicz Sergejew, schrieb im März 1915 eine viel gelesene Schrift „Die friedliche Eroberung Rußlands durch die Deutschen”, worin er strengste Durchführung des Enteignungsgesetzes von Januar 1915 forderte. Dem gegenüber muß festgestellt werden, daß die Deutschrussen ihre Steuern regelmäßiger bezahlten und ihre Bürgerpflichten besser erfüllten als die meisten Russen. Nie wurde unter ihnen Propaganda gemacht für politische Annäherung an einen anderen Staat. Es fanden sich auch russischerseits Stimmen, die zur Vernunft mahnten, wie W. Wladislawlew in der Moskauer Bibliographie zum Kriege 1914
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70
(17, 101). Doch die Hetze ging weiter, Die Sperrung der Volksbank, zum Teil auch das Landenteignungsgesetz vom 15. Februar 1915, (46, 1227) ruinierten eine Reihe deutschrussischer Gutsbefitzer. Das Verbot der deutschen Sprache und Presse sowie der Versammlung von mehr als drei Personen vom 3. November 1914, ferner die Schließung der Kirchen und Schulen im Dezember 1914, unter Androhung von 3000 Rubel Strafe oder drei Monaten Arrest, zeigen deutlich den Charakter vieler Regierungsmaßnahmen, die nicht einmal nach der Durchführbarkeit frugen. Derartige Gesetze aber schaden nur der Autorität des Staates und bieten den nachgeordneten Behörden die Gelegenheit zur Willkür gegenüber Mißbeliebigen. Und dem entsprach jetzt durchaus das Verhalten der stets für Bestechungen zugänglichen russischen Polizei.
In Ausführung der genannten Verordnung wurden zahlreiche Kolonisten, deren nächste Verwandten auf dem Schlachtfelde kämpften, aus Südrußland nach Samara, Sibirien usw. verwiesen, so z. B. aus dem Kronauer Gebiet der katholische Pfarrer, der Pastor und 20 angesehene Persönlichkeiten, von Jenakiewo Pfarrer Simon, von Taganrog Pfarrer Desch u. a. m. Besonders hart zeigte sich der Gouverneur von Jekaterinoslaw, Sokolow, und der von Cherson, Baron von Grevenitz. Schwer hatten die Mennoniten ihrer „Wehrlosigkeit” wegen zu leiden. Sie traten in den Sanitätsdienst ein oder halfen russischen Bauernfamilien, deren Ernährer im Kriege waren, bei der Feldarbeit.
Anfang 1917 war die Revolution unvermeidlich geworden. Die zerrüttete Staatswirtschaft, die Niederlagen an der Front, die unhaltbaren Zustände am Hof hatten alle Schichten der Bevölkerung gegen die Regierung aufgebracht 48). Die Bauern waren der ewigen Requtsitionen und Einberufungen müde geworden. Der ärmeren Bauernbevölkerung gebrach es am allernötigsten Lande, während der russische Adel in seinem Grundbesitz fast erstickte. Dem guten Patrioten blutete das Herz ob der Willkür der Beamten und des Treibens der Kriegswucherer. Das erste deutliche Anzeichen der hereinbrechenden Stürme war die Ermordung des kaiserlichen Günstlings Rasputin im Januar 1917, die keinerlei gerichtliche Sühnung erfuhr. Allgemein war die Achtung vor der Regierung geschwunden. Schließlich mußte der Zar am 27. Februar 1917 dem Thron entsagen. Das Volk erwartete von der Revolution sein Heil. Alle Gaue Rußlands hallten wieder von „Swoboda” (Freiheit). Ganz Rußland glaubte an Swoboda. Zunächst wurde von den Dumagliedern eine provisorische Koalitionsregierung
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48) Siehe Näheres: Paleologue, Maurice, La Russie des Tsars pendant la Grande Guerre . . . Paris, Bd. III S. 128 ff.
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(Wremenoje prawitelstwo) eingesetzt, die bis zur konstituierenden Nationalversammlung das Steuer Rußlands führen sollte.
Die erste Revolution, die bald Kerenski mit diktatorischen Vollmachten ans Ruder brachte, bedeutete auch für die Kolonisten eine große Erleichterung. Auch sie stimmten in den allgemeinen Jubel ein und glaubten, von der „Swoboda” ihren Anteil zu erhalten. Im Mai 1917 versammelten sich in Odessa 150 Vertreter der deutschen Kolonisten aus allen Gauen Rußland (52). Die nach Petersburg entsandten Deputierten erreichten, wenn auch nicht die Aufhebung des Enteignungsgesetzes, so doch die Einstellung seiner weiteren Ausführung und die Beseitigung der Ausnahmeverordnungen gegen die Kolonisten.
Nach dem Sturze Kerenskis, im November 1917, änderte sich jedoch die Lage. Während im Norden der Boschewismus (Maximalismus) die Zügel ergriff, begann für den Süden eine Zeit völliger Anarchie. Die noch in Geburtswehen liegende Ukrainische Republif war machtlos. Zuchtlose, bewaffnete Horden von Frontsoldaten kehrten heim. Die Zuchthäuser wurden geöffnet. Die Bauernräte (Sowjets) waren zumeist aus hergelaufenen Elementen, oft geradezu aus Verbrechern, zusammengesetzt. Am berüchtigsten war die Bande des „Badko (Väterchen) Machno”, welche die Kolonisten auf schreckliche Weise ausplünderte und viele hinmordete. Diese Horden ließen sich nicht von den Idealen der Moskauer Machthaber leiten, sondern von der Gier nach Geld, Genuß und Macht. Erst im April 1918, als das deutsch-österreichische Heer die Ukraina besetzte, wurde es besser. Leben und Eigentum waren nun wieder geschützt. Aber nach dem Abzug der deutsch-österreichischen Besatzung im Oktober 1918 fehlte wiederum jede gesetzliche Autorität. Abermals tauchten die berüchtigten Banden auf und zogen mordend, brennend und plündernd durchs Land. Sie verbreiteten Furcht und Todesgrauen unter allen Kolonisten. Unzählige Besitzungen wurden eingeäschert, Neukronental (Swistunowo), Marienheim (Gouvern. Cherson) und viele andere Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, die Einwohner, soweit sie nicht geflohen waren, auf bestialische Weise ermordet. So wurde z. B. Pfarrer Hoffmann von Heidelberg (Taurien) gevierteilt und an den Bau gehängt. Der Kleriker Gustav Gromut und der Student Alois Ziez aus Göttland sowie alle Männer, die man in Neu-Landau und Nikolaital an einem Tage zuhaufe antraf, wurden erschossen, ohne daß man ihnen irgendeine Schuld vorhielt. Die Not war so groß, daß selbft die Mennoniten zu den Waffen griffen, um ihre Lieben vor den Unholden zu schützen (27, 57). Rußland zeigte sich hier so recht als das Land schroffster Gegensätze. Auf der einen Seite die teuflischsten Greueltaten, auf der andern ein Heldenmut, der an Wunder grenzte. Wir kennen mehrere Beispiele
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dafür, daß Knaben und Mädchen noch im zartesten Jugendalter sich als Sühnopfer auslieferten, um Vater und Mutter als Ernährer und Erzieher für unmündige Geschwister zu retten. Doch diese Unmenschen kannten kein menschliches Fühlen. In tierischer Wut entbrannt, rotteten sie den letzten Sprossen der Familie aus 49).
In dieser furchtbaren Not griffen endlich junge Männer zur Waffe. Heimgekehrte Frontsoldaten schlossen sich ihnen an. Die Bewegung griff von Gemeinde zu Gemeinde, von Gebiet zu Gebiet. Die Planer nahmen Fühlung mit den Molotschnaern, diese mit den Kolonisten von Odessa. Kolonistensöhne, die im Kriege als Offiziere gewesen waren, traten an die Spitze dieses Selbstschutzes (Samoochrana) (16). Glänzend schlugen sich diese Helden und hatten anfangs gute Erfolge. Bald aber erlag der Selbstschutz der Übermacht — es waren eben alle Kerker geöffnet worden. Das Revolutionstribunal, das in Melitopol (27, 61), nicht in ihrem Schlupfwinkel Gulaipole, damals Machnograd (Machnostadt) genannt, errichtet war, arbeitete jetzt mit Hohdruck: wöchentlich wurden 100—150 Menschen zum Tode verurteilt. Fast alle Pferde, Kühe (vgl. S. 59—60), Schweine, das Getreide, selbst Küchengeschirr und besonders das Geld wurden mit den Waffen herausgepreßt. Von Glück konnte der Kolonist sagen, der sich noch ein einziges Pferd oder eine einzige Kuh gerettet hatte.
Inzwischen hatte im Sommer 1919 die aus zaristischen Offizieren im Kaukasus gebildete frewillige Armee Denikins die Ukraina besetzt. Während der Ernte war Ruhe, so daß diesmal wenigstens die Gefahr der Hungersnot abgewendet wurde. Aber im Oktober 1919 erlitt General Denikin seine große Niederlage vor Moskau, und die Trümmer der Armee flohen in die Krim.
Nun griff das Bandenwesen wieder in der alten Weise um sich. Zu allem Elend brachen Flecktyphus, spanische Grippe und Cholera aus. In vielen Fällen traten diese drei Krankheiten zugleich auf — eine ärztliche Beobachtung, welche damals in Rußland zum ersten Male gemacht wurde. Mit dem Erscheinen der regulären bolschewistischen Truppen im Januar 1920 wurde die Lage besser. Freilich mußten Vieh und Getreide abgeliefert werden, aber man war doch seines Lebens sicher.
Da erschien im Juni 1920 General Wrangel, der Nachfolger Denikins. Er hatte aus den Überresten der Denikinschen Armee ein kampffähiges Heer gebildet. Bedrängt von zwei Seiten, schlossen die Bolschewisten mit den Polen Frieden, und es gelang ihnen Anfang November, die Wrangelsche Armee völlig zu schlagen. Wieder fluteten beide Heere,
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49) Die Totenliste gibt die Zahl von 21 katholischen Priestern an (14, 1. Oktober 1922).
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das fliehende und das siegreiche, über die Kolonien dahin, die sich noch lange nicht von den letzten Kämpfen erholt hatten. Diesmal gelang es den Bolschewisten, ganz Südrußland und auch die Krim zu erobern. Wrangel floh mit dem Rest seines Heeres nach Konstantinopel.
Die Lage war sehr drückend. Die Preise schnellten von Stunde zu Stunde in die Höhe. Die Ernte des Jahres 1920 war mittelmäßig ausgefallen. Im Winter 1920/21 fiel kein Schnee, der Frühling brachte keinen Regen; infolgedessen mißriet die Ernte des Jahres 1921 gänzlich. Da ich im Jahre 1921 Rußland verließ, bin ich in folgendem auf die Literatur und auf persönliche Berichte angewiesen. Die allgemeine große Hungersnot setzte schon im August und September ein, etwa ein Jahr nach derjenigen, die die Wolgakolonien heimsuchte. Denn die vorhergegangenen Plünderungen und Requisitionen hatten alle Vorräte aufgezehrt. Das Elend war bald so groß, daß Spreu, Baumblätter, Sohlleder, Wurzeln, Hunde und Katzen verzehrt wurden 50). Menschenfresserei steht nicht vereinzelt da; sie wurde bei den Russen in vielen Fällen beobachtet; leider kam sie selbst unter den Planern vor. In Mirau hat ein gewisser Wilhelm Rindfleisch sein eigenes Kind geschlachtet und gegessen 51). Man berichtet mir von einer sterbenden Mutter, die kurz vor ihrem Tode der Tochter zuflüsterte: „Mein Kind, wenn ich tot bin, mach’ dir kein Gewissen daraus, mein Fleisch zu essen.” Wegen fast völligen Mangels an Kleidungsstücken 52) mußten die Kinder vielerorts ganz nackt gehen, während die Erwachsenen ihre Blöße mit alten Säcken verhüllten. Die Folge dieser Not war eine ungeheure Sterblichkeit. So starben in Kaiserdorf von August bis Dezember 1921 von etwa 450 Einwohnern 68 Erwachsene, 50 u. 51), in Rosengart von 506 Erwachsenen — 80. Die Zahl der verstorbenen Kinder ist noch viel größer.
Sehr lehrreiche Aufschlüsse über die Zustände im Frühjahr 1922 geben uns die von den Gemeindeverwaltungen (jetzt Dorfräten) eingegangenen Antworten auf die ihnen von Deputierten des katholischen Hilfswerks für die Hungernden des Gebietes am Schwarzen und Asowschen Meer durch Johannes Lamboy persönlich vorgelegten Fragebogen. Die folgende Tabelle (S. 74) faßt einen Teil der Antworten von 24 Dörfern des Mariupoler Kreises zusammen. Ihre sämtlichen Einwohner wurden als hilfsbedürftig bezeichnet.
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50) u. 51) So berichten mir die Deputierten aus dem Hungergebiet Südrußlands, Lehrer Konstantin Adam und Lehrer Blatz.
52) Bericht des Religionslehrers Ehresmann aus der Diözese Tiraspol (jetzt in Berlin).
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Dorf |
Seelen 1922 |
Land in Deßj. vor dem Kriege |
Land in Deßj. nach dem Kriege |
53) Bestelltes Feld Deß-jätinen |
54) Minimal-einsaat |
Nötiges Getreide in Puden |
Noch vorhand. Zugvieh Pferde |
Noch vorhand. Zugvieh Kühe |
Kirschwald |
368 |
1465 |
1465 |
21½ |
366 |
1820 |
53 |
30 |
Tiegenhof |
484 |
1839 |
1839 |
50? |
1200 |
8000 |
20 |
110 |
Rosengart |
506 |
1609 |
1609 |
27¾ |
684½ |
4588 |
44 |
– |
Schönbaum |
395 |
1500 |
1500 |
28 |
850 |
4500 |
114 |
100 |
Kronsdorf |
642 |
1702½ |
1702½ |
116 |
898 |
5595 |
16 |
86 |
Grunau |
560 |
1512½ |
1510 |
32 |
750 |
3386 |
16 |
44 |
Rosenberg |
393 |
1452 |
945 |
47 |
450 |
2300 |
47 |
– |
Reichenberg |
350 |
1646 |
1646 |
50 |
427 |
2792 |
67 |
448 |
Mirau |
357 |
1497 |
1497 |
217/8 |
700 |
3380 |
? |
? |
Göttland |
484 |
1605 |
1605 |
20 |
710 |
3392 |
– |
– |
Neuhof |
420 |
1400 |
1400 |
4¾ |
821 |
6614 |
10 |
4 |
Eichwald |
610 |
1683 |
1683 |
8 |
1102¼ |
3020 |
22 |
119 |
Kaltschinowka |
428 |
1722 |
1722 |
23 |
? |
4202 |
20 |
? |
Rundwiese |
286 |
1725 |
1621 |
19 |
478 |
3255 |
45 |
– |
Kleinwerder |
261 |
1059 |
1059 |
20 |
559 |
3554 |
32 |
– |
Großwerder |
543 |
1889 |
1889 |
13 |
1040 |
5657 |
– |
? |
Darmstadt |
399 |
2034 |
– |
53 |
520 |
4920 |
107 |
97 |
Marienfeld |
399 |
1988 |
1022 |
48 |
523 |
3245 |
25 |
66 |
Neu-Jamburg |
667 |
2890 |
2890 |
63¾ |
868 |
6148 |
41 |
105 |
Schöntal |
413 |
2223 |
1473 |
17 |
360 |
2400 |
25 |
? |
Heubuden |
302 |
1829 |
1058½ |
14 |
250 |
900 |
– |
– |
Luisental |
120 |
930 |
587 |
28 |
356 |
446 |
– |
– |
Medowka |
208 |
1128 |
1128 |
2½ |
700 |
660 |
8 |
– |
Seredinowka |
161 |
800 |
800 |
11 |
320 |
– |
27 |
16 |
= (Janochutor) |
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Heute, fünf Jahre nach der großen Hungersnot, sind ihre Folgeerscheinungen noch ebensowenig überwunden, wie die der ersten Jahre nach der Revolution. Von einem Wohlstand der sehr viel kleiner gewordenen Schar der deutschen Kolonisten kann noch lange nicht die Rede sein. Fast überall fristet man nur kümmerlich sein Leben. Dieser Tatsache gegenüber drängt sich die Frage auf: Besteht überhaupt eine Hoffnung auf bessere Zeiten, oder werden die Kolonien mehr und mehr verfallen? Gestützt auf den natürlichen Reichtum des Landes und die allmähliche Konsolidierung seiner innerpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, dürfen wir mit einer bessern Zukunft rechnen. Lediglich das Zusammentreffen der politischen Wirren mit der schweren Mißernte,
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53) War schon bestellt, bevor noch die größte Hungersnot begonnen hatte.
54) Soviel einzusäen wird für unbedingt nötig erachtet, um die Familie und das noch übrig gebliebene Vieh ernähren zu können.
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dazu noch der Mangel an Verkehrsmitteln, erzeugten eine derartige, noch nie dagewesene Hungersnot.
Die Sowjetregierung hat in den letzten Jahren zum Teil ihre frühere Ideologie aufgegeben und neuerdings das Eigentumsrecht anerkannt sowie den freien Handel gestattet. Glücklicherweise haben Deutschland und Italien das Zeichen der Zeit verstanden und Abmachungen mit Rußland getroffen, die sich nicht bloß auf den Handel, sondern auch auf Landmeliorationen beziehen. Auch andere Länder stehen in ähnlichen Unterhandlungen mit Sowjetrußland. Das sind erfreuliche Erscheinungen; denn Westeuropa braucht Osteuropa und Rußlands Zukunftshoffnungen sind Welteuropas Zukunftshoffnungen.
Die Sowjetregierung hat im Jahre 1922 den deutschen, französischen, schweizerischen, schwedischen, holländischen, serbischen und bulgarischen Kolonisten eine Art Selbstverwaltung zugestanden 55), was einen sehr fördernden Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ausüben wird.
Die Tatkraft und Arbeitsamkeit der Kolonisten, ihr alter Wagemut, die stets lebendige Erinnerung an die Väter, die auch aus dem Nichts so Großes schufen, ihre Genügsamkeit und Gerechtigkeit, ihre Bescheidenheit im Glück und Unverzagtheit im Unglück, diese edlen Tugenden, die von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt wurden und auch Krieg, Revolution und Hungersnot überdauert haben, bürgen dafür, daß die Kolonisten in Rußland noch eine Zukunft haben.
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55) Persönlicher Bericht von David Dyck, Vertreter in Sachen der Hilfsaktion für die hungernden Kolonisten des Donezgouvernements (Bachmuter Kreis, Ssöjurger) Ukraina.
Weitere Informationen (S. 76 bis 99) sind der Originalquelle zu entnehmen:
Schriften des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart
A: Kulturhistorische Reihe / Band 22
Herausgegeben im Auftrag des Wissenschaftlichen Beirats
von Geh. R. Professor Dr. Walther Goetz - Leipzig. Geh. R. Professor Dr. Karl Sapper - Würzburg, Professor Dr. Paul Traeger - Berlin, Professor Dr. Carl Uhlig – Tübingen und Geh. R. Professor Dr. Wilhelm Volz - Leipzig
Die Planerkolonien am Asowschen Meere
von Dr. Joseph Aloys Malinowsky
Direktor des Akademikerheims in Freiburg im Uchtland (Schweiz)
Mit einer Kartenbeilage und einem Plan im Text
Stuttgart 1928
Ausland und Heimat Verlags-Aktiengesellschaft
Johann Richter 1803: Briefe über Kiew
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Briefe über Kiew.
Aus Ismailows Reise durch das südliche Rußland. *)
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Erster Brief. Im May 1799.
Der Weg durch Kleinrußland von Kursk aus ist äußerst angenehm. Schöne Wiesen, anmuthige Gehölze, reißende Thäler, lustige Anhöhen und niedliche Dörfer gewähren dem Reisenden ein angenehmes und unterhaltendes
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*) Siehe das erste Heft der russischen Miszellen.
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Schauspiel. Aber so wie man sich Kiew nähert, ändert sich die Scene. Die Wälder werden seltner, das Land ist flach und öde, und die Dörfer haben ein ärmliches Ansehen.
Von Borispolsk, der letzten Station von Kiew, zieht sich der Weg zwischen Sümpfen über ein niedriges Land, dessen Anblick weder dem Auge noch dem Herzen wohlthut. Ich hatte mir die Gegend um Kiew sehr reitzend vorgestellt, und fand nun nichts als Steppe. In Gedanken flog ich, nach dem Ziele meiner heißen Wünsche, dem alten, merkwürdigen, Kiew, und der Flugsand zwang die Pferde im Schritt zu gehen. Das reichte hin, mich mißmuthig und ungeduldig zu machen.
Aber als ich eben im Begriff war, auf den Sand und die Natur, auf die Pferde und ihren Führer, zu schimpfen, erblickt‘ ich hinter einem dichten Fichtenwalde die goldne Spitze des petscherskischen Klosters, die im
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Strahle der Sonne, gleich einem schönen Stern leuchtete.
Wir fuhren in den Wald. Unter den hohen Fichten, um deren krause Gipfel heiliges Alterthum schwebte, herrschte düstres Schweigen und schauerliches Dunkel. Ich versank in Träumereyen über die Vergangenheit, und die Bilder voriger Zeiten stiegen vor meinem Geiste auf. Ich dachte an die traurige Epoche, als Kiew unter dem Joche fremder Völker seufzte, und der Uebermuth des wilden Eroberers das Vaterland ängstigte. Ich sah den von der Last der Jahre gebeugten Greis, der, todt für die Freuden des Lebens, keine andere Leidenschaft mehr kannte, als die Liebe zum Vaterlande. Ich sah ihn auf die zitternden Kniee sinken, das matte Auge gen Himmel gewendet, für die Rettung des Vaterlandes beten, Ich sah das schwache, von Mutterliebe begeisterte Weib, mit der Wuth
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einer Löwin, der man die Jungen raubt, für die Unschuld der geliebten Tochter streiten. Ich erblickte im Dunkel des Waldes die, unter den melancholischen Fichten schwankende Gestalt eines Mädchens, die den Grabhügel ihres in der Schlacht gefallenen Geliebten sucht. ---
Wir fuhren aus dem Walde, und der herrliche Anblick, den ich nun hatte, verscheuchte die düstern Träume meiner Einbildungskraft.
Vor mir lag der majestätische Dnepr, hinter welchem sich das Amphitheater der Berge erhebt, das dem petscherskischen Kloster und der Andreaskirche zum Piedestal dient, und diese heiligen Oerter, gleichsam als eine Gabe der Erde, dem Himmel darbringt. Schaaren von Pilgern bedeckten die Wiesen diesseits des Flusses. Tausende füllten die Fahrzeuge, die unaufhörlich über den Dnepr setzen, und
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Tausende waren schon jenseits; und eilten mit dem frommen Blick der Andacht den steilen Felsenweg hinauf, der-zu den heiligen Oertern führt. *)
Eine fromme Begeisterung ergriff mich. Ich mischte mich unter die Haufen der Pilger, eilte über den Dnepr, und flog den Felsen hinauf. Alle Kräfte meines Wesens schienen wie neubelebt.
Fern von hier, kaltherzige Philosophen! dieser Ort ist nicht für euch. Nur der; dem ein Herz im Busen schlägt, ist würdig diesen Boden zu betreten. ---
Gern hätt ich noch an demselben Tage die Katakomben, die alte Kirche des heiligen Andreas,
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*) Kiew ist, nebst dem Kroster Troizka bey Moskwa, und Rostow bey Jarostaw, einer von den Oertern in Rußland, die am meisten von frommen Pilgern besucht. werden. Die Zahl derselben in Kiew beläuft sich jeden Sommer auf sechzigtaufend.
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die Wohnung des großen Wladimir, und die übrigen Merkwürdigkeiten Kiews besehen, aber die einbrechende Nacht setzte meiner Wißbegierde Gränzen.
Am folgenden Morgen war ich schon vier Uhr auf den Füßen, und eilte voll Ungeduld meine Neugierde zu befriedigen.
Kiew gewährt im Ganzen einen herrlichen Anblick. Auf der einen Seite erhebt sich das petscherskische Kloster mit seinen Festungswerken auf einem hohen Berge. Auf der andern erblickt man das alte Kiew mit dem Sophieen- und Michaelskloster auf einigen Hügeln, und tief unten am Dnepr liegt die Stadt Podol. Die blitzenden Thurmspitzen der zahlreichen Klöster und Kirchen, die grünen Hügel, die Abwechselung von Berg und Thal, und endlich, der majestätische Dnepr machen zusammen ein mannichfaltiges und höchst interessantes Gemählde.
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Das petscherskische Kloster.
Der Weg, der nach dem petscherskischen Kloster, und der Festung desselben Nahmens, führt, ist sehr angenehm. Die Zugbrücken, die in den Felsen gehauenen Pforten, und der mit grünen Rasen bedeckte Wall, gewähren eine reißende Abwechselung. In dem Innern der Festung findet man das Zeughaus, ein großes und schönes, aber noch nicht ganz vollendetes Gebäude, und das mit besondern Mauern umgebne petscherskische Kloster, wo man neben mehrern prächtigen Kirchen die bescheidnen Wohnungen der Mönche erblickt, die zum Theil mit artigen Gärtchen umgeben sind, und von alten hundertjährigen Bäumen beschattet werden. Eine Menge Volks drängt sich hier unaufhörlich um die heiligen Oerter, und füllt die Tempel.
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Die Hauptkirche zur Himmelfahrt Mariä ist das merkwürdigste und schönste Gebäude innerhalb der Mauern des Klosters. Mehrmals hat die Hand des Feindes diesen Tempel zerstöhrt, und eben so oft hat ihn die Hand der Frömmigkeit wieder errichtet. Er ist reich verziert, und enthält mancherley Merkwürdigkeiten. So sieht man z. B. linker Hand an der Wand die Bildnisse der Großfürsten Rußlands und der Kosakenhettmanns, und nicht weit davon ist das Grabmahl Rumänzows. ----
Der Glockenthurm, der über 80,000 Rubel gekostet hat, ist ein schönes Achteck von vier Stockwerken, die von 64 Säulen verschiedner Ordnungen getragen werden. Zwischen diesem Glockenthurm und der Hauptkirche steht eine hohe viereckige Spitzsäule, auf welcher verschiedne Sonnenuhren angebracht sind.
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Die übrigen Kirchen, die sich innerhalb der Ringmauern des Klosters befinden, hab‘ ich nur flüchtig betrachtet. Die vorzüglichsten darunter sind: die Kirche des heiligen Peter und Paul, die Dreyeinigkeitskirche und die Nicolauskirche.
Die Katakomben.
Ein kleiner graubärtiger Mönch war mein Führer. Nachdem er mir einige angezündete Lichter in die Hand gegeben und sich selbst damit versehen hatte, führte er mich durch einen unterirdischen Gang unter dunkeln Gewölbern in die Tiefe. Wir giengen ziemlich lange auf eisernen Platten, und der Mönch ließ mich bemerken, daß die Gewölbe nicht von Stein, sondern bloß von Erde wären, und daß sie sich so lange Zeit nur durch ein Wunder unversehrt hätten erhalten können. Endlich gelangten
I. Band. No. II.
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wir an den Ort, wo die Särge der heiligen Leichname in zwey Reihen stehen, zwischen welchen man hindurch geht. Was mich hier am meisten erschütterte, war der Anblick eines Kopfes und einer Schulter, die aus der Erde hervorragten, da die übrigen Theile des Körpers vergraben waren. Dieß, sagte mein Führer, ist der Leichnam Johannes des Dulders, der sich selbst vor seinem Tode so in die Erde gegraben hat, und in diesem Zustande gestorben ist. ---- Ich zitterte vor Schrecken und Entsetzen, und eilte wieder in's Freye zu kommen. ---- Doch besah ich noch zuvor die Leichname des Annalisten Nestor, des Ilia Muromez und eines ---- von Herodes, erschlagenen Kindes! die Zahl aller Leichname beläuft sich auf hundert.
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Die Sophienkirche.
Die Sophienkirche ist von dem Großfürsten Jaroslaw dem Ersten erbauet worden. Auch sieht man in derselben ein Denkmahl von weißem Märmor zu seiner Ehre, das aber sehr roh und schlecht gearbeitet ist.
Ein andres Werk der Kunst hingegen ist vortreflich. Dieß ist eine Mosaik über dem Altare, welche die heilige Jungfrau, die Apostel und die Evangelisten vorstellt. Sie ist aus den ältesten Zeiten, und hat sonst noch mehrere Figuren enthalten, die aber durch Baty und seine wilden Horden zerstöhrt worden sind.
Noch verdient ein Gemählde bemerkt zu werden, das bey dem Eingange hängt, und eine Kopie von einem italienischen Gemählde seyn soll. Es stellt die Geburt Christi vor, und ist vortreflich. Vorzüglich ist,die heilige Jungfrau ein Meisterstück des Pinsels.
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In der Zehntenkirche, die der Großfürst Wiadimir erbauet hat, ist er, so wie die Großfürstin Olga begraben. Allein man sucht ihre Gräber vergebens. Die Zeit hat alle Spuren derselben verwischt.
Von dem Berge des heiligen Andreas, auf welchem die Kirche gleiches Nahmens steht, hat man eine vottrefliche Aussicht. Diese Kirche ist; nebst der Kirche des heiligen Michael, die schönste in Kiew. *)
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Zweyter Brief.
Heute bin ich in der Akademie gewesen. Als ich zu dem Präfekt kam, fand ich eine Versammlung von Geistlichen. Der Archimandrit
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*) Der Uebersetzer ist genöthigt gewesen, hier vieles wegzulassen, um das Weitschweifige und Deklamatorische des Originals zu vermeiden, das in der Uebersezung unmöglich gefallen könnte, Anw. d. Ueb.
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mit einem brillantnen Kreuze, der Rektor mit dem Annenorden, und viele Mönche waren da. Es war der Tag der öffentlichen Disputirübungen. Nachdem sich alle, die dazu geladen waren, bey dem Präfekt versammelt hatten, giengen wir in die Akademie.
Ein altes, aber schönes, Gebäude, mit einer treflichen Gallerie und Kolonnade innerhalb den Mauern des Brüderklosters dient zu den akademischen Vorlesungen. In dem großen Hörsaale erwartete ein Student auf den Katheder die Versanmlung. Ein Chor Sänger empfieng die Eintretenden, und als sie ihre Plätze eingenommen hatten, und der Archimandrit dem Studenten den Segen ertheilt hatte, so eröffnete er die Feyerlichkeit mit einer lateinischen Rede, nach deren Endigung die Disputirübung anfieng.
Auf einem Blatte, das mir bey dem Eintritt überreicht worden war, standen die Sätze
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geschrieben, welche vertheidigt und angefochten wurden, z. B. Ohne Metaphysik lassen sich die Begriffe von den Dingen nicht sicher bestimmen. Das Wesen der Dinge ist nothwendig, ewig, unveränderlich und nicht mittheilbar u. s. w.
Es schien, als wenn die Einwendungen und die Antworten darauf zuvor einstudirt worden wären; wenigstens konnte man nicht an den Bewegungen der Gesichtsmuskeln bemerken, daß der Verstand arbeitete und Beweise suchte. Doch belebte eine gewisse Wärme die Redens den, und ich selbst fühlte bey diesem Kampfe der Geister eine Flamme in meiner Brust sich regen, und entbrannte von dem Wunsche, als Athlet in diese glänzende Arena zu treten.
Als ich den Hörsaal verließ. dacht‘ ich, wie angenehm und nützlich es seyn müsse, wenn dergleichen Disputirübungen öfters in Gesellschaften angestellt würden , und Philosophen
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und Moralisten, Rechtsgelehrte und Theologen ihre Systeme aufstellten, und ihre Meynungen gegen die Einwürfe Andersdenkender vertheidigten. Ich erinnerte mich dabey an die öffentlichen Plätze Athens, wo sich Dichter und Redner, Gelehrte und Ungelehrte, Philosophen und Sophisten, versammelten, und sich über die wichtigsten Gegenstände des menschlichen Lebens besprachen, wo jene entzückenden Redekämpfe gehalten wurden, die uns der beredte Schöpfer des Anacharsis und sein würdiger Nacheiferer, der Verfasser der Aglaja, *) so schön beschrieben haben.
Darauf besah ich die Bibliothek der Akademie , welche sonst eine Menge seltner und kostbarer Handschriften besaß , die aber in einem
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*) Karamsin, der in seiner Aglaja in dem Aufsatze: Leben zu Athen,eine trefliche Beschreibung von den feinern Genüssen der Athenienser giebt.
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Brande verlohren gegangen sind. Doch ist sie noch reich an guten Büchern, die mit Wahl und Geschmack geordnet sind. Mit Vergnügen sah ich hier Montesquieu‘s Geist der Gesetze, und Rousseau's einzigen Emil. Ferner Homer, diesen Sänger aller Zeiten und aller Völker, der Virgil hervorbrachte, der mit neuem Ruhme in dem Ruhme seiner Nachahmer glänzte, und enizig in seiner Art blieb, höher als Tasso, als Milton und selbst als Klopstock. Aber vergebens sucht‘ ich das Magazin menschlicher Kenntnisse und Irrthümer, die Encyclopädie.
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Dritter Brief.
Hier ist die Kirche des heiligen Wassili, wo einst das Haus des Großfürsten Wladimir stand. Vor mir grünt der Hügel, wo
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der Mensch das Werk seiner Hände anbetete, *) das er endlich in den Staub trat; wo der Donnergott Perun, ein von Menschen gezimmertes Götzenbild, Furcht und Zittern in der Seele des furchtbaren Zaren und Helden erregte.
Von diesem Hügel aus ruht der Blick auf einem herrlichen Horizonte. Gewiß saß Wladimir oft auf diesem Hügel, und sein Nachdenken führte ihn hier gewiß oft, noch ehe er den christlichen Glauben annahm, zum Zweifel an der Aechtheit seiner Götter. Gewiß fühlte er hier mit heimlichem Entzücken, wenn er auf den reinen Himmel über sich auf den majestätisch rauschenden Fluß, auf die Berge und Thäler um sich her, blickte, gewiß fühlte und erkannte er hier das Daseyn eines Schöpfers
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*) Es ist bekannt, daß der Perun der Wohnung Wladimirs gerade gegenüber stand.
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der Welt, Mir däucht‘ es, ich sähe ihn. Das prächtige Gemählde der Natur füllt seine Seele mit Bewunderung und er fällt nieder vor dem Allmächtigen, der sie schuf.
War es nicht hier in dieser Wohnung Wladimirs, wo sein Leben in Gefahr stand, und wo einer der rührendsten Auftritte vorfiel?
Die von Rache entflammte Rogneda wollte einst ihren Gemahl aus den Armen der Liebe und des Genusses in die Arme des Todes werfen, und als er in süßem Schlummer an ihrem Busen ruhte, hob sie die Hand auf, ihn zu morden, aber in demselben Augenblick erwachte Wladimir. Welch ein Erwachen! Die Hand, die ihm kurz zuvor zärtlich geschmeichelt hatte, zuckt den Dolch auf ihn. Aus den Augen, wo zuvor nur Liebe und Zärtlichkeit strahlten, blitzt wilde Wuth, Auf den Lippen, wo Rosen lächelten und Küsse glühten, erblickt er die Blässe und das Zittern
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einer Furie. Er fällt der Unglücklichen in die Arme, entreißt ihr den Dolch ---- die Mörderin ist entwaffnet. Aber Rache und Wuth scheinen sich aus Rognedens Blicken in Wladimirs Brust ergossen zu haben. Er hebt den Dolch, der zuvor auf ihn gezückt war, und bestimmt den Augenblick - wo diejenige sterben soll, die ihn ermorden wollte. Der fürchterliche Augenblick nähert sich, als er auf einmal einen Knaben zu seinen Füßen stürzen sieht, der ihn um Schonung für die Mutter anfleht, und seine Brust zum Opfer für sie darbietet. Es ist sein und Rognedens Sohn ---- das Unterpfand ihrer Liebe. „Willst du mich zur mutterlosen Wayse machen, Vater?“ ruft er unter einem Strome von Thränen. Wladimir steht stumm und betäubt --- vielleicht kämpft er noch mit sich selbst --- Nein, das Gefühl der Natur hat schon die Flamme der Rache gelöscht, und er genießt ein himmlisches Entzücken. Gern hätt‘ er dieß Entzücken verlängert,
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gern hätt‘ er den, für das Leben der Mütter bittenden, Sohn noch länger zu seinen Füßen gesehen, und den süßen Triumph der Natur seinem Herzen noch länger geschmeckt. Dieß sagt sein beredtes Stillschweigen. Aber Isjäslaws Blicke, der seinen Sieg in den Augen des Vaters liest, und seine Arme zu ihm ausstreckt, diese Blicke überwältigen ihn, unwiderstehlich. ---- Er wirft den Dolch hin, und nimmt den Knaben in die Arme. ---- Hier falle der Vorhang!
Aber verzieh auch Wladimir Rognesden? ---- Erröthe über diese Frage, wenn dir ein menschliches Herz im Busen schlägt!
Mahler; Dichter, und du; Sänger Wladimirs, *) verzeiht es mir, daß ich es wagte, diesen Auftritt mit meinem schwachen Pinsel zu mahlen!
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*) Scheraskow, Verfasser der Rossiade und des Wladimirs. Siehe das erste Heft.
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Vierter Brief.
Hier ist alle Abends im Hofgarten öffentliche Promenade. „Wie, ruft ihr aus, auch in dem frommen Kiew kennt man die gesellschaftlichen Freuden? ---- Und wie, meine Freunde, sollte man sie nicht kennen? Spricht nicht überall das Herz zum Herzen? Kennt man nicht überall die ausdrucksvolle Sprache der Blicke und Mienen? Trägt nicht jedermann ein Herz im Busen? und hat nicht auch der strengste Anachoret und der leidenschaftsloseste Philosoph Gefallen am lächelnden Blicke der Schönen?
Der Tag neigt sich, und, ohne meine Philosophie zu verschließen, wie es Jean Jaques für nöthig hielt, tret‘ ich den Weg nach dem Hofgarten an.
Die Wagen rollen, der Staub steigt wibelnd in die Höhe, und hüllt den bescheidnen
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Fußgänger ein, der aber, glücklicher als Diogenens zwischen sich und der Sonne, nicht den furchtbaren Alexander, sondern nur sanfte Mädchen, gepuderte Stutzer und geschminkte Matronen hat. Kiew kann sich also, was den Glanz der Equipagen und das schnelle Fahren betrifft, schon mit andern großen Städten Europens messen.
Ich betrat den Garten. Einige spazierten paarweise in den Alleen, andre saßen auf den Bänken, und noch andre standen und betrachteten die Vorübergehenden. Da ich nicht auf der Scene erscheinen, sondern nur bemerken wollte, so setzt‘ ich mich unter eine alte schattige Linde.
Ich weiß nicht, ist es die Stimmung meiner Seele, oder die Lebhaftigkeit meiner Empfindungen, oder das Spiel meiner jugendlichen Einbildungskraft, das alles um mich her mit hellen Farben, mahlt; aber ich finde etwas
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Schönes und Erhabnes in dergleichen Versammlungen, wo Tausende von Menschen, die gegenseitige Bedürfnisse des Geistes und des Herzens an einander ziehen, einen grünenden Garten gleichsam zum Tempel des Genusses weihen, und im Schooße der ländlichen Natur, wo unschuldige Scherze und leichte Vergnügungen einander die Hand reichen, Zusammenkünfte veranstalten, in welchen der Geschmack mit seinen Annehmlichkeiten, die Schönheit mit ihren Reitzen, die Zerstreuung mit ihrem schnellverschwindenden Glücke, die Wolken des Kummers am Horizonte des menschlichen Lebens auf einige Zeit zerstreuen. Aber leider! muß man gestehen, daß diese Zusammenkünfte nur gar zu oft ihres Zwecks verfehlen, indem Neid, Schmähsucht und Eitelkeit ihre Vergnügungen vergiften, und man in den gewöhnlichen Gesellschaften nur selten wahre und herzliche Geselligkeit findet.
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Vor mir drängt sich die Menge. Einer sagt etwas, der andre lächelt, der dritte und vierte drücken sich die Hände, alle begegnen sich ohne rechten Antheil an einander zu nehmen, und trennen sich ohne Bedauern. Hier steht ein Zirkel und das Gespräch ist lebhaft. Aber es sind nicht Gedanken, die sie ausdrücken, es sind bloße Worte. Das Wetter, der Putz einer Dame, der Morgenbesuch bey dem Gouverneur ---- das sind die wichtigen Gegenstände; worüber sie schwatzen. ---- Doch genug davon ---- ich lenke meine Blicke auf etwas Angenehmeres. Bin ich im Reiche der Schönheit? Die reizendsten Schönen rauschen vor mir vorüber, und ich weiß nicht, wo ich meinen Blick hinwerfen soll, so viel Liebreitz, Zartheit und Unschuld seh‘ ich vor mir. ---- Welch ein himmlisches Mädchen! Welche Züge! Welcher Wuchs! Das ist das Urbild der Schönheit! Aber ihre Blicke, ihre Züge, ihre Bewegungen sind ohne Seele ---- sie bedarf des Wunders,
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das Pygmalions Liebe wirkte. Der junge Mensch, der mit ihr spricht, scheint nicht fähig, zu seyn, dieß Wunder zu bewirken. Er scheint nicht die Liebe gegen sie zu fühlen, die dem geliebten Gegenstande Leben und Seele giebt.
Aber was ist das für ein Mädchen, die dort in allem Reitze der Unschuld und mit dem lebhaftesten Ausdruck des Gefühls lächelt? O! dieses Lächeln gehört mir. Ich habe ein Recht darauf, denn mein Herz fühlt und versteht es. Es gewährt mir Freude und Genuß. denn ich ahnde dabey alle Seligkeit, die ihre Liebe zu geben im Stande ist.
Doch jene mit dem melancholischen Blick, die ihrer Freundin etwas leise zuflüstert, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Wie wünscht‘ ich mit ihr bey dem sanften Schimmer des Mondes in diesen Alleen zu wandeln! ----
I. Band. No. II.
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Der Anblick so vieler reizenden Mädchen hat mein Herz zu zärtlichen Gefühlen gestimmt. Unwillkührliche Seufzer drängen sich aus meiner Brust hervor. Meine flammenden Blicke suchen etwas; die Kraft einer geheimen Sympathie bewegt mein innres Wesen, und das Bild einer himmlischen Wonne mit allen Genüssen der Erinnerung und der Hoffnung, daß sie einst wiederkehrt, steigt in meiner Seele empor.
O reizendes, holdes Geschlecht, wo ist der Winkel der Erde, den die Sonne deiner Reitze nicht verschönerte? Wo ist der Mensch, der ohne dich leben könnte? In deinen Händen trägst du die Herrschaft der Welt, und in deinen Augen den Zepter der Natur. Du belebst alles und herrschest überall. Mit dir bildet der fühlende Jüngling seine Talente aus; durch dich empfängt der Mann sein Glück, und die Erinnerung an dich giebt dem Greise neues Leben.
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Ohne dich ist kein Glück auf dieser Welt des Jammers. Der Augenbliek des Lebens verwandelt sich durch dich in eine Ewigkeit von Genuß, und die Anbetung, deren Gegenstand du bist, vermag allein unser fehlervolles Herz zur göttlichen Reinheit und zur höchsten Vollkommenheit zu erheben. Reizendes, holdes Geschlecht! herrsche über uns und beselige: uns! O Mädchen, liebt, aber nur, wenn ihr eurer Würde werth seyn wollet, so, wie Julie und Sophie *) liebten. Liebet die Tugend und die stillen Genüsse des häuslichen Lebens.
Als ich nach Hause gekommen war, zog ich eine Parallele zwischen den kiewschen und moskowischen Schönen. In Kiew giebt es
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*) Julie in der neuen Heloise, und Sophie im Emil, von J. J. Rousseau.
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mehr schöne Frauenzimmer, als in Moskwa, aber bey uns findet man mehr Grazien. Hier ist es die Leichtigkeit der Natur, dort die Leichtigkeit der Kunst, was uns anzieht. Die: kiewschen Schönen haben mehr Wahrheit im Blick, und die moskowischen mehr Zärtlichkeit. Hier findet man nicht das lebhafte Spiel der Romane und folglich nicht die verfeinerte Liebe, die man bey uns sieht, wo so viele Romanenheldinnen glänzen. In Moskwa findet man mehrere Heloisen, hier aber nur Julien, und wenn die moskowische Schöne mehr dem kalten Verstande gefällt, so ist die kiewsche dafür dem glühenden Herzen teurer.
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Fünfter Brief.
Der Eindruck, den Kiew als Stadt macht, ist eben nicht vortheilhaft. Man sieht keine steinernen Häuser, keine Ordnung im Bauen,
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keine Regelmäßigkeit, keine Architektur. Die Straßen sind nicht gepflastert, und bey dem sandigen Boden hüllt eine beständige Staubwolke die Fahrenden und Gehenden ein. Selbst Podol, das volkreicher und bewohnter ist, als die übrigen Stadttheie, hat hat nicht das Ansehen einer Stadt. Hölzerne Dächer niedriger Hütten werden von prächtigen Kirchen und Klöstern beschattet, und die Straßen sind hier so enge, daß kaum zwey Droschken *) sich ausweichen können. Ueberdieß ist die Verbindung zwischen den drey Stadttheilen sehr beschwerlich, da sie durch Berge von einander getrennt sind. Man glaubt drey verschiedne Dörfer zu sehen. Ich sage Dörfer, denn auch ganz Kiew verdiente kaum den Nahmen einer Stadt, wenn es nicht durch die prächtigen Kirchen und Klöster noch ein Ansehen
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*) Droschka, kleiner, schmaler, russischer Bankwagen, den gewöhnlich ein Pferd zieht. Anm. d. Ueb.
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bekäme. Mit einem Worte, das Herz und der Blick nennt Kiew ein angenehmes Dorf, wo sanfte Einfalt, stiller Friede und kindliche Unschuld der Sitten wohnen.
Die Einwohner theilen sich hier in drey Klassen; die Geistlichkeit, der Adel und das gemeine Volk, machen drey ganz verschiedne Kreise in Rücksicht der Gesellschaft, der Aufklärung und der Sittlichkeit aus. Ich sage hier nichts von dem gemeinen Volke, da ich schon oben überhaupt von dem kleinrussischen Bauer geredet habe, auch übergeh‘ ich die Geistlichkeit, über die mir zu urtheilen nicht zukommt, und beschränke mich bloß auf einige Bemerkungen über den Adel.
Im Allgemeinen findet sich in Kiew nur noch wenig Aufklärung; doch scheint es den Fortschritten der glänzenden Hauptstadt, Moskwa, nachzueifern, die seit Peter dem Großen für Rußland das geworden ist, was
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einst Athen für Griechenland war und Paris für Frankreich ist, wo man Kenntnisse und Lebensart in der höchsten Verfeinerung findet, wo so viele aufgeklärte und gebildete Menschen leben, von wo aus das Wort eines bedeutenden Mannes, oder auch das Epigramm eines Elegants, und der Pli einer Dame nach der Mode in die Provinzen und von Stadt zu Stadt fliegt, und Erstaunen, Bewunderung und lächerliche Nachahmung erregt.
Noch giebt es hier keine systematische Erziehung, und jeder folgt in seiner Bildung bloß dem Beyspiele und der Gewohnheit. ----- In Rücksicht der Geselligkeit und der Lebensart ist man ziemlich weit, aber doch noch immer weit genug von dem feinen Luxus des Geistes, wie ich es nennen möchte, der in der Unterhaltung zarte Empfindungen, lebhafte Ideen, Philosophie und attisches Salz verlangt. Etwas, wodurch sich die Einwohner Kiews
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besonders auszeichnen, ist die Hochachtung gegen die Religion, die hier eine sanfte Gewalt über die Herzen übt. Greise, Männer und Jünglinge besuchen die Kirchen zu allen Zeiten des Tages. Sie wohnen dem Gottesdienst mit Andacht bey und scheinen wahrhaft fromm zu seyn. Daher sind auch die Sitten in Kiew reiner als anderswo. Glück und Treue zieren die Ehen. Friede wohnt in den Familien. Die Blüthe der Schamhaftigkeit glüht auf dem Angesichte der unschuldigen Jungfrau. Von Cicisbeen, Phrynen und Ninons weiß man nichts, und die Mädchen sind wahre Vestalinnen. Erzogen in dem stillen Kreise ihrer Familien scheinen sie mehr dem Zeitalter der Patriarchen anzugehören, als dem unsrigen. Sie kennen keinen andern Geschmack, als den der Natur, keine andern Talente, als die angebohrnen. Ihr Putzzimmer ist kein gelehrtes Kabinet, wo dichterische Begeisterung auf Puderwolken thront, wo Verse um die
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Toilette fliegen, und über Schriftsteller Gericht gehalten wird. Nein! sie erscheinen in der Welt als züchtige und verschämte Bräute, die niemand anders gefallen wollen, als ihrem Bräutigam. Vergebens sucht man hier jene liebenswürdigen Zauberinnen, die Alt und Jung mit ihrem Zauberstabe fesseln, die uns an der Hand der Grazien in den Garten der Gelehrsamkeit führen, und die Wissenschaften mit unerklärbaren Reitzen zu verschönern wissen.
Doch nach den unveränderlichen Gesetzen der Dinge, nach welchen Völker und Sitten der Wandelbarkeit unterworfen sind, fangen auch die Kiewer schon an, sich zu verändern. Sie fassen mit Begierde neue Gewohnheiten und Meynungen auf, und es dauert vielleicht nicht lange mehr, so sucht man vergebens die patriarchalische Einfalt unter ihnen, die sie jetzt noch auszeichnet. Zugleich mit einigen
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glänzenden Talenten, die aber nicht zum Glücke durchaus nothwendig sind, kehren Luxus und Verdorbenheit der Sitten bey ihnen ein, die der Aufklärung gewöhnlich auf dem Fuße folgen. ----
Quelle:
Johann Gottfried Richter: Russische Miszellen Nr. II S. 41-74. Verlag Hartknoch Leipzig 1803.
Die Russischen Miszellen wurden vom Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek eingescannt und liegen dort unter der Signatur Russ. 106 o-1/3 und folgendem Link vor:
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10783097_00001.html
Eine Lebensbeschreibung von Johann Gottfried Richter findet sich in der Sächsischen Biographie, einer Online-Datenbank historisch bedeutsame Personen, die in der Mark Meißen, in Kursachsen bzw. im Königreich bis hin zum heutigen Freistaat Sachsen gewirkt haben. Im vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., Dresden, herausgegebenen Onlinelexikon steht der Artikel über Johann Gottfried Richter unter folgendem Link:
https://saebi.isgv.de/biografie/Johann_Richter_(1763-1829)
Briefe über Rußland, von einem in Moskwa lebenden Deutschen an einen seiner Freunde in Leipzig
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Briefe über Rußland, von einem in Moskwa lebenden Deutschen an einen seiner Freunde in Leipzig.
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Erster Brief.
Allerdings wundre ich mich, mein theurer C., daß Du nach Lesung der Schriften eines Gmelin, Güldenstädt, Georgi, Pallas, Herrmann, Storch u. a. über Rußland, mir noch immer Deine Bitte um Nachrichten über dieses mein zweytes Vaterland wiederholen kannst. Was möchte ich wohl, selbst mach einem neunjährigen, nicht ganz gedankenlosen, Aufenthalt in dem großen Lande, jenen berühmten Schriftstellern nachzutragen haben, das Dich und meine andern Lieben sonderlich interessiren könnte? „Ich kenne, sagst Du, aus jenen Reisebeschreibungen
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und Gemählden zum Theil das Land nach seiner physischen Beschaffenheit, seinen verschiedenen Klimaten, seinen Producten; kenne die Nahmen der hundert an Sprache, Kultur, Religion, Sitten und Lebensart so verschiedenen Völkerschaften, die es bewohnen; kenne auch einigermaßen den Charakter der herrschenden Nation, ihre Lebenswelse, ihre Industrie, ihren Handel, ihre mächtigen Fortschritte in Kultur und Aufklärung. Aber es scheint mir, ich kenne nach allem dem die Russen noch immer fast nur in so weit sie allen andern gebildeten Nationen unsers Welttheils gleichen; ich kenne nicht viel mehr, als die höhere Klasse der Nation, welche sich seit einem Jahrhunderte in Europa --- die aller französischen und englischen Kultur und Modeherrschaft noch. immer hartnäckig widerstrebenden Erbfeinde der Christenheit ausgenommen --- überäll vollkommen ähnlich sieht. Den Kern der
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Nation, den noch nach väterlicher Weise lebenden Kaufmann, Bürger und Landmann , wünschte ich näher kennen zu lernen: den Charakter, die eigenthümlichen Sitten und Gewohnheiten, die Erziehung, selbst die Vorurtheile und den Aberglauben; das Unterscheidende und Nationale in Nahrung, Wohnung, Kleidung, Beschäftigungen, Spielen u. s. w. des Volks, möchte ich anschaulicher dargestellt sehen. Kurz, ich wollte --- Ja, kurz. Du wolltest, ohne eine Reise von drey- bis vierhundert deutschen Meilen zu machen, so in Rußland herumwandeln; so sehen und hören, so beobachten und lernen, wie Du in unserm kleinen Vaterlande thust, so oft Du willst und um Deiner Amtsgeschäfte willen kannst. Aber Dir über die ganze Menge der genannten Gegenstände auf Deinem stillen Zimmer den Cicerone zu machen, das heißt denn doch, wie Du selbst zugeben wirst, allzuviel gefodert von einem-Manne,
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der zwar lange genug im Innern des Landes. gelebt, aber es nie von einem Ende zum andern durchreiset, sondern sich immer nur in dem engen Kreise der Hauptstadt und der sie zunächst umgebenden Provinzen herumgedreht hat. Doch wenn der Engländer Coxe kein Bedenken trug, der Welt in einer weitläufigen Beschreibung seiner Reise durch Rußland Schilderungen dieses großen Landes, seiner Einwohner, Sitten und Gebräuche, Erörterungen seiner Geschichte und Verfassung, zu liefern, nachdem er mit Postpferden eine Reise von Warschau nach Moskwa, und von da einige Tage darauf nach Petersburg gemacht hatte, wo er sich wenige Wochen aufhielt: so dürftest Du wohl von mir mit etwas besserm Rechte Befriedigung Deiner weltbürgerlichen Neugierde erwarten. Der im Alter des Bewußtseyns nach Rußland verpflanzte Ausländer wird sich nie so ganz russifizieren, wie die hier geborenen Kinder der Ausländer, welche
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nichts neu; nichts national und charakteristisch um sich her finden. Ihm schwebt das geliebte Bild seines Vaterlandes noch unablässig vor der Seele; er fühlt auf jeden Schritte sich gereizt, Beobachtungen und Vergleichungen anzustellen. Er wird daher bey einem längern Aufenthalte, wenn auch nur in Moskwa und den angränzenden Statthalterschaften, eine Menge einzelner Züge auffassen, welche leicht in ein ziemlich interessantes obgleich nicht so vollendetes, Gemählde, als Du foderst, zusammengestellt werden könnten. ---- „Aber“ --- höre ich unsern logischen Freund K., dem Du diesen Brief unfehlbar mittheilen wirst, sagen --- „Rußland und die russische Nation sind ja nicht blos in Moskwa und den angränzenden Statthalterschaften!“ --- Das ist sehr wahr; und vom Einzelnen auf das Allgemeine macht man, wie ich mich noch wohl erinnere, keinen rechtlichen Schluß! Eben darum, mein Lieber, sage ich Dir aber
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auch ganz ehrlich wie, weit sich mein Gefichtskreis erstreckt, und Du wirst nicht irren, wenn Du Dich bey meinen Nachrichten und Schilderungen immer nur an diese Erklärung halten willst. Doch kannst Du ohne Bedenken Vieles, ja das Meiste von dem, was nur in einem ganz kleinen Umfange zu gelten scheint, auf den größten Theil des Europäischen Rußlands --- die Ukraine, das Land der Kosaken und Weißrußland etwa ausgenommen --- ausdehnen. Denn nicht blos in den Hauptzügen, nein, selbst in kleinern Nüancen ist der Russe in einer Provinz seinem tausend und mehr Werst entfernten Landsmanne zur Verwundrung ähnlich. Die Ursachen dieser merkwürdigen Erscheinung will ich Dir in der Folge einmal zu entwickeln suchen. Du wirst übrigens, nach allen den Ausnahmen, welche ich klüglich vorausgeschickt habe, auch keine allzu planmäßig gemachten Schilderungen erwarten, sondern jedesmal vorlieb nehmen
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mit dem, was mich Zufall und Laune Dir auftischen heißt. ---
Da, also auch für dießmal noch nicht eine Lieferung, wie Du sie längst schon verlangtest, nur eine Ankündigung von dem, was ich habe und was ich geben kann und- will! Genügt Dir das, so wird mir Dein Ja die Auffoderung seyn, meine Feder sogleich für Dich in Bewegung zu setzen. Die öftere Unterhaltung mit Dir, dem Freunde meiner Jugend, wird meinem Herzen das süßeste Labsal gewähren, und mich noch der selige Stunden und Tage der Vergangenheit erinnern, die ich im Genusse der reinsten Freundschaft an Deiner Seite verlebte. Sie wird Dich zugleich überzeugen, daß die weite Entfernung von Dir Dein Bild aus meinem Herzen nicht auslöschen konnte, das noch immer mit gleicher Zärtlichkeit an Dir, Du Guter, hängt. Sehnsuchtsvoll erwarte ich den Tag, wo ein Brief von Dir mir neue Beweise von
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der Fortdauer Deines freundschaftlichen Andenkens an mich geben wird.
Zweyter Brief.
Du willst also zufrieden seyn, lieber C., mit dem, was ich geben kann, legst mir aber wohlbedächtig die Ermahnung aus Herz: „nur immer auch zu geben, was ich kann. „Wohlan dann! Für meinen guten Willen bürge ich Dir, so wie für meine Kenntniß der Gegenstände und meine Wahrheitsliebe; nur dünkt mich, daß ich Deiner Geduld, mein vielleicht manchmal wenig interessantes Geschreibsel in die Länge zu lesen, nicht eben so versichert bin. Ein Wort, ein Wink von Dir --- und meine um geschickte Feder entsagt der Völkerbeschreibung wieder.
Bey einem wohl funfzehnjährigen Aufenthalt in unserm lieben Leipzig hast Du oft Gelegenheit gehabt, russische Kaufleute und Bauern,
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ihre Fuhrleute, zu sehen, wenn auch nicht näher zu beobachten. Gewiß muß Dir, so wie mir ehemals, ihr ansehnlicher, gerader Wuchs, ihr starker, kraftvoller Körperbau, ihr rascher, aufgerichteter Gang, die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die Schnelligkeit ihrer Zunge, so wie der Ausdruck in ihren Mienen und Gesten beym Sprechen, auf den ersten Blik aufgefallen seyn. Wenn Du von Deutschland aus in Rußland nur bis nach Moskwa reisen solltest, so würdest Du in Städten und Dörfern diese Bemerkungen auf jedem Schritte erweitert und bestätiget finden. Der russische Kaufmann und Bürger ist, gewöhnlich von gutem, mittlern Wuchse und von starkem, Kraftverkündigendem Gliederbau. Doch sind unter dieser Klasse, große und verhältnißmäßig stark gebaute Figuren weit weniger selten, als in unserm Vaterlande. Die Kaufleute mit Bärten besonders, die noch größtentheils nach väterlicher Weise leben,
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tragen bey einer sehr hohen Taille oft noch einen Respekt gebietenden Bauch vor sich her. Wäre Yorik von Paris, wo er mit Wehmuth die ausgetrockneten zwergartigen Gestalten der Franzosen sah, nach Moskwa gekommen, er würde sich unter die Patagonen versetzt geglaubt haben. --- Unter den Handwerkern machen nur diejenigen hiervon eine Ausnahme, die eine sitzende Lebensart, wie überall, verkümmert und abzehrt. Die Landleute männlichen Geschlechts in fruchtbaren und nahrhaften Gegenden, die unmittelbaren Kaiserlichen Bauern, die Bauern der Edelleute, die --- es giebt ihrer Gott Lob! hier und da --- die ihre Ehre darin suchen, wohlhabende und glückliche Bauern zu haben, zeichnen sich in ihrem Aeußern ebenfalls vortheilhaft vor ihren Brüdern aus, die ein ungünstiger Boden, oder zu große Abgaben an ihre Herren freylich in Schwäche und Kleinheit erhalten.
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Vom weiblichen Geschlechte gilt, im Ganzen genommen, nicht völlig dasselbe. Zwar sieht man überall in Städten Weiber der Kaufleute und Handwerker genug, die durch ansehnlichen Wuchs und Wohlbeleibtheit schöne Gegenstücke ihrer Männer darstellen. Allein allmählige Abweichung von der ungekünstelten Lebensart der Vorfahren, täglicher Genuß warmer Getränke, verbunden mit einer immer noch ziemlich strengen Eingezogenheit der Mädchen dieser Klasse, welche ihnen nur wenig körperliche Thätigkeit verstattet, haben den größern Theil schon zu einer Zartheit, Kränklichkeit und Kleinheit der Gestalt, wie in den meisten Ländern Europas, herabgesetzt.
Unter den Weibern und Mädchen auf dem Lande habe ich allenthalben sehr viele gesehen, die Herodot ohne Bedenken für Amazonen anerkannt haben würde, aber dagegen auch nicht wenige von dürftiger Figur; und
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trockenem Gliederbau, doch unbeschadet ihrer Kraft und Gesundheit. Eine eigene Klasse machen die sehr zahlreichen weiblichen Bedienten der Herrschaften in Städten und auf dem Lande aus. Die meisten derselben sind von Jugend auf leider! zu einem unnatürlichen Stillsitzen beym Nährahmen, und in manchen Häusern noch obendrein zur Ehelosigkeit verdammt. Nur selten kann die Güte des Stoffes, woraus sie gebildet sind, den traurigen Folgen einer so ungesunden Lebensart widerstehen. Unter ihnen findet man die meisten bleichen, kränklichen und Mitleids würdigen Gestalten.
Das viel versprechende Aeußere des größern Theils der russischen Nation täuscht nicht in Ansehung des innern Gehalts. Die Menschen der mittlern und niedern Klasse besitzen ein Maaß von Kraft, Gesundheit, Abhärtung und Dauerhaftigkeit, wovon man täglich mit Erstaunen die Aeußerungen sieht. Ich
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will Dich an einen Beweis davon erinnern, den ganz Europa mit Verwunderung gelesen hat. Im letzten Kriege machte die russische Armee unter Suworow in 36 Stunden einen Marsch von 100 Wersten --- 14 deutschen Meilen --- von Turin bis in die Gegend von Piacenza. Nur acht mal wurde auf diesem forcirten Marsche ohngefähr eine Stunde lang ausgeruht. So wie sie in der Nähe von Piacenza nur ankam, begann gleich die mörderische Schlacht mit Macdonalds Armee, und dauerte vier ganze Tage. Die Hälfte beynahe von der französischen Armee streckte am vierten Tage aus Erschöpfung die Waffen. Welche andere Nation würde in einem ungewohnten Klima, in der Mitte des Sommers, eine gleiche Anstrengung aushalten? Ein merkwürdiges Gegenstück dazu ist der Uebergang derselben russischen Armee über die Alpen, bey welchem mit der Natur und mit einem wohl vorbereiteten Feinde zugleich gekämpft werden
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mußte. --- Die Epoche der schwersten Arbeit des Landmanns, die Heu- und Geträideerndte, fällt gerade in eine Fastenzeit, wo er nichts, als Brod, Heidegrütze, Gurken, Rüben, Zwiebeln und Schwämme zu seiner Nahrung hat: lauter Speisen, die eben nicht sehr geeignet sind, den Abgang der Kräfte zu ersetzen. Und doch wird diese Arbeit mit eben der Schnelligkeit und mit eben so wenig Nachtheil für die Gesundheit des Landmanns gethan, wie z. B. im Meklenburgischen, wo der Bauer zur Erndtezeit wohl doppelt so viel, als gewöhnlich, und gerade die nahrhafteste Kost zu sich nimmt. Eben so werden die meisten und weitesten Reisen in Rußland im Winter gemacht. Nicht selten fällt in den mittlern und nördlichen Gegenden des Reichs eine Kälte von 20 bis 25 Graden ein, und die Fuhrleute machen dem ungeachtet einen Weg: von 70 bis 100 Wersten --- 10 bis 14 deutschen Meilen --- des Tages!
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Sie erfrieren unterwegs oft Gesicht, Ohren Hände und Füße: allein sie wissen sich auf der Stelle zu helfen, indem sie die abgestorbenen Theile so lange mit Schnee reiben, bis sie wieder belebt sind. --- Einzelne Beyspiele von außerordentlicher Körperkraft gemeiner Russen könnte ich Dir in Menge anführen. Hier indeß nur eins, das der berühmten That des-Herkules beym Augias wohl an die Seite gesetzt zu werden verdiente. Ein Salzpachter in Kolomna mußte zu einer bestimmten Zeit 600 Pud Salz im Magazin haben, welches in kurzem untersucht werden sollte. Die damit beladenen Fahrzeuge waren auf dem Flusse, dem Magazin gegen über, nur eben am Abend vor der bevorstehenden Besichtigung angelangt. Jetzt war die Frage, wie man, ohne Aufsehen zu erregen, diese große Last in der einen Nacht in das Magazin bringen sollte. Zwanzig Lastträgern würde das wohl keine zu schwere Aufgabe gewesen seyn; aber eben dadurch wäreH
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das Geheimniß des Pachters, daß --- durch oder ohne seine Schuld --- das Magazin bis auf den Boden ausgeleert stand, verrathen gewesen. In dieser Verlegenheit erbot sich ein Tagelöhner desselben, ein Bauer aus dem Archangelschen von mittlerer Statur, aber untersetzt und nervig, allein das Abentheuer zu bestehen. Der Tag war noch nicht angebrochen, so standen die 600 Pud Salz --- ein Pud hält 40 Pfund --- im Magazin: er hatte sie auf seinen Schultern dahin getragen! Wahr ist es, daß man, um den nachtheiligen Folgen einer so übermäßigen Anstrengung vorzubeugen, diesem Simson eine Ader zu schlagen für nöthig fand. Aber welch ein Maaß von Kraft gehörte dazu, dieser Anstrengung nicht zu unterliegen! Beyspiele von Greisen, die im siebzigsten Jahre noch heurathen und mehrere lebendige Zeugen ihrer noch nicht geschwundenen Mannkraft ausstellen, sind hier zu Lande gar nicht selten. Die
II. Band. No. V.
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Zeitungen haben zuweilen dergleichen gemeldet; aber weit mehrere werden, als eben nicht sehr wunderbare Vorfälle, dem Auslande nicht mitgetheilt.
Die große Lebenskraft und Lebensdauer der Menschen endlich, wovon man vielleicht in keinem Lande Europens so häufige Beyspiele, als in Rußland, sieht, sind unwidersprechliche Beweise von der fortdauernden Unverdorbenheit der Nation. Mit Recht wird man die Güte des Klimas dabey in Anschlag bringen; aber das gesundeste Klima allein kann Schwächlinge und durch Luxus entnervte Weichlinge nicht bis zu einem Alter von 90, 100 bis 130 Jahren bringen. Nur vor einigen Monaten noch sah ich in einem Dorfe der Tulischen Statthalterschaft einen Greis von 125 Jahren, der den Gebrauch seiner Sinne und seines Gedächtnisses noch ziemlich hatte und bey Tag und Nacht den herrschaftlichen Garten bewachte. Des Greises, der
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unter Peter dem Großen zur Zeit der Stiftung der russischen Seemacht schon als Matrose gedient hatte, und dem bey der Secularfeier von Petersburg so große Ehre wiederfuhr, haben auch die deutschen Zeitungen erwähnt. Achtzig, neunzig Jahre sind in Rußland noch ein gewöhnliches Alter, so wie Urenkel zu sehen ein Glück ist, das vielen zu Theil wird.
Soll ich Dir, lieber C., die Ursachen des Vorzugs, welchen die russische Nation im Ganzen noch immer vor den meisten andern Nationen Europens in Ansehung der Kraft und Größe des Körpers behauptet, angeben? Ich will sie für jetzt, so weit ich sie kenne, nur kürzlich andeuten. Eine umständliche Schilderung der Erziehung, so wie der ganzen Lebensweise des mittlern und niedern Standes, die ich Dir nächstens zu liefern gedenke, wird mehr Licht darüber verbreiten.
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Die Russen waren von jeher, so wie unsre Vorfahren auch, eine starke, rüstige, dauerhafte Nation. Nur erst seit 70 bis 80 Jahren lernten sie die vielen Verfeinerungen der Lebensart kennen, die Paris und London erzeugt und verbreitet haben, und wodurch Schwachheit, Kränklichkeit und Verschlimmerung der Menschenrace über die meisten Länder Europens gekommen sind. Aber das Gros der Nation verabscheute lange diese verderblichen Neuerungen --- aus Anhänglichkeit an die Sitten der Vorfahren und aus Geringschätzung der Ausländer, die sich ihnen freylich selten achtungswürdig zeigten --- und der Kaufmann, der Handwerker und der Landmann blieben Russen, wie ihre Väter, während die höhere Klasse der Nation schnell, allzuschnell, essen, trinken, sich kleiden, sich vergnügen und schwächlich und krank seyn lernte, wie man es in Paris und London und in allen andern größern und kleinern
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Städten des Auslandes lange schon konnte. Nur seit ungefähr zwanzig Jahren hat der wohlhabende, selbst der mittelmäßige Kaufmann angefangen, Geschmack an der weichlichern Lebensart der Ausländer zu finden, ohne sie jedoch noch durchaus anzunehmen. Aber der Gebrauch des Thees hat sich fast eben so stark und schnell, als bey uns der Gebrauch des Kaffees, verbreitet. Selbst die Landleute in einigen Gegenden, welche der Handel bereichert hat, sind von diesem ausländischen, gewiß nicht stärkenden, Getränke schon große Liebhaber. Doch werden die übeln Folgen dieser Verwöhnung an der gegenwärtigen Generation noch nicht zu sehr bemerkbar.
An gesunder und kraftreicher Nahrung fehlte es bisher den Russen in keiner Gegend ihres großen Landes, wird ihnen auch in den nächsten Paar Jahrhunderten noch nicht fehlen, wenn sich die Bevölkerung auch selbst verdoppeln sollte. Denn noch sind ungeheuer
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große, und gerade die fruchtbarsten Landstriche beynahe Menschenleer. Die mittleren und südlichen Provinzen bringen einen.Ueberfluß von Getreide aller Art hervor, welcher selbst für das Bedürfniß des Auslandes hinreicht. Die Viehzucht in den weitausgedehnten Gefilden der Ukraine, Podoliens, des Don- und Wolgagebiets, im Archangelschen und im südlichen Sibirien ist so beträchtlich, daß gutes Fleisch auch jetzt noch, beym allgemeinen Steigen der Preise aller Bedürfnisse, selbst dem Aermern nicht zu theuer ist. An zahmen Geflügel, an Wildpret, an Fischen ist nirgends Mangel. Gemüse und Hülsenfrüchte aller Art werden fast allenthalben im Ueberfluß erbaut und sind gewöhnlich sehr wohlfeil. Aber es fehlt den Menschen hier zu Lande auch nicht leicht an Appetit, und sie unterlassen nicht, die ihnen so reichlich dargebotenen Güter der Natur auch reichlich zu genießen. Doch ist die Zubereitung
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derselben bey der niedrigen Klasse, wie man denken kann, immer einfach und ungekünstelt; bey dem wohlhabendern Bürger wird neben der Einfachheit noch vornehmlich auf Nahrhaftigkeit Rücksicht genommen.
Dabey kann man sagen, daß der größte Theil der Nation fast unaufhörlich in Thätigkeit und Bewegung lebt. Vom Landmanne versteht sich dieß von selbst, so lange seine Feldarbeiten dauern; aber auch der lange Winter versetzt ihn nicht in träge Ruhe. Dann erst macht er die weitesten Reisen, entweder um entfernte Städte mit Lebensbedürfnissen zu versorgen, oder um Waaren aus oder nach den entferntesten Gegenden zu führen. Der Kaufmann bezieht mehrere entlegene Jahrmärkte, oder durchreist in andern Handelsgeschäften die Hälfte des Reichs. Die Kinder des Landmannes wußten bisher, eben so wenig, als die Kinder des Bürgers, etwas von tagelangem Stillsitzen in einer kleinen, dumpfigen
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Schulstube mit einem langweiliger ABC-Buche oder einem dürftigen Lesebuche in der Hand, wodurch Leib und Seele zugleich getödtet werden. Wenn nach Alexanders des Weisen und Guten Befehl Schulen für die Landjugend in Rußland errichtet werden, so vermeidet man dabey unfehlbar alle die Fehler und Nachtheile unserer deutschen Volksschulen. --- Ueberhaupt liebt die Nation körperliche Thätigkeit, Leibesübungen, und Spiele, die mit Bewegung in freyer Luft geschehen, mehr, als unsre Landsleute. Auch das Baden im fließenden Wasser, das unserm Landmann und Städter leider! nur noch wenig behagt, ist in Rußland in der warmen Jahreszeit für beyde Geschlechter, auf dem Lande vornehmlich, fast tägliche Ergötzung, ja tägliches Bedürfniß. In Städten, wo ein Fluß oder See in der Nähe ist, wird er, wenigstens von Mannspersonen, oft genug benutzt. Auch im Herbst und Winter darf keine
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Woche vergehen, wo die gemeinen Leute beyderley Geschlechts nicht wenigstens einmal die öffentlichen Badstuben besuchten.
Ein großes Uebel, das die Ernährung und das Gedeihen des Körpers gewiß mehr hindert, als man bey uns noch glauben will, das die Säfte verderbt und verzehrt, und wesentliche Werkzeuge der Verdauung, die Zähne, vor der Zeit zerstört, oder unbrauchbar macht, --- wirst Du nicht lächelnd den Kopf schütteln, Lieber? --- das Tabackrauchen kennt der Landmann, der Handwerker und der Kaufmann, der die väterlichen Sitten bewahrt hat, bis diesen Tag noch nicht. Daher der gute Appetit und die lebhafte Verdauung dieser Menschen; daher die gesunde Beschaffenheit ihrer Säfte. Daher auch die schönen, weißen Zähne der Bauern, die sie oft alle zwey und dreyßig wohlbehalten mit ins Grab nehmen, wenn sie keine durch einen Fall
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oder Stoß, oder durch einen unglücklichen Schlag beym Boxen eingebüßt haben. ----
Zu allen diesen Ursachen, welche die physische Ausartung der russischen Nation bisher verhindert haben, füge ich endlich noch eine sehr wichtige: das gute, gesunde Klima, dessen sich die meisten Provinzen des Reichs erfreuen. Die Hitze des Sommers, welche in den mittlern und südlichen Gegenden heftig genug ist, wird gewöhnlich des Abends duch frische Nord- oder Nordostwinde abgekühlt, Der Russe, der sein Klima kennt, setzt sich dieser Kühlung nicht unvorsichtig mit leicht bekleidetem Körper aus. Er erquickt seinen durch die Hitze des Tages erschlafften Körper in der kühlen Abendluft, ohne sich Fieber und Ruhr zuzuziehen. Selbst im Junius und Zulius greift er oft bey Sonnenuntergang nach seinem warmen Tuchrocke, oder gar nach dem Pelze, und wird auch mitten im Sommer
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keine Reise, von einigen hundert Werst unternehmen, ohne sich mit seinem Pelze zu versehen. Der Herbst ist in den mittlern Gegenden öfter trocken, als regnicht, auch dauert er hier gewöhnlich nicht lange. Oft tritt am Ende Octobers schon der Winter an seine Stelle, und hält, ohne so viele traurige Veränderungen, wie bey uns in Deutschland, bis in die Mitte des Märzes an. Freilich ist eine Kälte von 20 bis 25 Grad, wie sie hier nicht selten einfällt, sehr beschwerlich; aber sie ist gewöhnlich nicht von langer Dauer. Die meiste Zeit hat man unter dem 50. bis 56. Grad der Breite im europäischen Rußland nur 8, 10 bis 12 Grad Kälte, und dann ist es bey gehöriger Bedeckung des Körpers eine Wollust, die reine, stärkende Winterluft einzuathmen. Man fühlt sich dann so munter, so zur Thätigkeit gestählt! Epidemische Krankheiten sind in diesem Klima, wo die Luft sechs Monate lang eine im Ganzen nicht
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sehr veränderte Temperatur behält, im Winter sehr selten.
Doch ich erstaune über die Länge meines Briefs , und eile ihn zu schließen, damit er Dir nicht die Lust zu den folgenden benehme.
(Die Fortsetzung im nächsten Heft.)
Quelle:
Johann Gottfried Richter: Russische Miszellen Nr. V S. 50-76. Verlag Hartknoch Leipzig 1803.
Die Russischen Miszellen wurden vom Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek eingescannt und liegen dort unter der Signatur Russ. 106 o-4/6 und folgendem Link vor:
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10783100_00001.html
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Briefe über Rußland, von einem in Moskwa lebenden Deutschen an einen seiner Freunde in Leipzig.
(den Anfang s. No. V. S. 50.)
Dritter Brief.
Ich habe dir, Lieber, in in einem vorigen Briefe den Russen nur der Figur und dem Gehalt des Körpers nach gezeigt und habe dadurch gewiß die hohe Meynung, die Du in dieser Hinsicht vorher schon von ihm hattest, bestätigt. Jetzt sollst Du die Seele, den Charakter desselben sehen, so weit sie sich im Aeußerlichen offenbaren.
Wenn Du, wie ich glaube, in den Preussischen und Hessischen Ländern gewesen bist,
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so mußt Du einen merklichen Unterschied zwischen den dasigen Landleuten und Handwerkern und unsern Sächsischen wahrgenommen haben. Diese sind in der Haltung des Körpers, im Gange, in allen Bewegungen so steif, so schwerfällig, so tölpisch, möchte ich sagen; jene sind ungezwungener, gewandter, rascher in ihrem ganzen Wesen. Der Soldatendienst, wozu die niedern Klassen im Preußischen, und, so viel ich weiß, auch im Hessischen fast ohne Ausnahme verpflichtet sind --- und folglich der Stock --- haben diesen Unterschied erzeugt. In Rußland, so weit ich es kenne --- und ich habe Leute genug aus allen Provinzen, nur aus Sibirien nicht, gesehen --- finde ich das als Werk der Natur, was anderwärts Erzeugniß der Kunst und des Zwangs ist. Mit Wohlgefallen sehe ich hier, so bald ich an's Fenster trete, oder auf die Straße gehe, Menschen vom niedrigsten Stande, denen man nur den Bart scheren,
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das Haar stutzen; und einen englische Sürtout nebst Pantalons und Halbstiefeln anziehen dürfte, und man würde in dieser Verkleidung den Bauer, der nur eben erst vom Dorfe gekommen ist, nimmermehr ahnden. Die aufgerichtete, ungezwungene Stellung, der rasche Gang, die Leichtigkeit aller Bewegungen, die Gewandtheit und Lebhaftigkeit im ganzen Thun und Wesen, sind wirklich natürliche, wenigstens nicht durch absichtlich angewandte Kunst erworbene, Vorzüge der russischen Nation. Selbst das hohe Alter kann dieselben nicht ganz austilgen. Sollte man nicht glauben, die Nation sey aus einem feinern, leichtern, wenn auch nicht edlern, Stoffe gebildet, als die unsere? --- Du wirst besorgen, Lieber, daß ich, meine Vaterlandsliebe verläugnet oder ausgetauscht habe: aber wahr ist es, denn meine andern hiesigen Freunde stimmen in die Bemerkung ein, daß man in Rußland unter dem
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Landvolke, unter der mittlern und untersten Klasse der Stadtbewohner weit mehr angenehme, sprechende und geistvolle Gesichter findet, als unter denselben Klassen in Deutschland. Die Geistesfähigkeiten, das Temperament, der herrschende Charakter bilden sich ohne Zweifel. auf den Gesichtern ab. Mit Vergnügen betrachte ich oft die lebhaften, schlauen, verständigen Augen, die durch den großen, rauhen Bart des Bauers, oder gemeinen Handwerkers hervorstrahten, und das Gesicht schön beleben.
Es ist interessant, den Russen zu sehen und zu hören, wenn er spricht. Er zählt da nicht mit kalter, bedächtiger Langsamkeit die Worte her, sie fliegen ihm von den Lippen, und seine Töne sind durch mannigfaltige Veränderungen der Stimme, durch hörbaren und sichtbaren Ausdruck seiner Empfindungen belebt. Sein Mienenspiel ist dabey rege und sprechend. Die Hände und Füße, den Kopf,
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den ganzen Körper beym Reden ruhig und steif zu behalten, ist ihm durchaus unmöglich. Der Bauer kommt zu seinem Herrn, um ihm von etwas Rechenschaft zu geben. Hat er Hut und Stock im Vorzimmer gelassen, und hat er also die Hände frey, so wirst du ihn unaufhörlich beym Reden gesticuliren sehen. Der Herr nimmt ihm das nicht übel, denn es ist national. Er würde mit dem Kayser nicht anders sprechen. --- Hier stehen eben zwey Iswoschtschike --- Fuhrleute oder Kutscher --- bärtige Bauern, unter meinem Fenster und erzählen einander die große Begebenheit des gestrigen Tages. Ein Italiener, der bekannte Pinetti, wollte mit einem Luftballon auffliegen, der Ballon zersprang aber beym Anfüllen und das große Schauspiel unterblieb. --- Wie der Mensch seine Erzählung durch Mienenspiel, durch Gesten, durch Bewegungen vorwärts, rückwärts, zur Seite, zu beleben weiß! Jetzt führt er das
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versammelte Volk, das seine aufs höchste gespannte Erwartung getäuscht sah, mit Pinetti redend ein. Wie er sich selbst erboßt; wie er schilt! --- Als ich von der rußischen Sprache noch gar nichts verstand, habe ich oft, wenn ich nur einigermaßen wußte, wovon die Rede war, aus den Mienen und der fast theatralischen Darstellung der Sache den Sinn eines Gesprächs zweier oder mehrerer Personen richtig errathen. Die Advokaten in den Gerichtshöfen des ehemaligen Polens und Frankreichs können ihre Reden nicht mehr belebt haben, als hier der gemeine Mann und die ganze Nation thut, auch ohne Declamation, gelernt zu haben. In Wahrheit, mancher unserer Prediger könnte, hier in die Schule gehen und er würde, mit gehöriger Unterscheidung, viel für das Aeußere seiner Kanzelberedsamkeit gewinnen. ---
In sich gekehrt, in Gedanken vertieft, in ernsthafter, mürrischer Sprachlosigkeit
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siehst Du den Russen selten , fast nie, möchte ich sagen. Ist er allein, so macht er seine Bemerkungen laut über das, was um ihn her ist und vorgeht. Denkt er im Gehen über seine Angelegenheiten nach, so gehen seine Gedanken oft in Worte über und man sieht ihn selbst bey diesem Monolog gesticuliren. Bey der Arbeit, oder wenn er lange Weile hat, fängt er an sich ein Liedchen zu trällern: jeder hat von Jugend auf es sich angelegen seyn lassen, die gangbaren Volkslieder zu lernen. Trift er unterwegs seines Gleichen, oder Bekannte, so ist des Fragens und Antwortens, des Erzählens, des Scherzens und Lachens kein Ende. In der That haben sehr viele von den gemeinsten Leuten in Rußland mehr gesehen, gehört, erfahren, haben also auch mehr Ideen und mehr Stoff zum Sprechen, als bey uns der Landmann und zum Theil selbst der Handwerker. So ist z. B. eben jetzt bey meinem Wirthe ein ganz gemeiner
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Ladendiener, der mehr als einmal die Reise nach Kamtschatka in Handelsgeschäften gemacht hat. Wie sehr muß sich durch so weite Reisen der Ideenkreis, selbst gemeiner Menschen erweitern! Auch ist seine Kenntniß der Völker Sibiriens, durch deren Wohnsitze er gereist ist, ihrer Lebensart, Sitten und Gebräuche, seine Kenntniß des Landes, der Gebirge, Flüsse, Seen zu meiner Verwunderung so genau und richtig, als ich sie kaum durch gute Karten und aus Reisebeschreibungen erlangt habe. Und er weiß mir alles, was er gesehen hat, so anschaulich und unterhaltend darzustellen, als ob er nur eben erst aus diesen entfernten Gegenden zurück käme. Die Zahl der Bauern, die wohl zwanzigmal von einem Ende des Europäischen Rußlands bis zum andern als Fuhrleute gefahren sind, ist sehr groß: denn das innere Verkehr ist hier außerordentlich lebhaft. Viele fahren alle Jahre nach Preußen, nach Sachsen
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und bis nach Frankfurt am Mayn. Und jeder Bauer hat wenigstens in seinem Leben mehrmals Reisen von einigen hundert Wersten nach allen Seiten seines Wohnorts gemacht. Kein Wunder also, daß der gemeine Mann mehr Begriffe hat, folglich mehr zu sprechen weiß, als die meisten unserer deutschen Bauern, die nie weiter, als nach ihrer zwey bis drey Meilen entfernten kleinern oder größern Stadt gekommen sind.
Die Behendigkeit und Gewandtheit des Russen in ihrem ganzen Thun und Wesen muß man sehen, um sich einen anschaulichen Begriff davon zu machen. Der Fuhrmann, der Dich durch die Straßen Moskwa's führt, hat an seinem Fuhrwerke oder Pferdegeschirre etwas zu verbessern oder hat etwas verloren, oder er sieht etwas, das ihm des Aufhebens werth scheint, am Wege liegen: brrr -- und wie der Blitz ist er von seinem Sitze, thut was er wollte, und ohne wieder auf seinem
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Platze zu seyn, treibt er schon das Pferd an, das, wohl zu merken, nie anders als im Trabe gehen darf, und mit einem Sprunge sitzt er wieder auf dem rollenden Fuhrwerke. --- Hier zu Lande, dacht‘ ich, als ich nach Moskwa kam, sind Menschen und Pferde doch viel rascher und gewandter, als in meinem Vaterlande. Ich erstaunte über die Sorglosigkeit der Fußgänger bey der Menge Wagen und kleiner Fuhrwerke, die ich im stärksten Trabe von allen Seiten auf sie zurollen sah, und mit Vergnügen bemerkte ich dann die behenden Wendungen, welche Fuhrleute sowohl, als Fußgänger im Augenblicke der Gefahr zu nehmen wußten, um nicht zu beschädigen, oder beschädiget zu werden. Ein Knabe von vierzehn bis funfzehn Jahren wagt es, ein Pferd zu regieren und sich als Iswoschtschik in Moskwa sein Brod zu suchen. Ich nenne das ein Wagstück, denn durch die eigentliche Stadt,
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wo ein täglicher Jahrmarkt gehalten wird, zu fahren, ist noch schwerer, als z. B. in Leipzig in der volkreichsten Messe über den Markt und durch die angränzenden Straßen zu kommen. Indeß der Knabe windet sich durch das Gewimmel von Wagen und Menschen mit einer Geschicklichkeit und Behutsamkeit durch, welche ihm Ehre macht. Aber die Menschen sind hier auch gewohnt, Augen und Ohren immer bey sich und doch zugleich überall zu haben. Sie sind nicht von früher Jugend an, so wie wir, von ihren Sinnen und den äußern, sie umgebenden, Gegenständen abgezogen worden. Man hat sie --- vielleicht nicht zu ihrem Nachtheil --- mit dem Unterricht von allerley abstracten, überirdischen und unbegreifiichen Dingen verschont, der bisher einen wesentlichen Theil unsrer Geistesbildung ausmachte. --- Derselbe Fuhrmann, der in einer volkreichen Straße genug auf seinen Weg zu sehen hat,
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um nicht Unglück anzurichten wird es gleichwohl noch durch einen einzigen Seitenblick gewahr, wenn bey seinem vorbeyfahrenden Kameraden etwas in Unordnung gerathen ist. „Bruder, ruft er ihm sogleich zu, bey dir ist dieß gerissen; du wirst jenes verlieren!“ --- Junge, flinke Bäurinnen habe ich oft, ohne Sattel, mit einer bloßen Halfter, aus Kurzweil auf den Wiesen herum galoppiren, oft auch die Pferde in den Fluß reiten sehen. --- Beym Ringen, beym Boxen, beym Wettlaufe, beym Schwimmen und besondexs beym Nationaltanze zeigt der gemeine Mann noch mehr, wie sehr er seine Glieder in seiner Gewalt hat. Diese Leibesübungen machen einen wesentlichen Theil der physischen . Erziehung bey der Nation aus, obgleich niemand sich einfallen läßt, seine Kinder ausdrücklich dazu anzuhalten. Der Thätigkeitstrieb setzt die Kleinen von selbst in Bewegung, und der Nachahmungstrieb ist ihr einziger
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Lehrer. Aeltern und vorübergehende Fremde versammeln sich bey den Kinderspielen in einen Kreis und sehen mit lebhafter, wohlgefälliger, Theilnehmung dem Ausgange derselben zu. ---
Endlich muß ich noch die allgemeine Stimmung der Nation zum Frohsinn und zur Lustigkeit bemerken, welche sich natürlich bey dem größern Theil auf den Gesichtern und im ganzen Wesen ausdrücken. Ueberall habe ich in Rußland mehr heitere, als traurige, mürrische Gesichter gesehen. Dieß ist, wie es scheint, herrschendes Temperament, Naturanlage und Nationalcharakter. --- Bediente, welche strenge Herrschaften haben, und oft eben soviel Schläge als Brodt bekommen, zittern zwar in der Gegenwart ihrer harten Gebieter, und krümmen sich wehklagend unter der Peitsche: aber so bald sie sich allein, oder außer der Atmosphäre ihrer Peiniger wissen, so ist des Lachens, Scherzens, II. Band. No. VI.
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Singens und Tanzens kein Ende. Zum Theil muß man jedoch diese glückliche Stimmung für eine Frucht des Wohlstandes und der Freyheit von Nahrungssorgen halten. Jeder freye Mensch in Rußland, der die Hände regen kann und will, findet gewiß sein reichliches Auskommen. Aber auch der leibeigene Landmann, welcher tagtäglich nur für seinen Herrn arbeiten muß, und welcher für sich gerade so viel erbauet, daß er die Hälfte des Jahres mit seiner Familie leben kann, weiß nichts von Nahrungssorgen, die in Sachsen zum Beyspiel, die mittlere und niedere Klasse darnieder drücken und alle Heiterkeit von den Gesichtern, allen Frohsinn aus den Herzen verscheuchen. --- Ist hier in einer Gegend Mißwachs eingefallen, so hat der Bauer seinem Herrn nichts zu geben, und dieser weiß, daß er nichts zu nehmen hat. Will er nicht, daß seine Unterthanen Hungers sterben und seine Güter in Verfall kommen,
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so muß er ihnen in solchen Zeiten der Noth aus seinen Speichern Getreide zum Brodte und zur Aussaat reichen. Gewöhnlich nimmt auch der Bauer, der zu Hause würde darben müssen, im Herbste von seinem Herrn einen Reisepaß und sucht sich in der Nähe oder Ferne Arbeit, welche er jederzeit findet. Der herrschaftliche Bediente kennt die Nahrungssorgen noch weniger. Er weiß ein für allemal, daß sein Herr ihn ernähren und kleiden muß, so lange er lebt, und kümmert sich nicht darum, wo das Geld dazu herkommt. Von Abgaben an den Landesherrn, von Ausgaben für die Erhaltung seiner Kinder, hat er keinen Begriff: das ist die Sache seines Herrn! --- Eben so wenig quälen Sorgen für die Zukunft den größten Theil der Nation. Die Kinder des Landmanns wachsen heran: er weiß, der Gutsherr wird ihnen schon, wenn sie sich verheyrathen, ein Stück Land, und Holz zu einem
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Hause geben. Die Mitgabe für die Töchter kostet ihm wenig. Eine Kuh, ein halb Dutzend Schafe erzieht er in wenigen Jahren; den Brautschmuck verfertigen die Mutter, die Schwägerinnen, und die Braut mit eigenen Händen. Die kaiserlichen Bauern sind meist wohlhabend und haben die Freyheit, sich in dem großen Reiche überall Wohnplätze zu suchen, wo es ihnen gut dünkt, wenn an ihrem Geburtsorte kein Raum mehr für sie ist. Die Ausstattung eines wegziehenden Paares kann die Aeltern wenig beunruhigen; sie theilen mit ihm, was sie haben, und wissen, daß man in Rußland nicht leicht Hungers stirbt. --- Bey dieser glücklichen Sorglosigkeit darf man sich über den beneidenswürdigen Schlaf, dessen die Nation genießt, nicht wundern. Jeder kann schlafen, wenn er will; immer steht ihm der Schlaf zu Gebot. Man wecke den gemeinen Russen auf, und er hat keine Mühe
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in wenigen Augenblicken wiede in den festesten Schlaf zu kommen. Jede Lagerstätte ist ihm gleich; er streckt sich auf den harten Fußboden, auf die Erde, ins Gras hin, und schläft so sanft, wie wir andern in unsern weichen Federbetten nur selten schlafen! ---
Nach allem, was Du in diesem Briefe über den russischen Nationalcharakter gelesen hast, wirst Du, lieber C., keine große Aehnlichkeit desselben mit dem unsrigen, eine desto größere aber mit dem französischen finden. Dieser Aehnlichkeit des Nationalcharakters haben auch wohl die Franzosen vornehmlich die Vorliebe, deren sie von den höhern Ständen vor andern Ausländern gewürdiget werden, zu danken. Wir Deutsche sind zu ernsthaft, zu nachdenkend, vielleicht auch --- zu schwerfällig, um ihnen zu gefallen. Indeß sind die Franzosen auf diesen Vorzug zwar stolz --- sie fodern ihn, wie sie glauben
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mit vollem Recht, --- aber sie sind nicht sehr dankbar dafür. Sie verachten die Nation, bey welcher sie Gastfreundschaft, Achtung, große Belohnungen für ihre oft wenig bedeutenden Dienste genießen, und halten sie für --- Barbaren.
Ich hatte Dir dießmal nur einige Züge von dem Charakter der russischen Nation versprochen, und werde daher in der Folge die Schilderung desselben --- so gut ich kann vollenden.
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Vierter Brief.
Die russische Nation, lieber C. ist eine Nation von großen, achtungswürdigen Talenten, welche schon längst, nur aber auf andere Art und durch andere Gegenstände, als bey den übrigen cultivirten Völkern Europens, ausgebildet worden. sind.
Eine große Lebhaftigkeit und Geschmeidigkeit des Geistes, eine rege Einbildungskraft,
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Beobachtungsgeist, Wißbegierde in reichem Maaße, ein schnelles Fassungsvermögen für alles, was dem Auge und Ohre vorkommt, Witz, Scharfsinn, gutes Gedächtniß --- das sind, wenn ich so sagen darf, Nationaltalente der Russen. Das Resultat davon ist eine große Regsamkeit und Thätigkeit in den mancherley Geschäften und Verhältnissen des Lebens, Unternehmungs- und Speculationsgeist, ein favoir faire in unerwarteten und bedenklichen Vorfällen, das ihnen meistens durchhilft, wo kein Rath, kein Ausweg zu seyn schien; eine Gelehrigkeit und Anstelligkeit endlich zu den verschiedensten Geschäften, zu welchen Noth, oder Befehl, oder eigne Wahl und eignes Interesse sie hintreibt. Damit verbinden sie Muth, Entschlossenheit, Geistesgegenwart und Gleichmüthigkeit in den gefährlichsten Lagen, Geduld, Ausdauer und einen glücklichen Leichtsinn bey schwierigen Unternehmungen.
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Ich sagte, daß diese Talente der Nation bisher auf andere Art und durch andere Gegenstände, als anderwärts in Europa, ausgebildet worden sind. Die mittlere und niedere Klasse der Nation, will ich sagen, hat nicht die Erziehung der Schule und der Mode, sondern fast nur die Erziehung der Natur und der Dinge, wie Jean Jaques es nannte, genossen. Nur der Kaufmann und mancher Bediente in herrschaftlichen Häusern hat lesen und schreiben gelernt, hat vielleicht einige Bücher gelesen; das ist alles was diese Klasse von sogenannten Schulkenntnissen besitzt. Dem Landmanne sind dieselben bis jetzt noch gänzlich fremd. Aber die Natur --- in Rousseaus Sinne --- die Geschäfte des Lebens, Umgang, Reisen, Beobachtung, und Erfahrung haben diesen Menschen ein vielleicht größeres Maaß praktischen Verstandes gegeben, als wir andern nach einer schulgerechten
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Erziehung vieler Jahre nicht immer erlangen.
Der Bauer, der nie das Zimmerhandwerk gelernt hat, baut sich sein Haus gleichwohl selbst; er hat einmal gesehen, wie sein Vater, oder sein Nachbar baute; das ist ihm genug. Dazu braucht er weder Winkelmaaß, noch Säge, noch Hobel, noch die mancherley Aexte unserer Zimmerleute mit seinem Beile, einem Meissel und wenns hoch kommt, mit einer Richtschnur, weiß er alles eben so gerade, so passend und fest zu machen, als unsre Meister. Er kennt auf seinem Dorfe keinen Wagner und Seiler. Alles was an seinem Wagen und an den Ackergeräthen von Holz ist, das macht er mit seinem bloßen Beile selbst. Stricke spinnt er sich, so viel er braucht. Nur mit der Schmiedearbeit befaßt er sich, aus leicht begreiflichen Ursachen, nicht. Aber der Schmidt. des Dorfs ist ein Bauer, wie alle seine
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Brüder; er hat keine Lehrjahre bey einem Meister ausgestanden, nie als Geselle seine Reise um die Welt gemacht. Der Sohn hat den Vater schmieden sehn, hat, als er im Stande war, den Hammer zu heben, selbst mit Hand anlegen müssen --- und siehe da, er macht dann alles, was auf dem Dorfe von Schmiedearbeit nöthig ist, eben so gut als unsere Meister auf dem Dorfe. Für Kleidungsstücke giebt der Landmann sehr wenig Geld aus. Grobes Tuch zu Röcken für beyde Geschlechter, Leinwand zu Hemden, zu Unterkleidern und Sommerkitteln webt jede Hausfrau mit ihren Töchtern für ihr ganzes Haus. Einen Schneider sucht man auf dem Dorfe vergeblich: die Weiber und Mädchen sind Schneider und Kürschner für ihre Familie. Ueberhaupt ist der Bauer, alles was er will, oder was er seyn soll. Sein Herr schickt ihn in die Mühle, und er ist Müller. Er hat ja manchmal sein eignes Korn
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da gemahlen und gesehen, wie der Müller dabey die Mühle handhabte: das ist genug. Was er nicht gesehen hat, das lehrt ihn schon der Augenblick des Bedürfnisses; sein gutes Auge und seine glückliche Einbildungskraft. Irgendwo ist ein großer Bau zu machen. Da schickt der Maurermeister, der vormals selbst Bauer war, auf das Dorf, und läßt junge Bauern kommen, so viel er braucht, um ihm als Gehülfen zu dienen. Ob sie alle schon die Maurerkelle geführt haben, darnach ist nicht die Frage: Sie lernen bald mauern, wenn sie nur ein Paar Tage ihren schon kundigen Kameraden zugesehen haben: und siehe, es erheben sich unter den- Händen der Bauern Gebäude und Palläste, die denen des alten und neuen Roms gewiß nicht unähnlich sehen. Das ist die Biegsamkeit und Geschmeidigkeit des Geistes, mit der man leicht von einer Art der Beschäftigung zu einer andern ganz verschiedenen
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übergeht, ohne-sich in einem fremden Fache zu glauben, ohne, alles darin schwer und uns begreiflich zu finden. --- Mehr als einmal ist es mir in herrschaftlichen Häusern begegnet, daß man mir einen Knaben von 15 bis 16 Jahren zum Bedienten gegeben hat, der nur eben erst vom Dorfe, hinter den Pferden oder Schafen weggerufen war. Man versicherte mich, daß man mich eben mit einem solchen am besten versorge. Ich führte den kleinen Bauer in sein Amt ein, beschrieb ihm alle seine Geschäfte, und empfahl ihm, zwey bis drey Tage bey den andern, schon abgerichteten, Bedienten des Hauses in die Lehre zu gehen. Nach Verlauf dieser Lehrzeit kämmte er mir die-Haare, reinigte Kleider und Zimmer, kochte Kaffee und Schokolade, wagte es selbst kleine Schäden an Kleidern und Stiefeln auszubessern, bediente mich mit Artigkeit bey Tische; war mein Fuhrmann, wenn ich ausfuhr --- kurz er war mir
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alles, was ich nur inmer verlangen konnte. --- Ein Bauerknabe von 14 bis 15 Jahren wird von seinem Vater mit einem Pferde und Schlitten nach Moskwa geschickt, um als Iswostschik den Winter über seinen Unterhalt zu verdienen, und selbst noch etwas zum Unterhalte der Seinigen beyzutragen. In zwey, drey Wochen weiß er sich in der ungeheuer großen Stadt, die so viel Haupt- und Nebenstraßen hat, zurecht zu finden und immer die nächsten Wege auszuwählen. --- Noth und Zwang machen freilich viele schwere Dinge möglich; aber ohne natürliche Anlagen, ohne Aufmerksamkeit und Gelehrigkeit würde ein kleiner Bauer sich nicht alle, in einem ganz neuen Fache erfoderlichen, Geschicklichkeiten in so kurzer Zeit erwerben können.
Wenn die Feldarbeiten geendigt sind, und besonders wenn die Schlittenbahn eintritt, fängt der wohlhabendere Landmann in den mittlern Gegenden des Reichs seine
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Handelsspeculationen an. Er fährt nach den südlichen Provinzen, selbst bis nach der Krim, um feinere Sorten Obst, Weintrauben und Arbusen oder Wassermelonen einzukaufen, die er dann mit beträchtlichem Gewinn in Moskwa, Petersburg und andern größern Provinzialstädten wieder absetzt. Oder er holt in Astrachan Ladungen von Kaviar, von Stören und Hausen, welches im ganzen Reiche sehr gangbare Handelsartikel sind. Dabey ernährt er sich, seine Pferde die Hälfte des Winters und bringt selbst noch einen mäßigen Ueberschuß seines Verdienstes mit nach Hause. --- Aus der Wladimirschen, auch aus der Jaroslawschen Statthalterschaft, deren Einwohner industriöse Menschen, und besonders gute Gärtner sind, ziehen gegen Ende des Winters viele nach den Städten Lieflands und Ehstlands --- ein Weg von wenigstens hundert und vierzig deutschen Meilen --- miethen große Küchengärten, welche sie bearbeiten,
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und versorgen die Städte mit Gemüsen aller Art. Im Herbste kehren sie mit ihrem Gewinne nach Hause zurück. --- Gemeine Bauerjungen kommen nach Moskwa und andern Städten, vermiethen sich an Krämer als Herumträger von Eßwaaren, Früchten, Gartengewächsen, und lernen bald mit Maaß und Gewicht und Geld so geschickt umgehen, daß sie bey ihrem Handel nie zu kurz kommen. Von solchen Herumträgern stammen einige der ersten Kaufmannsfamilien ab, die ihr Vermögen nach Millionen berechnen! --- Ganze Dörfer, die zu wenig Land besitzen, um sich durch den Ackerbau zu ernähren, welches besonders in einigen Gegenden der, sehr stark bevölkerten, Moskowischen Statthalterschaft und einigen angränzenden der Fall ist, treiben einen gemeinschaftlichen Handel, wobey ein Kapital von mehr als hundert tausend Rubel zum Fonds dient. --- Die Nation hat zum Handel
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natürliche Anlage und Neigung. ein sicherer Beweis, daß es ihr an Thätigkeit des Geistes, an Industrie und Speculation nicht fehlen kann.
Mit Verwunderung habe ich mehrmals gesehen, durch was für einfache Zeichen die Bauern ihrem Gedächtnisse zu Hülfe kommen, und wie sie dieselben nach langer Zeit noch eben so fertig und richtig lesen, wie wir andern Geschriebenes. Der Schulze eines Dorfs hat z. B. die Aufsicht über die ganze Oekonomie eines herrschaftlichen Guts und muß seinem Herrn über alles Rechnung ablegen. Da bringt er ein Stäbchen mit wo eine Menge Striche in die Länge und die Quere, Kreuzchen und andere Figuren eingeschnitten sind. Von diesem Stäbchen liest er nun her, wieviel von der, von jener, Getraideart eingeärndret, ausgedroschen, aufgehoben, gemahlen, da und dorthin ausgesäet, oder verkauft ist. Er wird sich dabey; eben so
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wenig irren, als wenn er alles mit Ziffern und Buchstaben geschrieben hätte. --- Mit eben so bewundernswürdiger Leichtigkeit verstehen, oder errathen selbst die gemeinen Leute den Sinn von dem, oft wirklich erbärmlichen, Kauderwälsch der Ausländer, wovon viele zehn Jahre lang russisches Brodt gegessen haben, ohne noch zehn Worte hinter einander in der Sprache des Landes erträglich sprechen zu können: Man spreche nur einige Worte eines Saßes halb verständlich, so erräth der Russe die Bedeutung der übrigen, so lächerlich man sie auch entstellt haben mag. Dabey wird es ihm äußerst selten begegnen, daß sich sein Gesicht zum Lächeln über die, gewiß oft sehr spaßhaften, Verstümmelungen der Sprache verzöge. Ein schöner Zug in dem Charakter der Nation! Welches anders Volk übt in seinem eigenen Lande größere Nachsicht und Höflichkeit gegen die Ausländer aus? ---
II. Band. No. VI.
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Alle diese achtungswürdigen Anlagen des Geistes machen die Nation aber auch zur List und Verschlagenheit, die ihren eigenen Vortheil schnell und scharf sieht und sich nicht leicht täuschen läßt , sehr aufgelegt. Ein einziges altes Weib, sagt ein Deutscher von meiner Bekanntschaft, der die Nation seit vielen Jahren beobachtet hat, setzt fünfen von uns Ausländern Nasen auf, ohne daß wir es gewahr werden. Das möchte nun wohl übertrieben seyn; aber wahr ist es, daß Schlauigkeit dem größern Theile der Nation nicht abgesprochen werden kann. Peter der Große, der sein Volk gewiß genau kannte, fällte bey einer Gelegenheit selbst dieses Urtheil. Ich will Dir zum Schlusse dieses Briefes ein einziges wahres Anekdötchen, das zum Belege dienen kann, zum Besten geben. Ein gemeiner Soldat von der hiesigen Garnison gieng vor etlichen Jahren in Moskwa ganz langsam durch eine Reihe der
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Kaufmannsbuden, mit einem Rubel in der Hand. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, sah nach den Nummern der Buden und zählte für sich 13. 14. 15. 16. --- „Nein, ich habe es vergessen; und doch war es hier herum!“ --- Er gieng noch etlichemal in derselben Reihe hin und her, immer die Nummern zählend und seinen Mann mit anscheinender Ungewißheit suchend. Die kleinen Kaufleute, deren Augen nicht leicht ein Vorübergehender entkommt, welcher die Miene hat, als suchte er etwas, sammelten sich bald um ihn und fragten, was er verlangte. --- „Nein, ich habe es vergessen!“ --- Was denn? --- „Je vor einem Monat geh‘ ich hier durch, und da ich eben einen Rubel unumgänglich nöthig habe, so bitte ich einen Kaufmann, mir ihn zu leihen. Er gibt mir einen. Hier bringe ich ihn zurück. Aber ich habe seinen Namen und die Nummer seiner Bude vergessen. So viel weiß ich gewiß, daß sie hier
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herum war.“ --- Alle schwiegen. --- „Ich bins nicht gewesen“ --- war endlich die allgemeine Antwort, und die Versammlung zerstreute sich mit Bewunderung der Ehrlichkeit des Soldaten. Dieser blieb indeß noch voll anscheinender Verlegenheit stehen. Ein Schlaukopf, der von der Sache hört, und einen Rubel zu gewinnen Lust hat, ruft endlich aus einiger Entfernung den Soldaten zu sich: Ah! Freund, sagt er, kommst du mit dem Rubel? --- Das ist brav. Ich sah dirs wohl am Gesicht an, daß du Wort halten würdest. --- Der Soldat giebt ihm den Rubel mit höflichem Danke und spinnt ein kurzweiliges Gespräch an. „Nein, sagt er endlich, nun muß ich fort. Seyd so gut und gebt mir meinen Imperial --- ein Goldstück von 10 Rubeln an Werth --- zurück.“
Welchen Imperial? --- „Den meinigen, den ich euch zum Unterpfande gab, als ich euch um den Rubel bat.“ --- Ich habe
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keinen gesehen; du träumst. --- „Herr; ihr scherzet. Wie würdet ihr einem wildfremden Menschen, einem Soldaten, einen Rubel ohne Unterpfand leihen?“ --- Es kommt zum lebhaftesten Wortwechsel. Einer von den stets wachsamen Polizeybedienten tritt herbey, um den Streit zu schlichten, kann aber nicht auf den Grund der Sache kommen. Der Kaufmann verlangt, als Kläger zum Chef des Soldaten geführt zu werden. Sie gehen und bringen Klage und Verantwortung vor. Der Chef durchschauet auf den ersten Blik die List des Soldaten, kann aber gegen den klaren Schein des Rechts nicht entscheiden, oder er will zugleich die Habsucht des Kaufmanns züchtigen: kurz, er verurtheilt den Kaufmann, den Imperial --- den er nie gesehen hatte --- zurück zu geben, und dafür den Rubel zu behalten.
Ich fühle es selbst, lieber. C., daß meine Schilderung des Geistes und Charakters
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der russischen Nation deine Erwartung nicht befriedigen kann. Ich will versuchen in den folgenden Briefen das Mangelhafte zu ergänzen. Mit Ungeduld erwarte ich aber dein Urtheil über meine bisherige Schreiberey, von welcher Art es auch seyn mag.
Quelle:
Johann Gottfried Richter: Russische Miszellen Nr. VI S. 53-86. Verlag Hartknoch Leipzig 1803.
Die Russischen Miszellen wurden vom Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek eingescannt und liegen dort unter der Signatur Russ. 106 o-4/6 und folgendem Link vor:
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10783101_00001.html
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Briefe eines in Moskwa lebenden Deutschen über Rußland.
Fortsetzung.
Fünfter Brief.
Ich habe, meinst Du, lieber C., das Bild der Russen sichtbar zu sehr ins Schöne gemahlt. Das heißt doch wohl: ich bin partheyisch gewesen? --- Aber ich gelobte Dir ja im Anfange meiner Schilderung reine Wahrheitsliebe und historische Treue: wie könnte ich also ein geschmeicheltes Bild entworfen haben? --- „Das ist ein Zirkelbeweis" höre ich Dich sagen. Wahr ist es; denn erst müßte ja noch bewiesen werden, daß ich meinem Gelübde treu geblieben bin, oder daß ich ihm unmöglich habe untreu werden
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können. Was bleibt mir also zu meiner Rechtfertigung übrig, als zu sagen: komm, Lieber, und siehe selbst! --- „Schöne Foderung! Eine Reise von dreyhundert und mehr Meilen zu machen, um einen Freund, der von jeher nie gutwillig Unrecht hatte, vom Verdacht der Partheylichkeit rein zu waschen.“ --- Ist freilich auch wahr. Doch zum Glück für mich und für Dich hat sich mir in diesen Tagen unverhofft noch ein anderes Auskunftsmittel dargeboten, das uns vielleicht beyde befriedigen wird. Und dieses Mittel ist? --- Die kürzlich erschienene Schrift des Herrn D. Wichelhausen: „Züge zu einem Gemählde von Moskwa etc.“ Dieser verdienstvolle Gelehrte hat vor nur erst zehn Jahren Rußland verlassen, und seine Schilderungen, wenigstens so weit sie die Nation selbst betreffen, haben seit dieser Zeit nichts an Wahrheit verlohren. Er hat mit Augen eines unbefangenen Beobachters
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und was noch mehr ist, eines philosophischen Arztes, eine gute Anzahl Jahre die russische Nation in ihren beyden Hauptsammelplätzen, den Hauptstädten des Reichs, studiert. Die Resultate seiner Beobachtungen hat er mit eben so unpartheyischer Freymüthigkeit, als achtungswürdiger Humanität, vorgetragen. Seine Schrift, die auch in unserm Vaterlande durch ihren lehrreichen Inhalt gewiß Interesse erregen wird, gereicht noch überdieß zur Ehre unsers Nationalcharakters. Schon mehrere Deutsche, welche in Rußland Gastfreundschaft, Ehre und Vermögen gefunden hatten, schrieben, nach ihrer Rückkehr ins Vaterland, über Rußland, und zur Ehre unsrer Nation ist meines Wissens kein Castéra, kein Masson u. s. w. unter ihnen gewesen, der durch vorsätzliche Verleumdungen eines in vielen Hinsichten achtungswürdigen Volks den gerechten Vorwurf des
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Undanks verdient hätte. (I) Herr Wichelhausen ist eben so weit entfernt, ein „flagorneur allemand,“ nach Massons schnödem Ausdrucke, zu seyn, als man ihm mit Unrecht nachrühmen würde, gleich demselben Masson, „einer honteuse et coupable reconnoissance gegen Rußland entsagt zu haben.“ „Mit einem Worte, er erkennt und rühmt das Gute des Landes und der Nation, ohne die Mängel und Unvollkommenheiten beyder unbemerkt zu lassen. Aber er bemerkt die letztern freylich nicht mit dem empörenden Stolze eines französischen Schriftstellers, der seine große
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(I) Eben jetzt bekehrt mich leider! die 70ste Nummer des Freymüthigen eines andern. Aber H. v. Kotzebue wird hoffentlich nicht der einzige Deutsche in unserm Vaterlande seyn, welcher den Verfasser „der Ansichten des Nordens ohne Brille und Vergrößerungsglas“ für das hält, was er wahrscheinlich in der That ist, für einen reisenden Handwerksburschen.
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große Nation mit eine chronique scandaleuse infiniment intéressante unterhalten will, sondern mit den Augen des wohlwollenden Menschenfreundes, der ihre Verbesserung, so weit sie möglich ist, zu bewirken wünschet. ---
„Nun also diese Schrift des Herrn Wichelhausen, was enthält, sie zu Deiner Rechtsfertigung?“ --- Alles Lieber was ich nur verlangen könnte: Beobachtungen und Schilderungen, die mit den von mir bisher gegebenen meistens so auffallend übereinstimmen, daß Du in Versuchung kommen wirst, zu glauben, ich habe dieselben vor Augen gehabt, und nur mit einigen Veränderungen, Zusätzen, oder Abkürzungen copiert. Indeß gedenke ich Deiner guten Meinung von meinem Charakter noch so gewiß zu seyn, daß ich von Dir fodere, mir auf mein Wort zu glauben, daß ich die erwähnte Schrift nur seit vorgestern erst kenne, und daß folglich
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die auffallende Uebereinstimmung meiner Nachrichten mit den in ihr enthaltenen ihren Grund in der Wahrheit derselben, in der wirklichen Beschaffenheit der Gegenstände selbst, haben muß. Ich könnte zum Ueberfluß noch dieses für mich anführen, daß, wo H. Wichelhausen als gelehrter Arzt beobachtet und beschrieben hat, seine Beschreibungen mit den meinigen hier und da im Widerspruche stehen. Ich als ein Laie in der Kunst Aeskulaps, gestehe mit gebührender Bescheidenheit, daß er bey solchen Gelegenheiten wohl meistens Recht hat, und daß ich --- Unrecht habe.
Du nennst meine Schilderung des russischen Nationalcharakters unvollendet. Das ist sie, wie ich Dir selbst schon bekannte. Darum will ich Dir heute noch einige wesentliche Züge desselben nachliefern, welche Dich, wie ich hoffe, noch mehr von meiner Unpartheylichkeit überzeugen sollen. Wenn ich Dir bisher das Gemählde bloß im Lichte zeigte,
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so verfuhr ich, wenn ich nicht irre nach der Manier aller Mahler, welche auch nur bey der allmähligen Vollendung ihrer Werke Schatten auftragen.
Im Allgemeinen bemerkt man an den Russen ein lebhaftes Gefühl, eine Reizbarkeit und Wärme des Herzens, welche die Quelle schöner- Neigungen und Gemüthsäußerungens sind. Selbst die gemeinsten Menschen kennen die Süßigkeiten der Freundschaft, und äußern dieselbe gegen einander durch einen Ausdruck von Zärtlichkeit, wovon wir bey unsern Landsleuten vom niedern Stande wenig Spuren sehen. Es ist sonderbar, aber für den gesetzten Beobachter nicht lächerlich anzusehen, wie zwey bärtige Bauern, gute Bekannte, die nach einer langen Trennung einander unverhofft wieder sehn, sich mitten auf der Straße umarmen und küssen, und einander allerley Liebkosungen erweisen; wie sie eben so durch Umarmung
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und Kuß von einander Abschied nehmen. Das ist keine Nachäffung der Höflichkeit und Modefreundschaft, welche die höhern Stände aus --- Frankreich doch wohl? --- erlernt haben, es ist alte Volkssitte, und muß also seinen Grund in dem Volkscharakter haben. Noch sichtbarer zeigt sich diese Neigung zur Freundschaft, zur Mittheilung und Theilnahme, wie billig, bey dem weiblichen Geschlechte. Wie froh sind die gemeinsten Weiber und Mädchen, wenn sie einmahl ihre Freundinnen besuchen können, oder von ihnen einen Besuch erhalten! Mit welcher gutmüthigen Geschwätzigkeit erkundigen sie sich nach ihrem gegenseitigen Befinden , nach alIen ihren Umständen und Verhältnissen! Wie emsig bringen sie alles herbey, was sie in ihrer Armuth besitzen, um die geliebten Gäste stattlich zu bewirthen!
Ich habe in Deutschland sehr selten einen Bauer gesehen, der seine kleinen Kinder küßte
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und liebkoste, oder mit ihnen scherzte und spielte. In Rußland sehe ich täglich mit Wohlgefallen diese Ergießungen der älterlichen Liebe bey den geringsten und ärmsten Leuten. Diese Erscheinung ist um so viel mehr auffallend, da die Kinder der Leibeigenen mehr ihren Herren, als ihnen selbst angehören, und sie folglich dieselben nicht für sich, nicht zur Freude und Stütze ihres Alters, pflegen und erziehen. Denn oft werden diese Kinder nach entfernten Gegenden versetzt, verkauft, oder verschenkt, und sehen vielleicht in ihrem ganzen Leben die Aeltern nicht wieder. Selbst die Sprache drückt diese Zärtlichkeit auf eine sonderbar liebkosende Art aus. Mit „mein Söhnchen, mein Töchterchen“ wird der Russe seine kleinen Kinder gewöhnlich nicht anreden, sondern mit „mein Väterchen, mein Mütterchen , mein Herzchen, mein Täubchen.“ Aber eben so ist auch im-Allgemeinen die Liebe der Kinder gegen die Aeltern sehr zärtlich und respectvoll,
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Die lebhafter Zuneigung der Geschwister und Verwandten gegen einander, besonders im niedrigsten Stande, wo sie weniger durch Egoismus und verschiedenes Interesse erstickt wird, spricht gleichfalls laut für das gute und warme Gefühl der Nation. Auf meiner ersten Reisevon Riga nach Moskwa hatte ich einen Bauer aus der Gegend von Twer zum Fuhrmanne. Dieser führte mich, als wir in der Nähe seiner Heimath waren, von der Ländstraße ab, um seine Aeltern und seine Familie zu sehen. So wie er in seinem Hofe ankam, sprang er vom Sitze und eilte auf seinen alten Vater zu, der ihm mit noch ziemlich festen Schritten entgegenkam. Er neigte sich vor demselben bis zur Erde: der Alte hob ihn auf und umarmte ihn. Darauf erwies er dieselbe Ehrerbietung der alten Mutter. Jetzt erst fiel seine junge, artige Frau ihm um den Hals, und konnte nicht aufhören den lieben, lange ersehnten, Mann mit
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Küssen zu bedecken. Die jüngern Geschwister traten zuletzt herbey und verneigten sich vor dem ältern Bruder --- dem Ernährer der Familie --- bis zur Erde, und er küßte sie brüderlich. Mit Rührung sah ich diesen mir ganz unerwarteten und bis dahin ganz fremden Ergießungen der Liebe und Zärtlichkeit bey Menschen zu, denen ich, nach ihrem rauhen Aeußern, so viel Gefühl nie zugetraut hätte.
Auch an Höflichkeit und Dienstfertigkeit übertreffen uns die Russen im Allgemeinen genommen, Zwar ist es kein Wunder, daß der gemeine Mann sich gegen Höhere, vornehmlich gegen seine Gebieter, in Reden und Handlungen unterwürfig und ehrerbietig beträgt, da die Bauern der Edelleute und der größte Theil der Handwerker noch Sklaven sind. Aber auch Bekannten von seines Gleichen wird derBauer selbst nicht begegnen, ohne sie zu grüßen und dabey, Hut
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oder Mütze abzunehmen, wenn er auch die Zügel seines Pferdes in den Händen hält. Eben so läßt sich die einschmeichelnde Artigkeit des Kaufmanns gegen seine Kunden, oder gegen alle, die es werden könnten, freylich recht gut aus dem alles beherrschenden Eigennutze erklären. Aber wenigstens muß man bekennen, daß diese Wirkung des Eigennutzes sehr weit geht und viel Einnehmendes hat. Du kannst dem Kaufmanne ein beleidigend geringes Gebot thun und mit Unfreundlichkeit darüber fortgehen: er wird nicht leicht seine Empfindlichkeit durch Worte oder Mienen merken lassen; er bleibt gleich höflich und freundlich. Ein Kaufmann, vor dessen Bude Du stehen bleibst, hält Dich für einen Kauflustigen seiner Waaren, und ladet Dich mit der einnehmendsten Artigkeit zu sich ein; Du fragst ihn aber nur, wo dieß oder jenes, was er nicht hat, verkauft wird, und er wird Dir mit unveränderter Gefälligkeit die genaulichste
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Auskunft geben und aufs freundlichste von Dir Abschied nehmen. Schon einigemahl behandelte ich etwas bey einem jungen Kaufmanne, konnte aber über den Preis nicht mit ihm einig werden und gieng zu seinem Nachbar. Gleichwohl grüßt mich derselbe allemahl freundlich, wo er mich auch sieht. --- Nie wird es einem Fremden in ganz Rußland begegnen, daß er von Gassenjungen angefallen, ausgelacht, geneckt, oder geschimpft würde, wie ich wenigstens noch vor zehn Jahren in kleinen Städten und Dörfern Deutschlands nicht selten gesehen habe, wo die neue Form, eines Hutes oder Kleides, ein langer Bart, oder sonst etwas Fremdes und Auffallendes an Reisenden das ganze Geschmeiß der Straßenbuben versammelte, die sich dann nicht mit dem bloßen Anstaunen begnügten.
Dienstfertigkeit ist ein andrer schöner Zug in dem Nationalcharakter der Russen.
2. Band No. VII.
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Laß es sehn, daß Interesse die gewöhnlichste Quelle derselben seyn kann: ste trägt gleichwohl viel dazu bey, Fremden den Aufenthalt unter dieser Nation angenehm zu machen. Der Ausländer wird nicht leicht einen Russen, er sey Bürger oder Bauer, vergeblich um eine Nachricht oder Zurechtweisung bitten. Wenn dieser sie geben kann, so giebt er sie gewiß mit der möglichsten Genauigkeit, er geht wohl selbst ein Stück Weges mit dem Unbekannten und bringt ihn an den verlangten Ort. Und wenigstens ist die seltene Dienstfertigkeit der gemeinen Menschen gegen einander ein unverdächtiger Beweis von ihrem richtigen Naturgefühl und von wohlverstandener Reflexion. Ein Bauer ruft einem andern vorüberfahrenden, der ihm ganz unbekannt ist, zu, daß an seinem Geschirr etwas in Unordnung gerathen ist, oder abzufallen droht. Dieser hat entweder nicht Lust abzusteigen, oder kann es vielleicht nicht füglich :
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ohne Bedenken sagt er zu jenem: Bruder, sey so gut, mache mir es zurecht. „Zu Befehl, zu Befehl!“ antwortet der gutmüthige Mensch, und legt sogleich Hand an. Er fühlt sehr wohl den Grundsatz aller gesellschaftlichen Pflichten: Was Du willst, daß andere dir thun sollen etc. --- ohne ihn vielleicht je den Worten nach gehört zu haben.
Die Gastfreyheit hat sich in Europa, am längsten in Rußland, und, wie man sagt, in einigen Gegenden der Schweiz, erhalten. Doch darf man sie hier in ihrer patriarchalischen Gestalt auf den großen Landstraßen nicht mehr suchen: sie hat sich in die abgelegnern Wohnsitze der Landleute, besonders in den südlichen fruchtbaren Provinzen, zurückgezogen. Es würde auch allerdings --- Thorheit seyn, sie an der Heerstraße noch auszuüben, da die Zahl der Reisenden Legion ist, und jeder für sein Geld die nothwendigsten Lebensbedürfniss in dem kleinsten Dörfchen
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findest kann. Indeß gute Freunde und Bekannte wird jeder Russe, wenn ihr Weg sie zu ihm führt; unentgeltlich aufnehmen und bewirthen. Auch den reisenden Armen ist keine Thüre verschlossen. Bey einem guten Bekannten aus dem Bürgerstande von einiger Wohlhabenheit kann man, als einzelner Mann, so oft man will, und ohne ausdrücklich eingeladen zu seyn, einen gedeckten Tisch finden, und man ist gern gesehen. Kommt man zu jemanden, dem man auch nicht sehr bekannt ist, um Essenszeit, so wird er nicht unterlassen zu fragen, ob man gegessen hat, und mit ihm essen will. Wer da mit unsern altfranzösischen Complimenten: „ich danke ganz gehorsamst u. s. w.“ angetreten kommen wollte, der würde --- mit leerem Magen abziehen. Man kann und darf Ja sagen, wenn man will, und sich ohne Umstände setzen.: Je besser man sich die Mahlzeit schmecken läßt, ein desto willkommnerer Gast ist man dem
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gastfreyen Wirthe. Und man weiß hier nichts von Dank für eine genossene Mahlzeit.
Wohlthätigkeit ist noch eine russische Nationaltugend, die sich eben so wohl auf das lebhafte Gefühl des Herzens, auf Humanität, als auf Religion, auf Hofnung zeitlicher und ewiger Vergeltung vom Himmel gründet. Kraftlose Alte und kranke Arme finden in Rußland mehr als nothdürftige Unterstützung, so bald nur ihre Dürftigkeit denen, die geben können, bekannt wird. Blinde, Lahme und andere Gebrechliche werden selten einen Vorübergehenden umsonst um ein Almosen ansprechen. Oft tragen ganz gering gekleidete Menschen solchen Elenden ihre Gaben ungebeten zu. Rekruten, welche durch eine Stadt ziehen, erhalten von allen Seiten Zehrgeld zu ihrem oft weiten Marsche. Selbst Verbrecher, die an Ketten durch die Straßen zum Verhör, oder nach dem Gefängnisse geführt werden, haben sich eines
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thätigen Mitleidens zu erfreuen. Vormahls theilten mehrere reiche Kaufleute jeden Sonnabend eine beträchtliche Summe unter Arme, die sich vor ihren Häusern versammelten, aus. War jemand in einer Familie krank, gleich wurde für seine Genesung eine außerordentliche Spende an die Armen, oder an eine öffentliche wohlthätige Anstalt gegeben. Seit kurzem aber werden dergleichen milde Gaben, nach einer rührenden Auffoderung des menschenfreundlichen Alexanders, der auch der Armen Vater seyn will, in öffentliche Armenkassen abgereicht, aus welchen allerdings kräftigere und zweckmäßigere Maaßregeln zur Versorgung der Dürftigen getroffen werden können. Die Zahl der wohlthätigen Stiftungen, die von reichen Privatpersonen gemacht worden sind, und noch täglich gemacht werden, so wie die Beyträge, welche von allen Seiten dazu einkommen, sind rühmliche Denkmäler der sich immer mehr entwickelnden
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Humanität der Nation. --- Ausländer und fremde Religionsverwandten sind vom Genuß der Wohlthätigkeit der Russen keineswegs ausgeschlossen. Als im Jahre 1780. die Stadt Gera abgebrannt war, kamen Sammler bis nach Rußland, und sie erhielten reichliche Beysteuern. Während dem französischen Revolutionskriege, zogen einige tausend unglückliche Flüchtlinge von den Rheinufern als Kolonisten nach Rußland: sie fanden ein neues Vaterland und alle mögliche Unterstützung. Von der Regierung autorisirte Collecteurs reisten von Stadt zu Stadt, ohne die adlichen Landsitze, die an ihrem Wege lagen, zu übergehen, und ich habe mit Verwunderung in ihren Büchern gesehen, was für ansehnliche Summen sie von Petersburg aus bis nach Moskwa erhalten hatten. Die Kaufmannschaft von Moskwa hatte aus ihrer Gemeinkasse einem solchen Sammler viertausend Rubel gegeben!
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Die Religiosität der Russen ist groß; sie ist natürlich ihren Religionsgrundsätzen gemäß: aber sie verschließt das Herz nicht gegen die uneingeschränkteste Duldung anderer Religionen. Vor siebzehn Jahren erst konnte man in dem aufgeklärten Frankreich nur mit großer Mühe den Reformirten --- gebohrenen Franzosen --- Religionsfreyheit und Bürgerrechte auswirken. Und in Bayern mußte erst im Jahre 1800. eine Verordnung des weisen und patriotischen Churfürsten den Lutheranern und Reformirten den Eingang eröffnen. In Rußland haben Lutheraner, Reformirte, Katholiken und Armenianer schon seit länger als einem Jahrhunderte öffentliche Kirchen, wo sie in ihrem Gottesdienste nie gestöhrt worden sind. Die Tataren haben ihre Medschet --- und alle diese fremden Religionsverwandten genießen, ohne Rücksicht auf Religion, alle Rechte der Bürger, wenn sie die Pflichten der Bürger
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erfüllen. Das ist freylich eigentlich das Werk aufgeklärter und staatskluger Beherrscher des Reichs: aber es hat diesen keine große Mühe gekostet, Geistlichkeit und Volk zur Duldung der Fremden zu gewöhnen. Und jetzt ist der Unterschied der Religion das Letzte, woran der Russe in seinen Verhältnissen mit den bey und neben ihm wohnenden Ausländern denkt. Doch dieser interessante Punkt verdient eine vollständigere Ausführung, die ich einem der folgenden Briefe vorbehalte.
Nationalstolz und Vaterlandsliebe besitzt die Nation in einem ziemlich hohen Grade. Der Bauer des Edelmannes ist zwar Sklav und hat kein wahres Eigenthum, folglich kein wahres Vaterland: es scheint daher ein Widerspruch zu seyn, wenn ich sage, daß er Vaterlandsliebe habe. Aber ich schreibe sie ihm auch nur im niedrigsten Sinne des Worts zu. Er hält sich in dem Lande. wo er gebohren ist; für glücklicher,
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als er in jedem andern Lande seyn könnte. Denn er hat wenigstens gehört, daß man in den benachbarten Ländern nicht Fleisch essen kann, so viel man will, weil es selten und theuer ist; daß man dort nicht die schönen Fische fängt, wovon die Flüsse und Seen Rußlands wimmeln; daß man nicht so viel Kohl, Gurken, Heidekorn und andres Getreide erbauet, wie in Rußland; nicht Holz umsonst hauen kann, so viel man braucht; keine so warmen Pelze, keine Badstuben hat, um alle Wochen wenigstens einmahl nach Herzenslust zu schwitzen, keine Eis- und Schneekeller für den heißen Sommer, keinen Quaß zum täglichen Getränk, wie in Rußland; daß der Bauer in andern Ländern Hasen, wilde Schweine, Rehe und Hirsche seine Feldfrüchte abfressen und verderben lassen muß, ohne sie todtschlagen und essen zu dürfen; daß man keine so schnellen und dauerhaften Pferde hat, wie die seinigen --- kurz,
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daß man nirgends nach russischer Weise leben kann, als nur in Rußland, Wie sollte er Rußland nicht für das schönste und beste Land auf der Welt halten? Und wie sollte er keine Anhänglichkeit an dieses Land haben, wo er nach seinen Begriffen allein glücklich leben kann? --- Der freye Bürger hat ebenfalls eine hohe Meinung von den Vorzügen seines Vaterlandes vor allen andern Ländern; aber er gründet dieselbe schon auf bessere Kenntniß, auf Vergleichungen, die manche von diesem Stande selbst anzustellen Gelegenheit hatten. Man verdenkt es dem Besitzer von Millionen nicht, daß er weiß und fühlt, er sey reich, noch dem Starken, daß er sich seiner Stärke bewußt ist und von sich nicht, als von einem Schwächlinge, spricht. Mit Unrecht würde man daher den Nationalstolz der Russen tadeln, der sich auf das Gefühl von Macht und Größe ihrer Nation, auf das Bewußtseyn großer Fortschritte in Kultur und Aufklärung,
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auf kriegerischen Ruhm, und auf Kenntniß des unerschöpflichen Reichthums ihres großen Landes gründet. Man muß es indeß zur Ehre der meisten Russen vom Bürgerstande sagen, daß sie diesen wohlgegründeten Nationalstolz nicht leicht auf eine für den Ausländer beleidigende Art zeigen. Nach allem, was die Nation seit einem Jahrhunderte gethan hat, könnte sie sich vielleicht mit eben so gutem Rechte, als irgend eine andere, und ohne Rodomontade, die große Nation nennen.
Fast hätte ich vergessen, den weltberühmten Muth, die :bewundernswürdige Entschlossenheit und Geistesgegenwart der Russen in Gefahren unter ihren Nationaltugenden aufzuführen. Gefühl von Kraft, Stärke der Seele, religiöse. Begriffe, vielfache Erfahrungen von „fortuna audaces“ --- und --- ein glücklicher Leichtsinn mögen die vornehmsten Quellen dieses Heroismus seyn.
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Ich schweige von der Tapferkeit der russischen Armeen: einige Beyspiele mögen bloß zeigen, wie wenig die Nation überhaupt Gefahren fürchtet. In den Waldgegenden an der Oka und Wolga wagt es ein handfester Bauer allein auf die Bärenjagd zu gehen. Mit einem kurzen Spieße, der eine starke eiserne Spitze hat, sucht er den Bären in seinem Lager auf, und neckt ihn durch Geschrey und hingeworfene Steine oder Baumäste. Der erzürnte Bär erhebt sich aus seinem Bau, bricht mit den Vordertatzen das dichte Reisholz vor sich nieder, und rückt dann auf den Hinterfüßen ganz gravitätisch gegen den verwegenen Angreifer an, der ihn mit der größten Kaltblütigkeit erwartet. „Wenn er nur erst diese Stellung annimmt, so ist er unser! --- sagte mir unlängst ein solcher Bärenjäger. Er durchbohrt ihm dann gewiß mit einem wohlgezielten Stoße das Herz. ---
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Die Flüsse sind nur eben zugefroren und scheinen Menschen und Fuhrwerke tragen zu können, so wagt man sich ohne Anstand darauf. „Ne bois brat!“ --- fürchte dich nicht Bruder! --- ruft einer dem andern zu. Daß das Eis einbricht, macht niemanden scheu; wenn man nur mit dem Leben davon kommt. Eben so sieht man mit Erstaunen im Frühlinge, wenn jeden Augenblick der Eisgang zu erwarten ist, Menschen über das morsche Eis gehen und fahren, so oft auch schon Unglück dabey geschehen ist. „A wos! --- vielleicht!“ --- sagt der Bauer; vielleicht wird mich das Unglück nicht treffen. ---
Einen besondern Hang hat die Nationn zu zärtlichen --- nicht gerade platonischen --- Gefühlen der Liebe. Ich schließe dieses wiewohl andere Beobachtungen mich es ebenfalls gelehrt haben, vornehmlich aus den allgemein gangbaren Volksliedern. Der größte
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Theil derselben ist erotischen Inhalts und gewöhnlich im zärtlichen Mollton der Liebe gesetzt. Jung und Alt singt sie von einem Ende Rußlands bis ans andre, und hört sie mit Wohlgefallen singen. Ein Ausländer, welcher die Landessprache nicht versteht und den Humor der Nation nicht sonst schon kennt, ist in Versuchung, die Russen, nach den Gesängen, die er von allen Seiten erschallen hört, für melancholische Menschen zu halten. Molltöne sind ihre Lieblingstöne; aber es sind die eigentlichen Töne der Liebe. Wenn der Russe niedergeschlagen ist, --- was ihm selten begegnet --- so singt er gewiß nicht. --- Auch der Nationaltanz, drückt weit auffallender, als die Tänze, welche in der feinen Welt gebräuchlich sind, Liebe, von ihrer Entstehung an, bis zur Erhörung ihrer Wünsche, durch alle sein Wendungen pantomimisch aus.
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Jetzt muß ich, um der Wahrheit getreu zu bleiben, auch einige nicht so löbliche Seiten des russischen Nationalcharakters berühren. ---
Vorzeiten galten unsere Vorfahren für Säufer, weil sie es waren; und die Franzosen lassen uns dieses Lob noch immer wiederfahren, weil die Barons/allemands, die vor funfzig Jahren so thöricht waren, sich bey ihnen zu ruiniren, sich in dem Vaterlande des Champagners und Burgunders allzugütlich gethan haben mögen. Allein Zeiten und Sitten haben sich geändert. Auch der gemeine Mann sieht jetzt in Deutschland einen Betrunkenen, selbst vom niedrigsten Stande, mit Verachtung an, und brandmarket die Trunkenheit mit dem Namen des Lasters.In Rußland ist dagegen die Neigung zu starken Getränken noch fast allgemein, und Unmäßigkeit in ihrem Genuß ist bey der niedrigen Volksklasse mehr im Wachsen, als im Abnehmen. Unter dem Bürgerstande hält wenigstens niemand
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einen Rausch für eine Schande. „Wer betrinkt sich in Rußland nicht in Gesellschaft guter Freunde?“ --- sagte mir ein junger Russe von seinen Kenntnissen und sonst unbescholtenen Sitten welchen ich in einem tüchtigen Rausche getroffen hatte. --- „Und wem macht man einen Vorwurf daraus, wenn es nur nicht alle Tage geschieht?“ --- Wo ein Kaufmann oder ein wohlhabender Handwerker Gäste bewirthet, da dürfen starkes Bier, Wein und allerley Nalifken --- Aufgüsse von Wein, oder Franzbranntwein auf mancherley Beeren und Früchte --- nicht mit Sparsamkeit gereicht werden. Wenn ein Gast aus Mäßigkeit, oder irgend einem andern Grunde, sich weigert, fleißig die Gläser zu leeren, da ist es nach den alten Nationalsitten nicht genug, daß der Wirth ihn erinnere, sich es besser schmecken zu lasser; nein, Wirth, Wirthin und Töchter bieten alle ihre Beredsamkeit auf, dringen mit inständigen
3. Band No. VII.
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Bitten in den Widerspenstigen, daß er endlich zulangen muß, bis er das Glas nicht mehr von einem Weinfasse unterscheiden kann. Und wenn die Gäste von altem Schroot und Korn nicht taumelnd von einem Schmause aufstehen, da heißt es nachher: „die Mahlzeit war ganz gut, aber zu trinken war nichts da!“ --- An großen Festtagen, welche Nationalfeste sind --- und deren Zahl ist beträchtlich in Rußland --- sieht man in den Häusern und auf den Straßen der Städte glühende Gesichter und schwankende Füße in großer Menge. Selbst ehrbare Kaufmannsfrauen halten es für kein Verbrechen, sich an solchen Freudentagen ein Räuschchen zu trinken. Bey einem russischen Bedienten ist es nach der Ehrlichkeit die größte und am höchsten geachtete Tugend, daß er sich nur selten betrinkt. Denn diese negative Tugend ist leider unter der Bedientenklasse nicht sehrgemein. Einmahl im Jahre wird auch der strengste Herr
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jedem seiner Bedienten den vollkommensten Rausch ohne Murren hingehen lassen, nehmlich an dessen Namenstage. Der Namenstag ist das größte Jahresfest eines jeden Russen; der Geburtstag ist ihm so wenig wichtig, daß viele den ihrigen nicht einmahl wissen; und an diesem Ehrentage muß auch der Mäßigste sich wenigstens einen kleinen Haarbeutel anbinden. --- Aber in den Weihnachtsfeiertagen, in der sogenannten Butter- oder Carnevals-Woche, und in den Osterfeiertagen ist es etwas ganz Gewöhnliches, betrunkene Leute vom Pöbel ohne alle Besinnung auf den Straßen liegen zu sehen. --- Die Rauhigkeit des Klimas im nördlichen und mittlern Rußland macht allerdings denen, welche sich viel in der freyen Luft aufhalten müssen, den Gebrauch starker Getränke im Herbste und Winter --- ich möchte fast sagen, nothwendig, üm die natürliche Wärme ihres Bluts zu erhöhen, oder wieder herzustellen.
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Aber das Uebermaaß ist auch bey der strengen Kälte für Gesundheit und. Leben offenbar hier weit gefährlicher, als in gemäßigtern Ländern. Viele von den Erfrornen, die man jeden Winter in allen Gegenden Rußlands leider! oft genug auf den Straßen findet, sind gewiß im Rausche um ihr Leben gekommen. --- Allein wie leicht überschreitet der unaufgeklärte Mensch im Genusse hitziger Getränke das Maaß; und wie leicht kann Trunkliebe zur herrschenden Gewohnheit werden! Der arme Bauer, der leibeigene Bediente sucht sein Elend, das er doch zuweilen lebhaft genug fühlt, zu vergessen und seines Lebens froh zu werden: ihm bleibt kein andres Mittel dazu übrig --- wie Storch sich einmahl ausdrückt --- als sich ganz um das Bewußtseyn zu trinken. Von den Freuden des Besitzes, hat er nur sehr schwache Begriffe, weil er kein wahres Eigenthum hat, und er eilt daher, das Wenige, was er etwa erwirbt, so gewiß
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in seine Gewalt zu bringen, daß es ihm nicht entrissen werden kann. --- Doch werden hoffentlich für die Moralität der nächsten Generation schönere Tage anbrechen, wenn die Landschulen, welche Alexander seinem Volke zugedacht hat, in eine zweckmäßige Wirksamkeit gesetzt sind, und einheimische Schriftsteller von edeln Grundsätzen und von so ausgebreitetem Einfluß, als z. B. Herr v. Karainsin hat, gemeinschaftlich mit dem Menschenfreunde auf dem Throne an der sittlichen Verbesserung ihrer Landsleute --- und folglich an der Vorbereitung derselben zur Ertragung eines bessern Looses in der Gesellschaft --- arbeiten werden. --- Zu bemerken ist übrigens noch, daß man hier an Trinkern vom gemeinen Stände und überhaupt an denen, welche in ihrer Lebensart Russen geblieben sind, nicht viel von, den übeln Folgen der Trunkenheit gewahr wird! Das ist meines Erachtens ein Beweis von der Stärke
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und Dauerhaftigkeit der Nation. Denn nur sehr dauerhafte Körper vertragen ein öfteres Uebermaaß im Essen und Trinken und in der Liebe. Herr Wichelhausen leitet das, was ich als Beweis von starker Natur betrachte, bloß von Abstumpfung und Gefühllosigkeit der Nerven her und bezweifelt die dauerhafte Körperbeschaffenheit der gemeinen Russen. Ich unterstehe mich nicht, seinem Ausspruche, der sich ohne Zweifel auf vielfache anatomische und pathologische Beobachtungen gründet, geradezu zu widersprechen. Diese geringe Reizbarkeit des Nervensystems ist aber vermuthlich nicht bloß Wirkung des rauhen Klimas, sondern auch der Abhärtung durch starke Leibesübungen und Arbeiten, der Nationalbäder, wo im Winter große Hitze mit großer Kälte plötzlich abwechselt; endlich Wirkung der harten Lebensart überhaupt. Aber von allen diesen Ursachen scheint auch Stärke und Dauerhaftigkeit des Körpers ein
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gemeinsames Resultat seyn zu müssen. Wenigstens beweisen so viele Proben das Daseyn derselben bey den Russen unwidersprechlich. ---
Einen andern eben so wenig löblichen Zug des russischen Nationalcharakters, den Herr Wichelhausen bemerkt, habe ich gleichfalls oft beobachtet. Es ist dem russischen Landmanne, so wie dem Handwerker und Kaufmanne allerdings eigen, in seinen Arbeiten und Unternehmungen nicht auf Vollendung, auf Dauerhaftigkeit und innere Güte zu sehen. Der Bauer glaubt sein Feld genug bearbeitet zu haben, wenn er es mit dem Pfluge aus dem Gröbsten aufgerissen und ein- oder zweymahl überhin geegt hat. Daß noch überall Erdschollen, groß wie sein Kopf, darauf liegen, das kümmert ihn wenig. Der Zimmermann und Maurer führen mit bewundernswürdiger Schnelligkeit ein Gebäude auf, und der Bauherr fodert diese Eile, ob er gleich aus vielfältigen Erfahrungen weiß, daß
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sie in diesem Falle selten gut thun kann. Wenn das Gebäude nun fertig dasteht, fängt es auch schon wieder an zu verfallen, oder es hat doch wesentliche Fehler. So viele reiche Kaufleute haben schon in Rußland Fabriken angelegt und sie eine kurze Zeit mit großem Eifer und schweren Kosten unterhalten. Aber kaum waren sie noch recht im Gange, so ließen sie dieselben, und nicht an Mangel an Mitteln, wieder eingehen. Es ist gar kein Zweifel, daß der Russe in jeder Art von Geschäften eben so gut und dauerhaft arbeiten kann, als z. B. der Engländer, der Deutsche, der Schwede; kein Zweifel, daß er eben so fein und richtig zu speculiren versteht, als der unternehmendste und erfahrenste Ausländer. Es gibt russische Landleute, welche, von wohlwollenden und klugen Herren belehrt, ihre Felder fast mit der Mühsamkeit des Engländers bearbeiten; es gibt einzelne russische Handwerker, die sich
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mit den geschicktesten Ausländern messen können und gleiches Zutrauen, wie jene genießen. Eben so bestehen einige Fabriken in Rußland seit langer Zeit, haben ihre Besitzer bereichert und lassen eine lange und blühende Fortdauer hoffen. Aber das sind nur Ausnahmen. In der Regel arbeitet man flüchtig, nur für das Auge, und sieht wenig auf Solidität. Lebhaftigkeit des Temperaments, Veränderlichkeit, Sorglosigkeit in Ansehung der Zukunft und Begierde, mehr und schneller zu erwerben, scheinen die Quellen dieser Nationaleigenheit zu seyn.
Von List und Schlauigkeit, als einem Charakterzuge der Russen habe ich schon in einem der vorigen Briefe gesprochen. Nur Arglist und Hinterlist kennt der Russe im Allgemeinen nicht, so wenig als Rachsucht und lange nachgetragenen Groll: denn sonst dürfte es in Rußland gewiß keine harten Herren geben.
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Eigennutz ist und soll wohl einmahl die Haupttriebfeder aller menschlichen Thätigkeit seyn, und Gewinnsucht ist die Hauptleidenschaft aller Kaufleute in der Welt, also auch der russischen. Nur hat die geringere Klasse der letztern die nicht löbliche Eigenheit, für ihre Waaren gewöhnlich das Doppelte, oft das Dreyfache des wahren Werths zu fordern, und dem Unwissenden schlechte Waare für gute zu verkaufen. Man muß ihre Weise kennen, um nicht oft auf das schmählichste angeführt zu werden. Sie nehmen es dafür auch nicht übel, wenn man ihnen nur den vierten Theil ihrer Foderung bietet und lassen mit sich handeln. Die größern Kaufleute haben sich meist dieser Unart entwöhnt, auch hat man in Rücksicht der Güte und Aechtheit der Waaren mit ihnen weit weniger nöthig, auf seiner Hut zu seyn. Am betrüglichsten handeln die Herumträger von Lebensmitteln und allerley kleinen Waaren, junge Bauerkerle,
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welche ihre meiste Zeit in den Städten zubringen und zur Industrie ungleich gewitzigter werden, als ihre Brüder auf dem Lande. Diese sind im Stande z. B. Hühner mit nassem Papier auszustopfen, oder ihnen Zwiebeln in den Leib zu treiben, die man für Eyer halten soll, damit sie etwas theurer bezahlt werden. Sie lassen sich‘s nicht verdrießen mit der größten Mühsamkeit an Spargelstengel, deren Köpfe verdorben, oder abgeschnitten und verkauft sind, künstliche Köpfe zu schnitzen, und diese Stengel dann hier und da unterzustecken, wo sie nicht gleich bemerkt werden können. Theeblätter, die schon gebraucht sind, trocknen sie und rollen jedes Blättchen einzeln wieder so zusammen, wie es vorher war, da es aus China kam; unter guten Thee gemischt vermehren sie allerdings das Gewicht. --- Der Bauer, welcher seine Producte vom Lande bringt, handelt im
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Ganzen viel ehrlicher, weiß auch vom Uebersetzen der Käufer nicht so viel.
Man hat den gemeinen Russen schon oft nachgesagt, daß sie fremdes Eigenthum nicht sehr respectirten, mit einem Worte, daß sie diebisch wären. Ich läugne dieses nicht ganz, denn ich habe selbst einige sehr bittere Erfahrungen davon gemacht. Indeß ist es sicher zu hart, wie Masson, ganz algemein zu sagen: „le Russe est voleur et pillard.“ --- Denn wenn unter einer Nation auch der zehnte Theil aus lauter Zugreifern bestände, so wären doch die übrigen neun Theile durch eine solche allgemein hingeworfene Beschuldigung aufs unmenschlichste beleidiget. Und es giebt, meinen und anderer Beobachtungen zu Folge, der ehrlichen Menschen auch vom niedrigsten Stande genug in Rußland, in Städten vielleicht weniger, als auf dem Lande, und unter dem weiblichen Geschlecht mehr, als unter dem männlichen. Wenn indeß
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der rohe, ohne allen moralischen Unterricht aufgewachsene Mensch, der nie etwas Eigenes besaß, keine deutlichen Begriffe von der Heiligkeit des Eigenthums hat und sich bey Gelegenheit an fremdem Gute vergreift; was ist das für ein großes Wunder? Zu dulden ist es allerdings nicht, noch weniger zu loben. Und wenn mancher Sklave, der es wohl fühlt, daß sein Herr nur durch ihn Herr ist, daß sein Schweiß und Blut demselben Reichthum, Pracht und Wohlleben schaffen muß, wenn der, so bald er glaubt unentdeckt zu bleiben, einen Theil des durch seine Hände Erworbenen wieder zu nehmen sucht: was ist darin außerordentliches? Es ist fürwahr im Gegentheil ein Wunder, daß es nur einen einzigen ehrlichen Sklaven giebt! --- Freylich kann Dieberey auch dem Sklaven nicht ungestraft übersehen werden, wenn anders die gesellschaftliche Ordnung so bestehen soll, wie sie jetzt noch ist. Aber man gebe
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der niedern Volksklasse die nothwendige sittliche Bildung; man entwöhne sie vom Trunke; man gebe ihr Eigenthum, und wenn sie reif genug dazu ist, hebe man mit weiser Vorsicht die Leibeigenschaft auf: die meisten Laster, welche nothwendige Folgen ihrer jetzigen ungünstigen Lage sind, werden von selbst verschwinden, oder sich doch gewiß merklich vermindern.
Man hat endlich die abscheulichen Schimpfwörter und das ganze Heer empörender Ausdrücke, die man in Rußland hört, als einen Beweis von der Rohheit der Nation angesehen. Jedes Volk hat seine eigenthümlichen Flüche und Scheltwörter, die bey wichtigen oder unwichtigen Gelegenheiten gebraucht werden müssen. Die Jäger, Unteroffiziere und Subalternoffiziere in Deutschland sind im Besitze dessen, was die Deutsche Sprache in dieser Art Kernhaftes aufzuweisen hat. Aber wahr ist es, daß sie bey den Russen in die
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Schule gehen müßten, um sich in diesem Theile der Sprache recht zu vervollkommnen. Du überhebst mich, Lieber, der traurigen Mühe, Dir ein Verzeichniß russischer Scheltwörter zu liefern. Jeder, der sich ihrer bedient, verräth allerdings keine Feinheit des Gefühls und der Denkungsart. Sie sind übrigens ein Erzeugniß des nicht natürlichen Zustandes, in welchem sich die Nation bis jetzt noch befindet. Jede Nation, welche Sklaven hat, wird auch bey einem hohen Grade von Kultur solche unangenehm contrastirende Seiten behalten. Erinnere Dich, welche empörende Sprache feine Griechen und Römer beym Aristophanes, Plautus und Terentius gegen ihre Sklaven führen. Freylich wirkt auch ein Donnerwetter von Flüchen und Scheltwörtern auf rohe, knechtische Seelen viel kräftiger, als die gemeine, prosaische Sprache der Sanftmuth und Güte. ---
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Du verlangst von mir lange Briefe lieber C.; aber der gegenwärtige ist, wie Du selbst bekennen wirst, doch zu unmäßig lang gerathen. Er hätte in drey getheilt werden können, und Du hättest keinen davon zu klein gefunden. „Nein, höre ich Dich sagen, alles überflüssige Geschwätz sollte daraus weggeblieben seyn, so würde er das Ansehen eines vernünftigen Briefs haben.“ --- Das ist es, was ich bey Durchlesung desselben gleichfalls denke. Doch nimm ihn dießmahl wie er ist und laß Dir wenigstens seine Länge zum Beweise dienen, daß ich in der Unterhaltung mit Dir noch immer einen der schönsten Genüsse meines Lebens finde. ---
Sechster Brief.
Ich versprach Dir, Freund C., in einem der vorigen Briefe, Dir gelegentlich die Ursachen der auffallenden Gleichförmigkeit des
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Nationalcharakters der Russen in weit voneinander entlegenen Provinzen des Reichs aus einander zu setzen. Ich muß Wort halten, um auch dadurch die Fortdauer Deines Zutrauens zu meinen Nachrichten über Rußland zu verdienen. Aber dießmahl will ich mich, so viel Zwang es mir auch kosten mag, der Kürze befleißigen, und die Schlüsse aus meinen Angaben Deinem Gutdünken überlassen.
Rußland ist seit mehr als drey Jahrhunderten nur ein einziger großer Staat, welcher immer unter einem Herrn gestanden hat und nach einerley Gesetzen regiert worden ist. Die eroberten Provinzen in Westen und Süden sind, was ich nicht zu erinnern brauche, hiervon auszunehmen. Iwan Wassiljewitsch derErste zog die zu seiner Zeit noch übrige kleinen Fürstenthümer der abgetheilten Fürsten gänzlich ein, unterwarf die mächtige Republik Nowgorod seinem Zepter und zerbrach
3. Band. No. VII.
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das Joch der Tataren. Nun war und blieb Rußland eine ungetheilte Monarchie. Die Gewalt des Regenten war von jenem Zeitpunkte an in allen Theilen des Reichs unumschränkt, sein Wille war allgemeines Gesetz. Nur die Ukraine und die Kosaken genossen geraume Zeit ihrer alten Verfassung und größerer Freyheit, als die Bewohner Großrußlands. --- Aber eine so vieljährige gleichförmige Verfassung und Regierung eines Staats muß nothwendig ihre Wirkung auf den Charakter der Bewohner desselben haben und selbst ursprünglich verschiedene Völkerschaften, die er in sich faßt, allmählig einander ähnlich machen.
Seit der Einführung des Christenthums in Rußland hatten die Russen eine und dieselbe Religion, welche in dieser ganzen Zeit keine wesentliche Veränderung erlitten hat. Folglich hat diese Religion eine so beträchtliche Reihe von Jahrhunderten hindurch auf den
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Charakter der ganzen Nation gleichförmig gewirkt. Zwar ist die Sekte der Altgläubigen, oder Roskolniken, an sich zahlreich genug; zwar haben die Meinungen und Gebräuche derselben eine sichtbare Verschiedenheit des Charakters ihrer Glieder von dem Charakter der übrigen Nation bewirkt und fortdauernd unterhalten, ungeachtet sie nicht in wichtigen Glaubensartikeln von der rechtgläubigen Kirche abweichen. Aber theils ist die Zahl dieser Separatisten in Vergleichung mit der herrschenden Kirche doch immer unbedeutend; theils sind dieselben zu sehr in allen Gegenden des großen Reichs zerstreut und machen fast nirgends ganze vereinte Gemeinen aus: so daß man mit Recht sagen kann, daß die rechtgläubige griechische Religion überall in Rußland die herrschende ist. Der Einfluß dieser Religion auf den Nationalcharakter wird aber durch folgende Umstände auf eine besondere Art modifiziert. Die
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gelehrte Kenntniß der Religionslehren ist bis diesen Augenblick noch bloß das Eigenthum einer kleinen Zahl studierter Geistlichen. Nur seit der Errichtung der Stadtschulen, seit etwa zwanzig Jahren, hat die Stadtjugend einigen populären Unterricht in der Religion erhalten. Auf dem Lande wurde bis jetzt noch nirgends an denselben gedacht. Die Landleute lernten die Hauptlehren des Christenthums gelegentlich und nur historisch von ihren Aeltern, oder beym öffentlichen Gottesdienste, wo jedesmahl das Athanasische Glaubensbekenntniß gelesen wird, oder zuweilen, und nicht überall, Predigten gehalten werden. Dieser gänzliche Mangel an Kenntniß der gelehrten Fragen, Erklärungen und Streitigkeiten über die Religionslehren, konnte bisher die Russen nicht auf Speculationen über diese abstracten Gegenstände gerathen lassen, und bewahrte sie vor Intoleranz und Verfolgungssucht. Der Gottesdienst
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besteht nach der Meinung des großen Haufens meistens nur in Ceremonien, Gebeten, Fasten und Wallfahrten: wenn diese abgethan sind, so beschäftigen sie Verstand und Herz nicht weiter. --- Eben so hatte die russische Geistlichkeit schon seit einem Jahrhunderte nicht mehr den mächtigen Einfluß des römischen Klerus, oder hat ihn vielmehr nie ganz gehabt; folglich konnte sie nicht in dem Maaße auf den Charakter der Nation wirken, wie die katholische Priesterschaft auf Deutsche, Niederländer, Spanier und Portugiesen gewirkt hat.
Die Religion selbst bringt eine merkwürdige Gleichförmigkeit in die Lebensart der russischen Nation. In jeder Woche hat der Russe zwey Fasttage, Mittwoche und Freytag. Außerdem giebt es für ihn im Jahre noch vier längere Fastenzeiten, wovon die längste sieben Wochen vor Ostern anfängt, und den Sonnabend vor dem Osterfeste sich endigt.
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Diese Fasten werden von den Landleuten ohne Ausnahme, so wie auch von dem größten Theile der Stadtbewohner mit großer Strenge gehalten. Nur erst eine kleine Zahl von reichen Kaufleuten, die sich in Sitten und Lebensart schon ganz nach den Ausländern gebildet haben, unterlassen die allwöchentlichen Fasten, und beobachten die größern mit gemäßigter Strenge. Die Fastenspeisen sind beynahe in allen Gegenden des Reichs dieselben: bloß Vegetabilien für die Aermern, und Fische noch dazu für die Wohlhabendern.
Auch außer den Fasten ist die Lebensart bey der ganzen Nation, den Adel und die wohlhabende Kaufmannschaft ausgeschlossen, sehr gleichförmig. Eine Suppe von frischem oder gesäuertem Kohl, dann Buchweizengrütze und Milch erscheinen jeden Tag zwey bis dreymahl auf den russischen Tischen. Das sind wahre Nationalgerichte, so wie das Nationalgetränk Quaß, in der ärmsten Bauerhütte
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nie ausgeht und von Jung und Alt täglich getrunken wird.
Die Erziehung des mittlern und niedern Standes kann gleichfalls kein andres Resultat, als eine auffallende Aehnlichkeit der Gesinnungen, Neigungen und herrschenden Gewohnheiten der Individuen haben. Sie ist bis jetzt noch wahre Nationalerziehung, sich überall beynahe gleich: denn sie ist, wie ich schon einmahl bemerkt habe, fast nur die Erziehung der Natur. Der Landmann und der Handwerker haben nie etwas von Erziehungstheorien gehört, auch ist es ihnen noch nicht eingefallen, selbst über die Erziehung ihrer Kinder zu speculiren. Sie geben ihnen Nahrung und Kleidung nach Nothdurft und nach ihrem Vermögen. Die Wartung derselben in der ersten Lebensperiode ist nur die allernothwendigste; Aufsicht und Leitung in der folgenden, wo sie den Gebrauch ihrer Glieder und Kräfte erlangen, finden auch nur wenig statt.
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Diese sind der Natur überlassen, und die gute Mutter hat bisher dieses Zutrauen nicht ganz unbelohht gelassen. Die intellectuelle und moralische Bildung ist eben so einfach und kunstlos: sie geschieht nicht nach einem so künstlich angelegten Plane, noch durch die Mittel, deren die andern kultivierten Nationen sich dazu bedienen. Anführung zu den häuslichen Geschäften, Unterweisung in irgend einem Broderwerb, dann Umgang mit Erwachsenen, aber vornehmlich eigne Beobachtung, eignes Nachdenken über die Gegenstände ihrer Sphäre, Reisen im reifern Alter --- das sind die allgemeinen Mittel der intellectuellen Bildung für den größten Theil der Nation. Die moralische Bildung schränkt sich eben so allgemein auf nicht absichtlich gesuchte Entwickelung des moralischen Gefühls durch gelegentliche Erinnerungen der Eltern und anderer Erwachsenen über die Handlungen der Jugend, durch
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Züchtigungen, durch Beyspiele der Eltern und der Gespielen, und auf eigne Erfahrung der Folgen von ihren Handlungen, ein. Gesetze, eine wachsame Polizey, fast unumschränkte Gewalt der Herren über ihre Leibeigenen, gesellschaftliche Verhältnisse, gegenseitiges Bedürfniß der Menschen unter einander müssen diese moralische Erziehung vollenden.
Als eine Ursache der Gleichförmigkeit des russischen Nationalcharakters möchte ich noch anführen, daß die Russen, so wie sie ehemals benachbarte Völkerschaften im Norden, Osten und Süden ihres Reichs ihrer Herrschaft unterwarfen, nach der Weise der alten Römer, Kolonieen in die eroberten Länder sandten, welche immer in gleicher Verfassung mit den alten Provinzen und in beständigem Verkehr mit denselben blieben. Statt Sprache, Sitten und Gebräuche ihrer neuen Unterthanen, oder Mitbürger anzunehmen,
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wie die deutschen Völkerschaften in Italien, Gallien und Spanien gethan haben, mußten diese sich vielmehr allmählig nach der herrschenden Nation bilden. Das innere gegenseitige Verkehr der entferntesten Provinzen Rußlands ist seit einem Jahrhunderte noch lebhafter geworden, als es vorher war, wodurch eine allgemeine Austauschung von Ideen, Gewohnheiten und Sitten, kurz Assimilation des Charakters der Bewohner der meisten Provinzen hervorgebracht und unterhalten worden ist.
Gewiß bleibt es immer auffallend, daß das Klima, das bekanntlich in dem russischen, orbis terrarum so verschieden ist, wenig oder gar keinen Einfluß auf den Nationalcharakter der Russen äußert. Der Russe, er bewohne die Küste des kaspischen oder des Eismeers, bleibt immer Russe, und die Schilderung, die ich Dir von ihm entworfen habe, paßt auf diesen, so gut wie auf jenen. Dieses
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Räthsel --- wenn es dieser Brief nicht löset --- wirst Du mir lösen, lieber Philosoph. --- Oder soll Montesquieu wohl gar Unrecht haben? ---
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Quelle:
Johann Gottfried Richter: Russische Miszellen Nr. VII S. 37-91. Verlag Hartknoch Leipzig 1804.
Die Russischen Miszellen wurden vom Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek eingescannt und liegen dort unter der Signatur Russ. 106 o-7/9 und folgendem Link vor:
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10783102_00001.html
Eine Lebensbeschreibung von Johann Gottfried Richter findet sich in der Sächsischen Biographie, einer Online-Datenbank historisch bedeutsame Personen, die in der Mark Meißen, in Kursachsen bzw. im Königreich bis hin zum heutigen Freistaat Sachsen gewirkt haben. Im vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., Dresden, herausgegebenen Onlinelexikon steht der Artikel über Johann Gottfried Richter unter folgendem Link:
https://saebi.isgv.de/biografie/Johann_Richter_(1763-1829)
E. Wichelhausen 1803: Züge zu einem Gemählde von Moskwa
Züge zu einem Gemählde von Moskwa, in Hinsicht auf Klima, Cultur, Sitten, Lebensart, Gebräuche, vorzüglich aber statistische, physische, und medicinische Verhältnisse.
Von Engelbert Wichelhausen, Doctor und Professor der Arzneikunde, Russisch-Kaiserlichem Collegien-Assessor, und ehemaligem pensionirten Cabinetsarzte.
Berlin, bei Johann Daniel Sander, 1803.
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Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen cultivirten und uncultivirten Völkern, ist nicht specifisch, sondern nur gradweise. Das Gemählde der Nationen hat hier unendliche Schattirungen, die mit den Räumen und Zeiten wechseln; es kommt also auch bei ihm, wie bei jedem Gemählde, auf den Standpunkt an, in dem man die Gestalten wahrnimmt.
Herder.
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Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Karl Friedrich, Markgrafen zu Baden und Hohberg etc. etc.
meinem gnädigsten Landesherrn.
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Durchlauchtigster Markgraf, Gnädigster Fürst und Herr!
Die Schrift, welche ich Ewr. Hoch-fürstlichen Durchlaucht hiermit zu Füßen lege, enthält Grundsätze, durch deren Befolgung Höchstdieselben sich ein ewiges Denkmahl sowohl in der Geschichte als in den Herzen Höchstdero glücklicher Unterthanen gestiftet haben.
Deswegen wage ich es, zu hoffen, daß Höchstdieselben dieser meiner, wenigstens gut gemeinten Bemühung große und nützliche Zwecke zu befördern, Höchstdero Beifall nicht ganz versagen
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werden, und geruhen wollen, selbiger Höchstdero mächtigen Schutz gnädigst angedeihen zu lassen.
Ich ersterbe mit der tiefsten Ehrfurcht
Ewr. Hochfürstlichen Durchlaucht
Unterthänigster, Gehorsamster
Engelbert Wichelhausen.
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Vorerinnerung.
Diese Blätter sind größten Theils Bruchstücke einer medicinisch-physischen Topographie von Moskwa. Sie betreffen Gegenstände, die ein allgemeineres Interesse haben, und deswegen einem größeren Kreise von Lesern bekannt zu werden verdienen. Dies ist die Ursache, warum ich sie dem Publikum unter dem vorstehenden Titel übergebe.
Es ist eine ihrer vorzüglichsten Absichten, eingewurzelten Vorurtheilen der Ausländer über Rußland entgegen zu wirken und zur Abschaffung von mancherlei Mißbräuchen
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VIII
beizutragen, die dem allgemeinen Gesundheitswohl und dem Wohlstande der Einwohner von Moskwa hinderlich sind.
Ueber nichts, was Rußland betrifft, habe ich im Auslande mehr Vorurtheile verbreitet gefunden, als über die Beschaffenheit der klimatischen Verhältnisse. Meistens scheint man zu vergessen, daß dieses ungeheure Reich sich unter sehr verschiedenen Graden der Breite ausdehnt; wenigstens spricht man davon gewöhnlich nur als von einem Lande, wo ein ewiger Winter herrsche. Man bedenkt nicht, daß es große Erdstriche darin gibt, die sich des sanften Himmels von Italien und dem südlichen Frankreich erfreuen, wo z. B. shon im Februar der Mandelbaum blühet; und daß alle Nüancen der Temperatur, die zwischen 42½ und 78 Grad nördlicher Breite Statt haben, darin zu finden sind. Das Russische Klima ist sogar zum Sprichwort geworden,
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IX
wenn man von einem äußerst rauhen, unwirthbaren redet. Die Beschaffenheit der Sommerjahrszeit in den kälteren Gegenden scheint den Ausländern eben so wenig hinlänglich bekannt zu seyn, als es die vortrefflichen Vorkehrungen sind, wodurch man sich daselbst während des Winters gegen die Kälte zu schützen weiß.
Eben so einseitig und unbestimmt sind die gewöhnlichen Urtheile der Ausländer über die sittlichen und Cultur-Verhältnisse in Rußland, welche doch die größten Verschiedenheiten haben. Die meisten Reisebeschreiber nehmen bei ihren Urtheilen darüber die Cultur und die Sitten ihres Vaterlandes zum Maßstabe, und geben dadurch einen Beweis von ihrer höchst unphilosophischen Denkungsart; besonders aber haben sich hierdurch in neueren Zeiten die Französischen Reisebeschreiber schwer an Rußland versündigt.
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X
Die Hauptursache dieser so tief eingewurzelten, allgemein verbreiteten, und, nach meinen Beobachtungen, der Ansiedlung der Fremden in Rußland so hinderlichen Vorurtheile, ist die, daß wir fast gar keine medicinisch-physische Topographieen von Russischen Städten, selbst nicht einmal von den vornehmsten derselben, besitzen *) Sogar über das Klima von Rußland finden wir in
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*) In Georgi‘s und Storchs vortrefflichen Schilderungen der Residenzstadt Petersburg findet man zwar viele dahin gehörige Nachrichten; aber eigentliche medicinisch-physische Topographieen sind es nicht, und das sollen sie auch nach dem Zweck ihrer berühmten Verfasser, nicht seyn. --- Meines Wissens ist die einzige medicinisch-physische Topographie einer Russischen Stadt, des verdienstvollen Doctors Bluhm Versuch einer Beschreibung der hauptsächlichsten in Reval herrschenden Krankheiten.
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XI
den Schriften der akademischen Reisenden nur zerstreuete Nachrichten; und hätten wir nicht über das von St. Petersburg genaue Beobachtungen von dem berühmten Ritter von Kraft, so könnten wir gar keine dergleichen über Rußland aufweisen.
Daher glaube ich etwas sehr Nützliches zu thun, wenn ich dem Publikum die allgemeinsten klimatischen, statistischen, physischen und medicinischen Notizen über die größte Stadt des Russischen Reiches mittheile.
Ich lebte daselbst mit Erlaubniß der Kaiserin Katharina vier Jahre auf Urlaub. Bei einem sehr ausgebreiteten medicinischen Wirkungskreise fehlte es mir nicht an Gelegenheit zu Beobachtungen und Erfahrungen.
Alles, was ich für merkwürdig hielt, schrieb ich in meinen Tagebüchern nieder, und ich besitze nun Materialien zu einer vollständigeren
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XII
medicinisch-physischen Topographie von Moskwa und zur Geschichte der Krankheiten, die in den Jahren 1791 und 1792 epidemisch daselbst herrschten.
Vorgänger, die ich hätte benutzen können, gab es nicht. Was Marquard in seiner sogenannten Topographie geliefert, hat nur in mineralogischer Hinsicht einigen Werth; das Uebrige ist ein Gewebe von Ungereimtheiten und falschen Nachrichten *). In den wenigen Fällen, wo ich einzelne Notizen anderer Schriftsteller benutzen konnte, habe ich es immer angezeigt. Doch halte ich es für billig, hier noch anzumerken, daß ich zu dem
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*) Nicht ohne den äußersten Unwillen habe ich in der Einleitung zu seinem Werke (S. 2. der Deutschen Uebersetzung) die unverschämten Ausfälle gelesen, welche sich dieser arrogante Franzose gegen die Deutschen Aerzte in Moskwa erlaubt.
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XIII
Verzeichnisse einheimischer Pflanzen die Reisebeschreibungen von Güldenstädt und andern Akademisten, ferner die Beschreibung des Demidowschen Gartens von Pallas, und Stephans enumeratio stirpium agri Mosquensis benutzt habe.
Die Freimüthigkeit, mit der ich manches rüge, was das öffentliche Gesundheitswohl betrifft, brauche ich wohl nicht zu entschuldigen, da sie Pflicht des echt patriotischen Arztes ist. Auch glaube ich keinen Tadel dafür zu verdienen, daß ich mich des Schicksals der bedaurungswürdigen Leibeignen mit Wärme annehme, weil dies den Forderungen der Humanität entspricht; ja, ich hoffe, daß der wohldenkende Theil der Moskowischen Edelleute die Reinheit meiner Absichten dabei nicht verkennen wird. Auf jeden Fall beruhiget mich aber das süße Bewußtseyn, als ein rechtlicher Mann die Sache der
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XIV
Unterdrückten vertheidigt zu haben; und vielleicht darf ich mir mit der belohnenden Aussicht schmeicheln, daß ich (wenn auch auf die entfernteste Weise) mit dazu beitragen kann, das traurige Loos so vieler Millionen von unglücklichen Menschen zu mildern.
Mannheim, den 4. April 1803.
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Inhalt.
I. Tage von Moskwa. . . . . . . S. 3
Geographische Lage --- Boden --- Muthmaßung über dessen vormalige Beschaffenheit --- Gegenden --- Uebersicht.
II. Blick auf die Geschichte von Moskwa. S. 7
Aelteste ungewisse Nachrichten --- Der Großfürsten Daniel Alexandrowitsch und Iwan Danielowitsch Verdienste um die Erbauung und Verschönerung von Moskwa --- Das Aufkommen der Stadt wird durch Aberglauben befördert --- Widrige Schicksale während der Mongolisch-Tatarischen Herrschaft --- Entvölkerung durch Iwans Wasiliewitsch Grausamkeiten --- Verbrennung durch die Polen --- Einefluß der Erbauung von St. Petersburg und der eingeführten Statthalterschafts-Regierung --- Betrachtung über die wechselnden Schicksale der Stadt.
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XVI
III. Kurze Beschreibung von Moskwa nach den Stadttheilen; vorzüglichste Merkwürdigkeiten. . . . S. 22
Erdwall --- Sasstawen --- Obelisken --- Eintheilungen der Stadt --- Kreml --- Pallast der alten Zaren --- Große Kanonen --- Synodsgebäude --- Senatshaus --- Zeughaus --- Wohnhaus des Metropoliten --- Klöster --- Kirchen und deren Merkwürdigkeiten --- Kitaigorod --- Läusemarkt --- Gesindemarkt --- Kaufbuden --- Börse --- Kirchen und Klöster --- Synodsbuchdruckerei und andere öffentliche Gebäude --- Beloigorod --- Findelhaus --- Universität --- Volkschule --- Geheime Expedition --- Archiv und andere Krongebäude --- Vögelmarkt --- Semlenoigorod --- Vorzüglichste Merkwürdigkeiten dieses Stadttheils --- Vorstädte --- Neuer Kaiserlicher Pallast --- Klöster und Kirchen --- Demidows Pallast, nebst dem botanischen Garten --- Apotheker-Garten --- Hospitäler --- Begräbnißplätze.
IV. Größe, Bauart und Straßen . . . . S. 42
Umfang und Durchmesser --- Anzahl der Straßen und Gebäude --- Abenteuerliche Bauart --- Zwischenräume der Häuser --- Anzahl der Gebäude in vorigen Zeiten --- Häusermarkt --- Gesundheit hölzerner Wohnungen --- Einfache Erbauungsart derselben --- Steinerne Häuser --- Ukas darüber --- Feuersbrünste --- Geschmack in Ansehung der Häuser --- Fensterscheiben --- Hofraum --- Wohnungen der Leibeignen ---
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XVII
Baumaterialien --- Ungesundheit feuchter Häuser --- Neuer Vorschlag, frisch gebaute Häuser der Gesundheit unschädlich zu machen --- Straßen --- Promenaden --- Steinpflaster --- Trottoirs --- Erleuchtung --- Unreinlichkeit der Gassen --- Sicherheit derselben --- Butterschnicki --- Vorkehrungen gegen Feuersgefahr --- Polizei.
V. Gewässer von Moskwa. . . . . S. 66
Moskwafluß --- Jausa --- Neglina --- Tschetschorka --- Fischarten in den Moskowischen Flüssen --- Natur des Flußwassers --- Brunnen- und Quellwasser --- Große Wasserleitung --- Einfluß des Trinkwassers auf die Gesundheit --- Wirkung auf Fremde --- Reinigung schlechter Trinkwasser --- Vorzüge des Schneewassers.
VI. Klima von Moskwa . . . . S. 88
Allgemeine Grundsätze über den Einfluß der klimatischen Verhältnisse --- Ungleiche klimatische Beschaffenheiten in Moskwa --- Waldungen --- Nöthige Vorsicht beim Aushauen derselben --- Winde --- Feuchtigkeit und Trockenheit der Atmosphäre --- Gewitter --- Ansicht des Himmels --- Schwere der Luft --- Barometerstand --- Temperatur des Luftkreises --- Unrichtige Begriffe darüber in andern Ländern --- Thermometerstand --- Gewöhnliche Lufttemperatur --- Gefrieren der Flüsse --- Beschaffenheit des Eises --- Eispallast --- Verlauf der Jahreszeiten --- Schilderung eines schönen Wintertages --- Wirkungen des Moskowischen Klima‘s im Allgemeinen --- Größere Farbenlosigkeit aller Körper ---
Wichelhausens Moskwa. **
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XVIII
Geringer Wachsthum der organischen Körper --- Wirkungen auf die Organisation der Körper und deren äußere Formen --- Nachtheilige Folgen schnell eintretender Kälte.
VII. Fruchtbarkeit des Bodens, Ackerbau, einheimische und angebaute Pflanzen. . . . . S. 135
Beschaffenheit des Erdreichs --- Energie der Vegetation --- Farbe der Pflanzen --- Lebensperioden --- Organisation --- Vernachlässigung des Ackerbaues --- Große Fortschritte in der Gartencultur --- Wiesen --- Kleebau --- Aussaat --- Ernte --- Owinen --- Aufmunterungen zur Verbesserüng des Ackerbaues --- Die Leibeigenheit, als Hauptursache von der Vernachlässigung desselben --- Des erleuchteten und humanen Kaisers Alexander höchst merkwürdiger Ukas zur Beförderung der ländlichen Insdustrie --- Hoffnungen --- Einheimische Pflanzen nach Linne‘s und Hedwigs Systemen, nebst kurzen Anmerkungen über ihren Nutzen --- Cultivirte Pflanzen --- Notizen, über die Geschichte der Gartencultur --- Gärtner --- Früchte --- Melonen --- Arbusen --- Ananas --- Gewächshäuser --- Verdienste der Demidowschen Familie --- Apothekergarten --- Ueberfluß und Wohlfeilheit der Gemüse.
VI. Viehzucht. . . . . . 215
Einfluß des Klima‘s auf das Thierreich --- Vernachlässigung der Viehzucht --- Rindvieh --- Die Kunst Butter zu machen ist unbekannt --- Viehseuchen --- Nutzen der Orräusschen
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XIX
Heilmethode --- Pferdezucht --- Schweine --- Schafe == Geflügel,
X. Volksmenge. . . . . . . S. 223
Berichte der Schriftsteller darüber --- Schwierigkeiten bei ihrer Bestimmung --- Periodischer Wechsel derselben und daher entstehende Ungewißheit --- Geburts-, Sterbe -, und Copulations-Listen --- Wahrscheinliche Volksmenge --- Fruchtbarkeit der Ehen --- Leichtigkeit der Eheverbindungen --- Weiber tragen ihre Ehemänner auf dem Arm.
X. Verschiedenheit der Stände. . . . . . . 235.
Der Adel --- Geburtsadel --- Verdienstadel --- Ursprung desselben, und dessen Prärogative vor dem Geburtsadel --- Alte adelige Geschlechter --- Ihre vormalige und jetzige Lebensart --- Groß- und Seehandel entehrt keinen Edelmann --- Freie Russen --- Onodworzi --- Freilassungen --- Ausländer --- Historische Notizen über ihre Ansiedelung in Moskwa --- Ihre Privilegien in ältern und neueren Zeiten --- Schonendes Benehmen der Regierung gegen sie --- Rang und Ansehen --- Gelehrte -- Nahmhafte Bürger --- Kaufleute --- Fremde Künstler und Handwerker --- Leibeigne --- Verschiedenheit ihres Schicksals --- Kronbauern --- Leibeigne der Edelleute --- Menschliche Behandlung derselben ist am gewöhnlichsten --- Leibeigne Millionäre --- Tyranneien einiger Leibherren --- Gefährliche Toilettenstunden --- Menschenhandel --- Knechtischer Sinn der Leibeignen ---
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XX
Ihre Geduld und Rachsucht --- Verbeugungen --- Die Slawen, einst eine berühmte Nation --- Blick auf die Geschichte der Leibeigenschaft in Rußland --- Sie gründet sich nicht auf ausdrückliche Gesetze --- Allmähliche und vorsichtige Lösung ihrer Bande --- Begriffe über politische Freiheit --- Die besten und weisesten Beherrscher von Rußland wünschten, die Leibeigenschaft aufzuheben --- Mißlungener Versuch der Zaren Boris und Wasilii Schuiskoi --- Ukas des Zaren Alexei Michälowitsch --- Des großen Galitzins edles Projekt --- Katharinens der Großen Wünsche und Vorbereitungen --- Französische Revolution --- Glücklichere Lage der Leibeignen seit der Thronbesteigung Alexanders I. --- Frohere Aussichten --- Des Kurfürsten Karl Friedrichs von Pfalz-Baden erhabenes Beispiel.
XI. Körperliche Bildung, Geistes- und Gemüthsanlagen. . . . . . S. 283
Unterschied zwischen Edelleuten, Ausländern und Muschiks, in Rücksicht auf körperliche Bildung --- Physische Charakteristik des Muschiks --- Schönheitsbegriffe --- Frühere Mannbarkeit der Mädchen --- Storch‘s irrige Meinung darüber --- Frühes Alter --- Seltenheit mißgestalteter Personen --- Genetische Lebenskraft --- Gute Anlagen der Kinder --- Gefühllosigkeit --- Körperliche Ausdauer und Stärke --- Sinnlichkeit --- Hang zur Musik --- Allgemeiner Volksgesang --- Tanz und Mimk ---
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Einbildungskraft --- Temperament --- Gemüthsart.
XII. Allgemeine Bemerkungen über die Lebensart, Sitten und Gebräuche der Einwohner von Moskwa. . . . . . S. 310
Die Schilderungen der Schriftsteller aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert passen nicht mehr ganz --- Einförmigkeit der Moskowischen Lebensart --- Morgenländischer Ursprung der Gebräuche --- Aehnlichkeit derselben mit den Gebräuchen des alten Roms und Griechenlands --- Verbindungen der alten Slaven mit Griechen und Römern.
XIII. Hauswesen der Einwohner von Moskwa. . . . . . S. 316
Menge der Hausgenossen --- Verschiedenheit derselben --- Einrichtung der Häuser --- Bog --- Schwarzstube --- Vortreffliche Methode zu heitzen --- In Moskwa spürt man die Winterkälte weniger, als im südlichen Italien und in Frankreich --- Oefen und Oefenbau --- Doppelte Fenster --- Schlafzimmer und Bette.
XIV. Kleidertrachten, Toilette der Damen. . . . . . . S. 341
Kurze historische Notizen über die Kleidertrachten in Moskwa --- Herrschaft der Mode --- Kostbare Trachten --- Perlen und Edelsteine --- Pelze --- Schädliche ausländische Kleidertrachten --- Russische Nationaltrachten --- Vorzüge derselben --- Schminke --- Toilettenmahler --- Gefährliche Toilettenartikel.
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XV. Leibesübungen, Fuhrwerke, Reisen. . . . S. 356.
Hang zur Unthätigkeit --- Lebensart mancher Damen in dieser Hinsicht --- In Moskwa wird wenig zu Fuße gegangen --- 'Nachtheilige Folgen von Vernachlässigung der Leibesübungen --- Menge der Fuhrwerke und Pferde --- Behandlung der Pferde --- Pferdegeschirr --- Postzüge --- Droschka --- Schlitten --- Fiacres --- Harttraber --- Grausamkeit gegen Pferde --- Kibitka --- Vorzüge dieses Fuhrwerkes --- Wirthshäuser ohne Betten --- Schnelles Reisen --- Barbareien einiger Großen in dieser Hinsicht.
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Züge zu einem Gemählde von Moskwa.
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I.
Lage von Moskwa.
Geographische Lage --- Boden --- Muthmaßung über dessen vormalige Beschaffenheit --- Gegenden --- Uebersicht.
Moskau oder eigentlich Moskwa, die Haupt- und vormalige Residenzstadt der Russischen Großfürsten und Zaren, hat ihren Nahmen von dem Flusse Moskwa, an dessen Ufern sie liegt.
Ihre geographische Lage ist unter 55° 45‘ 4“ der nördlichen Breite, und 55° 12‘ 4“ der östlichen Länge *). Sie liegt sehr anmuthig und pittoresk auf mehreren kleinen Hügeln und Niederungen, welche Fortsetzungen der großen Waldaischen Gebirgskette sind.
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*) Grischow investigatio positionum insignium Russiae locorum, in nov. comm. Acad. Petropol. T. VIII.
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Unter ihrem bald lehmigen, bald sandigen Boden, streichen fast durchgängig Kalkflötze. Diese Steinart ist augenscheinlich in Zeiten, wohin die Annalen der Weltgeschichte nicht reichen, aus zerstörten Meeresprodukten entstanden; denn ihr lockeres , tufsteinartiges Ansehn *) und die Menge versteinerter Meerkörper, die sie enthält, beweisen deutlich, daß sie keine ursprüngliche Bergart seyn kann. Wenn die Muthmaßung gegründet ist, daß vormals über dem Boden, auf welchem Moskwa steht, so wie überhaupt über dem Bergrücken, den die alten Erdbeschreiber Mons Alaunus nannten, das Weltmeer gewogt hat, so läßt sich das Zurückbleiben der versteinerten Meeresprodukte nach irgend einer gewaltsamen Revolution des Erdballs wohl erklären **).
Um Moskwa her bieten sich dem Auge schöne Wiesen, anmuthige Gehölze und prächtige
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*) Sie hat Aehnlichkeit mit dem vulkanischen Tuf, der bei Neapel gefunden wird, und in Italien unter dem Nahmen Peperino bekannt. ist.
**) Der Glaube an solche Revolutionen scheint sehr alt zu seyn. Denn Ovid (Metam. 15, 263. 264.) sagt bereits:
- - - vidi factas ex aequore terras Et procul a pelago conchae jacuere marinae.
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Sommerwohnungen dar. Nach Nordwesten liegt vor dem Twerischen Thore der große Petrowskysche Wald, und nach Nordosten hinter der Deutschen Vorstadt (Nemetzkaja Sloboda) der Perowische und der mit schönen Alleen durchhauene Annenwald. Mehr östlich, hinter der erwähnten Deutschen Vorstadt, ist das Land morastig, so daß hinter dem ehemaligen Opernhause ein Torfmoor sich weit ausdehnt.
Nach Südwesten erhebt sich eine Reihe von Hügeln, welche gewöhnlich Sperlingsberge (Worobjewy Gori) genannt werden. Sie bilden ein Amphitheater, das eine sehr mahlerische Wirkung hervorbringt. Auf diesen Hügeln, die mit Birken, Nadelholz und Eichen bewachsen und mit prächtigen Lustschlössern bedeckt sind, hat man vortreffliche Standpunkte, um die ungeheure Stadt zu übersehen.
Wer Paris, London und mehrere der größten Städte in Europa sah, dessen Phantasie hat dennoch keinen Maßstab, um sich einen Begriff von dem Eindruck zu machen, den die Uebersicht dieser Riesenstadt bewirkt. So weit der Horizont reicht, siehet man ein buntes Gemisch von Pallästen, größern und
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kleinern Häusern und Gärten, zwischen welchen eine unzählbare Menge von mannichfaltig geformten, bemahlten oder vergoldeten Thürmen hervorragt. Diese Masse von Gebäuden, deren Ausdehnung sich hinter dem Gesichtskreise verliert, macht einen solchen abenteuerlichen Effeft, daß man eine Zauberscene aus der Feenwelt zu sehen glaubt.
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Blick auf die Geschichte von Moskwa.
Aelteste ungewisse Rachrichten --- Der Großfürsten Daniel Alexandrowitsch und Iwan Danielowitsch Verdienste um die Erbauung und Verschönerung von Moskwa --- Das Aufkommen der Stadt wird durch Aberglauben befördert --- Widrige Schicksale während der Mongolisch-Tatarischen Herrschaft --- Entvölkerung durch Iwans, Wasiliewitsch Grausamkeiten --- Verbrennung durch die Polen --- Einfluß der Erbauung von St. Petersburg, und der eingeführten Statthalterschafts-Regierung --- Betrachtung über die wechselnden Schicksale der Stadt.
Die Nachrichten von dem Ursprunge der Stadt Moskwa sind in Dunkelheit gehüllt. Nach einigen Chroniken ist er bis in die Regierung Olegs *) zurückzuführen. Dieser Fürst soll im Jahre 882, in Begleitung seines Mündels Igor, während des aus. der Geschichte bekannten
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*) Oleg war ein Urmannischer Warägischer Fürst, dessen Schwester an Rurick, ersten Großfürsten von Rußland, verheirathet war. Rurik übergab ihm die Regierung und die Vormundschaft über seinen zweijährigen Sohn Igor.
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verrätherischen Zuges gegen die Kiowschen Fürsten Oskold und Dir, den ersten Grund zu der Stadt gelegt haben, und zwar an der Stelle, wo sich die Flüsse Moskwa, Jausa und Neglina vereinigen.
Zu jener Zeit war die Gegend, wo jetzt Moskwa liegt, ein Theil eines großen Waldes, und die Stelle, wo jetzt der Kreml steht, eine, von Flüssen und Morästen umgebene, Insel. Hier machte Oleg einige Anlagen, die er höchst wahrscheinlich zu einem Zufluchtsort in bedrängten Zeiten bestimmte. Sie scheinen aber in den folgenden Jahrhunderten durch die Einfälle der Bulgaren, Petschenegen und noch mehr durch die beständigen Kriege *) der Russischen Fürsten unter sich, bald wieder zerstört worden zu seyn. Wenigstens erhellt aus Susmarockows Nachrichten, daß im Jahre 1155 nur noch einige Dörfer in der Gegend lagen,
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*) Diese Kriege, welche Rußland bis an den Rand des Verderbens geführt haben, wurden dadurch veranlaßt, daß Wladimir der Große, nach der Sitte des Zeitalters, seine Staaten unter seine Kinder vertheilte, welche dieses Beispiel wieder nachahmten, so daß die Herrschaft endlich unter viele kleine Fürsten getheilt war, die aber doch einen Großfürsten unter sich anerkannten.
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die einem gewissen Stepan-Iwanowitsch Kutschko gehörten. Dieser berühmte Geschichtschreiber erzählt zugleich, daß damals der zu Kiow residirende Großfürst Jurij (Georg) Wladimirowitsch mitdemBeinahmen Dolgorukki (Langhand), eine Reise nach Susdal und Wladimir zu seinem Sohn Andrej (den er daselbst zum Fürsten eingesetzt hatte) gemacht, und an den Dörfern des Kutschko, auf beiden Ufern des Moskwaflusses, Wohlgefallen gehabt. Vorzüglich aber habe ihm die Stelle zwischen den Flüssen Moskwa, Jausa und Neglina reitzend geschienen. Noch reitzender mag er Kutschko's schöne Tochter, Ulita, gefunden haben, weil er zu gleicher Zeit den Entschluß faßte, seinen Sohn mit derselben zu vermählen, und in der Gegend bei den Gütern ihres Vaters eine Stadt zu bauen. Die erste Anlage soll er an der Stelle, wo jetzt das Snamenskische Kloster steht, gemacht, und sie, seinem Sohne zu Ehren (dem man in der Jugend den Beinahmen Kitai gab), Kitaigorod genannt haben.
Andern Nachrichten zufolge, betrug sich dieser Großfürst mit weniger Edelmuth, indem er tyrannisch den Kutschko umbringen und in einen Teich werfen ließ, von der Gegend
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Besitz nahm, und Moskwa wieder ausbaute, oder vielmehr in den Jahren 1155 bis 1157 eine ganz neue Stadt anlegte. Seit Sohn Andrej soll es sich haben angelegen seyn lassen, die neue Stadt zu vergrößern und zu verschönern. Aber dieses nützliche Vorhaben mußte in den damaligen unglücklichen Zeiten nothwendig Hindernisse finden.
Die erwähnten, mehrere Jahrhunderte hindurch dauernden Zwistigkeiten unter den Russischen Fürsten, hatten das Reich endlich so weit herunter gebracht, daß wilde Horden von nomadischen Völkern, besonders aber Mongolen und Tataren, in das Innere des Landes dringen, alles zerstören und den Beherrschern desselben Gesetze vorschreiben konnten. Oft wurden bei diesen Ueberfällen ganze Provinzen in Wüsteneien, und Städte in Ruinen verwandelt. Alle Einwohner wurden entweder ermordet oder in schimpfliche Knechtschaft geführt. Auch die Stadt Moskwa erfuhr dieses schreckliche Schicksal achtzig Jahre nach ihrer Wiedererbauung. Batü Chan, Stifter der goldnen Horde, und Enkel des berühmten Mongolischen Weltstürmers Dsingis-Chan, nahm im dreizehnten Jahrhundert die Stadt ein, verheerte sie mit barbarischer Wildheit,
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und tödtete fast alle Einwohner, oder führte sie in die Sklaverei.
Welche schreckliche Zeiten damals waren, welche Verheerungen die Wuth der Kriege anrichtete, kann man schon daraus schließen, daß, den Russischen Annalisten zufolge, gegen das Ende des Jahrhunderts keine Spur von Moskwa übrig war. Der Großfürst Daniel Alexandrowitsch, der im Jahre 1296 zur Regierung kam, baute es wieder an, und führt deswegen in der Geschichte den Beinahmen Moskowskoj, oder der Moskowische *). Dieser hatte die Gegend, nach dem Tode seines Vaters, bei einer Theilung mit seinen Brüdern, schon in seiner ersten Jugend erhalten. Er liebte den Frieden, hatte Gefühl für die Schönheiten der Natur, und lebte daher, als Uneinigkeiten unter seinen wilderen
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*) Die Russen scheinen die Sitte, Männern Beinahmen von den Ländern oder Städten zu geben, wo sie etwas Großes gethan, von den alten Römern beibehalten zu haben, so wie sie in vielen andern Sitten und Gebräuchen den alten Römern auffallend ähnlich sind. Römische große Männer hießen Africanus, Germanicus u. s. w., und Russische große Männer: Donskoj, Newsky, Sadunaisky, Krimskoj, Tschesmenskoj, Tauritscheskoj, Italinskoj, u. s. w.
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Brüdern traurige Fehden veranläßten, in der Einsamkeit auf seinen Moskowischen Gütern. Als er nach dem Tode seiner Brüder Beherrscher von ganz Rußland wurde, soll er daselbst seine Residenz genommen und im Jahre 1300 einen hölzernen Pallast haben aufbauen und den Thron von Wladimir dahin bringen lassen. Andre Geschichtschreiber sind der Meinung, daß erst dessen Sohn, der Großfürst Jurij Danilowitsch, der in Moskwa erzogen und an die angenehme Gegend gewöhnt war, den Großfürstlichen Sitz von Wladimir dahin verlegt habe. So viel erhellet indeß aus allen Zeugnissen der Annalisten, daß Moskwa erst seit der Regierung des Großfürsten Iwan Danilowitsch, mit dem Beinahmen Kilita (der Beutel), im Jahre 1328 recht empor gekommen ist. Dieser Großfürst ließ die Befestigungen der Stadt verbessern, und machte viele wichtige Anlagen zu ihrer Vergrößerung und Verschönerung, so daß sie bald nachher mit Nowogorod wetteifern konnte. Dem Baron Herberstein *) zufolge, ist dieser Großfürst
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*) Comentari della Moscovia et parimente della Russia et delle altre cose belle et notabili, composti gia latinamente, tradotti novamente di latino in lingua nostra volgare Italiana. Simelmente vici tratta della religione delli Moscoviti et in che parte quella sia differente dalla nostra benche si chiamino Christiani; item una descrittione particolare di tutto l‘imperio Moscovitico toccando ancora di alcuni luoghi vicini, come sono de Tartari, Lituani, Poloni, et altri molti riti et ordini di que popoli. Venetia, 1550. 8. p. 38. Diese seltne Italiänische Uebersetzung werde. ich allezeit citiren, weil ich das Original nicht habe erhalten können.
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von dem damaligen Metropoliten Peter in seinem Entschlusse, Moskwa zur beständigen Großfürstlichen Residenz zu machen, dadurch sehr bestärkt worden, daß er ihm große Ehrfurcht für die daselbst ruhenden Gebeine des heiligen und durch große Wunder berühmten Alexis eingeflößt hat. Diese Ehrfurcht für die Ueberbleibsel eines geschätzten Mannes, und die Sage von den Wunderwirkungen der Asche des nachher verstorbenen Metropoliten Peter, soll bei den Nachkommen des Großfürsten Iwan Danilowitsch die Vorliebe für Moskwa noch vermehrt haben. Vielleicht hat die Stadt vorzüglich diesem Glauben ihr ferneres Emporkommen zu verdanken, weil auf den trägen Geist des großen Haufens das Wunderbare und Außerordentliche gewöhnlich am
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lebhaftesten wirkt *). Auch haben die nachfolgenden Großfürsten beständig in Moskwa residirt. Der Großfürst Semen Iwanowitsch Gordii (der Stolze), welcher im Jahre 1340 von der Mongolischen Horde zur Regierung erwählt wurde, trug viel zur Verschönerung der Stadt bei, indem er viele Kirchen, Palläste und öffentliche Gebäude aufführen ließ: wozu er keine andere als Russische Künstler gebrauchte, welches zum Beweise dient, daß schon in den damaligen Zeiten unter den Russen viele brauchbare Handwerker gewesen seyn müssen **). Wahrscheinlich waren diese Gebäude nach alter Russischer Sitte nur von Holz, weswegen es auch als eine Merkwürdigkeit dieser Zeit angeführt wird, daß der berühmte Großfürst Dmitri Iwanowitsch
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*) Wie sehr ein solcher Glaube auf das Russische Volk wirkt, erhellet daraus, daß fromme Edelleute und einfältige Geistliche Petern dem Großen, als er die Stadt St. Petersburg erbauen wollte, die Einwendung machten, daß kein Heiliger daselbst begraben liege. Peter begegnete diesem Einwurf dadurch, daß er die Gebeine des Alexander Newsky von Wolodimir mit vielem Pomp herbringen ließ.
**) Müllers Sammlungen Russischer Geschichte B. 8. S. 425.
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Donskoj im Jahre 1367 den Großfürstlichen Pallast habe von Stein aufführen lassen. Ueberhaupt wurde damals die ausländische Cultur an den Höfen der Großfürsten etwas bekannt, wozu, wie es scheint, die entstandenen Handelsverbindungen mit Nowogrod und dem Hanseatischen Bunde am meisten beigetragen haben.
Indeß schmachteten die Russischen Großfürsten beständig unter dem Mongolischen Joche; und obgleich der eben erwähnte Großfürst Dmitri Iwanowitsch Donskoj im Jahre 1380 den Mamai Chan, auf den Kulikoffischen Gefilden an den Ufern des Don, in einem langen und blutigen Treffen besiegte, so hinderte dieses doch nicht, daß zwei Jahre nachher die Stadt Moskwa von dem Mongolischen Heere fürchterlich verwüstet, und alle, von mehrern Großfürsten darin gemachte, neue Anlagen zerstöret wurden.
Bei solchen häufigen Unglücksfällen konnte die Stadt nicht leicht empor kommen; indeß erholte sie sich allmählich, als die Macht der goldenen Horde zu sinken anfing, und der Großfürst Iwan Wasiliewitsch gegen das Ende des funfzehnten Jahrhunderts Rußland von ihrer übermüthigen Oberherrschaft befreite.
Nach Demüthigung der Chane von Kaptschack,
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blieben die Krimmischen und Perekopischen Tataren noch über ein Jahrhundert die fürchterlichsten Feinde Rußlands, und hinderten insbesondere das Aufkommen der Stadt Moskwa. Im Jahre 1521 erschienen, unter der Regierung des ersten Zaren und Selbstherrschers von ganz Rußland Wasilii Iwanowitsch, die Tatar-Chane Memet Gerei und dessen Bruder Sapgirei mit großen Heereshaufen, dreizehn Werste von Moskwa. Alles flüchtete: die Landleute drängten in so großen Haufen nach der Stadt, daß sie sich an den Thoren fast erdrückten. Moskwa wurde wieder von einer höchst traurigen Katastrophe bedrohet, und gewiß wäre es, beiden schlechten Vertheidigungs-Anstalten, nicht davon verschont geblieben, wenn nicht der Muth und die Geschicklichkeit eines Deutschen es dies Mal gerettet hätte. Nikolaus von Speier hieß der brave Krieger, der durch geschickte Vertheilung und genaue Richtung des Geschützes, die Feinde abhielt, und dadurch die Stadt vor der Zerstörungssucht dieser wilden Horden sicherte. Indeß mußte den Tatar-Chanen bei ihrem Abzuge ein jährlicher Tribut versprochen werden.
Traurigere Folgen hatte für Moskwa der Einfall
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der Krimmischen Tatarn, im Jahre 1571, unter der Regierung Iwans Wassiliewitsch, des Schrecklichen. Die ganze Stadt wurde in einen Aschenhaufen verwandelt, und eine unzählige Menge von Menschen verlor das Leben, worunter sich, nach Uscombe‘s *) Bericht, allein fünf und zwanzig von der Englischen Faktorei befanden. Noch mehrere wurden als Sklaven zur Krimmischen Horde abgeführt. Dieses Unglück und die unerhörten Grausamkeiten des tyrannischen Zaren Iwan Wasiliewitsch, hatten Moskwa und die ganze Gegend so entvölkert, daß nur wenige Einwohner übrig geblieben waren **). Der gelehrte Jesuit Possevin, welcher sich zehn Jahre nachher in Moskwa befand, macht eine traurige Schilderung von dem entsetzlichen Elend, das in ganz Rußland herrschte. Die Stadt Moskwa hatte von ihrer Größe so viel verloren, daß ihr Umfang nur 5,000 Schritte betrug. Rund umher lagen Ruinen, die deutlich von ihrer vormaligen Ausdehnung
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*) A letter of Richard Uscombe touching the burning of Mosco by the Crim Tartar, August 1571.
**) Müller im a. B. I Th. S. 59.
Wichelhausens Moskwa [2]
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zeugten. Die Zahl der Einwohner belief sich ungefähr noch auf 30,000.
Moskwa muß sich aber außerordentlich schnell wieder erholt haben, weil es im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts schon über 300,000 Einwohner hatte. Denn als die Polen während der entsetzlichen Anarchie von 1610 bis 1613, um sich wegen eines Aufruhrs der Einwohner zu rächen, die ganze Stadt, außer dem Schosse und den steinernen Kirchen, einäscherten, kamen dabei, nach Olearius *) Zeugniß, allein über 200,000 Menschen um. Im Jahre 1623, als Olearius zum ersten Mal hinkam, waren schon wieder vierzigtausend größten Theils hölzerne Häuser, und zweitausend Kirchen, Klöster und Kapellen vorhanden. Unter dem Zaren Alexei Michailowitsch wurden endlich die Krimmischen Tatarn gänzlich besiegt, so daß Moskwa von ihrer Zerstörungswuth nichts mehr zu fürchten hatte. Unter den folgenden Zaren nahm die Stadt ohne: Unterbrechung an Größe und Wohlstand zu, und sie würde vielleicht noch mehr empor gekommen seyn, wenn nicht
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*) Ausführliche Beschreibung der kundbaren Reise nach Muscow und Persien etc. 1626 Fol. S. 234.
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ihre schlechte Bauart von Zeit zu Zeit so große Feuersbrünste veranlaßt hätte, daß oft fünf bis sechs tausend Häuser, ja der vierte Theil der Stadt, eingeäschert wurden. Vorzüglich haben in den Jahren 1737, 1748, 1752 und 1773 Feuersbrünste großen Schaden darin verursacht.
Moskwa blieb immer die Residenz der Zaren bis auf Peter den Großen. Seitdem das schöpferische Genie dieses erhabnen Monarchen seine Nation, so zu sagen, umgeschaffen und sie in die Reihe cultivirter Völker erhoben, hat auch Moskwa angefangen, andern Europäischen Städten ähnlicher zu werden.
Freilich ist der Wohlstand von Moskwa durch die Erbayung von St. Petersburg nicht wenig verringert worden; indeß haben doch Peter der Große und seine Nachfolger viel zu dessen Vergrößerung und geschmackvollerer Anbauung beigetragen. Vorzüglich aber verdankt Moskwa der großen Kaiserin Katharina Alexewna viele vortreffliche neue Einrichtungen, und viele, Theils glänzende, Theils gemeinnützige Anstalten.
Die Statthalterschafts-Einrichtungen, wodurch diese weise Monarchin mehr Ordnung in den Verwaltungen einführte, hatte auch den
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Zweck, die kleineren Städte ihres Reiches mehr in Aufnahme zu bringen. Diese Absicht erreichte sie vollkommen, da die Bevölkerung sich mehr vertheilte. Hierdurch mußten aber natürlicher Weise die Volksmenge und der Wohlstand von Moskwa leiden. Vor dieser Einrichtung war Moskwa der einzige Aufenthalt des reichen Adels im ganzen Lande, und der Mittelpunkt, wo sich im Winter fast Alles vereinigte. Nachdem eine Menge neuer Städte durch die große Kaiserin angelegt *), die Gouvernements-Städte verschönert und durch Cultur jeder Art angenehmer geworden, ziehen viele wohlhabende Edelleute den Aufenthalt in kleinern Provinzialstädten vor, und Moskwa wird von Jahre zu Jahre immer mehr die Folgen davon empfinden. Indeß wird es wahrscheinlich immer die volkreichste, größte und wohlhabendste Stadt des Landes bleiben, da die reichsten Familien hier ihre prächtigsten Palläste und in der Gegend umher die schönsten Landgüter besitzen, da es der Mittelpunkt des inländischen und eines
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*) In den ersten drei und zwanzig Jahren ihrer Regierung sind allein zwei hundert und sechzehn entstanden, die aber freilich nicht alle mit gleichem Eifer angebauet worden.
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beträchtlichen ausländischen, besonders aber des Sinesischen Handels ist, da ferner unzählige Fabriken, Manufakturen und mannichfaltige Industrie dessen Wohlstand befördern, und da das ganze umliegende Gouvernement äußerst fruchtbar, von der Natur mit den reichsten Gaben gesegnet, und bei weitem das bevölkertste im ganzen Russischen Reiche ist.
Nach dem gewöhnlichen Gange der menschlichen Dinge hat sich also diese Stadt nur allmählich und durch das Zusammentreffen glücklicher Umstände zu dem Ansehen und dem Wohlstand erhoben, worin sie sich jetzt befindet. Aber wenige Europäische Städte sind in ihrem Zunehmen durch so große, ihnen den gänzlichen Untergang drohende, Katastrophen aufgehalten worden, wie diese Hauptstadt des Russischen Reiches; so daß man glauben muß, eine besonders über sie wachende Vorsehung habe sie erhalten.
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III.
Kurze Beschreibung von Moskwa nach den Stadttheilen; vorzüglichste Merkwürdigkeiten.
Erdwall --- Sasstawen --- Obelisken --- Eintheilungen der Stadt --- Kreml --- Pallast der alten Zaren --- Große Kanonen --- Synodsgebäude --- Senatshaus --- Zeughaus --- Wohnhaus des Metropoliten --- Klöster --- Kirchen und deren Merkwürdigkeiten --- Kitaigorod --- Läusemarkt --- Gesindemarkt --- Kaufbuden --- Börse --- Kirchen und Klöster --- Synodsbuchdruckerei und andere öffentliche Gebäude --- Beloigorod --- Findelhaus --- Universität --- Volksschule --- Geheime Expedition --- Archiv und andere Krongebäude --- Vögelmarkt --- Semlenoigorod --- Vorzüglichste Merkwürdigkeiten dieses Stadttheils --- Vorstädte --- Neuer Kaiserlicher Palast --- Klöster und Kirchen --- Demidows Pallast nebst dem botanischen Garten --- Apotheker-Garten --- Hospitäler --- Begräbnißplätze.
Moskwa mit seinen Vorstädten ist von einem Graben und Erdwall (Kammerkollegs-Koj-Wall genannt) umgeben, welcher aufgeworfen worden ist, um den Schleichhandel mit Branntwein zu verhüten.
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Bei der Einfahrt siehet man zwei in einem edlen Styl erbaute Wachthäuser (Sasstawi) und schöne Obelisken mit vergoldeten Adlern, die wie einige Barrieren von Paris, dem ankommenden Fremden sogleich eine vortheilhafte Idee von der Stadt beibringen. Diese geschmackvollen Verzierungen hat man dem Generalgouverneur Grafen Tscherntschew zu verdanken.
Nach der Polizeiordnung vom Jahre 1712 wird Moskwa in zwanzig Haupttheile und acht und achtzig Quartiere eingetheilt. Ich werde aber die ältere und allgemein bekannte Eintheilung befolgen, nach welcher es aus vier Haupttheilen, von denen einer den andern umgiebt, und aus dreißig Vorstädten besteht.
Den ersten Theil der Stadt macht die Festung aus, welche, nach dem Tatarischen, Kreml genannt wird. Sie hat eine hohe freie Lage, und ist mit einem Graben und mit Mauern umgeben.
Auf der Südseite bespühlt ihre Wälle der Moskwafluß, und auf der Nordseite der Fluß Neglina, welcher daselbst bei dem Alexeewschen Thurme in den Moskwafluß fällt.
Die Gestalt der Festung ist, ein unregelmäßiges Vieleck, welches an jeder Seite einen
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Gothischen Thurm hat. Durch fünf große Thore und zwei Brücken steht sie mit den andern Stadttheilen in Verbindung. Diese Thore heißen: das Nikolskische, das Spaskische, das Troizkische, das Borowizkische, und Tainazkische.
Durch das Spaskische Thor darf keitie Mannsperson passiren, ohne den Kopf zu entblößen und dies, wegen eines dort befindlichen Marienbildes, welches ehemals durch seine plötzliche Erscheinung die Tataren auf eine wunderbare Art vertrieben haben soll. Daß es hiermit ernstlich gemeint ist, erfuhr ich, als ich einst aus Zerstreuung den Hut nicht abnahm, und von der Schildwache durch eine sehr merkbare Bewegung des Bajonnets an meine Vergeßlichkeit erinnert wurde.
Das größte und merkwürdigste Gebäude in der Festung ist der Pallast der alten Zaren, der zuerst im Jahre 1300 durch den Großfürsten Danila Alexandrowitsch von Holz aufgeführt gewesen, nachher aber auf Befehl des Großfürsten Dmitri Iwanowitsch Donskoj, im Jahre 1367 abgebrochen und von Steinen erbauet worden ist. Der Zar Iwan Wasiliewitsch erweiterte und verschönerte ihn im Jahre 1488.
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Als ich ihn sah, zeugte sein ganzes Ansehen von dem Gothischen Geschmacke der Zeiten, worin er erbauet worden ist. Doch war seine Bauart nicht einmal im erhabenen Gothischen Styl, wie so viele durch ihre Größe Ehrfurcht erregende Kirchen und andre Gebäude in Italien und Deutschland. Er war unregelmäßig, kleinlich, und schien aus mehreren Gebäuden planlos nach und nach zusammengesetzt worden zu seyn. Im Jahre 1792 bemerkte man Spuren von der Gewalt der Alles zerstörenden Zeit, welche schon mehrere Stellen in Trümmer aufgelöset hatte. Kaiser Paul Petrowitsch, dem Alles, was das Gepräge der Vorwelt hatte, heilig war, ließ ihn --- wahrscheinlich aus diesem Grunde --- wieder herstellen und zur Aufnahme der Kaiserlichen Familie einrichten.
In einigen Sälen dieses Pallastes sieht man Kostbarkeiten der vormaligen Großfürsten und Zaren, und Geschenke von der Ottomannischen Pforte; in andern viele alte, zum Theil sehr sonderbare, Rüstungen, worunter einige von Kaukasischen, Mongolischen und andern Asiatischen Völkern herrühren.
Nicht weit von dem Pallaste siehen unter einer Reihe hoher Arkaden fünf
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außerordentlich große Kanonen, von denen eine sogenannte Feldschlange 2400 Pud, oder 96,000 Russische Pfund, wiegen soll.
Außerdem sind im Kreml noch mehrere Gebäude, von denen ich die merkwürdigsten nennen will:
1. Das Synodsgebäude, worin vor Zeiten die Patriarchen wohnten. Hierin ist eine Bibliothek mit vielen alten Russischen, vorzüglich alten Griechischen Manuskripten, welche aus einem Kloster auf dem Berge Athos in Macedonien herstammen. Der berühmte Professor Matthäi in Wittenberg hat während seines Aufenthalts in Moskwa die seltne Gelegenheit gehabt, sie zu benutzen, und über ihren Inhalt dem Publikum interessante Aufschlüsse mitgetheilt.
2. Das Senatshaus, welches von der Kaiserin Katharina Alexiewna im modernen Geschmack aufgeführt worden, und einen großen Effekt macht. Hierin ist, unter andern schönen Zimmern, die zum Gebrauche des Senats bestimmt sind, ein großer runder Saal, mit ungemein schönen Verzierungen in bas-relief.
3. Das Zeughaus, gleichfalls im modernen
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Styl gebauet, hat durch eine Feuersbrunst viel gelitten.
4. Das Wohnhaus des Metropoliten, ein geschmackvolles Gebäude, welches mit dem Nonnenkloster Wosnesenkoj zusammenhängt.
5. Das Mönchskloster Tschudow, in dessen Nebengebäude sich das Consistorium versammelt.
6. Das Nonnenkloster Woschesenkoj, oder zur Auferstehung Christi. Hierin hielt sich die Mutter des Zaren Michael Fedorowitsch während der letzten Jahre ihres Lebens auf. Auch liegen hier mehrere Großfürstinnen und Zarinnen begraben.
7. Es sind im Kreml zwei und dreißig Kirchen, und bei jeder befinden sich fünf Thürme, die mit dreifachen Kreuzen und andern Insignien der Kreuzigung Christi versehen, und an denen die Kuppeln entweder mit Gold- und Silberplatten belegt, oder mit verschiedenen Farben übermahlt sind.
Der größte unter den Thürmen, welcher über alle andern majestätisch hervorragt, heißt Iwan weliki, oder der große Johann. Zu diesem Thurme gehören allein zwei und zwanzig Glocken.
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Die größte darunter; und vlelleicht die größte in der Welt wurde auf Befehl der Kaiserin Anna Iwanowna gegossen, und wiegt 480,000 Russische Pfund. Sie ist aber bei der Feuersbrunst von 1737 herunter gefallen, und liegt jetzt tief in die Erde versunken *).
Unter den Kirchen sind die Soborren, oder Kathedralkirchen, die merkwürdigsten. Sie heißen Uspenskoj oder zur Himmelfahrt Mariä, Archangelskoj oder zum Erzengel Michael, Spaskoj oder zum Heiland, Blagoweschtschenskoj oder zur Verkündigung, Stretenskoj oder zur Reinigung Mariä, und Spas. Nikolskoj Galstunstoj oder zum Heiligen Nikolaus.
In den ersten dieser Soborren werden
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*) Macquart sagt in seiner sogenannten Topographie von Moskwa, daß 180 Menschen nöthig gewesen wären, um diese ungeheure Glocke in Bewegung zu setzen. Schon aus diesem an und für sich geringfügigen Umstande sieht man, wie wenig sich dieser Französische Reisebeschreiber nach der wahren Beschaffenheit der Dinge erkundiget hat. In Moskwa werden die Glocken nicht, wie in andern Ländern, geläutet, sondern bloß der Klöppel derselben in Bewegung gesetzt, wozu selbst bei der größten Glocke eine einzige Person hinreicht.
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die größten Kostbarkeiten aufbewahrt. Die vorzüglichsten darunter sind ein silberner Leuchter, der 2800 Pfund wiegt, und von der vormaligen Republik Venedig an den Zaren Boris Födorowitsch Godunow als Geschenk überschickt worden ist; ein altes Gemählde, welches eine Madonna mit ihrem Kinde vorstellt, und von dem Apostel Lukas *) mit eigner Hand gemahlet seyn soll; ingleichen sehr reiche Meßgewänder. Auch werden in dieser Kirche die wichtigsten Griechischen Kirchenfeste und Gebräuche auf das feierlichste begangen, besonders aber das Fußwaschen, welches der Metropolit am Grünendonnerstage fast auf dieselbe Weise verrichtet, wie in Rom der Pabst in der Sixtinischen Capelle des Vaticans. Siegesfeste und Nahmensfeste der Kaiserlichen Familie werden in dieser Kirche mit vorzüglicher Pracht gefeiert, und die Krönung der Kaiser muß allezeit darin geschehen.
In der Soborre zum Erzengel Michael sieht man die für heilig gehaltenen Reliquien des ermordeten Zarewitsch (Prinzen) Dmitri, und viele steinerne Särge der Großfürsten
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*) Der Apostel Lukas muß ein ungemein fleißiger Mahler gewesen seyn, da in sehr vielen Italiänischen Städten Gemählde von seiner Arbeit vorgezeigt werden.
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und Zaren der Vorzeit: Die übrigen Sodorren sind weniger merkwürdig, aber doch mit vielen prächtigen Kirchengeräthen versehen *).
Der zweite Haupttheil der Stadt heißt Kitaigorod: eine Benennung, über deren Etymologie die Sprachkundigen uneinig sind. Einige leiten sie von dem Worte Kitai ab, (welches so viel als China bedeutet); und zwar deswegen, weil hier vormals die Hauptniederlage des Chinesischen Handels war. Indeß ist dies eine bloße Muthmaßung, die nicht erwiesen werden kann. Viel wahrscheinlicher ist es, daß dieser Stadttheil von dem Großfürsten Georg Wolodimirowitsch --- nach einem Beinahmen, den dessen Sohn in den Jugendjahren führte --- so benannt worden ist; und dieser Meinung pflichtet auch der
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Da die Beschreibung solcher Gebäude-und ihrer Merkwürdigkeiten nicht eigentlich zu meinem Plan gehört, so verweise ich den Leser desfalls auf des berühmten Moskowischen Professors Heym Versuch einer vollständigen geographisch-topographischen Encyklopädie des Russischen Reiches nach alphabetischer Ordnung, Artikel Moskwa, und auf Fischers Skizze von Moskwa, Eben so berühre ich viele merkwürdige öffentliche Anstalten nur mit wenigen Worten, weil hier nicht der Ort ist, ausführlicher davon zu reden.
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berühmte Russische Geschichtschreiber Sumarokkow bei.
Kitaigorod liegt etwas niedriger, als die Festung, und beschreibt einen Halbzirkel um dieselbe. Wegen der Nähe der Kaufbuden und der Hauptmarktplätze, wird dieser Stadttheil meistens von Handelsleuten bewohnt. Fast alle darin befindliche Gebäude sind von Stein, und nahe an einander gebauet, daher die Luft, besonders in den Nebengassen mehr eingeschlossen ist, als in andern weitläufiger gebauten Stadttheilen.
Indeß wird der Nachtheil, welcher hieraus für die Gesundheit entsteht, durch mehrere große, freie Plätze, die der Erneuerung der Luft sehr günstig sind, wieder aufgewogen.
Auf diesen Plätzen stehen eine Menge Kaufbuden. Nicht weit von einem derselben ist der sogenannte Läusemarkt, der diese widerliche Benennung daher haben soll, weil vormals das gemeine Volk sich auf demselben die Haare abschneiden ließ. Jetzt sind daselbst Trödelbuden aller Art; auch kann man dort leibeigne Bedienten und Mägde für Miethe und zum Kauf bekommen.
Ueberhaupt ist fast dieser ganze Stadttheil mit Kaufbuden und Kramläden angefüllt. Die
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meisten derselben sind in zwei ungeheuer großen Gebäuden vereinigt, und an der Außenseite mit übereinander gebaueten Reihen von hohen Arkaden umgeben. Inwendig bilden sie große, freie Plätze, die mit unzähligen, sich in verschiedenen Richtungen durchkreuzenden, Reihen von hölzernen Krambuden besetzt sind. In diesen verschiedenen Reihen von Buden ist das Jahr hindurch Alles feil, was man auf den größten Messen in Europa antrifft. So findet sich zum Beispiel hier Alles beisammen, was erforderlich ist, in wenigen Stunden das größte Haus bequem und prächtig zu meubliren, sich in wenigen Minuten vollständig zu kleiden, kurz Alles, was zu den Bedürfnissen des Lebens und des Luxus gehört. Besondere Reihen von Buden sind für alle Russische Produkte und Fabrikate bestimmt, so wie für diejenigen, welche der Handel aus ganz Europa und aus andern Welttheilen herbeischafft. Unter andern gibt es auch Reihen von Wechslerbuden, worin man jede Münzsorte umsetzen und oft seltne Medaillen und Münzen kaufen kann.
Auch ist eine Reihe von Buden da, worin bloß Kreuze, Christus- und gemahlte Marien-Bilder, wie auch Bilder von St. Nikolaus und andern Heiligen, ferner verschiedene
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Gattungen von Wachskerzen, desgleichen gedruckte Beglaubigungsschreiben, die man den Verstorbenen, wenn sie im Sarge liegen, in die Hand gibt, u. s. w., in Menge verhanden sind *).
Alle Krämer in diesen Buden sind National-Russen. Sonderbar ist es, daß man nie Frauenzimmer darunter sieht, wie in andern Ländern. Fremde Kaufleute trifft man deswegen hier nicht an, weil sie das ausschließliche Privilegium haben, ihre Waaren in ihren Häusern zu verkaufen.
Während des Winters sind diese Buden meistens nur sehr kurze Zeit eröffnet, weil die Polizeigesetze nicht erlauben, Feuer darin zu haben, oder, wenn es dunkel wird, Licht darin anzuzünden: eine sehr weise Einrichtung, Feuersgefahr zu verhüten.
Ehemals versammelten sich die Kaufleute auf einem großen Hofe, der zum Einpacken von Waaren bestimmt ist; jetzt haben sie eine schöne, im modernen Geschmack erbaute Börse.
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*) Diese zu den religiösen Verhältnissen der Griechischen Kirche gehörigen Sachen werden aber nicht verkauft, sondern (wie man sich auszudrücken pflegt) ausgetauscht.
Wichelhausens Moskwa. [3]
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Die übrigen merkwürdigen Gebäude dieses Stadtheils sind:
1. Die Kathedralkirchen Pokrow und zur Kasanischen Mutter Gottes.
2. Die Klöster Bogojawlenskoj, Gretscheskoj, Saikonospaskoj und Snamenskoj. In dem Saikonospaskischen Kloster befindet sich ein Slavonisch-Griechisch-Lateinisches Gymnasium, welches für junge Geistliche bestimmt ist.
3. Die Synods-Buchdruckerei, worin eine sehenswürdige Sammlung alter Kirchen- bücher ist; das Gouvernements-Gebäude und die verschiedenen Gerichtsstellen, das Zollhaus, und viele andere große und prächtige Privatgebäude. Kitaigorod wird durch eine hohe Mauer mit einem Erdwall, welche unter der Regierung des Zaren Iwan Wasiliewitsch im Jahre 1578 aufgeführt worden, von dem dritten Stadttheil abgesondert. Vier Pforten oder Thore führen nach diesem Haupttheile der Stadt, welcher Kitaigorod einschließt. Er heißt Beloigorod, oder die weiße Stadt, von einer weiß angestrichenen Mauer, die unter dem
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Zaren Födor Iwanowitsch im Jahre 1586 aufgeführt war, endlich durch die Wirkung der Zeit verfiel, und deswegen gänzlich abgebrochen worden ist. Der Platz wird jetzt durch Alleen von Bäumen verschönert, die ihm einige Aehnlichkeit mit den Boulevards in Paris geben. Beloigorod liegt größten Theils in einer Niederung, wo vormals Moräste waren, und umschließt Kitaigorod. Ungeachtet seiner nicht vortheilhaften Lage, hat dieser Stadttheil viele und sehr große öffentliche Gebäude. Unter diesen sind merkwürdig:
1. Das Findelhaus, welches das größte Gebäude in Moskwa ist und den dritten Theil einer Deutschen Meile einnimmt.
2. Die Universität mit zwei Gymnasien.
3. Die Volksschule.
4. Die Operapotheke.
5. Die geheime Expedition. Dies ist noch ein Ueberrest der von Peter III., abgeschafften geheimen Inquisition.
6. Das Archiv. Hierbei ist eine Bibliothek, welche vorzüglich auf die Russische Geschichte Bezug hat, und durch die Bibliothek des bekannten Historikers Müller vermehrt worden ist. Bei diesem Archiv
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war der berühmte Staatsrath Stritter angestellt *).
7. Die Assignationsbank.
8. Die Salzniederlage.
9. Das Moskowische Deutsche Postamt.
10. Der Artilleriehof.
11. Die Münze.
12. Die Senatsbuchdruckerei.
13. Das Haus des adeligen Clubs, und das Theater. In diesem Stadttheile sind drei große freie Plätze, wovon der eine Ochotnoi Räd (Vogelmarkt) heißt. Dieser dient zum Markt für Sing- und Raubvögel, zahmes und wildes
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*) Er arbeitete an einer Geschichte des Russischen Reiches, die meines Wissens noch nicht im Druck erschienen ist, ob er gleich im Jahre 1792 drei Bände seines Manuscripts nach Petersburg geschickt hatte. Kurz vor dieser Zeit hatte man aus dem Archiv alle Manuscripte, welche Aufklärungen über die Russische Geschichte enthielten, nach Petersburg bringen lassen. Mein jetzt verewigter Freund äußerte mir oft seinen Unwillen über die wahrscheinliche Unterdrückung seines Manuscripts. Gewiß darf man von der Bekanntmachung desselben viele Aufschlüsse über die Russische Geschichte erwarten, da der Fleiß und die Einsichten des Verfassers im historischen Fache, durch dessen Auszüge aus den Byzantinern, in ganz Europa bekannt sind.
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Federvieh, Hunde und Katzen. Zuweilen gibt es hier auch Wölfe, Füchse, Bären und andere wilde Thiere zu verkaufen. Der vierte Haupttheil der Stadt heißt Sämlänoi Gorod, oder die mit Erdwällen umgebene Stadt, und zwar wegen des ihn umschließenden Erdwalls, den der Zar Födor Iwanowitsch in den Jahren 1591 und 1592, um die Einfälle der Crimmischen Tatarn leichter abzuhalten, hat aufwerfen lassen. Dieser Erdwall hat vier und dreißig hölzerne und zwei steinerne Thore oder Pforten *), die aber jetzt bis auf zwei verbrannt oder zerstört sind. Dieser Stadttheil umschließt Beloigorod, Kitaigorod und den Kreml auf beiden Seiten des Moskwaflusses. Die Zaren Peter Alexejewitsch und Iwan Alexejewitsch ließen, wahrscheinlich durch einen gewissen Sucharew, einen Gothischen Thurm über einem dieser Thore erbauen, der unter dem Nahmen Sucherewa basne, oder der Thurm des Sucharew, bekannt ist, und wo sich das Admiralitätscomptoir und das Observatorium befinden.
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*) In Moskwa nennt man sie Warot, welches eigentlich Pforte heißt, weswegen ich beide Benennungen brauche.
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In diesem Stadttheile zeigt sich ein auffallender Contrast in der Bauart. Neben großen, prächtigen Pallästen, stehen kleine Hütten, welche den Hütten des Landmannes ähnlich sind. Die merkwürdigsten Gebäude dieses Stadttheils sind:
1. Die Nonnenklöster Satschateiskoj und Strastnoi.
2. Das Kriegscommissariat.
3. Der Pallast der Asiatischen Gesandten.
4. Zehn kleine Kaufhäuser mit vielen Buden. In diesem Stadttheile sind die meisten öffentlichen Bäder und vier große Teiche. Sämlänoi Gorod ist mit dreißig Vorstädten umgeben, welche die Hälfte von dem Flächentinhalte der Stadt ausmachen. Sie sind nicht so nahe an einander gebauet, daß nicht große Lücken dazwischen seyn sollten; auch findet man hier viele unbebauete Plätze, die doch zum Umfange der Stadt gezählt werden. Indeß vermindern sich die wüsten Stellen von Jahre zu Jahre. Schon bei meiner Anwesenheit in Moskwa sah ich oft mit Erstaunen ganze Reihen von Häusern in Gegenden, wo ein Jahr vorher alles öde gewesen war. Und höchst wahrscheinlich wird Moskwa immer mehr an Größe
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zunehmen, da man unter der Regierung des jetzigen weisen Monarchen einen langen Frieden und glückliche Zeiten erwarten kann. In den Vorstädten sind die meisten Fabriken angelegt. Die merkwürdigsten Gebäude darin sind folgende:
1. Der große Kaiserliche Pallast, welcher unter der Regierung der Kaiserin Katharina von einem Italiänischen Baumeister aufgeführt worden. Er ist inwendig noch nicht ausgebauet und wird wahrscheinlich nie ausgebauet werden, weil er schon anfängt zu verwittern, wozu seine Lage in einer morastigen Gegend, und die Beschaffenheit des lockern Kalksteins, woraus er gebauet ist, vieles beitragen. Nicht weit davon, jenseits der Jausa, liegt der große Kaiserliche Hofgarten, welcher geschmackvoll angelegt ist und schöne Spaziergänge hat.
2. Fünf Mönchsklöster, worunter eins, Prokrowskj genannt, ein Seminarium für Griechische Geistliche hat, und ein Nonnenkloster (Nowodewitsche Monaster) von großem Umfange, welches in einer pittoresken Gegend auf dem sogenannten Jungfrauenfelde (Dewitschepole) liegt.
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Im letztern wohnen viele Russische Damen, die ihr Leben in der Einsamkeit beschließen wollen, ohne gänzlich an die strengen Regeln des Klosters gebunden zu seyn.
3. Das ehemalige Senatsgebäude, welches der Fürst von Besborodko in einen prächtigen Pallast verwandelt hat.
4. Der Pallast des berühmten Demidow, mit dem dazu gehörigen vortrefflichen botanischen Garten, dessen Beschreibung der Ritter von Pallas herausgegeben hat.
5. Der Apotheker-Garten, wobei eine Fabrik von chirurgischen Instrumenten ist.
6. Das Invalidenhaus.
7. Das Militair-Hospital.
8. Das Katharinen-Hospital.
9. Das Paulsche Hospital.
10. Vier Kirchen nicht von der Griechischen Confession: eine reformirte, eine katholische und zwei lutherische. Unter den Vorstädten sind die Grusinische, die Tatarische und die Deutsche merkwürdig. Uebrigens sind diese Vorstädte nicht bloß von Grusinern, Tataren und Deutschen bewohnt, welche, nach den Verhältnissen ihrer verschiedenen Geschäfte, auch in andern Gegenden
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von Moskwa Wohnungen haben, so wie auf der andren Seite mehrere Russen in diesen Vorstädten wohnen. Am äußersten Ende der Vorstädte sind zwei Russische Begräbnißplätze und ein Deutscher. Die Russischen heißen zur Unterscheidung von einander Staroobrädzow und Semenowkon. Sie sind hinreichend von den bewohnten Gegenden entfernt, so daß von ihren Ausdünstungen nichts für die Einwohner von Moskwa zu befürchten ist.
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IV.
Größe, Bauart und Straßen.
Umfang und Durchmesser --- Anzahl der Straßen und Gebäude --- Abenteuerliche Bauart --- Zwischenräume der Häuser --- Anzahl der Gebäude in vorigen Zeiten --- Häusermarkt --- Gesundheit hölzerner Wohnungen --- Einfache Erbauungsart derselben --- Steinerne Häuser --- Ukas darüber --- Feuersbrünste --- Geschmack in Ansehung der Häuser --- Fensterscheiben --- Hofraum --- Wohnungen der Leibeignen --- Baumaterialien --- Ungesundheit feuchter Häuser --- Neuer Vorschlag, frisch gebauete Häuser der Gesundheit unschädlich zu machen --- Straßen --- Promenaden --- Steinpflaster --- Trottoirs --- Erleuchtung --- Unreinlichkeit der Gassen --- Sicherheit derselben --- Butterschnicki --- Vorkehrungen gegen Feuersgefahr --- Polizei.
Moskwa ist ohne allen Zweifel die größte Stadt in Europa. Ihr Umfang beträgt vierzig Werste, oder 5 5/7 Deutsche Meilen *). Der größte Durchmesser von dem äußersten Ende der Deutschen Vorstadt (Slobode), bis an das Ende des
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*) Der Perimeter von Paris macht nur 8½ Französische Meilen aus.
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Jungfrauenfeldes (Dewitschepole) ist elf Werste und dreißig Faden, oder 1 4/7 Deutsche Meilen und dreißig Faden; der kleinste, sieben Werste und dreihundert Faden, oder eine Deutsche Meile und dreihundert Faden groß. In diesem weiten Umfange befinden sich 64 Haupt- und 521 Nebengassen, nehmlich: in Kitaigorod 4 Haupt- und 12 Nebengassen; in Beloigorod 13 Haupt- und 86 Nebengassen; in Semliägorod 19 Haupt- und 198 Nebengassen; und in den dreißig Vorstädten 28 Haupt- und 225 Nebengassen. Mehrere der Hauptgassen sind über eine halbe Meile lang. In diesen Gassen findet man 10 Soborren oder Kathedralkirchen, 275 Pfarrkirchen, 15 Mönchs- und 9 Nonnenklöster, 56 öffentliche Gebäude, 9 Marktplätze mit 6450 Krambuden, ungefähr 8360 Wohnhäuser, 285 gemeine Gasthöfe, 79 Fuhrleutehöfe, 199 Garküchen, 162 Kabacken (Trinkhäuser), 64 öffentliche Bäder, 216 Fabriken, 194 Bierbrauereien und Malzdarren, 115 Schmieden, und überhaupt 10,000 Gebäude, worunter man doch nur 2000 steinerne rechnen kann. So wie das nach einem harmonischen Plan erbaute St. Petersburg die schönste Stadt in Europa ist, indem mehrere Theile
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darin an Erhabenheit und Geschmack den Werken des alten Roms nichts nachgeben, so ist Moskwa, in Rücksicht auf Bauart, zuverlässig die sonderbarste und abenteuerlichste. Moskwa trägt das Gepräge der Zeiten, worin es erbauet wurde, und der wechselnden Schicksale, die es im Laufe von Jahrhunderten betroffen haben. Die Masse der im mannichfaltigsten Geschmack errichteten Gebäudemacht also kein harmonisches Ganze aus. Neben uralten Gothischen, Ehrfurcht erregenden Ueberbleibseln der grauen Vorzeit, sieht man Häuser und Palläste im leichten gefälligen Französischen Geschmack. So werden Reihen von Gebäuden im edelsten Italiänischen Styl, die eines Palladio nicht unwürdig wären, von einzelnen dazwischen liegenden echt Russischen Häusern unterbrochen. Zwischendurch erheben sich Gebäude, an deren Compositionen das Europäische Auge nicht gewöhnt ist, und die wahrscheinlich aus Zeiten herrühren, wo Mongolen oder andere Asiatische Völker die Tongeber waren. Hiermit contrastiren einzelne, im romantischen Geschmack gleichsam hingezaubert scheinende Palläste, die sich auf Anhöhen stolz erheben und Terrassen rings zum sich haben, auf denen die reitzendsten, in Englischer
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Marnier angelegten Gartenpartieen, mit Teichen, Grotten, Cascaden und Springbrunnen abwechseln. Bald stößt man auf öde Plätze, welche an die vormaligen Tatarischen und Polnischen Verwüstungen erinnern; und bald erblickt man zwischen Reihen kleiner hölzerner Häuser, ungeheure Gebäude, die den Raum mancher kleinen Stadt einnehmen. Was aber den abenteuerlichen Effekt vollendet, den der Anblick dieser sonderbaren Stadt gewährt, sind die in originellem Styl erbauten Kirchen, Kapellen und Thürme, die sich fast bei jedem Schritt dem Auge darstellen. Wäre Moskwa so bebauet, wie London, Paris und andere große Städte, wo die Häuser fast durchgängig aus mehreren Stockwerken bestehen und ganz nahe an einander liegen: so würde es alle Städte in Europa an Menge der Wohnungen übertreffen. Dies ist aber nicht der Fall: die Häuser stehen, wenn man etwa Kitaigorod und einige Gegenden in andern Stadttheilen ausnimmt, ziemlich weit aus einander , und sehr viele haben nur Ein Stockwerk. Ueberdies sind dabei fast durchgängig große Höfe, welche die Moskowische Lebensart unentbehrlich macht, und weitläufige Gärten. Diese Bauart: nach Orientalischem Geschmack,
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ist bei weitem vorzüglicher, als die in andern Europäischen Städten gewöhnliche, wo man oft den erquickenden Einfluß reiner Luft und der Alles belebenden Sonne entbehren muß. Die Zahl der Gebäude, welche sich auf 10,000 beläuft, war vormals weit beträchtlicher. Zu Anfange des sechzehnten Jahrhunderts fand man in Moskwa, nach Herberstein *), 41,500, und später, nach andern Schriftstellern, 50,000 Häuser. Wenn man aber hieraus (wie es einige wenig unterrichtete Französische Schriftsteller thun) auf die Abnahme der Stadt schließen wollte, so würde man sich sehr irren; denn jene kleinen, größten Theils hölzernen, Häuser der einfach nach ihren alten Sitten lebenden damaligen Moskowiter, wird man doch nicht mit den schönen stattlichen Häusern und den üppigen in dem modernsten Italiänischen und Französischen Geschmack aufgeführten Pallästen der jetzigen, durch fremden Luxus verfeinerten, Einwohner von Moskwa vergleichen wollen? --- Auch nur von jenen kleinern hölzernen Häusern der älten Moskowiter, gilt die in so vielen Schriften erzählte und oft nachgebetete
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*) Com. della Moscovia p. 58. a.
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Anekdote, daß man ganze Häuser auf dem Häusermarkte kaufen könne. Freilich sind die Häuser und Palläste noch größten Theils von Holz; aber, ohne sie gesehen zu haben, kann man sich keine Vorstellung davon machen, wie geschmackvoll und bequem sie meistens eingerichtet sind. Die Russen halten die hölzernen Häuser der Gesundheit für zuträglicher, als die steinernen, und unter den gehörigen Bedingungen haben sie nicht ganz Unrecht. Degwegen findet man auch häufig steinerne Häuser, an welche aus diesem Grunde hölzerne Flügel gebauet sind. Die Russen verfertigen ihre hölzernen Häuser, gleich den alten Spartanern *), auf eine sehr einfache Weise. Ihre Zimmerleute (Plotniki) sind eigentlich Bauern, welche dieses Geschäftes wegen in die Stadt kommen. Sie wissen, bloß mit dem Beil und einigen wenigen andern Instrumenten, die Fichtenstämme durch Einschnitte an den Ecken so zusammen zu fügen; daß sie ganz genau passen; sie legen die Balken so über einander; daß das Stammende
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*) Nach einem Gesetze des Lykurgus durfte beim Bau der Häuser nur das Beil und die Säge gebraucht werden.
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des einen auf das Gipfelende des andern zu liegen kommt, und verstopfen die Ritzen mit Moos und Hanf, um den Durchzug der Luft abzuhalten, wie man es beim Schiffsbau zu thun gewohnt ist. Die Dächer werden von Holz, doch zu weilen auch von Eisenblech gemacht, welches letztere bei Feuersgefahr sehr nützlich ist. Wenn diese Häuser nicht ein steinernes solides Fundament haben und der Boden nicht mit Sand oder Steingrus beschüttet worden, so ist es darin, nach meiner Erfahrung, bei feuchter Witterung sehr ungesund, weil alsdann die Ausdünstungen der feuchten Erde durch den Fußboden dringen, und, besonders wenn das Haus geheitzt ist, die Luft mit schädlichen Partikeln anfüllen. Auch entstehen in diesen so gebaueten Häusern am häufigsten Ruhren und asthenische Katharrhalfieber. Vor dem Großfürsten Wladimir Swätoslawitsch dem Großen kannte man in Rußland nur hölzerne Häuser. Unter seiner Regierung wurden zuerst Handwerker aus Constantinopel verschrieben, um die Kunst, mit Steinen zu bauen, einzuführen. Indeß ist in dem folgenden Jahrhundert nur wenig aus Stein gebauet worden, bis am Ende des siebzehnten
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der große Galitzin, welcher während der Minderjährigkeit des Zaren Födor Alexewitsch Minister war, diesen Gebrauch allgemeiner machte, und die Bauart anderer cultivirter Länder einführte *). Jetzt sieht man in den großen Hauptstraßen viele prächtige, nach dem modernsten Geschmack aufgeführte, steinerne Häuser und Palläste. Es ist durch einen Ukas (Befehl) der Kaiserin Katharina Alexiewna sogar verboten, in Hauptstraßen von Holz zu bauen, oder nur eine Reparatur zu machen. Wirft der Wind das Dach herunter, fällt die Hausthür ein, oder entsteht an einem Hause irgend ein beträchtlicher Schade in einer Gegend, wo nicht von Holz gebauet werden darf, so ist es dem Eigenthümer nicht erlaubt, eine Reparatur vorzunehmen, sondern er muß sich entweder der rauhen Witterung aussetzen oder das ganze Haus niederreißen und von Stein aufbauen lassen. Trifft nun ein solcher Unfall einen vermögenden Mann, so ist noch Hülfe da; aber ein armer wird dadurch in nicht geringe Verlegenheit gesetzt.
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*) De la Neuville rélation curieuse et nouvelle de Moscovie, 1699, p. 175. Wichelhausens Moskwa. [4]
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Obgleich bei dieser strengen Polizeieinrichtung manche Einzelne leiden, so ist doch darin eine äußerst wohlthätige, das allgemeine Beste bezweckende, Absicht nicht zu verkennen. Auch verspricht die von der Regierung angeordnete Commission, welche die Plane der neuen Gebäude untersuchen muß, viel Gemeinnütziges, zur fernern Verschönerung der Stadt. Seit dieser weisen Einrichtung sind die Feuersbrünste nicht mehr so häufig, und greifen selten so weit um sich, als in vorigen Zeiten, und als in Gegenden der Stadt, wo es noch erlaubt ist, hölzerne Häuser zu bauen. Während meines Aufenthaltes in Moskwa brannten indeß verschiedene Male dreißig und mehr Häuser auf einmal ab. Man gab sich nicht die Mühe, den Brand zu löschen, sondern riß die benachbarten Häuser nieder, um der weitern Ausbreitung desselben vorzubeugen. Vormals, als Moskwa noch fast keine andere als hölzerne Häuser hatte, zerstörten die Feuersbrünste oft ganze Stadttheile. Noch zu Olearius *) Zeiten waren sie so häufig, daß, nach seinem Berichte, kein Monath,
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*) Ausführliche Beschreibung der kundbaren Reise nach Muscow und Persien u. s. w. S. 144.
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ja keine Woche verfloß, worin nicht einige Häuser, und bei starkem Winde ganze Gassen, abbrannten. Die damaligen steinernen Palläste und Häuser hatten deswegen zur Vorsicht sehr dicke Mauern, und ganz kleine Fenster, die mit eisernen Thüren verschlossen werden konnten; und die Dächer waren mit Eisenblech bedeckt, wie man dergleichen Häuser noch viele sieht, besonders in den Straßen bei der sogenannten Schmiedebrücke (Kusenetzki most), wo meisten Theils Russische Kaufleute wohnen. Bei den neu gebaueten steinernen Häusern ist fast durchgehends ein guter Geschmack befolgt, und viele Palläste können mit denen in Florenz und Rom um den Vorzug streiten, vorzüglich der Gallizinsche, Demidowsche, Paskowsche , Daskowische, Rasumoffskysche und Besborodkysche. Einige sind auch ungeheuer groß, zum Beispiel der Scheremetiewsche. --- Obgleich die Erbauer den Geschmack der Ausländer befolgt haben, so merkt man doch in manchem noch so schönen Hause oder Pallaste, daß man nicht in England, Holland oder in einem andern Lande ist, wo Solidität und Uebereinstimmung geachtet werden. Es ist Alles nur zum äußern Schein, leicht, und meistens nicht in allen einzelnen Theilen vollendet.
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So sieht man z. B. in mehreren prächtigen Pallästen, worin die Zimmer krystallene Kronleuchter und Prachtlampen, große Wandspiegel, Camineinfassungen von Carrarischem Marmor oder Porphyr, und andre theure Verzierungen haben, Fenster, die nicht schließen, Thüren ohne Schlösser, Fußböden, die gespalten oder sehr holperig sind, u. s. weiter. Jetzt hat man durchgängig gläserne Fensterscheiben, welches im Anfange des vorigen Jahrhunderts noch nicht der Fall war, indem man sich, wegen Seltenheit des Glases, meistens des Marienglases bediente, oder auch nur hölzerne Schieber, Papier und beräucherte Lumpen, anstatt des Glases, anwandte *). Fast alle Häuser haben einen Thorweg und einen großen Hofraum, auf welchem die Ställe, Wagenschauer (serai), Schwarzstuben (isba),
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*) Dies erhellet aus der selten gewordenen Schrift: Exacte Relation von der von Sr. Czaarischen Majestät Petro Alexiowitz (cum tot. tit) an dem großen Newastrohm und der Oostsee neuerbauten Vestung und Stadt St. Petersburg, wie auch von dem Castel Cron-Schloß und derseiben umliegenden Gegend, ferner Relation von dem uralten Russischen Gebrauch der Wasser-Weyh und Heiligung, nebst einigen besondern Anmerkungen, aufgezeichnet von H. G. Leipzig, 1713. 8. S. 44.
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Küche, Badestube, ein Eiskeller und ein gewöhnlicher Keller befindlich sind. So gut im Allgemeinen in Moskwa für die Wohnungen der Edelleute und der andern vornehmern Volksklassen gesorgt ist, so wenig nimmt man auf den gemeinen Mann und die dienende Klasse Rücksicht. Zwar gibt es nur sehr selten Souterrains, wie in Holland, Bremen und Hamburg, außer für die kleinen Krämer (Loberschnicki), die, um ihre Waaren frisch zu erhalten, in feuchten Gewölben wohnen, und diesen Vortheil mit dem Verlust ihrer Gesundheit bezahlen, wenn nicht außerordentliche Naturkräfte ihnen zu Statten kommen. Die Menge der Leibeignen, welche nach Asiatischer Sitte die Edelleute umgeben, wohnt gewöhnlich in kleinen Gebäuden auf den Hofplätzen der Palläste und Häuser. Es ist nicht selten, daß eine große Menge Leibeigner nur wenige enge Zimmer zur Wohnung haben. Man nennt diese Zimmer Schwarzstuben, (isba), weil ihre Wände vom Rauche ganz geschwärzet sind. Gewöhnlich haben sie sehr kleine Fenster, so daß die Luft schwer zu erneuern ist. Zuweilen fand ich in einem Zimmer, etwa von 25 Fuß im Quadrat und 9 Fuß
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Höhe, die Schlafstellen für funfzehn bis zwanzig Personen. Doch hiervon mehr weiter unten, wenn von der Lebensart der Russen die Rede seyn wird. Indeß kann ich nicht unterlassen den Wunsch zu äußern, daß es den Edelleuten gefallen möchte, entweder dem eitlen Prunk zu entsagen, von einem ganzen Heer Leibeigener umringt zu seyn, oder besser für diese unglücklichen Leute zu sorgen und ihnen wenigstens größere, luftigere Zimmer anzuweisen. Außerdem, daß die Menschlichkeit dies gebietet, würden sie dadurch ihren eignen Vortheil befördern, indem ihre Bedienten gesünder seyn und weniger durch asthenische Fieber hingerafft werden würden, als jetzt. Ueberdies würde die Gewöhnung an bessere Wohnungen auf den Landmann, der --- zumal in Rußland --- so schwer von seinen alten Sitten abzubringen ist, zurück wirken, und dadurch der Wunsch so vieler weisen Monarchen Rußlands, eine bessere Bauart auf dem Lande allgemein eingeführt zu sehen, der Erfällung näher gebracht werden. Zum Bau der steinernen Häuser gebraucht man gewöhnlich Ziegelsteine, die man von den vielen in der Nähe liegenden Ziegelhütten erhält. Im Moskowischen Distrikt sind ihrer
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allein sechs und vierzig, denen es an gutem Lehm nicht fehlt. Dessen ungeachtet sind die daraus verfertigten Backsteine nicht von der besten Qualität, welches nach meinem Bedünken daran liegt, daß der Lehm nicht hinreichend geschlemmt und von heterogenen Partikeln gereinigt wird. Die Ziegelsteine sind meistens zu zerbrechlich, und ziehen zu leicht Feuchtigkeiten an *). Man bedient sich zum Bauen
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*) Man sollte das Beispiel der alten Römer befolgen, welche nicht erlaubten, von frisch gebackenen und schlecht geschwemmten Backsteinen zu bauen, wie man dies bei dem Vitruv (de Architectura lib. Il. c. 3.) nachlesen kann. --- Würden auch wohl die Römischen Monumente, deren Ueberreste wir noch jetzt bewundern, so vielen Jahrhunderten getrotzt haben, wenn man nicht bei ihren Mauerwerken auf gute Speise und Qualität der Steine gesehen hätte? --- Besonders ausdauernd ist die Art von Römischen Mauerwerken, die man opus reticulatum nannte, wovon ich in der Gegend bei Rom an einigen alten Brücken Proben gesehen habe. --- Ueberhaupt wird wohl ein Jeder, der unter diesen ehrwürdigen Ruinen der Vorzeit umher gewandert ist, mit mir einverstanden seyn, daß die Backsteine, aus denen einige bestehen, härter und reiner sind, und daß die daran klebende Speise fester ist, als dieses bei Gebäuden neuerer Zeiten der Fall zu seyn pflegt. --- Besonders sollte man in Rußland in der Wahl der Baumaterialien viel sorgfältiger seyn, als in andern Ländern, weil das Klima einer langen Dauer der Gebäude nicht günstig ist.
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auch eines grauen Feldsteins, den man unweit des Dorfes Choroschowa, acht Werste von Moskwa, bricht. Einen Brechstein holt man aus dem Dorfe Filäch. Ein Kalksteinbruch ist unweit Fedotief, wovon die großen Stücke zum Bauen, und die kleinern zum Kalkbrennen gebraucht werden. Dieser Kalkstein hat ein lockeres Ansehen, und besteht aus vielen kleinen weißen glänzenden Partikeln, welche verwitterte und versteinerte Meeresprodukte sind. Man unterscheidet darin sogar ganz deutlich Stücke von Milleporen, Astroiten, Ammonshörnern, Pectiniten u. s. w.; indeß halte ich ihn nicht für dauerhaft, wie dies an dem neuen Pallaste zu sehen ist, den die Kaiserin Katharina Alexiewna am Ende der Deutschen Slobode hat aufführen lassen. Beim Bauen pflegt man die Mauern nicht dick genug zu machen, und in einzelnen Fällen hat man sie sogar hohl gebauet. Dieser Fehler scheint davon her zu rühren, daß meistens der Bau eines Hauses mit einem Baumeister verdungen wird, welcher seines Vortheils wegen wenig auf Solidität sieht.
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Diese leichte Bauart paßt ganz und gar nicht zu dem Moskowischen Klima, indem viele solche Häuser immer feucht bleiben und schädlichen Einfluß auf die Gesundheit ihrey Bewohner haben. Zwar behauptet Herr Born, in seiner von der freien ökonomischen Gesellschaft zu St. Petersburg gekrönten Preisschrift über das frühe Bewohnen steinerner Häuser, daß dieses in Rußland weniger schädlich sey, als in andern Ländern. Wenn dies aber auch ausgemacht seyn sollte, so ist doch durch zuverlässige Erfahrungen bestätiget, daß es zuweilen die traurigsten Folgen hat. Ich sah in Moskwa eine junge blühende Dame dadurch in eine unheilbare Lungensucht verfallen; und eine ganze Familie konnte sich nur mit Mühe von den schädlichen Folgen, die es bereits verursacht hatte, durch Veränderung der ungesunden Wohnung retten. Auf alle Fälle thut man, glaube ich, wohl daran, wenn man bei dem Bewohnen neugebauter oder frisch stuckaturter Wohnungen vorsichtig ist, oder sich wenigstens einiger Mittel bedient, die Ausdunstungen unschädlich zu machen. Diesen Zweck zu erreichen, möchte ich vorschlagen: in solchen Wohnungen eine Zeitlang aus dem Braunstein Sauerstoff zu entwickeln. Denn in der
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kalcinirten schwefelsauern Kalkerde ist Wasserstoff, wovon auch der unangenehme Geruch entsteht. Dieser Wasserstoff wird allmählich durch Einwirkung des Sauerstoffs im Luftkreise neutralisirt, wie man dies aus dem Tröpfeln des Wassers an den Wänden deutlich ersieht. Daher ist es wahrscheinlich, daß die künstliche Schwängerung der Luft mit Sauerstoff, in diesen Wohnungen die Neutralisirung schneller bewirken und so die Nachtheile der schädlichen Ausdünstungen vermindern würde. Die Straßen in Moskwa sind nicht sehr gerade und regelmäßig, wie man es auch von einer so alten Stadt nicht erwarten kann. Indeß sind die Hauptstraßen doch ziemlich breit, und hier und da streckenweise nicht ganz unansehnlich. In einigen Gegenden sind sie mit Bäumen bepflanzt, und bilden angenehme Promenaden. Schon zu der Zeit, als ich in Moskwa lebte, fing man an den Erdwall, welcher Bielogorod umschließt, zu ebnen und den Platz mit Bäumen zu besetzen; nachmals ist er durch den thätigen Oberpolizeimeister Kaverin auf eine geschmackvolle Art verschönert und in eine angenehme Promenade umgeschaffen worden. Dies war zuverlässig ein dringendes Bedürfniß für die Einwohner der
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Stadt, welche oft eine Deutsche Meile fahren mußten, um in einer Promenade einen Spaziergang zu machen. --- Außerdem findet man eine schöne Anlage von Bäumen in der Nähe des Kremls, die man dem General-Gouverneur Fürsten Prosorowsky zu verdanken hat. Die Hauptstraßen sind leidlich mit Steinen gepflastert; in manchen Nebengassen aber, besonders in den Vorstädten, sind sie noch, wie in vorigen Zeiten alle *), mit Knüppeln belegt. Die Gewohnheit mit Knüppeln oder dünnen Baumstämmen Wege auszubessern, ist in Rußland sehr gemein. So findet man auch einen großen Theil der Poststraße von Moskwa nach St. Petersburg mit dergleichen belegt, welches einem Reisenden, der nicht daran gewöhnt ist, im Sommer sehr beschwerlich wird, da die Knüppel bei jedem Schritte der Pferde Stöße verursachen, die den ganzen Körper erschüttern und das Fuhrwerk sehr verderben. Diese Methode Straßen zu bauen, sollte man wenigstens in Städten abschaffen, wo es nicht an dazu passenden Steinen fehlt, weil
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*) Zu Olearius Zeiten waren sie so noch alle gemacht. M. s. a. a. O. S. 146.
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sie nicht nur unbequem, sondern auch mit vieler Holzverschwendung verknüpft ist. --- Für Rinnen an der Seite der Häuser ist nicht überall genug gesorgt, da man oft sieht, daß sich flüssige Unreinigkeiten, zum großen Nachtheil der Gesundheit, anhäufen. Die Moskowischen Straßen sind nicht für Fußgänger berechnet; denn nur in wenigen Gegenden findet man Fußwege (trottoirs). Hierdurch entstehet eine nicht geringe Gefahr für die Fußgänger, da sie von den schnell rollenden Fuhrwerken leicht können übergefahren werden. Besonders groß ist diese Gefahr im Winter, wo meistens Schlitten im Gebrauch sind, oder die Kutschen auf Schleifen gesetzt werden, weswegen man sie nicht kommen hört. Zwar schreien die Kutscher und Vorreiter unaufhörlich: padi, padi! (Fort, aus dem Wege!) so daß man sehr oft zurücksehen und auf seine Sicherheit bedacht seyn muß; dessen ungeachtet entstehen aber aus dieser Ursache bei Kindern, Betrunkenen, Tauben u. s. w. jährlich viele Unglücksfälle, die durch Seitenwege für Fußgänger zu verhüten wären. Das schnelle Fahren darf wohl in Moskwa nicht ganz verboten werden, weil sonst Geschäftsmänner, wegen der ungeheuern
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Größe der Stadt, ihre Geschäfte vernachlässigen müßten. Die Erleuchtung der Straßen ist sehr mittelmäßig; sie besteht nur aus ziemlich weit auseinander stehenden Laternen, die in entfernten Gegenden oft gar nicht angezündet werden, oder bald wieder erlöschen. Man sollte hierin St. Petersburg zum Muster nehmen, wo überall die schönsten reverbères einen hellen Schein verbreiten und die Pracht dieser Kaiserstadt erheben. Obgleich die Straßen durch Verfügung der Polizei gereinigt werden, so sind sie doch im Sommer oft staubig, und in einigen Gegenden bei Regenwetter so mit Koth angefüllt, daß ein Fußgänger schwer durchwaten kann. Ersteres könnte leicht durch das in Paris und Wien übliche Besprengen mit Wasser, zum großen Vortheil für Lungen und Augen, verhütet, und letzteres durch besseres Pflastern und thätigere Reinigungsanstalten verhindert werden. Einen besonders nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit der Einwohner von Moskwa hat die unmäßige Anhäufung des Schnees und Eises auf den Gassen. In harten Wintern überzieht die Straßen eine Kruste von Schnee
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und sehr dickem Eise, womit sich unreine und verdorbene vegetabilische und animalische Paktikeln vermischen. Thauet es nun im Frühling auf, so wird die Atmosphäre mit verdorbenen Theilchen angefüllt, und dadurch oft so verunreiniget, daß man es durch den Geruch spüren kann. Dieser Umstand ist bisher entweder übersehen oder nicht mit gehöriger Aufmerksamkeit erwogen worden. Es ist allgemein bekannt, welche nachtheilige Folgen für die Gesundheit das Austreten der Flüsse hat, indem eine Menge faulichter Partikeln auf dem Lande zurück bleiben und die Luft verpesten. Ist es aber nicht derselbe Fall mit Eis und Schnee, welcher einen großen Theil des Jahres auf den Gassen liegt und mit heterogenen Stoffen vermischt wird, nachher plötzlich aufthauet und zugleich den Luftkreis verderbt? Ein Glück ist es übrigens, daß das Aufthauen des reinen Schnees und Eises, an und für sich, den Sauerstoffgehalt der Luft vermehrt, der wahrscheinlich den verdorbenen Ausdünstungen entgegen wirkt. Wenn ich mich nicht sehr irre, so trägt die Verderbung des Luftkreises nicht wenig zur Erzeugung der asthenischen Katarrhalfieber bei, die wenigstens beim Eintritt der milderen Witterung am häufigsten beobachtet werden.
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Man sollte deswegen darauf sehen, daß die Eiskruste nicht zu stark würde, oder wenigstens streng verbieten, Unrath in den Schnee zu schütten. Außerdem sind diese dicken Eiskrusten von einer andern Seite dem öffentlichen Gesundheitswohl nachtheilig, da an einigen Stellen Löcher in ihr entstehen, wodurch Fußgänger, besonders an dunkeln Abenden, leicht zu Schaden kommen können. Für die Sicherheit der Straßen ist auf eine lobenswürdige Art gesorgt. In gewissen Entfernungen sind kleine Hütten (Butky), worin sich ein oder zwei mit Knüppeln bewaffnete Männer aufhalten, welche man Butterschnicki nennt. Diese haben die Pflicht, verdächtige Personen zu arretiren, Schlägereien und andere Unordnungen zu verhüten, Betrunkene nach dem Polizei-Amte des Quartiers (Schäsa) zu bringen, auf den Ausbruch von Feuersbrünsten zu achten, sich verunglückter Personen anzunehmen, u. s. w. --- An die Hütten, worin diese Wächter wohnen, werden auch Polizei-Befehle angeschlagen. Auf den Ruf: Kraul! (Wache!) sind diese Butterschnicki verbunden, herbei zu eilen, um den, welcher Unordnung anrichtet, fest zu nehmen. Geschieht es in einem Falle, wo die
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Sache nicht klar ist, so wird der, welcher die Wache auffordert, mit festgenommen. Ich habe mehrere Beispiele gesehen, daß vornehme Herren, die nach ihren Landgütern reisen wollten, von Gläubigern auf diese Art auf der Gasse angehalten, ihnen die Pferde ausgespannt, und sie nicht eher losgelassen wurden, als bis sie die Kläger befriedigt hatten *). Auf dem Polizeiamte jedes Quartiers müssen bei Nacht eine gewisse Anzahl Personen von den Einwohnern gestellt und mit Feuereimern versehen werden, um bei einer Feuersgefahr sogleich bereit zu seyn.
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*) Ueberhaupt ist man bei Verreisenden, und besonders bei denen, die Rußland verlassen , in diesem Punkte sehr streng, so daß schwerlich jemand aus Rußland kommen wird, der noch das Geringste darin schuldig ist. Selbst die reichsten und viele Güter in Rußland besitzenden Personen werden hierin nicht geschont. Dies war z. B. der Fall mit der Prinzessin von H ****, die nach Deutschland verreisen wollte, und nicht eher einen Paß erhielt, als bis sie einige ungestüme Gläubiger befriediget hatte, wie dies der unbescheidene Weikard in den Denkwürdigkeiten aus seiner Lebensgeschichte (S. 387.) mit der ihm gewöhnlichen Verletzung aller Delikatesse von seiner großmüthigen Wohlthäterin öffentlich bekannt macht.
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Ueberhaupt ist die Polizei in Moskwa auf eine so vortreffliche Art organisirt, daß sie in andern Ländern nachgeahmt zu werden verdiente. Sie verdankt ihre erste Anordnung einer Instruction Peters des Großen vom Jahre 1718, und ihre jetzige Organisation Katharinen der Zweiten, die sie im Jahre 1782 reformirte. Doch wird sie noch vollkommner werden, da der jetzt regierende Monarch, der alle Zweige der Staatsverwaltung mit gleichem Scharfsinn durchforscht, eine Commission niedergesetzt hat, um Vorschläge über die Verbesserung derselben zu machen. Die Moskowischen Oberpolizeimeister sind gewöhnlich aufgeklärte und einsichtsvolle Männer, und dem äußerst verwickelten Geschäft, in einer so großen Stadt Ordnung zu erhalten, gewachsen. Bei einer Stadt von solchem Umfange, muß man sich indeß über einzelne Anordnungen weniger wundern, als darüber, daß das Ganze, unter den dort Statt findenden Verhältnissen und bei den vielen Rücksichten, die auf vornehme in großem Ansehn stehende Personen genommen werden, so gut im Gange erhalten wird. Wichelhausens Moskwa. [5]
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V.
Gewässer von Moskwa.
Moskwafluß --- Jausa --- Neglina --- Tschetschorka --- Fischarten in den Moskowischen Flüssen --- Natur des Flußwassers --- Brunnen- und Quellwasser --- Große Wasserleitung --- Einfluß des Trinkwassers auf die Gesundheit --- Wirkung auf Fremde --- Reinigung schlechter Trinkwasser --- Vorzüge des Schneewassers.
Der Moskwafluß schlängelt sich in mahlerischen Krümmungen durch das gigantische Moskwa. Er entspringt in einer Entfernung von 83 Wersten aus einem See des Moschaiskischen Distriktes, bei dem Dorfe Ostaska, und fällt bei Kolomna in die Okka, welche sich bei Nischegorod in den Wolgastrom ergießt. Hierdurch hat die Stadt mit vielen und entfernten Statthalterschaften die nützlichste Wasserverbindung, und kann sogar durch die fischreiche Kama die Produkte Sibiriens, so wie durch das Kaspische Meer den Ueberfluß von Persien erhalten, und überhaupt den Handel weit ausdehnen. In diesen Fluß fällt ein anderer, welcher
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Jausa heißt, und bei dem Dorfe Tainiskoje, 12 Werste von der Stadt, entspringt. Noch ein kleiner Fluß, oder vielmehr ein großer Bach, der ein sehr unreines Wasser führt, ergießt sich unweit des Kremls mit schleichendem Laufe in denselben. Er wird Neglina genannt und entsteht in einer entfernten Stadtgegend, die Samateke heißt. Außerdem nimmt der Moskwafluß einen kleinen Bach auf, nemlich den Tscherschorka, welcher in der Gegend des Heumarkts während des Frühlings und Herbstes hervorrieselt, im Sommer aber vertrocknet *). Die Moskwa und die Jausa sind reich an vortrefflichen Fischarten, worunter folgende die vorzüglichsten sind: Der Hecht, Esox Lucius Linn. Russisch: Schtschuka. Der Sandart, Lucio perca Linn. Russ. Sudak. Die Quappe, Gadus lota Linn. Russ. Nalym. Der Aal, Muraena anguilla Linn. Russ. Ugor. Die Meeräsche, Cottis quadricornis Linn. Russ. Padkamenschik. Der Gründling, Cyprinns Gabio Linn. Russ. Piskar.
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*) Es gehört zu den Zügen, welche die ungeheure Größe von Moskwa charakterisiren, daß Bäche und Flüsse ihren Lauf darin anfangen und vollenden.
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Der Flußbarsch, Perca fluviatilis Linn. Russ. Okun. Der Kaulbarsch, Perca cernua Linn. Russ. Jersch. Die Karausche, Cyprinus carassus Linn. Russ. Karas. Der Schley, Cyprinus Tinca Linn. Russ. Lyn. Der Wels, Silurus glanis Linn. Russ. Som. Der Sterled *), Acipenser Ruthenus Linn. Russ. Sterled. Der Moskwafluß sowohl als der Jausa, haben einen trägen Lauf; und die Neglina scheint im Sommer ganz stille zu stehen. Das Wasser der Moskwa ist gewöhnlich trübe und mit Kochsalz und kalkigen Theilen geshwängert, worüber man sich wohl nicht wundern wird, wenn man erwägt, daß es über einen kalkigen lehmigen Boden fließt. Doch muß man es der Wachsamkeit der Polizei verdanken, daß es nicht mit so vielem Unrath verunreinigt wird, als es in andern großen Städten, und nahmentlich in dem aufgeklärten Berlin **), zu geschehen pflegt. Jetzt wird dadurch
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*) Dieser sehr beliebte Fisch kommt in Mozskwa äußerst selten vor, und scheint sich in diesem Falle nur aus der Okka in die Moskwa zu verirren.
**) M. s. Formey's Versuch einer medicinishen Topographie von Berlin, S. 13.
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noch mehr für die Sauberkeit des Wassers in der Moskwa gesorgt, daß die Ufer dieses Flusses, anstatt des ehemaligen Holzes, mit Quadersteinen eingefaßt werden. Obgleich das Wasser der Jausa nicht von fremdartigen Theilen frei ist, so halte ich es doch für weicher und besser zum Kochen und Waschen, als das aus der Moskwa. Auch zum Bierbrauen ist es tauglich und wird häufig dazu angewendet. Die Neglina sieht einem Moraste ähnlicher, als einem fließenden Wasser, und erfüllt im Sommer die ganze umliegende Gegend mit übelriechenden Ausdünstungen. Auch halten sich keine Fische darin auf. Ueberhaupt gibt es wohl wenige Städte, welche so schlecht mit Wasser versorgt sind, wie die Hauptstadt des Russischen Reiches. An Brunnen fehlt es freilich nicht, da auf jedem Hofplatze gewöhnlich einer vorhanden ist. Dies sind fast durchgehends Pumpen, die eine regelmäßige Einrichtung haben, so daß sie hinlänglich bedeckt und gegen Verunreinigungen von außen gesichert sind; obgleich der atmosphärischen Luft nicht aller Zugang versperret ist. Die Röhren derselben sind meistens von Blei, woher aber keine Besorgnisse vor Vergiftung entstehen können, weil
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sie bald durch eine tophusartige Masse übersintert werden. Unter der großen Anzahl von Brunnen in Moskwa haben nur wenige gutes trinkbas res Wasser. In sehr vielen derselben ist es trübe, gelblich, und hat einen morastigen ekelhaften Geschmack; durchgängig ist es hart, mit salzigen, kalkigen und andern Partikeln geschwängert. Es siedet nicht so geschwind, als das Wasser der Moskwa und der Jausa, oder als Regenwasser, und schäumt nicht so leicht mit der Seife, weswegen zum Waschen Regen- oder Flußwasser genommen wird. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, sind alle Brunnenwasser unreiner, als in andern Jahreszeiten. Ich habe mehr als zwanzig Brunnen und Quellen in oder nahe bei Moskwa durch Reagentien, und einige davon durch Abdampfung untersucht; im Ganzen fand ich aber die Resultate nicht sehr verschieden. Daher halte ich es nicht für nützlich, die einzelnen Versuche genau zu beschreiben. In den meisten entdeckte ich durch die stärfere oder schwächere Röthung der Lakmus-Tinktur freie Kohlensäure, vorzüglich aber in der Quelle bei der Katholischen Kirche. Die Fernambuck-Tinktur
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71 veränderte nur bei drei Wassern die Farbe. Durch die Galläpfel-Tinktur konnte ich in keinem eine Spur von Eisen entdecken, ausgenommen in einer Quelle, unweit des Andreewschen Klosters, auf welcher auch eine Menge Ocher schwamm. Durch das Zugießen des kaustischen Alkali und des zuckersauern Gewächs-Alkali entstand in allen eine größere oder geringere Trübung und ein Bodensatz. Die salzsaure Schwererde erregte nur bei vier Wassern ein wolkiges Ansehn, nachdem es eine Viertelstunde gestanden hatte. Das salzsaure Silber trübte sie fast alle plötzlich, und verursachte einen merklichen Niederschlag. Es erhellet also aus meinen Versuchen, daß diese Wasser meistens freie oder mit Kalk verbundene Luftsäure, Kalkerde, Kochsalz, und mit Kalk verbundene Salzsäure, einige auch schwefelsaure Verbindungen, und Extractivstoff enthalten. Vier Wasser untersuchte ich durch Abdampfen bei gelindem Feuer, und fand unter zehn Pfunden, bei Einem 82 Grane; und bei den drei andern 102, 113 und 137½ Grane trockner Bestandtheile. Nach diesen Untersuchungen und sonstigen Erfahrungen halte ich die "Wasser bei der
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katholischen Kirche, in der Deutschen Slobode, bei dem Stretinkaschen und dem Androniowschen Kloster, bei den drei Bergen, und ia der Vorstadt Präobragensky für die besten und der Gesundheit zuträglichsten. Nur ist es zu bedauern, daß wegen der Entfernung nicht jedermann zu diesen fünf heilsamern Wassern, und besonders zu den Quellen bei den drei Bergen, seine Zuflucht nehmen kann, und daß Viele sich also mit schlechterem Wasser befen müssen. Die große Kaiserin Katharina Alexiewna, welche so viel für ihr Reich gethan hat, wollte sich auch bei den Einwohnern von Moskwa dadurch ein ewiges Denkmahl stiften, daß sie ihnen Ueberfluß an reinerem Wasser verschaffte. Sie befahl dem General Bawr, dies durch einen Aqueduct zu bewerkstelligen. Wirklich ist dieses Werk auf eine Art angefangen, daß es bei seiner Vollendung mit den prächtigsten Werken des alten Roms wird wetteifern können. Man hat, 14 Werste von Moskwa, bei dem Dorfe Bolschoi Müttitsch, verschiedene Quellen des reinsten Wassers zusammengezogen, um sie durch einen gemauerten Kanal nach der Gegend, wo vormals die weiße Mauer stand, zu leiten, Es sind
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Hügel durchbrochen und Thäler ausgefüllt worden; wie man letzteres bei dem Landgute des Herrn Paul Gregoritsch Demidow an den großen majestätischen Hallen sehen kann, worüber die Wasserleitung hinläuft. Für das Wohl von Moskwa wäre zu wünschen, daß es dem jetzigen erhabenen Beherrscher von Rußland gefallen möchte, dieses große Werk vollenden zu lassen. Der Einfluß, den ein gutes oder schlechtes Trinkwasser auf die Gesundheit der Einwohner einer Stadt hat, fällt zwar nicht so gleich in die Augen, ist aber, wie die größten Aerzte aller Zeiten bezeugen, einer der wirksamsten in der Natur. Schon bei den alten Griechen und Römern war man äußerst aufmerksam auf die Natur der Wasser. Hippokrates beschreibt (in seinem Buche von der Luft, dem Wasser und den Gegenden) die Verschiedenheit der Wasser und ihrer guten und schlechten Eigenschaften. Die Römer baueten prächtige Wasserleitungen, um dem Volke das reinste Wasser zu verschaffen, und stellten eigene Beamten an, um die Aufsicht darüber zu führen. Selbst Privatpersonen glaubten sich um ihre Zeitgenossen und die Nachkommenschaft verdient zu machen,
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wenn sie an öffentlichen Landstraßen zum Gebrauch der Reisenden gesunde Brunnen anlegten *). Auch in neueren Zeiten beweisen uns auffallende Beispiele, was Achtsamkeit auf diesen Gegenstand in Hinsicht auf die Gesundheit der Einwohner einer Stadt vermag. So hatte man zu Rheims in Frankreich das Trinkwasser in Verdacht, daß es zur Erzeugung der damals sehr häufigen Gicht und der Kröpfe beitrüge. Ein aufgeklärter und wohldenkender Einwohner dieser Stadt, ließ mit großen Kosten das Wasser aus einem Arme des. Verleflusses in alle Theile
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*) So war auf der via Flaminia ein Brunnen von einem gewissen Lepidus gestiftet, der folgende Inschrift hatte: SI. HUMANO. INGENIO. PERPETUO. VIATORIBUS. PARARI. VINA. POTUISSENT. NON. AMOENUM. QUEM. CERNITVIS. FONTEM. AQUARUM. C. LEPIDUS. MAGNA. IMPENSA. ADDUXISSET. POTA. FELIX. Mit Bewunderung erinnere ich mich bei dieser Gelegenheit an den Geist der Humanität, der die vormalige Berner Regierung belebte. Sie hat nehmlich auf den schönen Heerstraßen ihres Kantons, in gewissen Distanzen, bei schattigen Lauben Röhrbrunnen mit dem reinsten Wasser zur Erquickung ermüdeter Wanderer angelegt.
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der Stadt leiten, und von der Zeit an wurden die erwähnten Krankheiten viel seltner bemerkt, wie dies ein erfahrner Arzt dieses Orts bezeugt *). Der Nachtheil schlechter Trinkwasser läßt sich wohl nicht immer auf eine so auffallende Art documentiren, wie bei der Stadt Rheims; es ist aber höchst wahrscheinlich, daß, auf eine uns nicht immer erklärbare Weise, manche endemische Krankheiten von der Natur des Trinkwassers abhangen. Zuverlässig tragen die schlechten Eigenschaften des Trinkwassers in Moskwa viel bei zur Erzeugung der Gichtbeschwerden und der Verhärtungen in den Eingeweiden, die dort so häufig vorkommen. Indeß sind Kröpfe und Steinbeschwerden nicht so häufig, daß man das Trinkwasser deshalb in Verdacht ziehen könnte, wie dies in andern Gegenden geschieht. Bei den Russen, die aus andern Statthalterschaften nach Moskwa kamen, bemerkte ich selten Beschwerden, die man der Natur des Trinkwassers zuschreiben konnte. Doch hatten die, welche aus St. Petersburg kamen und des weicheren und besseren Newawassers
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*) Memoires de la societé Royale de Médecine. Année 1777 – 1778. pag. 280.
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gewohnt waren, zuweilen Hitze und Leibesverstopfung, wenn sie von dem gewöhnelichen Brunnenwasser tranken. Bei den meisten ankommenden Ausländern aber, besonders bei reitzbaren Personen, bemerkte ich diese Beschwerde in einem höheren Grade. Eine sehr reitzbare Französin, bekam die heftigsten Magenkrämpfe, welche keiner Arzenei weichen wollten, aber sogleich aufhörten, als sie, anstatt des gewöhnlichen Trinkwassers, anderes aus der Quelle bei den drei Bergen trank. Zwar findet man das Wasser in der Natur nie rein, weil dessen auflösende Kräfte auf Gasarten, Erden, Metalle, vegetabilische und animalische Körper einwirken; doch bei den besten Wassern ist diese Zumischung so gering, daß man sie fast gar nicht bemerken kann. Auf alle Fälle muß Wasser ganz durchsichtig, ohne Farbe und ohne Geschmack seyn, wenn es nicht nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit der Menschen haben soll. In einer Stadt, die fast sechs Deutsche Meilen im Umfange hat, ist es unmöglich, daß sich alle Personen, besonders die aus den ärmsten Klassen, das zum Trinken nöthige Wasser aus heilsamern Brunnen und Quellen verschaffen können. Deswegen wäre es gut,
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wenigstens so lange bis der Aqueduct beendigt seyn wird, Mittel zu brauchen, wodurch sich das gar zu schlechte Trinkwasser verbessern ließe. Schon bei den Alten war die Reinigung schlechter Trinkwasser eine gewöhnliche Polizei-Maßregel. So ließ Diokles, Arzt bei dem Heere des Königs Darius, es kochen, Eiweiß und Thon hinzumischen und dann filtriren. Bei den Griechen pflegte man es durch Thon und Sand zu seihen; auch ließ man es zuweilen mit Gerstenmehl (der gewöhnlichen Nahrung der Sklaven) aufkochen. Plinius berichtet, daß man in den Wüsten am rothen Meere auf diese Art das schlechteste Wasser in zwei Stunden trinkbar gemacht habe. Wer einiger Maßen mit den Grundsätzen der Chemie bekannt ist, dem kann ein solches Verbessern nicht schwer werden. Bei Wassern, die bloß luftsauren Kalk enthalten, ist das Kochen nützlich, weil dadurch die Luftsäure sich entbindet, und die festen Theile zu Boden fallen. Um Verbindungen des Wassers mit Salz oder schwefelsaurem Kalk zu zerstören, ist eine Zumischung von vegetabilischem Laugensalz und allenfalls von Asche anzurathen. Bei Wassern hingegen, welche faulichte moorige Partikeln
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und vielen Extractivstoff enthalten, wird die von dem berühmten Ritter von Lowitz vorgeschlagene Reinigung mit Kohlenstaub von großem Nutzen seyn *). Indeß sind diese und andere auf chemische Principien sich gründende Vorschläge nur von wenigen Kunstverständigen anzuwenden, dagegen mechanische Methoden allgemeinere Brauchbarkeit haben. Man könnte, wie in Paris und Amsterdam, Filtrirbrunnen einrichten, oder auch das schlechte Wasser durch einen Sandstein , Hutfilz, Schwamm, u. dergl. seihen. Noch bequemer wäre es, wenn man in Gegenden der Stadt, denen es an guten Brunnen fehlt, Cysternen anlegte, worin das Wasser, nach der in Venedig üblichen Methode, gereinigt und aufbewahret würde. Daselbst reinigt man nehmlich das Wasser durch Sand, nach einer besondern Einrichtung, und leitet es in eine mit Kieselsteinen belegte Cisterne: eine Methode, die man auch auf Landgütern oder in Lägern,
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*) Anzeige eines neuen Mittels, Wasser auf Seereisen vor dem Verderben zu bewahren und faules Wasser wieder trinkbar zu machen. St. Petersburg, 1790.
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wo gar kein oder kein gutes Brunnenwasser zu haben ist, anwenden könnte *). Sollten diese Reinigungsmethoden noch zu weitläuftig und unbequem scheinen, so würde ich vorschlagen, Schneewasser zum gewöhnlichen Getränk zu erwählen. Doch empfehle ich dabei die Vorsicht, es eine Zeitlang durch Uebergießen aus einem Gefäß in das andere in Bewegung zu bringen, daß sich die Luftsäure damit vereinige. Man hat es nehmlich wegen Mangel an gasartigen Stoffen verdächtig gemacht. Dieser Meinung war schon Hippokrates, und in neueren Zeiten unter andern der berühmte Schwedische Scheidefünstler Bergmann. Außerdem finden noch mehrere Vorurtheile gegen das Schneewasser Statt. So beschuldigt man es, daß es zur Erzeugung der Kröpfe beitrage. Um dies zu beweisen, führt man gewöhnlich das Beispiel der Völkerschaften an, welche bergige Gegenden bewohnen und meistens Wasser trinken, das von den
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*) Man kann hiervon bei Baccius, in seinem bekannten vortrefflichen Werke über die Bäder der Alten, und bei Jourdan le Cointe (La santé de Mars. Paris, 1790. p. 161.) nähere Nachrichten finden. Bei dem letztern ist ein Kupferstich, der diese Methode deutlich macht.
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höchsten Gletschern entspringt. Was man aber auch hierüber sagen mag, so scheint es mir doch nicht ausgemacht zu seyn, daß das Schneewasser diese Verunstaltung hervorbringe. Wenigstens gibt es Völkerschaften, die kein Schneewasser trinken und dennoch der Kropfkrankheit unterworfen sind. Dies ist der Fall bei den Bewohnern der Ostindischen Insel Sumatra *). In der Schweiz habe ich in den höchsten Alpenthälern oft sehr wenige Spuren von Kröpfen gesehen, da doch dergleichen nur einige Meilen davon die häßlichsten Verunstaltungen veranlassen. So bemerkte ich bei den Bewohnern des Haslithals einen schlanken schönen Wuchs und das größte Ebenmaß im Körperbau, und nur hin und wieder kleine Kröpfe, da ich hingegen nach Uebersteigung der Grimsel, im Walliser-Lande, ungestalte Menschen mit ungeheuer großen Kröpfen antraf. Ja, ich fand sogar im Canton Zürich und in flachen Gegenden mehr Kröpfe, als auf manchen hohen Alpen, die von emporstarrenden Gletschern und Eismeeren umgeben sind **).
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*) Philosophical Transactions Vol. LXVIII. Pars I. Art. XI.
**) Dies bestätigt auch Zimmerman in seinem Werk über die Erfahrung in der Arzneikunst. Th. Il. S. 303.
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Außerdem sind von jeher Schnee- und Eiswasser häufig getrunken worden, ohne daß man Kröpfe oder andere schädliche Wirkungen davon bemerkt hat. Schon die alten Griechen mischten Schnee und Eis in ihre Getränke. Als Alexander der Große die Indische Stadt Petra belagerte, ließ er dreißig Gruben mit Schnee anfüllen und mit Eichenlaub bedecken, um seinem Heere das gesunde und angenehme Schneewasser desto länger zu erhalten *). So berichtet Xenophon **), daß zu seiner Zeit Schnee in das Getränk gemischt wurde, um es angenehmer zu machen. Theokrit ***) läßt den alten Cyklopen Polyphem ein Lied singen, worin er alle seine Habe schildert und dabei auch das kühle Wasser, welches ihm von dem waldigen Aetna aus dem reinsten Schnee zurinne, als einen göttlichen Trank rühmt. Plutarch +) erzählt von einem
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*) Man findet diese Erzählung beim Chares von Mytilene, im Athenäus, L. III. C. 21.
**) Memorabilia Socratis I. II.
***) Idyll. XI. Kyklops.
+) De cohib. ira. Wichelhausens Moskwa. [6]
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Schwelger, daß er ohne zugemischten Schnee nicht getrunken habe. Bei den Römern war das Schneewasser allgemein beliebt. Galen *) sagt, daß man in Rom, so wie in seiner Vaterstadt Pergamus, und in andern Städten Griechenlands und Asiens, viel Schnee zur Kühlung der Getränke aufbewahret; und der ältere Plinius **) berichtet, daß man zu seiner Zeit bald Schneewasser, bald Eiswasser zum Vergnügen getrunken habe. Der jüngere Plinius hält in seinem acht und siebzigsten Briefe (an den Lucilius) den Kranken für unglücklich, der nicht den Wein mit Schneewasser verdünnen und, wenn sich dieses erwärmt habe, durch hinein geworfene Stücke Eis wieder abkühlen könne. Viele andere Römische Schriftsteller bezeugen dasselbe, wie man es bei Butius ***), der viel hierüber gesammelt hat, nachsehen kann. Die Römer brauchten Schnee- und Eiswasser
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*) De comp. med. secund. loc. Lib. II. Cap. I.
**) Histor. Natur. Lib. XIX. Cap. IV.
***) De potu antiquorum, recus in Graevii Thes. Antiq. T. XII. Cap. XVIII et seq.
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in Krankheiten, besonders bei Schwäche des Magens, und bei Ohnmachten, welches Asklepiades zuerst einführte. Der Luxus ging hierin so weit, daß reiche Schlemmer den Falerner-Wein aus Bechern tranken, die von Eisstücken verfertigt waren. Aus einer Stelle in den Sprichwörtern Salomonis erhellet, daß die Hebräer ihre Getränke mit Eis abkühlten, welches vom Berge Hermon geholt wurde. Fast alle Orientalische Völker der Vorzeit hatten denselben Geschmack, wie ich dies leicht mit Zeugnissen beweisen könnte, wenn es mich nicht zu weit von der Hauptsache abführen würde. Die Araber hielten viel auf das Schnee- und Eiswasser. Ebn Sina *), der in einer Reihe finsterer Jahrhunderte das allgemeine Orakel der Aerzte war, erklärt solches Wasser für sehr heilsam zum Trinken; doch unter der Bedingung, daß es rein und nicht mit heterogenen Partikeln gemischt sey. Noch jetzt genießen viele Nationen das Schee- und Eiswasser fast täglich ohne nachtheilige Folgen. In ganz Asien, in Persien, und in der Türkei, wird es zum Kühlen der Getränke angewendet, und mit großen
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*) Lib. II. doct. II. cap. XVI.
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Kosten herbeigeschafft. In den meisien südlichen Gegenden von Europa genießt man es häufig; auch ist in Spanien und Italien Gefrornes allgemein ein Gegenstand des Luxus. Nach Venedig wird bei Nachtzeit Schnee aus dem Eiskellern an den Ufern der Brenta hingefahren, und täglich in den Kaffeehäusern des Marcusplatzes verbraucht. In den meisten andern Gegenden von Italien habe ich viele Eis-, oder vielmehr Schneekeller gefunden; denn gewöhnlich thut man nur fest zusammengestampften Schnee hinein. Auch wird er in einigen Gegenden in Bergklüften, die gegen Norden liegen zusammengestampft und mit Stroh verwahrt. So holt man ihn für Neapel aus den Klüften des Berges San Angelo, um ihn täglich bei Nacht zur Stadt zu führen und in eignen Buden zum allgemeinen Gebrauche des Volkes zu verkaufen. Dies würde nehmlich ohne dergleichen Erfrischung fast nicht leben mögen, weshalb die Regierung auch für hinlängliche Zufuhr sorgt. Meistens. dient der Schnee, die verschiedenen Arten von Gefrornem (Sorbetti und gelati forti) daraus zu bereitens; er wird aber von dem gemeinen Manne auch häufig mit dem Getränke vermischt und ohne Nachtheil genossen, Viele Italiänische
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Aerzte versicherten mir, daß in Jahren, wo Mangel an Schnee sey, mehr Krankheiten herrschten, als dann, wenn das Volk ihn in hinreichender Menge erhalten könne, und daß sie von dem häufigen Genusse des Schneewassers niemals nachtheilige Wirkungen bemerkt hätten. Auch in Ungarn und der Wallachei wird häufig Schnee- und Eiswasser getrunken. Im äußersten Norden wird Schnee sogar gegessen, ohne daß man Nachtheil davon bemerkt hätte; vielmehr scheint er in diesen Gegenden zu Verhütung des Scorbuts nicht wenig beizutragen *). Man behauptet z. B. von den Kamtschadalen, daß sie gern nicht allein gefrorne Lebensmittel essen, sondern selbst Schnee und Eis mit Wollust genießen. So mischen die Russischen Muschicks im Sommer zwischen den Kwuas und den Kisli-Shtschi, um ihn abzukühlen, Stücke Eis, ohne jemals Nachtheil davon zu empfinden. Die Bewohner des Schwedischen
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*) Dieses ist um so wahrscheinlicher, da sich beim Schmelzen des Schnees im Magen eine beträchtliche Menge Sauerstoff entbindet, welcher, nach der Meinung der neuern Chemiker, der Erzeugung des Scorbuts entgegen wirkt.
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Lapplands, denen es auch an gutem Trinkwasser fehlt, bedienen sich dazu des Schnees, welchen sie über dem Feuer in eisernen Kesseln schmelzen *).
Es wäre also vielleicht kein verwerflicher Vorschlag, in solchen Gegenden von Moskwa, wo das Wasser gar zu schlecht ist und wo man es nicht wohl aus den besseren Quellen holes kann, lieber Eis und Schnee zu nehmen **), diese in einem mäßig temperirten Zimmer zu schmelzen, das Wasser eine Zeitlang unter anhaltendem Umrühren stehen zu lassen, und es nachher zum gewöhnlichen Getränk zu benutzen. Bei dieser Operation erreichte man vielleicht den sehr heilsamen Nebenvortheil, die Luft in den engen Wohnzimmern des gemeinen Mannes zu verbessern, indem sich beim Schmelzen des Schnees eine Menge Sauerstoff entwickelt, und dagegen
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*) Hogströms Beschreibung des der Krone Schweden gehörenden Lapplandes. Aus dem Schwedischen. Cop. und Leipz. 1748. S. 112. u. 140.
**) Im Sommer könnte man es aus den in allen Häusern vorhandenen und zum Ueberfluß angefüllten Eiskellern nehmen.
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die Luftsäure absorbirt wird. Vielleicht wäre es, auch ohne Rücksicht auf die Eigenschaften des Trinkwassers, zugleich die einfachste und beste Methode, die Luft in Wohnzimmern und Hospitälern durch Sauerstoff zu verbessern.
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VI.
Klima von Moskwa.
Allgemeine Grundsätze über den Einfluß der klimatischen Verhältnisse --- Ungleiche klimatische Beschaffenheiten in Moskwa --- Waldungen --- Nöthige Vorsicht beim Aushauen derselben --- Winde --- Feuchtigkeit und Trockenheit der Atmosphäre --- Gewitter --- Ansicht des Himmels --- Schwere der Luft --- Barometerstand --- Temperatur des Luftkreises --- Unrichtige Begriffe darüber in andern Ländern --- Thermometerstand --- Gewöhnliche Lufttemperatur --- Gefrieren der Flüsse --- Beschaffenheit des Eises --- Eispallast --- Verlauf der Jahreszeiten --- Schilderung eines schönen Wintertages --- Wirkungen des Moskowischen Klima‘s im Allgemeinen --- Größere Farbenlosigkeit aller Körper --- Geringer Wachsthum der organischen Körper --- Wirkungen auf die Organisation der Körper und deren äußere Formen --- Nachtheilige Folgen schnell eintretender Kälte.
Nichts hat auffallendern Einfluß auf die Menschen, als das Klima, worin sie leben. Die Verschiedenheit ihrer Organisation, ihrer Gestalten, Neigungen, körperlichen und geistigen Anlagen, steht damit in unverkennbarem Zusammenhange. Auch wirkt das Klima mächtig
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auf die Natur der herrschenden Krankheiten, so daß ein Arzt ohne genaue Kenntniß desselben nicht glücklich in seinem Heilverfahren seyn, und ohne Vergleichung der Krankheitszufälle und ihrer Behandlung unter verschiedenen Himmelsstrichen, sich nie von einer gewissen das Genie lähmenden Einseitigkeit los machen, und nur selten groß in seinem Fache werden wird.
Außerdem, daß man bei den Bewohnern der verschiedenen Erdstriche einen angebornen klimatischen Charakter bemerkt, wirken auch die Einflüsse des Luftkreises, der Nahrungsmittel und der Lebensart, mit solcher Gewalt auf die verschiedenen Systeme des menschlichen Organismus, daß die mannichfaltigsten Verschiedenheiten dadurch entstehen.
Unter denselben ist nichts interessanter, als der Zustand der Erregbarkeit und Empfindlichkeit. Je nachdem diese Eigenschaften stärker oder schwächer sind, und sich harmonischer oder anomalischer äußern, werden der ganze Gesundheitszustand und die Geistesanlagen verschieden modificirt.
So findet man unter glücklichen Himmelsstrichen der mildern Erdgegenden, wo die Natur sich in ihrer ganzen Wirksamkeit zeigt, die
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ausgebildetsten Menschen von feinerem, reitzfäherigem Fasernbau, schlankerem höherem Wuchse, schönern charaktervolleren Gesichtszügen, heftigern Begierden, feurigerer Phantasie, tieferem Gefühl für das Schöne und Erhabene, und größeren Geistesfähigkeiten.
In rohern, wilderen Gegenden aber, wo der Einfluß der Alles belebenden Sonne *) geringer ist, oder in solchen, wo sie zu heftig wirkt und fast Alles versengt, besitzen die Menschen gewöhnlich stärkere, trocknere Muskelfasern, eine schwächere Erregbarkeit und Empfindlichkeit , kleinere und ungestaltere Körper,
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*) Der große Lavoisier drückt sich sehr treffend und voll Begeisterung über die Gewalt dieses Urquells alles Lichtes. aus. Ich hoffe meinen Lesern Vergnügen zu machen, wenn ich die Stelie ganz hierher setze. Er sagt (in seinem Traité élementaire de Chymie Vol. I. p. 202.): L‘organisation, le sentiment, le mouvement spontané, la vie, n‘existent qu'à la surface de la terre et dans les lieux exposés à la lumière. On diroit que la fable du flambeau de Promethée etoit l‘expression d'une verité philosophique qui n'avoit point echappé aux anciens. Sans la Iumière la nature étoit sans vie, elle étoit morte et inanimée: un Dieu bienfaisant, en apportant la lumière, a repandu sur la surface de la terre l‘organisation, le sentiment et la pensee.
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charakterlosere und gröbere Gesichtszüge, rohere Sinnlichkeit, größere Gefühllosigkeit und Trägheit des Geistes.
Bei diesen Verschiedenheiten gibt es indeß so viele Schattirungen, als Erdstriche klimatisch zu unterscheiden sind.
Die Extreme im Klima wirken also gleichnachtheilig auf körperliche und geistige Anlage und Ausbildung, und die glücklicheren Bewohner gemäßigter Himmelsstriche scheinen vorzüglich zu einer bessern körperlichen Organisation bestimmt, und zur schönern Blüthe der Humanität und der wahren Menschenwürde aufgelegt zu seyn.
Die Verschiedenheiten beim Wechsel der Jahreszeiten, die mannichfaltigen Veränderungen der Witterung, die herrschenden Winde, und die feinern Modificationen des Luftkreises haben auch einen entschiedenen Einfluß auf das physische und sittliche Wohl der Völker, und verändern den Gang ihrer Krankheiten auf eine sehr merkliche Weise.
Deswegen war es von jeher das Bestreben der größten Aerzte, diese Ursachen zu erforschen, mit ihnen eine Menge anderer Umstände, z.. B. die Beschaffenheit der Nahrungsmittel, der Lebensweise, der Kleidung, der
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Volksvergnügungen u. s. w. in Verbindung zu bringen, daraus Schlüsse auf den physischen und moralischen Zustand der Bewohner eines Erdstriches zu folgern, und sich dieser als Leitfäden bei Beurtheilung der Natur der Krankheiten und bei ihrer Heilung zu bedienen. Hippokrates ist der große Vorgänger, der mit reinem Natursinn klimatisch-medicinische Untersuchungen angestellt und in seinem, -nach Jahrtausenden noch nützlichen, Buche von der Luft, dem Wasser und den Gegenden, die treffendsten Winke hierüber gegeben hat. Zu allen Zeiten, wo der Geist echter Beobachtung, der diesen großen Mann beseelte, geachtet wurde, war das Studium der Klimate ein Lieblingsgegenstand berühmter Weltweisen und Aerzte, die eine Menge Beschreibungen von Gegenden und einzelnen Städten geliefert haben. Doch ist mir nicht bekannt, ob dergleichen Beobachtungen über eine Stadt existiren, die einen so ungeheuern Umfang als Moskwa hatte, und worin mehrere auffallende Modificationen des Klima's zu gleicher Zeit Statt fanden. Auch halte ich es deswegen für ein gewagtes Unternehmen, von dieser kolossalischen Stadt ein vollständiges Gemählde in klimatischer Hinsicht entwerfen zu wollen, da
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es die Kräfte eines Einzelnen zu übersteigen scheint, und da vielleicht nur von einer Vereinigung mehrerer Aerzte hierüber etwas Befriedigenderes zu erwarten wäre. Aus diesem Gründe wünsche ich , daß alles, was ich über diesen schwer zu erschöpfenden Gegenstand in Moskwa aufgezeichnet habe, und jetzt dem Publikum mittheile, nur als Fragment betrachtet werden, und daß Beobachter künftiger Zeiten es ergänzen, und zu einer völlständigen medicinisch-topographischen Schilderung dieser höchst merkwürdigen Stadt benutzen mögen.
Bei dem ungeheuern Perimeter von beinahe sechs Deutschen Meilen, und bei der Lage auf mehreren Hügeln und Niederungen, kann man nicht erwarten, daß der Boden von Moskwa überall von gleicher Beschaffenheit sey. Es gibt gewisse Gegenden, wo er trocken, und andere, wo er feucht und sumpfig ist. In höher liegenden Theilen der Stadt ist die Luft reiner, als in tief liegenden, wo oft, besonders im Sommer, der Luftkreis mit schädlichen Ausdünstungen geschwängert ist. So liegt ein Theil von Beloi-Gorod auf einem sumpfigen Boden. Daher scheint auch die Straße Mochawoi, wo jetzt die Universität steht, noch ihren Nahmen von Moch (Moos oder Sumpfpflanze)
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zu haben. Auch die Gegend des Findelhauses liegt tief und sumpfig, weswegen bei Erbauung dieses prächtigen Zufluchtsortes für das Unglück, die Fundamente fast eben so viel gekostet haben, als die fünf über der Erde stehenden Stockwerke. Die Gegend der Straße Gritonne Gorodnik ist ganz morastig, so daß man im Frühling und Herbst fast nicht durchkommen kann, besonders da, wo die Steinhauer-Buden sind. Auch in der Deutschen Vorstadt (Nemetzkaja Sloboda) findet man sumpfige Stellen, und nicht weit vom Opernhause ein Torfmoor, das im Sommer schädliche Ausdünstungen verbreitet *). Andere auf dem Rücken der Hügel liegende Gegenden sind trocken, und die Luft daselbst ist reiner.
Es ist gewiß für den rationellen Arzt ein höchst interessantes Phänomen, in einer und derselben Stadt so auffallende Verschiedenheiten in klimatischer Hinsicht zu finden. Man hat schon ähnliche Beobachtungen von andern Städten aufgezeichnet, die einen eben so ungleichen Boden haben. So versichert Lancisius,
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*) Da die Theurung des Holzes immer größer wird, so wäre zu wünschen, daß man dieses Torfmoor, welches mehrere Fuß mächtig ist, gehörig benutzte.
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in seinem Werke über die nachtheiligen Ausdünstungen der Sümpfe, daß in Rom dergleichen Verschiedenheiten Statt finden, und daß manche mit chronischen Krankheiten behaftete Personen nur dadurch Erleichterung gefunden, daß sie ihre niedrig gelegene Wohnung mit einer höhern vertauscht hätten. Dieselbe Bemerkung haben mir auch mehrere Einwohner von Rom bestätigt. Merkwürdig hat mir in dieser Hinsicht immer das Schicksal des kleinen Städtchens San Lorenzo geschienen, welches in einer pittoresken Gegend unweit des schönen Bolsener Sees (Lago di Bolsena) liegt. Seitdem es durch den Pabst Clemens XIV. auf einem Hügel neu erbauet ist, sind die Einwohner desselben gesund. Vormals, als das Städtchen in einer nahen Niederung lag, wo jetzt noch die Ruinen davon zu sehen, und unter dem Nahmen San Lorenzo vecchio bekannt sind, hatten fast alle Kinder dicke Bäuche und jedes Zeichen der Atrophie: sie waren blaß, und starben in Menge vor dem funfzehnten Jahre. Erwachsene wurden häufig von bösartigen Nervenfiebern hingerafft. Mit der äußersten Rührung erzählte mir bei meiner Durchreise ein guter Alter diese Umstände, und rühmte die Großmuth
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des Cardinals Pallota, der dies Werk der Humanität ausgeführt hat. Auch haben die Einwohner denen, die ihnen eine glücklichere klimatische Lage verschafft, ein Denkmahl mit einer zweckmäßigen Inschrift errichtet, welches gewiß ehrenvoller ist, als ein Monument wegen Zerstörung einer Stadt, oder wegen eines Sieges auf dem blutigen Schlachtfelde. Mit Moskwa, hat es nicht ganz dieselbe Beschaffenheit, wie mit San Lorenzo, da die schädlichen Wirkungen nicht so auffallend sind, und nicht bloß von einer niedrigen sumpfigen Lage abhangen, die überdies während der langen Winter durch anhaltenden Frost unschädlich gemacht wird. Aber es gibt höchst wahrscheinlich mancherlei feinere chemische Verderbnisse des Luftkreises, deren Natur sich nicht immer genau bestimmen läßt, und die einige Gegenden einer so großen Stadt ungesunder als andere machen. Nie werden wir vielleicht dahin gelangen, alle Lokalitäten in der Beschaffenheit des Luftkreises von dieser oder jener Gegend genau genug kennen zu lernen, um mit Gewißheit darüber theoretisiren zu können. Gesetzt, man bediente sich aller Hülfsmittel, welche die glänzenden Entdeckungen der neueren Naturforscher uns darbieten, man bestimmte
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mit Genauigfelt die locale Temperatur, Feuchtigkeit, Elektricität und Elasticität der Luft, der verschiedenen Gasarten und der im Luftkreise schwimmenden heterogenen Stoffe aus allen Naturreichen: so würde man, wie ich glaube, vielleicht doch nicht im Stande seyn, die Ursachen zu ergründen, warum gewisse Gegenden einer großen Stadt für die Gesundheit ihrer Bewohner nachtheiliger sind, als andre. Hierin muß vorzüglich die Erfahrung entscheiden. Ich könnte eine Menge von einzelnen Thatsachen aus meinen Tagebüchern anführen, und darauf Vermuthungen über die gesunde und ungesunde Beschaffenheit der verschiedenen Gegenden von Moskwa gründen; da dies aber für meinen gegenwärtigen Zweck zu weitläufig seyn würde, und hierbei so viel auf Nebenumstände ankommt, deren Erörterung die Geduld meiner Leser ermüden müßte: so will ich nur die Resultate angeben, die ich aus vielen einzelnen, mir vorgekommenen Fällen ziehen zu können glaube.
Im Allgemeinen fand ich die niedrigen Gegenden von Beloigorod manchen chronischen Krankheiten günstiger, als höher liegende Theile der Stadt. Asthenische Uebel aller Art waren daselbst immer schwerer zu heilen,
Wichelhausens Moskwa, [7]
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als in höher liegenden Gegenden. Oft wurden Personen, die an mancherlei Nervenbeschwerden litten, durch wenige einfache Arzeneimittel hergestellt oder doch sehr erleichtert, sobald sie diesen Theil der Stadt verließen. Dreimal sah ich ein halbseitiges Kopfweh und Einmal einen hartnäckigen Magenkrampf, als die Patienten eine andre Wohnung bezogen hatten, verschwinden. Chronische Augenbeschwerden sind hier auffallend häufiger, als in andern Stadttheilen. Was Localität bei Augenbeschwerden vermag, ist allgemein bekannt. So sind z. B. die örtlichen Verhältnisse von Florenz so beschaffen, daß sehr viele Einwohner daselbst blind werden, weswegen man auch eine eigne Zunft für arme Blinde gestiftet hat, die unter dem Nahmen li Orbetti bekannt ist. Wie sehr Malta und Aegypten den Augen furchtbar sind, hat die Französische Armee während ihres dortigen Aufenthalts erfahren. In diesen Erdstrichen wird das Zurückprallen der Sonnenstrahlen als Ursache der häufigen Augenbeschwerden angegeben. In Moskwa ist nicht dieselbe örtliche Beschaffenheitz: und doch findet man im der schon genannten Stadtgegend eine auffallende Menge asthenischer Augenkrankheiten. Man weiß in
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ganz Moskwa, daß z. B. im Findelhause, welches tief am Ufer der Jausa liegt, das ganze Jahr hindurch dergleichen Beschwerden Statt finden; und meine eignen Beobachtungen bestätigen es, daß in dieser Stadtgegend asthenische Augenübel am häufigsten vorkommen. So habe ich daselbst sogenannte kachektische Krankheiten, als Bleichsuchten, Wassersuchten, Verstopfungen der Eingeweide im Unterleibe, weißen Fluß u. s. w., besonders häufig beobachtet. Als im Jahre 1791 die kalten Fieber epidemisch herrschten, waren sie daselbst bögartiger und schwerer zu heilen, als z. B. auf der novaja Basmannaja, Arbataja uliza, und andern besser liegenden Straßen. In der Gegend der Straße Gritonne Gorodnik und in den umliegenden Gegenden herrschten im Julius und August desselben Jahres fast in allen Häusern äußerst hartnäckige Diarrhöen, während in den übrigen Gegenden der Stadt dergleichen nur äußerst selten vorkamen.
Ehe ich im Allgemeinen von den klimatischen Verhältnissen der Einwohner von Moskwa rede, glaube ich diese Winke über Verschiedenheiten geben zu müssen, welche nur in einer so ungeheuren Stadt möglich sind, und größten Theils von der niedrigern oder höhern
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Lage ihrer Abtheilungen und den dadurch verursachten localen Modifikationen der Atmosphäre abhängen.
Der Boden um Moskwa ist im Allgemeinen gut ünd besonders fruchtbar, wozu vielleicht die vielen lehmigen und gypsartigen Theile in der Mischung des Erdreichs das Ihrige beitragen, da sie, nach neueren Beobachtungen des berühmten Naturforschers Alexander von Humboldt, eine größere Anziehungskraft zu dem pflanzenbefeuchtenden Sauerstoff haben, welcher sowohl in der vegetabilischen als in der animalischen Oekonomie eine so große Rolle spielt *).
Auch ist das Land um Moskwa vortrefflich angebauet: Felder mit Winter- und Sommerkorn, und anmuthige mit sehr mannichfaltigen Früchten und Gemüsarten bepflanzte Gärten gewähren dem Wanderer einen erfreuenden Anblick.
Das Land, welches zum Distrikte der Stadt Moskwa gehört, beträgt
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*) In den Gesetzen, nach welchen die Natur im Thier- und im Pflanzenreiche wirkt, scheint. eine größere Uebereinstimmung zu seyn, als die Physiker bisher -ahndeten.
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117,352 Desätinen *), und. 62 Quadratfaden. Hiervon kommen 2,825 Desätinen 2,174 Faden, auf Wohnplätze, 39,098 Desätinen 319 Faden auf Ackerland, 15,209 Desätinen 1,833 Faden auf Heuschläge, 52,053 Desätinen 1,625 Faden auf Waldungen, und 8,164. Desätinen 1,311 Faden auf unbrauchbares Land **).
Moskwa ist von sehr großen Waldungen umgeben, welche beinahe die Hälfte von dem Flächeninhalte des Moskowischen Kreises ausmachen. In vorigen Zeiten waren sie dichter, als jetzt ***); weshalb die Kälte und die Feuchtigkeit des Luftkreises größer als heut zu Tage gewesen seyn muß. Ueberhaupt scheint das Klima etwas gelinder geworden zu seyn, seitdem die Wälder allmählich ausgehauen worden
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*) Eine Desätine macht 117,600 Ouadrat-Fuß aus.
**) Istoritscheskoje i topografitscheskoje Opissanije Gorodow Moskowskoj Gubernii ich ujesdami. Moskwa, 1787. 8.
***) Der Baron Herberstein, der im Jahre 1516 in Moskwa war, sagt hierüber Folgendes: Tutta la regione quasi longo tempo non esser stata cosi selvosa, per li tronchi delli grandi arbori li quali etiam dio al presente si vedono appare. Comment, della Moscovia p. 37
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sind, und den Sonnenstrahlen ein größeren Einfluß verschafft ist.
Noch tragen die vorhandenen vielen und dichten Holzungen nicht wenig dazu bei, die Atmosphäre in den wärmeren Jahrszeiten mit Feuchtigkeiten zu schwängen *). Dessen ungeachtet glaube ich, daß man mit dem fernern Aushauen der Moskowischen Wälder äußerst behutsam verfahren müsse, weil sonst nicht vorher zu sehende Nachtheile für die Gesundheit entstehen könnten. Der große Petrowkysche Wald, der nach Nordwesten liegt, scheint eine Schutzwehr gegen die nordwestlichen Winde zu seyn, welche öfters feuchte Witterung bringen, wie man dies aus meinen Witterungsbeobachtungen ersehen wird. In dieser Hinsicht halte ich dafür, daß dessen gänzliche Ausrottung für die Gesundheit der Einwohner
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*) Der berühmte Freiherr van Swieten sagt über diesen Gegenstand Folgendes: Quum enim constat ex observatis celeberrimi HALES ingentem aquae copiam dispergi in aërem per folia plantarum et inprimis magnarum arborum » Decessario aer humidus erit in talibus locis, dum simul clima admodum aestnosum est, quae bina juncta putredini admodum favent. Eandem sententiam probauit MEAD ex naturali, historia plurium regionum. Comment. T. V. p. 163.
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von Moskwa. nicht heilsam seyn könnte. Eben so wenig glaube ich, daß es rathsam wäre, wenn die hinter der Deutschen Vorstadt liegenden Waldungen, welche unter dem Nahmen des Perowischen und des Annen-Waldes bekannt sind, stark und zu schleunig ausgehauen würden, weil sie die Wirkung der nordöstlichen, über die Sibirischen Wüsteneien vom Eismeer her stürmenden, Winde mäßigen, bei deren anhaltendem Wehen, nach meinen Erfahrungen, am häufigsten die in Moskwa so gewöhnlichen und oft so gefährlichen Katarrhal-Fieber herrschen.
Nach Südwesten könnte man vielleicht nützlicher die Wälder aushauen, weil die Stadt durch eine Reihe hoher Hügel, die unter dem Nahmen Sperlingsberge (Worobjewy Gori) bekannt sind, gegen die südwestlichen Winde geschützt wird.
Es ist vielleicht ein großes Glück für Moskwa, daß viele, besonders am linken Ufer des Moskwaflusses liegende, Wälder Privatpersonen zugehören, die ihres Nutzens wegen nicht zu viel Holz auf einmal fällen lassen, weshalb die Stadt größten Theils aus andern Kreisen der Moskowischen Statthalterschaft mit diesem Bedürfnisse versorgt wird. Sollte
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man je wegen der theuern Holzpreise, oder aus andern Absichten, einen beträchtlichen Theil dieser Wälder niederhauen, so müßte dies mit großer Vorsicht und unter Leitung sachkundiger Personen geschehen; denn eine zu schleunige Ausrottung derselben könnte Uebel herbeiführen, die man jetzt vielleicht noch nicht ahnet. Zuverlässig hat der große Herder Recht, wenn er hierüber sagt: „die ganze lebendige Schöpfung ist im Zusammenhange, und dieser will nur mit Vorsicht geändert werden *).“ Dieser so wahre Satz (den man auch auf andere menschliche Verhältnisse ausdehnen kann), wird durch viele traurige Erfahrungen bestätiget; wovon ich hier nur einige anführen will. So berichtet Kalm **), daß seit der übereilten Ausrottung der Wälder, und dem vermehrten Anbau in Nordamerika, große klimatische Veränderungen entstanden sind, und besonders die Gesundheit der Einwohner dadurch gelitten hat, so daß die Landeseinwohner, welche vor der Ansiedlung der Europäer oft ein Alter von
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*) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Th. II. S. 145.
**) M. s. Finke Versuch einer allgemeinen medicinisch praktischen Geographie Th. I. S. 221. 222.
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hundert und mehr Jahren erreichten, jetzt gewöhnlich nur halb so lange leben, als ihre Vorfahren. Einen eben so schädlichen Einfluß hat die zu rasche Ausrottung der Waldungen auf die Bewohner von Jamaika, und Barbados gehabt, wie man dies bei dem Herrn von Pauw *) aufgezeichnet findet. Ein auffallenderes Beispiel, welchen Einfluß die Lage von Waldungen bei menschlichen Wohnungen hat, kann man nichs finden, als das, welches Bajon in seinen Nachrichten zur Geschichte von Cayenne, bei Gelegenheit des dort herrschenden Kinnbackenkrampfes, anführt. Er sagt (zweiten Th. erst. Absch. S. 117): „Man findet, daß diese Krankheit unter den Bewohnern der Seeküste bei denjenigen häufiger vorkommt, welche auf Anhöhen oder kleinen Bergen wohnen, wo die Seeluft sie in gerader Linie trifft, als bei solchen, deren Wohnungen in moorartigen Gegenden liegen, und also durch Berge, oder große Waldungen vor dieser Luft geschützet werden. Bei dieser Gelegenheit will ich eine Beobachtung anführen, die ein Mann, der in einer kleinen Entfernung vom Meere wohnt, seit einigen Jahren gemacht hat. Seine Behausung liegt
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*) Récherches philosophiques sur les Americains, T. I. P 27.
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in einem niederen und von kleinen Bergen eingeschlossenen Ort; ein dichtes Gehölz voll hoher Stämme lag ihr gegen die Meerseite, und diente ihr zur Vormauer für die von dort her wehende Luft. Der Kinnbackenkrampf war dort so selten, daß er von zwölf bis funfzehn Kindern, die in seinem Hause geboren wurden, kaum Eins verlor. Ein Nachbar, dem dieser Strich Holz gehörte, ließ ihn abschlagen; und von diesem Augenblick wurde der Kinnbackenkrampf daselbst so gemein, daß fast alle Kinder, die dort zur Welt kamen, an dieser Krankheit starben."
Aus diesen Beispielen erhellet, wie behutsam man in ähnlichen Fällen seyn müsse. Die alten Römer waren es in dieser Hinsicht viel mehr, als man es in unsern Tagen ist, und sahen überhaupt bei der Anlage ihrer Wohnsitze auf viele kleine klimatische Verhältnisse, die jetzt nur zu sehr aus der Acht gelassen werden. Die neueren Römer vernachlässigen diese Rücksichten nicht ganz, indem sie auf alle Art und Weise die Wälder schonen, die eine natürliche Schutzmauer gegen die Wuth der schädlichen Sciroccowinde, und gegen die Ausdünstungen von den Pomptinischen Sümpfen bilden.
Ich würde mich über die Nothwendigkeit,
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die Moskowischen Wälder zu schonen, hier nicht so weitläuftig ausgelassen haben, wenn nicht zu befürchten wäre, daß bei der von Jahre zu Jahre zunehmenden Theurung des Holzes endlich Wälder ausgehauen werden möchten, deren Erhaltung für die Gesundheit der Einwohner wichtig ist; besonders, da in Rußland das, was man in Deutschland Waldkultur oder Forstwissenschaft nennt, leider noch unter die unbekannten Dinge gehört.
Im Winter bemerkt man die Nachtheile des feuchten Bodens nicht, da meistens eine anhaltende Kälte die Luft trocken und rein erhält. Auch sind die Wälder hinreichend ausgehauen, so daß die Winde ihre Wirksamkeit zur Bewegung und Reinigung der Luft äußern können.
Regelmäßig, zu bestimmten Jahreszeiten, herrschende Winde kennt man in Moskwa nicht.
Am häufigsten wehen die westlichen. Gerade aus Westen kommen sie indeß selten, und, nach einem Durchschnitt von mehreren Jahren, jährtich nur an 23 Tagen. Die nordwestlichen sind bei weitem die gewöhnlichsten. Nach einem Durchschnitt von mehreren Jahren wehen sie an 94 Tagen. Die südwestlichen, die nicht
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so oft als dle nordwestlichen vorkommen, aber immer noch öfter als die übrigen Winde, werden --- nach derselben Berechnung, die ich bei diesen Beobachtungen durchgehends befolge --- jährlich an 59 Tagen bemerkt. Ueberhaupt kann man annehmen, daß die Hälfte des Jahres hindurch westliche Winde herrschend sind.
Bei Nordwest-Winden ist der Luftkreis im Winter kalt, und der Schnee kleinflockig. und compakt, im Sommer aber die Luft gewöhnlich trübe und kühl.
Die Südwest-Winde sind in gelinden Wintern häufig, worin vieler und großflockiger, lockerer Schnee fällt; im Sommer aber bei heißem Wetter und starken Regengüssen.
Nächst den westlichen Winden werden die Nordwinde am häufigsten beobachtet, und zwar jährlich an 55 Tagen. Sie sind im Winter von strenger Kälte, und im Sommer von mittelmäßig heiterer und trockener Witterung begleitet.
Winde, die gerade aus Osten kommen, sind unter allen am seltensten, und man kann für sie jährlich nur 7 Tage ansetzen. Vielleicht ist die Richtung der großen Uralischen Gebirgskette, die sich 300 Deutsche Meilen weit von Norden nach Süden an der Grenze
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von Asien hin zieht, und die Richtung anderer, nach Osten liegender, Gebirge hieran Schuld.
Auch nordöstliche Winde werden nur selten, und zwar jährlich an 28 Tagen wahrgenommen. Südöstliche hingegen wehen in jedem Jahre gewöhnlich an 56 Tagen.
Die strengste trockne Winterkälte kommt mit dem Nordostwinde, der im Sommer oft sehr stürmisch ist.
Der Südostwind wehet im Winter bei trocknem Frost, und im Sommer bei heißer, schwüler Luft.
Windiges und stürmisches Wetter ist in Moskwa häufiger, als sanftes und stilles. Im Durchschnitt kann man annehmen, daß es in jedem Jahre 203 windigeTage, 84 stürmische, und nur 78 mit sanftem oder unmerklichem Winde gibt.
Ganz trockne Tage, ohne allen Regen, Schnee, Nebel oder Hagel, sind in Moskwa nicht die häufigsten, und im Durchschnitt kann man ihrer nur 118 rechnen.
Dagegen kann man annehmen, daß es jährlich an 128½ Tagen regnet und an 87 Tagen schneiet, an 2 Tagen hagelt, und an 18 Gewitter Statt haben.
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Die Höhe des jährlichen Regens und der Feuchtigkeiten der Luft kann ich nicht bestimmen. In St. Petersburg aber beträgt sie, der Berechnung des berühmten Ritters von Kraft zufolge, nach einer Mittelzahl, 20XX Zoll.
Es ist auffallend, daß es in einem so kalten Erdstriche so selten hagelt, und daß die Hagelkörner, im Verhältniß zu denen, die in wärmeren Ländern fallen, fast immer sehr klein sind.
Die Gewitter sind gewöhnlich nicht heftig, und kommen meistens aus Südwesten und Südosten, aber zuweilen doch auch aus andern Himmelsgegenden. Sehr oft wechselt auch der Wind bei einem und demselben Gewitter mehrere Male.
Was die Ansicht des Himmels betrifft, so kann man rechnen, daß er nur an 26 Tagen ganz hell und azurblau, an 76 Tagen mittelmäßig heiter and mit einigen Wolken überzogen, an 263 Tagen aber ganz trübe und wolkig ist *).
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*) Man sieht hieraus, daß, was Herr Macquart in seiner sogenannten Topographie von Moskwa (S. 15.), und Herr Richter, in seiner Skizze von derselben Stadt (S. 6.), über die gewöhnliche Reinheit und Heiterkeit der Atmosphäre sagen, großer Einschränkungen bedarf.
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Zuweilen sieht man Nordscheine, die mit einem weißen Lichte flimmern. Aeußerst selten, und zwar bei sehr heitrem und kaltem Wetter, beobachtet man Ringe um die Sonne. --- Höfe um den Mond sind im Frühling und Herbst eine nicht ungewöhnliche Erscheinung, und Regenbogen sieht man sehr oft.
Die Schwere der Luft spielt eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte des Luftkreises. Außer ihrem bekannten Einfluß auf eine Menge physischer und chemischer Verhältnisse, wirkt sie sehr merklich auf den Gesundheitszustand des Menschen. Nach genauen Berechnungen, drückt sie mit einer Kraft von 32,000 Pfund auf die Oberfläche erwachsener Personen. Ihr größerer oder geringerer Druck, der mit andern Verhältnissen der Witterung zusammenhängt, bringt Veränderungen in der ganzen Natur, und folglich auch in der animalischen Oekonomie, hervor. In Moskwa ist die Schwere der Luft sehr veränderlich. Um davon einen Begriff zu geben, bemerke ich in folgender Tabelle den höchsten und niedrigsten Barometer-Stand in jedem Monath, während der Jahre 1790 und 1791.
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1790.
Mon. u. Tag. |
Höch. Stand. |
Mon. u. Tag. |
Tiefst. Stand. |
Januar 27. |
27‘8“ |
Januar 25. |
26‘9“ |
Februar 23. |
27‘11“ |
Februar 24. |
26‘8“ |
März 17. |
28‘1“ |
März 23. |
27‘10“ |
April 22. |
27‘17“ |
April 9. |
26‘23“ |
Mai 14. |
27‘13“ |
Mai 5. |
27‘0“ |
Junius 9. |
27‘10“ |
Junius 25. |
26‘20“ |
Julius 17. |
27‘1“ |
Julius 7. |
26‘15“ |
August 5. |
27‘10“ |
August 22. |
26‘21“ |
September 11. |
27‘18“ |
September 15. |
26‘20“ |
October 25. |
27‘18“ |
October 9. |
26‘17“ |
November 19. |
27‘17“ |
November 30. |
26‘20“ |
December 19. |
27‘15“ |
December 1. |
26‘15“ |
1791.
Mon. u. Tag. |
Höch. Stand. |
Mon. u. Tag. |
Tiefst. Stand. |
Januar 13. |
27‘21“ |
Januar 21. |
26‘17“ |
Februar 27. |
28‘2“ |
Februar 1. |
26‘17“ |
März 1. |
28‘0“ |
März 5. |
26‘15“ |
April 3. |
27‘19“ |
April 18. |
27‘4“ |
Mai 24. |
27‘14“ |
Mai 3. |
26‘17“ |
Junius 5. |
27‘13“ |
Junius 10. |
27‘0“ |
Julius 23. |
27‘11“ |
Julius 6. |
27‘0“ |
August 12. |
27‘14“ |
August 30. |
27‘5“ |
September 25. |
27‘17“ |
September 15. |
26‘11“ |
October 29. |
27‘19“ |
October 23. |
27‘0“ |
November 13. |
27‘18“ |
November 29. |
26‘14“ |
December 31. |
27‘15“ |
December 4. |
26‘15“ |
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Die Kälte ist in Moskwa größer, als in vielen andern Gegenden, welche mit dieser Stadt unter gleicher Breite liegen. Die Ursache hiervon scheint ihre höhere und östlichere Lage zu seyn, da diese, wie bekannt, unter gleichen Verhältnissen die Kälte vergrößert.
Die Hitze ist im Sommer außerordentlich stark und mit der im oberen Italien zu vergleichen.
Ueber nichts von dem, was Moskwa betrifft, hat man vielleicht in ganz Europa unrichtigere Begriffe, als über die gewöhnliche Temperatur des dortigen Luftkreises. Der Pöbel, der einzelnen übertriebenen Erzählungen von ununterrichteten Reisenden leicht Gehör gibt, macht sich in seiner Phantasie die sonderbarsten Vorstellungen von der Winterkälte dieser Gegend, und kann kaum begreifen, daß der Sommer daselbst so warm und angenehm ist, als in den mildesten Europäischen Ländern.
In vorigen Zeiten haben besonders Reisebeschreiber die übertriebensten Nachrichten von der Moskowischen Kälte verbreitet. Es ist zwar möglich, daß damals die Temperatur der Luft etwas kälter war *), als jetzt; indeß
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*) Die ältesten Nachrichten über die Kälte dieser Gegenden findet man wohl beim Herodot. Er sagt (IV. 28.): der Winter daure daselbst acht Monathe, und auch in den übrigen sey es kalt; im Winter gebe es wenig Regen, im Sommer aber viel Regen und Gewitter.
Wichelhausens Moskwa [8]
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überlasse ich jedem, der die Witterung von Moskwa kennt zu beurtheilen, ob folgende Nachrichten älterer Reisenden mit der Wahrheit zu vereinigen sind. Meiners, der die Nachrichten älterer und neuerer Schriftsteller hierüber gesammelt hat *), theilt unter andern von der Kälte in Moskwa folgende Berichte mit:
„Der Speichel, den man auswirft, verwandelt sich in Eis, bevor er die Erde erreicht. Bei der größten Sorgfalt geschieht es häufig, daß denen, welche nur kleine Strecken Weges machen, in wenigen Minuten Nase, Ohren oder Finger verfrieren. Raub- und andere Vögel fallen todt zur Erde nieder. Ausländern **) begegnete es mehrmals,
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*) Vergleichung des ältern und neueren Rußlands in Rücksicht auf die natürlichen Beschaffenheiten der Einwohner, ihrer Culture, Sitten, Lebensart, und Gebräuche, so wie auf die Verfassung und Verwaltung des Reiches, nach Anleitung älterer und neuerer Reisebeschreiber. Leipzig, 1798. I. Th. S. 79.
**) Dies begegnete vielleicht nur den Ausländern, weil die Inländer sich nie in einem solchen Grade von der Phantasie täuschen ließen.
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daß Fleisch und Fische, welche sie stundenlang hatten kochen und braten lassen, in ihrem Innern noch gefroren waren, wenn man sie zerschneiden wollte." Solche und ähnliche *) Uebertreibungen findet man häufig in Schriften, und hört sie noch häufiger von Reisenden erzählen; daher ist es wohl nicht zu verwundern, daß über die Temperatur des Luftkreises von Moskwa so verkehrte und alberne Meinungen in Umlauf sind. Wenn auch an diesen und ähnlichen Sagen mitunter etwas Wahres wäre, so sollte man doch wenigstens die Einschränkung hinzufügen, daß eine solche außerordetitlich heftige Kälte, die dergleichen Wirkungen hervorzubringen vermag, in einem ganzen Jahre nur an wenigen Tagen, und an diesen nur einige Stunden Statt
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*) So erzählt der Abt Richard, daß in den Jahren 1735 - 1738 unter dem 58° N. Breite der Reaumürsche Wärmemesser bis zum 70 Grad unter dem Gefrierpunkt gefallen gewesen sey. S. dessen. natürliche Geschichte der Luft und der Begebenheiten in derselben, aus dem Franz. I B. 2 Abth. S. 257. --- Der Baron Herberstein behauptet, im Jahre 1526 sey die Kälte so groß gewesen, daß Fuhrleute am ihren Wagen fest gefroren gefunden worden, und die Bären die Walder verlassen hätten, um ihren Hunger zu stillen und Schutz in den Hütten der Landleute zu suchen.
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habe; damit nicht Ausländern bei dem Gedanken an die Moskowische Winterkälte ein Grausen befiele.
Ueberdies gibt es nicht in allen Jahren so hohe Grade von Kälte. Die größte Kälte, die man in Moskwa beobachtet hat, ist, nach der Scala des Reaumürschen Thermometers, 30 bis 32 Grade unter dem Gefrierpunkte, bei welchen das Quecksilber zu frieren anfängt.
Meistens ist die Kälte geringer, als in St. Petersburg; doch gibt es Jahre, die hierin Ausnahmen machen, wie dies z. B. 1791 der Fall war. In gewöhnlichen Jahren beträgt die größte Kälte einige und zwanzig Grade.
Die größte Hitze steigt in Moskwa bis 27°; in gewöhnlichen Jahren aber ist sie weit geringer. Doch man hat auch Beispiele von so außerordentlicher Hitze, daß alle Getreidefelder versengt, die Wälder in Brand gerathen, und so mit Rauch erfüllt gewesen sind, daß die Augen davon Schaden gelitten häben *).
Um bestimmtere Ideen von der gewöhnlichen Temperatur, der Atmosphäre in Moskwa zu geben, folgen hier der höchste und niedrigste Stand des Reaumürschen Wärmemessers in jedem Monate der Jahre 1790 und 1791.
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*) Herberstein im a. Buche S. 37
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1790
Mon. u. Tag. |
Höch. Stand |
Mon. u. Tag. |
Tiefst. Stand. |
Januar 30. |
+ 2.7 |
Januar 3. |
-21.2 |
Februar 16. |
+4. |
Februar 1. |
-21. |
März 13. |
+8. |
März 24. |
-13. |
April 27. |
+17.6 |
April 12. |
-2. |
Mai 27. |
+20.8 |
Mai 1. |
-2.1 |
Junius 16. |
+20.8 |
Junius 2. |
+8. |
Julius 20. |
+24. |
Julius 8. |
+10. |
August 1. |
+18. |
August 13. |
+3.2 |
September 5. |
+15.1 |
September 27. |
-0.5 |
October 1. |
+11.7 |
October 25. |
-8.5 |
November 7. |
+2. |
November 3. |
-17.1 |
December 5. |
+3.7 |
December 25. |
-14.4 |
1791
Mon. u. Tag. |
Höch. Stand |
Mon. u. Tag. |
Tiefst. Stand. |
Januar 14. |
+ 2. |
Januar 16. |
-17 |
Februar 16. |
+2.7 |
Februar 28. |
-13.9. |
März 28. |
+2. |
März 1. |
-16. |
April 24. |
+19. |
April 1. |
-5. |
Mai 21. |
+22. |
Mai 7. |
-1.1 |
Junius 4. |
+22.4 |
Junius 1. |
+5. |
Julius 28. |
+21.3 |
Julius 26. |
+6. |
August 4. |
+24. |
August 24. |
+2.7 |
September 6. |
+19.2 |
September 22. |
-1. |
October 13. |
+14.9 |
October 30. |
-8. |
November 21. |
+4.5 |
November 5. |
-13.3 |
December 5. |
+4. |
December 31. |
-15. |
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Aus diesen Beobachtungen siehet man, daß in diesen zwei Jahren die größte Kälte 21.2 Grade und die größte Hitze 24 Grade betrug. Ich glaube übrigens, daß man diese Verhältnisse für die gewöhnlichen Jahre annehmen kann. Im Jahre 1790 stand das Reaumürsche Thermometer an 155 Tagen, und im Jahre 1791 an 177 Tagen unter dem Gefrierpunkt.
Im Durchschnitt mehrerer Jahre kann man jährlich 160 Frosttage rechnen.
Gewöhnlich gibt es nur drei Monate im Jahre, nehmlich den Junius, Julius und August, wo das Thermometer nicht unter den Eispunkt fällt. Doch öfters kommen auch Jahre, in denen das Thermometer selbst während der Wintermonathe an einigen Tagen über den Gefrierpunkt steigt, wie dies 1790 und 1791 den ganzen Winter hindurch der Fall war.
Die ersten Spuren der beginnenden Frostzeit kündigt die Erkältung der elastischen Dünste im Luftkreise an, die sich in der Gestalt des Reifes auf das Gras und die Zweige der Bäume niedersenken. Nimmt die Intensität des Frostes zu, so verwandeln sich die tropfbar flüssigen Stoffe des Erdreichs in starre,
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119
und allmählich gefriert der Boden immer mehr, so daß endlich die Erstarrung desselben sich auf die Tiefe von einem Fuß bis zu anderthalb Ellen erstreckt.
Das Eis des Moskwa- und Jausaflusses ist in den gewöhnlichen Jahren, zwei Fuß, und bei außerordentlich strenger Kälte zuweilen 30 bis 33 Zoll dick. Das in dem Neglina-Flusse erreicht nicht ganz dieselbe Dicke, und erscheint gewöhnlich in blätterichten Lagen.
Das Eis ist hier ungleich härter, als in gemäßigten Erdstrichen. Bildet es sich durch einen Frost, der mit gelinder Witterung wechselt, so bemerkt man daran verschiedene Schichten. Ist es hingegen bei anhaltendem Frost entstanden, so macht es eine festere, durchsichtigere Masse aus, die zuweilen eine etwas bläuliche Farbe hat. Die Oberfläche des Eises ist fast immer weniger durchsichtig und fest, als das Innere. Wie groß die Härte des Eises im Norden ist, kann man daraus beurtheilen, daß, nach Olaus Magnus Bericht, vormals Mauern und andere Vertheidigungswerke davon angelegt wurden *). Man hat im Jahre 1740. in St. Petersburg sogar einen
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*) Historia gentium septentriopalium, Romae, 1555. L. V. cap: 25. de moeniis glacialibus,
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ganzen Pallast von Eisblöcken aufgebauet, der 52½ Fuß lang, 16½ breit, 20 Fuß hoch, und nach allen Regeln der Baukunst verziert war. Vor dem Pallaste standen sechs aus Eis gedrechselte Kanonen mit ihren, ebenfalls aus Eis verfertigten, Lavetten und Rädern, nebst zwei Mörsern von derselben Masse, die den gewöhnlichen glichen. Man schoß aus den Kanonen mit Sechspfündern, und ein Viertelpfund Pulver trieb die Kugeln durch eine 60 Schritt entfernte bretterne Planke von dwei Zoll Dicke, ohne daß die Kanonen zerplatzten. Alles Hausgeräth, und sogar das Bett, welches für die Hochzeitsnacht eines Kaiserlichen Hofnarren bestimmt war, bestand gleichfalls aus Eis.
Von den Wirkungen des strengen Frostes auf die leblose und lebendige Natur wird weiter unten die Rede seyn.
Hier sollten nun elektrometrische, eudiometrische und ähnliche Beobachtungen folgen, welche die Verhältnisse des Luftkreises betreffen. Besonders wäre es sehr interessant, den Sauerstoffgehalt der Atmofphäre zu verschiedenen Zeiten, und besonders zur Zeit des eintretenden Frostes und des Aufthauens, angeben zu können, weil daraus äußerst wichtige Resultate zu
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folgern wären. Da ich aber hierüber bei meiner Anwesenheit in Moskwa keine Beobachtungen angestellt habe, so kann ich nichts bestimmen, und muß diese Untersuchungen künftigen Beobachtern der Moskowischen Atmosphäre überlassen.
Der Verlauf der Jahreszeiten ist hier nicht alle Jahre derselbe, ob er gleich beständiger ist, als in südlichern Erdgegenden. Sommer und Winter sind näher an einander gerückt, als in gemäßigtern Zonen, wo der Uebergang durch längere: unangenehme Witterung sich auszeichnet.
Der Frühling hat viele kalte Tage, an denen es stark friert und viel Schnee fällt. Auch starke Regengüsse, Stürme und Gewitter bemerkt man in dieser Jahreszeit. Der März des neuen Styls (wovon hier allezeit die Rede ist), hat gewöhnlich im Anfange noch sehr starke Fröste bei heiterer Witterung. Schnee fällt häufig aber selten Regen. Im Durchschnitt mehrerer Jahre hat dieser Monath sechs ganz heitere Tage, mit vollkommener Azur-Bläue des Himmels; fünf mittelmäßig heitere, wo am Himmel einige Wolken und Nebel wahrzunehmen sind; zwanzig trübe, wo der ganze Horizont mit Wolken bedeckt ist, sechzehn,
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an denen es schneiet, und zuweilen einen oder den andern, an welchem es regnet. Auch hier behauptet der April seinen allgemeinen übeln Ruf der Unbeständigkeit. Frost, Regen, Schneegestöber, stürmisches Wetter und einzelne heitere Tage wechseln mit einander ab. Fast alle Jahre, mit seltnen Ausnahmen, gibt es in diesem Monath mehrere Gewitter, die man in einem so nördlichen Himmelsstriche nicht vermuthen sollte. So bemerkte ich im März des Jahres 1790 zwei, und 1791 fünf Gewitter. Gewöhnlich thauen auch die Flüsse auf, ob man gleich auch Beispiele hat, daß es schon am Ende des Märzes geschehen ist.
Die ganze Natur erhält neues Leben, die Bäume fangen an Knospen zu treiben. --- Dieser Monath hat zwei ganz heitere, zwölf mittelmäßig heitere, sechzehn trübe, elf Regen- und Schneetage; an vier Tagen gibt es Gewitter.
Der in gemäßigten Erdstrichen so schöne Mai ist in Moskwa nicht immer schön. Ob er gleich gewöhnlich gelinde Witterung bringt, und das Thermometer in ihm nur selten unter den Gefrierpunft fällt, so kommt doch zuweilen noch viel Schnee, und es stellen sich öfters Nachtfröste mit Reif ein, die den Pflanzen
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sehr schädlich werden und die Hoffnungen des Landmannes zerstören können, besonders wenn es im Anfange dieses Monaths bereits warme Tage gegeben hat, wie dies bisweilen der Fall ist. --- Während. meines Aufenthaltes in Moskwa hagelte es zwei Jahre hinter einander in diesem Monath, was sonst eine ziemlich seltne Erscheinung ist. Gewöhnlich hat er vier ganz heitre, sechs mittelmäßig heitre, ein und zwanzig trübe, und neunzehn regenhafte Tage, öfters auch zwei bis drei Gewitter.
In diesem Monath bekleidet frisches Laub die Bäume, und einige derselben stehen bereits in voller Blüthe, wie z. B. die Birken.
Die Sommerjahrszeit ist in Moskwa so reitzend und warm, als in manchen Ländern des südlichen Europa‘s. Die Hitze ist oft sehr groß, aber zugleich meistens einem schnellen Wechsel unterworfen. Am Mittag pflegt sie fünf bis sechs Grad stärker zu seyn, als am Morgen; und die Abende sind oft sehr kühl. Die Sommernächte sind nicht so hell und bezaubernd schön, wie in St. Petersburg, wo die Dämmerung so hell ist, daß man die ganze Nacht hindurch ohne Licht die feinste Schrift lesen kann. Im Anfange des Sommers kommen gewöhnlich viele Gewitter und
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Regengüsse, in der Mitte häufig sehr schwüle, und gegen das Ende des Monaths mittelmäßig warme und angenehme Tage.
Den ganzen Sommer hindurch ist die Art von Mücken, welche Linné culex pipiens nennt, außerordentlich lästig.
Der Junius ist nicht der angenehmste Sommermonath, obgleich die Hitze meistens schon auf 15 bis 20 Grad steigt. Häufiger Regen mit stürmischem Wetter und Gewittern, welche die Fruchtbarkeit des Erdreichs befördern, stören oft den Genuß der wiederkehrenden schönen Jahrszeit. Dieser Monath hat meistens keinen ganz heitern Tag, sieben mittelmäßig heitere, drei und zwanzig trübe, zwei und zwanzig regenhafte, und sechs bis sieben Gewitter. Im Jahre 1791 hatte er sogar zwölf Gewitter mit vielem Regen und sehr unangenehmen Wetter.
Im Julius wird es sehr heiß, so daß das Reaumürsche Thermometer oft im Schatten auf vier und zwanzig und mehr Grade steigt. Indeß wird der Luftkreis meistens durch Regen und Gewitter abgekühlt. Dieser Monath hat zwei ganz heitre, sechs mittelmäßig heitre, drei und zwanzig trübe, zwanzig regenhafte Tage, und viev Gewitter.
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Im August ist die Luft oft unerträglich schwül und drückend, und sie-wird seltner durch Gewitter abgekühlt, als in den vorigen beiden Monathen. Die-Nächte sind dabei auffallend kalt. Es gibt indeß wenig heitere Tage, an denen kein Wölkchen den azurblauen Himmel trübt; wie denn dergleichen in Moskwa überhaupt selten sind. Indeß sind die Tage doch nicht ganz unangenehm, besonders nach Regen, der in diesem Monathe meistens täglich eine kurze Zeit des Tages tropfenweise fällt, obgleich zuweilen auch starke Regengüsse erfolgen. Im Durchschnitt mehrerer Jahre hat dieser Monath drei ganz heitre, dreizehn mittelmäßig heitre, funfzehn trübe, funfzehn regenhafte Tage, und selten Gewitter.
Der Anfang des Herbstes ist nicht ganz unangenehm und noch ziemlich warm, obgleich die Tage allmählich kürzer, und die Abende kälter werden. Späterhin geht, diese Jahrszeit, welche in milderen Gegenden gewöhnlich sehr schön ist, mit schnellern Schritten in den Winter über.
Der September ist durchgehends noch sehr warm, so daß der Wärmemesser oft bis zu 18° steigt; doch fällt dieser an einzelnen Tagen, wiewohl selten, auch unter den Gefriepunkt.
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Zuweilen bemerkt man in ihm des Morgens schon einigen Reif auf dem Grase und den Aesten der Bäume. Er hat selten einen ganz heitern Tag, zehn mittelmäßig heitre; zwanztg trübe, und funfzehn regenhafte Tage. Zuweilen sieht mat in ihm auch zum ersten Mal wieder Schnee.
Im October scheint die warme Witterung mit der kalten in einem Streit zu liegen, worin bald diese, bald jene die Oberhand hat. Bald gibt es mehrere so warme Tage, wie im Sommer, und bald kalte, gleich denen im rauhesten Winter. Zuweilen wechseln Wärme und Kälte an einem Tage mehrmals auffallend ab, so daß der Wärmemesser bald einige Grade über dem Gefrierpunkt, bald einige unter demselben anzeigt. Der höchste Stand ist indeß im Durchschnitt + 12, und der niedrigste – 8. Man sieht ziemlich heitere aber kühle Tage, und oft nach niedergesunkenen dicken Nebeln. Er hat drei ganz heitre, sechs mittelmäßig heitre, zwei und zwanzig trübe, elf Regen- und zehn Schneetage. Das Laub der Bäume fällt ab; die ganze Natur verändert ihre Gestalt, und die rauhe Jahreszeit tritt ein. Nun werden Pelze und Winterkleider hervorgesucht, und jedermann nimmt seine Zuflucht
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zur künstlichen warmen Temperatur der geheitzten Zimmer.
Im November ist meistens gänzliches Winterwetter. Nebel und Stürme sind sehr häufig, und die Flüsse gefrieren. Schlitten treten an die Stelle der Wagen; jedermann hüllt sich in Pelze, und sucht sich auf mancherlei Art gegen die rauhe Witterung zu schützen. Oft ist die Kälte bereits ungewöhnlich groß. Im Jahre 1791 stieg sie bis auf den siebzehnten Grad.
Man sieht in diesem Monath äußerst selten ganz heitere Tage, meistens zwei mittelmäßig heitre, acht und zwanzig trübe, und fünf und zwanzig Schnee- und Regentage.
Der Winter dauert in Moskwa lange, da er eigentlich schon in der Mitte des Octobers anfängt, und fast bis an‘s Ende des Märzes fortwährt. Er ist in Moskwa kälter, als in vielen andern Erdstrichen, die unter gleicher Breite, aber westlicher, liegen. Die Ursache davon scheint in der Nähe der mit ewigem Schnee bedeckten Gebirge und in den Windein zu liegen, die vom Eismeere her stürmen. Auch die vielen Salzseen und salzigen Steppen, worüber diese Winde streichen, tragen wahrscheinlich wohl dazu bei, sie kälter zu machen.
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Der Winter ist in Moskwa zuweilen sogar kälter, als in St. Petersburg, wie dies im Jahre 1791 der Fall war. Richters *) Behauptung, daß der Winter sich durch beständige und heitre Witterung vorzüglich auszeichne, bedarf nach meinem Bedünken großer Einschränkungen, oder kann vielleicht von einzelnen Jahren gelten. Gewöhnlich gibt es aber, im strengsten Sinne genommen, im Winter der trüben Tage bei weitem mehr, als der ganz oder mittelmäßig heitern. Indeß ist die Luft an Tagen, wo viel Schnee fällt; doch heiterer und trockner, als in gemäßigten Erdstrichen.
Die Schilderung, welche manche Schriftsteller von einem reinen heitern Wintertage machen, ist gewiß nicht übertrieben, da er einen Anblick und ein Gefühl gewährt, wovon die Bewohner gemäßigter Klimate keinen Begriff haben können. Wenn bei großer Kälte der Hortzont auch nicht durch den geringsten Nebel getrübt wird; wenn kleine schimmernde Eiskrystallen in der Luft schweben und von den Sonnenstrahlen einen erhöheten Glanz erhalten; wenn der Widerschein des Schnees die Helle der Luft vermehrt und man auf..der knisternden
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*) Moskwa, eine Skizze S. 6.
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Schneebahn in leichten eleganten Schlitten pfeilschnell die ätherische Winterluft zertheilt: so spüret man eine in andern Erdstrichen nie gefühlte behagliche Empfindung, und das Auge wird nicht müde sich an der Glanzluft zu ergetzen. Noch prächtiger und rührender ist eine schöne Winternacht. Die Sterne funkeln in höherem Glanze, als in mildern Zonen, und der Mond verbreitet eine ungewöhnliche Helle, die von der, gleich Krystallen schimmernden, Schneedecke des Bodens, und oft auch durch flimmernde Nordscheine noch erhöhet wird.
Im December hat man gewöhnlich trockne Kälte mit vielem Schnee, obgleich auch zuweilen regenhafte und gelinde Witterung eintritt. Im Durchschnitt gibt es in diesem Monath einen heitern, zwei mittelmäßig heitre; acht und zwanzig trübe, sieben regenhafte, und zwei und zwanzig Schneetage.
Am kürzesten Tage, der in diesen Monath fällt, geht die Sonne um 8 Uhr 37 Minuten auf, und um 3 Uhr 23 Minuten unter.
Im Januar nimmt meistens die Intensität der Kälte zu; und wenn auch Schnee fällt, so ist der Luftkreis doch sehr trocken.
Wichelhausens Moskwa. [9]
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Dieser Monath hat zwei ganz heitre, fünf mittelmäßig heitre, und vier und zwanzig trübe Tage, siebzehn mit Schnee, und einen mit Regen.
Im Februar, worin man im obern Italien und auch in Provinzen des Russischen Reiches, z. B.in der Gegend von Tiflis, schon Mandelbäume in voller Blüthe sieht, wo im nördlichen Deutschland der Einfluß der Sonne schon kräftig ist, und öfters Thauwetter einttitt, hat man in Moskwa noch völliges Winterwetter, und gewöhnlich ist der Frost noch so heftig, daß das Thermometer zwanzig und mehr Grade unter den Eispunkt sinkt. Im Durchschnitt hat dieser Monath drei ganz heitre, vier mittelmäßig heitre, und ein und zwanzig trübe Tage. Es schneiet an dreizehn Tagen, und regnet an Einem.
Die Witterung in Moskwa ist an und für sich der Gesundheit nicht nachtheilig, und, nach meinem Gefühl, nicht ganz unangenehm. Ich halte sie wenigstens für gesunder und behaglicher als die in Holland, England und dem nördlichen Deutschland, wo trübe, nebelige und feuchte Tage die gewöhnlichsten im Jahre sind, und weder große und anhaltende Kälte, noch große anhaltende Hitze Statt findet.
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Deswegen gewöhnen sich Fremde, welche aus diesen Gegenden nach Moskwa kommen, leicht an die dortige Witterung, und ziehen sie meistens der in ihrem Vaterlande vor.
Der mächtige Einfluß längerer und kälterer Winter ist indeß nicht zu verkennen. Die ganze Natur erhält dadurch eine anders modificirte Gestalt, als in gemäßigtern Erdzonen.
Die auffallendste Wirkung von dem geringen Einflusse der Alles belebenden Sonne ist die größere Farbenlosigkeit aller Körper. Thiere und Pflanzen haben durchgängig ein helleres Colorit, als in südlichen Ländern. Es werden sogar einige Thiere, die in Deutschland bräunlich sind, schneeweiß, wie z. B. die Hasen, Repphüner, u. s. w. Auch Menschen bekommen hier früher graue Haare.
Die Lichtstrahlen scheinen auf eine chemische Art auf alle Körper zu wirken und sie brennbarer zu machen *). Strömen sie nun aus dem Urquell alles Lebens weniger anhaltend
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*) Diese Erklärungsart kommt mir wahrscheinlicher vor, als diejenige, wo der Lichtstoff, bloß als Reitz wirken soll, um den angehäuften Sauerstoff der Vegetabilien an den Warmestoff des kohlensauern Gases im Luftkreise abzusetzen und Kohlenstoff dagegen auszutauschen.
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und concentrirt, aus größerer Entfernung und unter einem schiefen Winkel: so setzen sie wenigeren und nicht gehörig modificirten Brennstoff ab, und entwickeln weniger Wärme und Sauerstoff. Wirklich sind die Vegetabilien in und um Moskwa unkräftiger, als in Gegenden, wo der Einfluß der Lichtstrahlen mächtiger ist. Alle sind geruch- und geschmackloser, als im südlichen Europa. Eben so haben die organischen Körper einen geringern Wachsthum. Menschen sowohl als Thiere und Vegetabitien, sind im Allgemeinen kleiner als in gemäßtgtern Erdstrichen. Auch die längere Dauer und größere Intensität der Kälte wirkt auf die Organisation der Menschen, macht ihre Fasern fester, weniger reitzbar, und stumpft das Gefühl ab. Sogar die äußeren Formen des ganzen Körpers werden dadurch modificirt; daher wird man bei den Bewohnerin dieses Erdstriches fast nie die charaktervollen Gesichtszüge finden, welche man in Italien und Griechenland sieht, und dagegen mehr aufgedunsene, gleichsam ausgepolsterte Körper, bei denen sich das Fett im Zellgewebe der Haut mehr anhäuft, um durch diese weise Natureinrichtung den Wirkungen des Frostes zu widerstehen und die edleren Theile dagegen zu schützen.
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Auch die intellectuelle Ausbildung scheint, der Erfahrung zufolge, zum Theil von denselben Gesetzen abzuhangen, nach welchen die organischen Körper modificirt werden. Also gedeihet sie in diesen roheren Klimaten nicht so gut, oder wird wenigstens mehr aufgehalten, als unter einem milderen Himmel.
Der gewöhnliche harmonische Gang der ganzen Natur, und besonders der animalischen Oekonomie, wird durch die strengere und anhaltendere Kälte, die in Moskwa Statt hat, weniger gestört, als man gewöhnlich glaubt. Denn wenn der Einfluß der Sonnenstrahlen allmählich schwächer wird; wenn der Boden und die Gewässer nach und nach gefrieren, Thiere und Menschen sich stufenweise an die kältere Luft der Winterjahrszeit gewöhnen: so bleibt Alles im regelmäßigen Geleise, und die nachtheiligen Wirkungen der größeren Kälte sind wenigstens nicht auffallend.
Die schädlichen Wirkungen derselben pflegen vorzüglich nur dann sichtbar zu werden, wenn schnelle Uebergänge von der Wärme zur Kälte eintreten. Dann sind die Folgen zuweilen sehr fürchterlich. Die dicksten Bäume zerspringen; im Erdboden entstehen große Risse
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und Schlünde *); hölzerne Häuser krachen und leiden Schaden. Ueberhaupt leidet die ganze Natur bei einem solchen raschen Eintritt eines heftigen Frostes. Alles verwittert alsdann sehr schnell. Daher würden wahrscheinlich jene Ruinen, jene Beweise von der Energie der Vorzeit, welche unter dem sanften Himmel von Aegypten und Rom Jahrtausende der alles zerstörenden Zeit getrotzet, im Moskowischen Klima wohl schwerlich so lange ausgedauert haben.
Auch der menschliche Körper leidet mehr vom schnellen Wechsel als von der Kälte an und für sich, wie ich dies weiter unten bei Schilderung der in Moskwa herrschenden endemischen Krankheiten aus einander setzen, so wie überhaupt die Wirkungen des Klima‘s auf alle Verhältnisse des Landes und seiner Bewohner bei Abhandlung der verschiedenen Gegenstände berühren werde.
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*) Im Jahre 1634 war, nach Olearius Zeugniß, die Kälte so heftig, daß vor dem Pallaste des Zaren auf dem Markt der Erdboden zwanzig Faden lang und eine Viertelelle weit aufborst.
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VII.
Fruchtbarkeit des Bodens; Ackerbau; einheimische und angebauete Pflanzen.
Beschaffenheit des Erdreichs --- Energie der Vegetation --- Farbe der Pflanzen --- Lebensperioden --- Organisation --- Vernachlässigung des Ackerbaues --- Große Fortschritte in der Gartencultur --- Wiesen --- Kleebau --- Aussaat --- Ernte --- Owinen --- Aufmunterungen zur Verbesserung des Ackerbaues --- Die Leibeigenheit, als Hauptursache von der Vernachlässigung desselben --- Des erleuchteten und humanen Kaisers Alexander höchst merkwürdiger Ukas zur Beförderung der ländlichen Industrie --- Hoffnungen --- -Einheimische Pflanzen nach Linné‘s und Hedwigs Systemen, nebst kurzen Anmerkungen über ihren Nutzen --- Cultivirte Pflanzen --- Notizen über die Geschichte der Gartencultur --- Gärtner --- Früchte --- Melonen --- Arbusen --- Ananas --- Gewächshäuser --- Verdienste der Demidowschen Familie --- Apothekergarten --- Ueberfluß und Wohlfeilheit der Gemüse.
Nichts trägt mehr das Gepräge des Klima‘s, als die Beschaffenheit der vegetabilischen Natur. Aus dieser Ursache scheint es mir schicklich zu seyn, hier die Hauptzüge von einem Gemählde derselben zu entwerfen.
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Das Erdreich von Moskwa ist größten Theils fruchtbar. Hier und da findet man schwarze Modererde; meistens aber bestehen die oberen Lagen aus einem Gemische von Thon, Lehm, Sand und kalkigen Partikeln. Sobald der Schnee gänzlich geschmolzen ist, zeigt sich die Vegetation mit einer Energie, wovon man in gemäßigten Erdstrichen keinen Begriff hat. Nach einer weisen Einrichtung der Natur, scheint der Schnee die Pflanzen im Winter gegen die strenge Kälte zu schützen, und nachher, wenn er in veränderter Gestalt in das Erdreich dringt; die Keimkraft derselben zu vermehren. An den schnell hervorschießenden Gewächsen bemerkt man ein helleres Grün, als in gemäßigten Gegenden, welches wahrscheinlich mit der bleichenden Kraft des im Schneewasser enthaltenen Sauerstoffs, und mit einer eignen Modification der einwirkenden Lichtmaterie zusammen hängt. Alle Gewächse durchlaufen die verschiedenen Perioden ihres Lebens in kürzerer Zelt, als in südlichen Klimaten, und manche in mildern Gegenden perennirende Gewächse verlieren sogar bei ihrer Verpflanzung diesen Vorzug, und verwandeln sich in jährige. Alle bleiben kleiner und sterben früher ab, als in
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gemäßigten Erdstrichen. Die wenigen Eichen welche hier und da zwischen hohen Birken und Linden auf den Sperlingsbergen „tehen, sind durchgehends klein, und erreichen nicht das hohe Alter, das diesem Baum in den herrlichen Wäldern Deutschlands ein so ehrwürdiges Ansehn gibt. Alle Gewächse sind von zäherer Struktur, auch geruch- und geschmackloser, als in südlich-westlichern Ländern, welches man besonders bei Gemüsen und Früchten wahrnimmt; und im Allgemeinen ist es ausgemacht daß alle Vegetabilien in der Gegend um Moskwa nicht so gut gedeihen, als in westlichern Gegenden, die unter gleicher Breite liegen. Besonders ist es mir aufgefallen, daß die Rinden der Bäume und die Schalen der Früchte dicker sind, als unter milderen Himmelsstrichen. Hierdurch hat die Natur sie wahrscheinlich gegen die Kälte schützen wollen, indem der Trieb des Nahrungssaftes in der Rinde stärker ist, als in den inneren Theilen. Ich habe viele Bäume gesehen, deren Stämme bis auf die Rinde ganz erfroren waren, und deren Aeste ihren Nahrungssaft bloß aus den Gefäßen der Rinde einsogen, dabei aber recht gut fortkamen. Der Landbau wird im Moskowischen Distrikte
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nicht mit sehr großem Eifer betrieben, weil allerlei andere Beschäftigungen und Gewerbe, wegen der Nähe der großen Hauptstadt, einträglicher sind. Indeß verwendet man noch den meisten Fleiß auf die Kultur der Gartenfelder rings um die Stadt, deren Ertrag beträchtlich ist. Der dritte Theil des bebaueten Landes im ganzen Moskowischen Distrikte wird zu Wiesen benutzt, auf denen Gras und mancherlei Kräuter üppig empor schießen. Dessen ungeachtet steht das Heu in hohem Preise, weil der Viehstand im Allgemeinen beträchtlich ist, und die Fütterung der Pferde in Moskwa viel erfodert. Der Kleebau ist erst ganz in neueren Zeiten in Gang gekommen, welches man einigen verständigen und einsichtsvollen Deutschen zu verdanken hat, vorzüglich dem Major Nedderhoff und dem General Blankenagel, die ihn, nach Schubarts Grundsätzen, auf ihren Landgütern zuerst eingeführt haben *). Diese patriotisch gesinnten Männer waren hiermit noch nicht zufrieden, sondern sie suchten den nützlichen Kleebau allgemeiner zu machen. In dieser Absicht ließen sie durch
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*) Richter im a. B., S. 105.
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einen gewissen Rasnodofsky ein Buch in Russischer Sprache, unter dem Titel neue Landwirthschaft (nowaja semliätälie) verfassen, worin die Schubartischen Grundsätze vom Kleebau und der ganzen Landwirthschaft auseinander gesetzt sind. Dies machte die Russischen Gutsbesitzer aufmerksam, so daß jetzt, nach Hrn. Richters Zeugniß *), der Anbau des Klees, mit Eifer betrieben wird, und sich von Tage zu Tage weiter ausbreitet. Wie wenigen Antheil der Landmann am Gedeihen der Saat nimmt, erhellet auch daraus, daß man nirgends Hecken um die Felder gezogen. Sieht. Beim Pflügen wird die Erde mehr aufgeritzet als umgeackert. Ein kleiner leichter Pflug ohne Räder, Socha genannt, der nicht tiefer als zwei bis drei Zoll eingreift, wird am häufigsten dazu gebraucht. Will man Wiesen oder neues Land umackern, so bedient man sich eines etwas schwerern Pfluges, der mit einer Art von Messer versehen ist, weswegen er auch Messerpflug oder Kossulja heißt. Dieser greift ungefähr einen Zoll tiefer ein als der gewöhnliche, und zerschneidet die Wurzeln des Unkrauts besser, ist aber mit dem gewöhnlichen
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*) A. a. O.
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Deutschen Pfluge gar nicht zu vergleichen. Der Moskowische Boden ist meistens lehmig, und ein Deutscher Landmann würde nicht begreifen können; wie man ihn auf eine so leichte Art brauchbar mache. Aber obgleich die gütige Natur durch ihre Energie den Fleiß einigermaßen ersetzt, so würden doch die Felder, bei gehöriger Bearbeitung, gewiß viel einträglicher werden. Die Egge, deren man sich bedient, steht mit dem Pfluge in Verhältniß; sie hat kurze hölzerne (fast niemals eiserne) Zähne, und greift daher nicht sehr tief ein. Zwar sind, neueren Nachrichten *) zufolge, auf den Landgütern einiger aufgeklärten Edelleute, Englische Ackergeräthe und Englische Grundsätze des Ackerbaues eingeführt; ich fürchte aber, daß diese guten Beispiele nicht viele
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*) Richter sagt in seiner Skizze von Moskwa (S. 106): „In Tschassowa herrschen nun die neuen Grundsätze des Ackerbaues unumschränkt; der Kleebau ist völlig eingeführt. Der Besitzer erntet gegen 10,000 Pud Klee jährlich, die unter einem Schubartischen beweglichen Dache mit Luftzügen aufbewahrt werden. Der Russische Pflug hat dem Englischen Platz gemacht. Säemaschinen, Schaufelmaschinen und andere Ackergeräthe von neuer Erfindung erleichtern und vernützlichen den Feldbau.“
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Nachfolge finden werden, weil ihre Befolgung nur die Arbeit des Bauern, aber nicht seinen Genuß vermehrt. Künstliche Arten zu düngen sind nicht gebräuchlich, und man wendet bloß Mist dazu an, welcher aber nicht so sorgfältig aufbewahret wird, als in andern Ländern. Wenn auf einem Felde Wintersaat gestanden hat, so pflegt man es ein Jahr brach liegen zu lassen, oder, in seltneren Fällen, mit Rüben zu bepflanzen. Das in andern Gegenden von Rußland so gewöhnliche Ausroden und Verbrennen von Waldstrecken und Buschwerken, ist in der Gegend von Moskwa nur sehr selten in Gebrauch. Auf die besten Aecker säet man meistens Weizen zur Wintersaat, welcher auch sehr wohl fortfommt, und in guten Jahren das fünfte bis sechste Korn liefert. Zur Sommersaat vermehrt er sich nur drei- bis vierfach. Hier und da wird auch Spelz gebauet, der meistens das vierte Korn gibt. Auf etwas schlechteres Land wird häufig Rocken gesäet, der eine vier-, fünf- und sechsfache Ernte von der Wintersaat, und eine vier- bis fünffache von der Sommersaat trägt. Auf mittelmäßigem Boden, gedeihen Hafer,
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Gerste, Buchweizen, Hanf, und besonders Erbsen sehr gut, und geben eine reichliche Ernte. Im Anfange des August wird das Winterkorn gesäet, und etwa in der Mitte des Maies, oder bei schlechter Witterung gegen das Ende dieses Monats, das Sommerkorn. Die Wintersaat erntet man im Anfange des Septembers, und die Sommersaat in den ersten Tagen des August. Das Winterkorn braucht also ein ganzes Jahr zu seinem Wachsthum, das Sommerkorn hingegen nur drei bis viertehalb Monath. Das erstere liefert daher in Verhältniß des letztern einen viel größern Ertrag, als in südlichen Erdstrichen, wo das Sommerkorn länger in der Erde liegt. Bei der Ernte bedient man sich meistens der Sicheln, und nur auf den Gütern einiger Edelleute der Sensen *). Nachdem das Getreide mit kleinen Dreschflegeln
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*) Ob es gleich in Rußland an gutem Eisen nicht fehlt, so daß es sogar einer der wichtigsten Ausfuhrartikel ist, so kommen doch jährlich über eine Million Sensen aus dem Auslande, wodurch, das Stück nur zu funfzig Kopeken gerechnet, eine halbe Million Rubel aus dem Lande geht. Der geschickte und berühmte Kaufmann Severin in St. Petersburg ist vorzügIich durch diesen Handel reich geworden.
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gedroschen ist, wird es gewöhnlich durch die Hitze eines Ofens, oder einer sogenannten Owine, gedörret, und alsdann aufbewahrt. Man sieht aus diesen Thatsachen, daß der Ackerbau noch großer Verbesserungen bedarf. Zu wünschen wäre es, daß die ausländischen Methoden Aecker zu bestellen, in Rußland bekannter, und (mit den nöthigen Rücksichten auf die Beschaffenheit des Landes) allgemeiner befolgt würden, wodurch der Ertrag der Ländereien gewiß noch beträchtlicher werden könnte, als er es bereits durch die Güte des Bodens ist. An Aufmunterung hierzu fehlt es nicht. Besonders hat sich in dieser Hinsicht die freie ökonomische Gesellschaft in St. Petersburg Verdienste erworben, welche noch die späteste Nachkommenschaft mit Dank erkennen muß. Auch haben mehrere weise Beherrscher von Rußland Alles aufgeboten, diesen Zweck zu befördern. Es hat aber leider bisher nur wenig gefruchtet, da der Landmann zu sehr an verjährten Gewohnheiten hängt, und eine Vermehrung der ihm willkührlich aufgelegten Zwangarbeiten allzu sehr fürchtet, als daß er sich gern zu Neuerungen verstehen sollte. Der Ackerbau wird überhaupt mit einer
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Indolenz betrieben, die vielleicht in ganz Europa nicht ihres Gleichen hat. Was auch einige inländische Schriftsteller darüber sagen mögen, so ist es doch wohl keinem Zweifel unterworfen, daß die Hauptursache von der Vernächlässigung eines für den Staat so wichtigen Geschäftes darin liegt, daß der Landmann kein Eigenthum besitzt und also die Früchte seines Fleißes nicht genießt. Die erleuchtete Gesetzgeberin Rußlands Katharina die Zweite pflichtet, zu ihrem unsterblichen Ruhm, dieser großen Wahrheit bei *); und kein Unbefangener wird wohl leicht das Gegentheil behaupten. Wie kann man auch erwarten, daß der Landmann mit Lust und Liebe arbeiten soll, wenn die Ernte nicht ihm entgegen lacht! Hätte er eigenthümliches Land, das seinen Nachkommen durch Erbschaft zufiele, so würde er es wahrscheinlich allen Nationen in der Cultur desselben zuvorthun, da er, wie seine uralten Vorfahren, im Grunde die ländliche Industrie liebt, und bei der jetzigen Lage der Umstände nur deswegen städtische Gewerbe vorzieht, und mit unglaublichem
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*) Instruction für die Gesetz-Commission u. s. w. 1769. §. 295. S. 84.
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Eifer und großer Verschlagenheit betreibt, weil er des Erwerbes davon besser genießen kann. Die Wahrheit dieser Behauptung erhellet schon daraus, daß der Muschick sich in der Gartencultur so sehr hervorthut und ein kleines gemiethetes Fleckchen Land so außerordentlich für seinen Vortheil zu benutzen versteht. Bei Eigenthum und mehr Freiheit würden die ländliche Industrie und der Handel wenigstens in eben solchen Flor kommen, wie sie es, nach den Zeugnissen der Geschichte, bei den alten, hierdurch ausgezeichneten Slaven waren. --- Doch die glücklicheren Zeiten, wo diese einst so thätige Nation aus dem Schlummer der Trägheit erwachen und durch Privatfleiß sich selbst zufriedener und den Staat blühender machen wird, sind vielleicht nicht mehr weit entfernt --- da Alexander Rußland beherrscht. Wenigstens schimmert bereits die Morgenröthe besserer Tage; wenigstens ist ein großer Schritt, dessen beseligende Folgen für das Glück der Russischen Nationen nicht zu berechnen sind, zu diesem großen Ziele gethan worden, da dieser erleuchtete und milde Monarch das Recht eigenthümliches Land zu besitzen, so weit ausdehnte, als es nach den Zeitumständen nur möglich war. Doch ich Wichelhausens Moskwa. [10]
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will seinen höchst merkwürdigen hierüber erlassenen Ukas, den der Senat unter dem 12ten Februar des vorigen Jahres publicirt hat, wörtlich hierher setzen. „Da wir wünschen, dem Ackerbau und der Volksindustrie im Verhältniß der Hülfsmittel, die Rußland nach seiner Größe und Lage besitzt, eine neue Ermunterung zu geben, so haben wir nöthig gefunden, das Recht der Erwerbung von Ländereien ohne Bauern und Oberherrschaft über alles das, was sich auf ihrer Oberfläche und im Innern befindet, auf alle Russische Unterthanen auszudehnen, mit Ausnahme derjenigen, die zum Eigenthum der Edelleute gerechnet werden. Dem zufolge erlauben wir nicht allein der Kaufmannschaft, der Bürgerschaft und Allen, welche städtische Rechte genießen, sondern auch den Kronbauern, zu welchem Departement sie auch gehören mögen, und gleichfalls den von ihren Edelleuten Freigelassenen, Ländereien von allen denjenigen, die gesetzmäßiges Recht zum Verkauf haben, anzukaufen, und sich solche Erwerbung zu sichern, durch Kaufbriefe, die auf eines jeden eignen Nahmen ausgestellt sind, in den dazu bestimmmten Gerichtsstellen, nach der gesetzlichen
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Ordnung; die ihr Eigenthum ihnen unverletzlich bewahren wird.“ Welche laute Freude muß nicht die Bekanntmachung dieses, Millionen beglückenden, Ukas in dem weiten Rußland erregt haben! --- Nun hat ein großer Theil der Landleute doch Hoffnung, der Früchte seines Fleißes zu genießen. Jetzt wird er seine Felder sorgfältiger bearbeiten, und sie mit Befriedigungen einfassen; jetzt wird er mit Freuden Bäume pflanzen, da er die süße Hoffnung hat, daß seine Nachkommen unter ihrem Schatten frohe Tage erleben werden. Es ist zu erwarten, daß die Weisheit des großen und guten Alexander Mittel finden wird, diese beglückenden Anordnungen auch auf die übrigen Landleute auszudehnen, wenn nicht unterdessen der Adel, von der Großmuth seines Monarchen gerührt, aus eignem Antriebe einen Theil seiner Rechte über die Leibeignen aufgibt, um den großen Plan, die ländliche Industrie empor zu bringen, aus allen seinen Kräften zu befördern.
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Die Gegenden um Moskwa sind reich an mancherlei einheimischen Pflanzen. Ich werde diese nach Linné‘s, und die Kryptogamisten
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nach Hedwigs Benennungen aufzählen, und zugleich hier und da Anmerkungen über ihren Gebrauch einstreuen. Verzeichniß der vorzüglichsten Pflanzen, die in und bei Moskwa wild wachsen. MONANDRIA. DIGYNIA. Blitum virgatum. Callitriche verna. - autumnalis - intermedia. DIANDRIA. MONOGYNIA. Ligustrum vulgare. Verbena officinalis. Circaea lutetiana. - alpina (Russisch Koldunowa trawa.) Syringa vulgaris. Gratiola offciinalis. Veronica maritima. - officinalis - spicata. - multifida. - longifolia.
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Veronica serpyllifolia. - Beccabunga. - scutellata. - Teucrium. - Anagallis. - Chamaedris. - verna. Utricularia minor. Lycopus Europaeus. Salvia pratensis. - officinalis DIGYNIA. Anthoxanthum odoratum. TRIANDRIA. MONOGYNIA. Valeriana officinalis. (Russisch Mayn.) Iris Sibirica (Russisch Kasatynk.) - Pseud-Acorus. - Pumila. Scirpus acicularis. -sylvaticus. - lacustris. - palustris. Nardus stricta. Eriophorum vaginatum. - polystachium. Die beiden letztern Pflanzen haben eine
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Art von Wolle, welche mit der Baumwolle Aehnlichkeit hat. Schon Güldenstädt hat die Benutzung derselben vorgeschlagen. M. s. dessen Rede über die natürlichen Produkte Rußlands. S. 43. DIGYNIA. Alopecurus pratensis. - geniculatus. Phleum pratense. Panicum glaucum. - miliaceum. - verticillatum. - viride. Phalaris arundinacea. - canariensis. - erucaeformis. Agrostis arundinacea. - capillaris. - mileacea. - spica venti. Aira flexuosa. - praecox. - cespitosa. - aquatica. - canescens. - alpina. Briza media. Melica nutans. Poa aquatica.
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151 Poa trivialis. - compressa. - annua. - pratensis. - angustifolia. Cynosurus cristatus. Festuca ovina. Wird in Moskwa als Futterkraut benutzt. - elatior. - fluitans. Aus dem Samen dieser Grasart wird eine Art von Grütze bereitet. Die freie ökonomische Gesellschaft in St. Petersburg hat die Wichtigkeit der Cultur des Schwadens eingesehen und eine Preisschrift über dessen Anbau veranlaßt, deren Verfasser Herr von Lewschin ist. - rubra. - duriuscula. - decumbens. Avena sativa. - fatua. Lolium temulentum. Nach Georgi‘s Beobachtungen hat es in St. Petersburg keine schädlichen Wirkungen. In Moskwa hingegen habe ich auf dem Landgute eines Herrn von Glebow mehrere Bauernfamilien gesehen, welche Kopfschmerzen, Schwindel und Hautausschläge davon bekommen hatten.
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Lolium perenne. Dieses Futterkraut wird nicht angebaut. Elymus caninus. Secale cereale. Hordeum vulgare. - marinum. - hexastichon. Triticum aestivum. - hybernum. Beide Gattungen werden, wie ich shon oben gesagt habe, sehr häufig bei Moskwa angebauet. - repens. (Russ. Pyrei.) Wird von den Moskowischen Landleuten als Futterkraut gebraucht, und die Wurzel davon, bei theuern Zeiten, unter das Mehl gemischt. - spelta. Der Spelz wird hin und wieder im Moskowischen Kreise cultivirt. Bromus mollis. - arvensis. - inermis. - secalinus. In Moskwa sah ich vom Brote, worein die Trespe mit verbacken war, bei allen Mitgliedern einer Haushaltung ein heftiges Asthma spasmodicum entstehen. - giganteus.
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153 Bromus tectorum. Dactylis glomerata. Arundo phragmitis. - epigeios. Holcus mollis. TETRANDRIA. MONOGYNIA. Galium montanum. palustre. uliginosum. verum. mollugo. glaucum. boreale. Die Russen nennen es Maräna, und brauchen es anstatt des Krapps (Rubia tinctorum) zum Rothfärben. Es ließen sich mehrere Arten von Galium (zum Beispiel G. Mollugo und. G. rubioides) zu diesem Zwecke benutzen. Indeß sammeln die Fabrikanten von Moskwa diese Wurzeln nicht in der Gegend der Stadt, sondern verschreiben sie aus entfernten Statthalterschaften. - rotundifolium. Asperula odorata. Plantago major. - media. - lanceolata.
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154 Sanguisorba officinalis. Alchemilla vulgaris. Scabiosa, succisa. (Russisch: Ordyschtschnaja Trawa.) Die Blätter und Blumen werden von den Bauern zum Gelbfärben gebraucht. - arvensis. - sylvatica. - ochroleuca. DIGYNIA. Cuscuta europaea. TETRAGYNIA. Sagina procumbens. - erecta. Potamogeton lucens. - gramineum. - pusillum. - natans. - perfoliatum. - crispum. PENTANDRIA MONOGYNIA. Myosotis scorpioides. -lappula. - palustris. - arvensis. Cynoglossum officinale.
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155 Lithospermum arvense. Pulmonaria officinalis. (Russ. Medinitza.) - angustifolia. Echium vulgare. - orientale. Lysimachia vulgaris (Russ: Wiärbeinyk.) - thyrsiflora. - nummularia. (Russisch Lugowoj Tschtay.) Die Blätter werden von den Landleuten als Thee getrunken. Convolvulus arvensis. - sepium. (Russ. Pawylytnoj kolokolyk.) Einige Landleute um Moskwa bedienet sich des Aufgusses der Blätter als Laxiermittel. Lonicera xylosteum. (Russ. Gymolost.) - tatarica. Solanum Dulcamara. - nigrum. Verbascum Thapsus. - nigrum. Datura Stramonium. Hyoscyamus niger. (Russ. bälena.) Die betäubenden Wirkungen der Datura Stramonium und des Hyosc. niger sind in Moskwa geringer, als in südlichen Gegenden von Europa. Campanula rotundifolia (R. Kolokolschtschik)
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156 Campanula uniflora. - cervicaria. - rapunculus. - latifolia. - persicifolia. - rapunculoides. - glomerata. - Trachelium. Vinca minor. Polemonium caeruleum. Menyanthes trifoliata. (Russ.. Waxta.) Von einigen Muschiks habe ich das Pulver dieses Krautes bei kalten Fiebern anwenden sehen. Borrago officinalis. Androsace septentrionalis. Rhamnus frangula (Russ. Kruchina.) Aus den Beeren wird in Moskwa eine gelbgrüne Farbe bereitet. Die Wurzeln des Baums werden zuweilen als Purgiermittel gebraucht. Lycopsis orientalis. Primula veris. (Russ. Wykwitza.) Ribes rubrum (Russ. Smarodina.) - nigrum. - uva crispa. - grossularia. - alpinum. Evonymus europaeus. Hottonia palustris. Symphytum officinale.
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DIGYNiA. Chenopodium bonus Henricus. - album. - viride. - murale. - urbicum. - glaucum. - polyspermum. - Vulvaria. Gentiana campestris. (Russ. Starabutka.) - Centaurium. - Amarella. - Pneumonanthe. Daucus carota. (Russ. Markow.) Wird in und bei Moskwa in Menge angebauet. Conium maculatum. Das Extract dieser Pflänze hat nicht eben dieselbe Stärke, wie in Deutschland; daher habe ich es oft in sehr starken Dosen gegeben. Cicuta virosa. Phellandrium aquaticum. Ich habe die Samen bei fünf eiterichten Lungensüchtigen täglich vier Mal zu einer halben Drachme ohne Nutzen angewendet; es kann aber seyn, daß das Phellandrium aquaticum in den nordlichen Klimaten unwirksamer ist, als in gemäßigtern. Anethum graveolens.
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Coriandrum sativum. Angelica Archangelica. - sylvestris. Sanicula europaea. Selinum Carvifolium. - sylvestre. Aethusa cynapium (R. Sabatschia petruska.) Scandix Cerefolium. Athamantha Sibirica. - Libanotis. - Oreoselinum. Heracleum angustifolium. - sphondylium. - Panaces. - sibiricum. Peucedanum Silaus (R. Poriasnaja trawa.) Tordylium Antriscus. Sison inundatum. Sium latifolium. Chaerophyllum sylvestre. - bulbosum. Carum carvi (Russ. Timon.) Pimpinella saxifraga. - nigra. Pastinaca sativa. (Russ. Pasternack.) Herniaria glabra. Ulmus campestris. (Russ. Ilem.) Eryngeum planum. Apium graveolens.
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Atriplex laciniata. - patula. - hastata. Aegopodium podagraria (Russ.-Snyl.) TRIGYNIA. Sambucus nigra. Viburnum Opulus (Russ. Kalyna.) Ist zu Hecken in Lustgärten sehr schön. Alsine media (Russ. Mokrytza.) TETRAGYNIA. Parnassia palustris (R. Solotnitkowa trawa.) PENTAGLYNIA. Linum usitatissimum. Wird in der Gegend von Moskwa sehr häufig angebauet. Man hat eine Varietät, die unter dem Nahmen Tinkun bekannt ist, nicht so hoch emporschießt und gelbere Samen hat, übrigens aber besseres Lein gibt. - catharticum. - monopetalum. - perenne. Drosera rotundifolia (R. Solnetznaja rosa.) POLYGYNIA. Myosurus minimus. HEXANDRIA. MONOGYNIA. Asparagus officinalis.
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Allium vineale. - oleraceum. - schoenoprasum. Ornithogalum luteum. - minimum. Berberis vulgaris. (Russ. Kisliza.) Juncus conglomeratus. - effusus. - articulatus. - bufonius. - spicatus. - campestris. - bulbosus. - pilosus. - squarrosus. - filiformis. Peplis portula. Acorus calamus. Convallaria majalis. - polygonatum. - multiflora. - bifolia. TRIGYNIA. Rumex conglomeratus. - aquaticus. - acetosa. - acetosella. - acutus.
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Rumex crispus. Triglochin palustre. POLOGYNIA. Alisma plantago. -damasonium. HEPTANDRIA. MONOGYNIA. Trientalis europaea. OCTANDRIA. MONOGYNIA. Epilobium angustifolium. (Russ. Kiprei.) Diese Pflanze trägt eine Art von Wolle, welche man vielleicht spinnen und zu Zeugen verarbeiten könnte. - hirsutum. - montanum. - tetragonum. - palustre. - roseum. Daphne Mezereum. (Russ. Dikoi peretz.) Die Moskowischen Damen bedienen sich eines Aufgusses von den Samen dieser Staude (semina Coccognidii) in weißem Wein, um hervorragende harte Blätterchen im Gesichte zu vertreiben, wobei ich doch bemerken
Wichelhausens Moskwa. [11]
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muß, daß die ätzende Kraft der Samen sowohl als die Rinde des Seidelbastes, in Moskwa schwächer ist, als in Deutschland. Vaccinium vitis idaea (Russ. Brosnitza.) Man verwechselt die Blätter häufig mit den Blättern der Bärentraube (Arbutus uva ursi), die aber an den kleinen Punkten auf der weißlichen Seite der Blätter leicht zu erkennen sind. - oxycoccos. (Russ. Gljuckwa auch Schurawika.) Sowohl die Preußelbeeren als die Moosbeeren findet man sehr häufig. Die besten und mildesten sind die, welche den Winzer hindurch unter dem Schnee gelegen haben. Man sammelt sie im Herbst, und verscharrt sie unter dem Schnee in freier Luft oder in Eiskellern. Sie werden mit Zucker oder Honig eingemacht und zum Braten aufgetischt; auch werden sie zu allerlei Arten von Backwerken gebraucht. Die Gljukwa-Beere ist eine große Wohlthat der Vorsehung für Rußland; denn man gebraucht ihren Saft in Krankheiten anstatt des Citronensaftes: man wendet ihn zur Limonade und sehr gewöhnlich auch zum Punsch an. Ueberdies bereitet man daraus einen rothen Meth, indem man Gljuckwasaft zu Honigwasser mischt, dieses durch Hefen in Gährung bringt, durch Hausblase oder Eiweiß abklärt, und durch
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Beimischung von Wein und Gewürzen pikant macht. Vaccinium Myrtillus. (Russ. Tscherniza.) - uliginosum. (Russ. Goluwitza.) Die narkotischen Eigenschaften der Beere bemerkt man in Rußland fast gar nicht. Erica vulgaris. (Russ. Weres.) Wird zum Gerben des Leders gebraucht, wozu die freie ökonomische Gesellschaft durch eine Preisaufgabe vieles beigetragen hat. Der Preis ist dem Hofrath und Ritter von Rading in Kasan zuerkannt worden. Ornothrea biennis. DIGYNIA. Acer tataricum. - platanoides. - campestre. Es lohnte sich vielleicht der Mühe, einen Versuch anzustellen, ob nicht daraus Zucker gewonnen werden könnte, wie dies, nach Duhamels Bericht (Traité des arbres et arbustes T. I. p. 32), in Canada, geschieht. TRIGYNIA. Polygonum bistorta. Das Mehl der Wurzel kann im Nothfall unter das Mehl von Getreide gemischt werden.
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Polygonum Persicaria. - Fagopyrum. - dumetorum. - convolvulus. - aviculare. - Hydropiper. TETRAGYNIA. Adoxa moschatellina. Paris quadrifolia (Russ. Warobynoj glas.) Die purgirenden Kräfte der Wurzel sind den Bauern nicht unbekannt. ENNEANDRIA. TRIGYNIA. Rheum rhaponticum. - palmatum. Beide Gattungen fand ich im Garten der Kronapotheke in Moskwa, und in dem Garten des Herrn Leow Prokopitsch Demidow; auch auf dem Landgute des Herrn Paul Gregoritsch Demidow. Diese haben dieselben von ihrem Verwandten, dem verstorbenen Staatsrath Prokoffii Akimfitsch Demidow erhalten, dessen Garten der berühmte Ritter von Pallas beschrieben hat.
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Ich glaube bemerkt zu haben, daß in der Moskowischen Rhabarber weniger harzige Theile sind, als in der Chinesischen. Wurzeln, die fünf bis sechs Jahre alt, und ganz allmählich getrocknet waren, fand ich am wirksamsten. Das erste frische Stück, welches ich erhielt, versuchte im über Kohlenfeuer zu trocknen; ich fand aber bald, daß die flüchtigen Theile dadurch verloren gingen. Die Wurzel des allmählich getrockneten Rheum palmatum habe ich mehreren Kranken gegeben, und sie nicht minder wirksam als die Chinesische befunden. HEXAGYNIA. Butomus umbellatss. (Russ. Jusak.) Man kann zur Zeit der Hungersnoth das Pulver der Wurzel ohne Nahtheil unter das Mehl mischen. DECANDRIA. MONOGYNIA. Andromeda polifolia. - calyculata. Arbutus uva ursi. (Russ. Tolskniänik.) Die Moskowiter gebrauchen die Blätter bei der Zubereitung des Saffians, und mischen
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sie zum Rauchtaback, um demselben einen angenehmen Geruch zu verschaffen. Bei Steinschmerzen habe im mehr als zwanzig Patienten den Aufguß und das Pulver der Blätter meistens mit einiger Erleichterung gegeben. Pyrola rotundifolia. (Russ. Gruschewka.) - umbellata. - secunda. - minor. Ledum palustre. Dieser Strauß hat in Moskwa nicht ganz den starken betäubenden Geruch, wie in Deutschland und andern Ländern. Ich habe die Blätter, die mit den Blättern des Rosmarins große Aehnlichkeit haben, bei Magenkrampf von einer anomalischen Reitzbarkeit der Nerven, in Pulvern zu einer halben Drachme viermal täglich zwei jungen Moskowischen Damen mit auffallendem Nutzen gegeben. DIGYNIA. Saponaria officinalis. Gypsophila muralis. Chrysosplenium alternifolium. Dianthus deltoides. - plumarias.
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167 Dianthus arenarius. Scleranthus perennis. TRIGYNIA. Stellaria nemorum. - Holostea. - graminea. - dichotoma. Arenaria serpillifolia. - rubra. Cucubalus Behen. - tataricus. Silene viridiflora. - nutans. - muscipula. PENTAGYNIA. Oxalis acetosella. Ein Pfund frisch gestoßener Sauerklee gibt in Moskwa eine Drachme Salz. Sedum acre (Russ. Molodilo.) - telephium. - sexangulare. Lychnis flos cuculi. - viscaria. - dioica. Cerastium vulgatum. - semidecandrum. - aquaticum.
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Cerastium arvense. Agrostemma Githago. (Russ. Kukula.) Ist ein sehr schädliches Unkraut, welches zuweilen den dritten Theil der Weizenfelder einnimmt. Spergula arvensis. - nodosa. DODECANDRIA. MONOGYNIA. Asarum europaeum (Russ. Podliäsnik.) Die Muschicks kennen die purgirenden Kräfte der Wurzel, und geben sie in der Dose von drei Solotnik (halbe Unze). In Lothringen sind, nach des berühmten Willemets Zeugniß, 24 Gran bis zwei Skrupel hinreichend. Lythrum salicaria. DIGYNIA. Agrimonia eupatoria. (Russ. Repnik.) TRIGYNIA. Euphorbia Peplus. - Esula. - palustris. Der Muschick braucht den frisch ausgepreßten
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169 Saft zu fünf Solotnik (12/3 Loth) per Dose. Er wirkt, ohne Schneiden im Leibe zu erregen mit einiger Heftigkeit. Bei Manchen verursacht er Erbrechen. In kalten Fiebern sah ich ihn im Jahre 1790 mit Nutzen nehmen. DODEKAGYNIA. Sempervivum tectorum. (Russ. Schtschesnok.) ISOCANDRIA. MONOGYNIA. Prunus padus. (Russ. Schtscheremuza.) Es wird, wie in Deutschland, ein Mus daraus bereitet. - spinosa. DIGYNIA. Crataegus oxyocantha. (Russ. Bojarina.) TRIGYNIA. Sorbus aucuparia. PENTAGYNIA. Spiraea filipendula. - ulmaria. - salicifolia.
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POLYGYNIA. Rosa canina. Fragaria vesca. (Russ. Semlianiza.) In den Wäldern um Moskwa findet man sie in großer Menge. Sie haben einen lieblichern Geschmack als in Deutschland, welches der Fall auch bei denen ist, die ich auf den höchsten Alpen Helvetiens ganz nahe am Schnee gefunden habe. So fand ich auf der Wenger Alp, nahe am Fuße der Gletscher des unerstiegenen Jungfrauenhorns, Erdbeeren von vortrefflichem Geschmack. Rubus idaeus. (Russ. Malynowka.) Die Himbeere findet sich um Moskwa in Ueberfluß. Man macht daraus ein sehr beliebtes Nationalgetränk, indem man Wein aufgießt, und Zucker nebst etwas Branntwein hinzu thut. Auch wird Meth daraus bereitet, indem man Wasser mit Honig kocht, Himbeeren hinzufügt, es gähren läßt und nachher Wein und mancherlei Gewürze hinzu mischt. - caesius. - fruticosus. - saxatilis. Potentilla anserina. - supina. - verna. - argentea.
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Potentilla reptans. - hirta. - norwegica. Geum urbanum. (Russ. Grebnik.) - rivale. Tormentilla erecta. (Russ. Sawiänoj koren.) Comarum palustre. (Russ. Sabelnjk Ramennoj.) POLYANDRIA. MONOGYNIA. Tilia europaea. (Russ. Lupa.) Die Linde ist einer der nützlichsten Bäume in Rußland; sie dient zu mancherlei Fabrikaten, und wird daher bei den schlechten Forsteinrichtungen immer seltner. Aus der dicken Rinde (Ludock) werden Dachschindeln, Schachteln, Kisten, kleine Gefäße, vorzüglich aber Wagen- und Schlittenkörbe, verfertigt. Der Bast (Motschala) wird in sehr beträchtlichen Fabriken zu Matten (Ragochi) verarbeitet, die sowohl im Lande gebraucht werden, als auch einen ansehnlichen Ausfuhrartikel ausmachen. Aus den zarten Rinden junger Bäume werden Bastschuhe (Lapti) verfertigt, die der gemeine Mann fast durchgehends trägt. Aus dem Holze werden Nachen und allerlei Geräthe verfertigt; aus der Asche wird Pottasche gesotten. Die Blüthen.
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dienen den Bienen zur Nahrung, und der Honig der Bienen, die sich besonders in der Ukraine bloß davon nähren, erhält einen Lindenblüthen-Geschmack und eine bläuliche Farbe, und wird in Moskwa gewöhnlich Sinä Mijod genannt. Papaver rhoeas. Actaea spicata. (Russ. Woronez.) Die Beere gibt einen violetten Saft, der vielleicht in der Färberei zu gebrauchen wäre. Chelidonium majus. (R. Tschistiäk bolschoi.) Nymphaea alba. (Russ. Kufschintschik.) - lutea. TRIGYNIA. Aconitum lycoctonum. (R. Wolchei koren.) Wird von Russischen Quacksalbern in mancherlei chronischen Krankheiten, und oft zum großen Nachtheil der Kranken, gegeben. Delphinium Consolida. (Russ. Kawalerskija Spori.) - elatum. PENTAGYNIA. Aquilegia vulgaris. HEKAGYNIA. Stratiotes alcoides. (Russ. Mudorez bolschoi.)
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POLYGINIA. Ranunculus Ficaria. (Russ. Tschyschtschack Menschtschoi.) - cassubicus. - acris. - arvensis. - lanuginogus. - aquatilis. - polyanthemus. - reptans. - sceleratus. - bulbosus. - auricomus. - flammula. - lingua. Anemone Pulsatilla. (Russ. Prostriöl.) - nemorosa. (Russ. Wiätränitza.) - ranunculoides. Thalictrum (Russ. Lugowaja Ruta.) - flavum. -angustifolium. - aquilegifolium. - foetidum. - minus. Caltha palustris. Trollius europadus.
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DIDYNAMIA. GYMNOSPERMIA. Lamium purpureum. (Russ. Kuriätschia Släpota.) - album. - maculatum. - amplexicaule. Scutellaria galericulata. Clinopodium vulgare. Betonica officinalis. (Russ. Buckwilza Tschernaja.) Origanum vulgare. (Russ. Duschitza.) Die Landleute um Moskwa bereiten aus den Blättern dieser Pflanze, und vorzüglich aus den Blumenkronen, eine helle karmosinrothe Farbe. Sie sammeln sie zu diesem Zweck im Julius, trocknen sie sorgfältig bei den Strahlen der Sonne oder bei gelindem Ofenfeuer, und zerstoßen sie dann zu Pulver. Zu zwei Theilen des Pulvers mischen sie einen Theil des Pulvers von getrockneten Blättern von Apfelbäumen und einen Theil ausgesottenes Malz (Gustscha), gießen hinreichend Wasser dazu, und bringen die Mischung durch Bierhefen in Gährung. Nachher wird es durchgeseihet und im Ofen unter beständigem Umrühren getrocknet. Will man die Masse gebrauchen, so wird sie mit reinem Wasser
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gekocht und zuweilen etwas Alaun hinzugesetzt. Galeopsis cannabina. - Ladanum. - Tetrahit. - Galeobdolon. Leonurus cardiaca. Phlomis tuberosa. Ajuga pyramidalis. - reptans. Stachys palustris. - sylvatica. - annua. Mentha arvensis. (Russ. Miäta.) - aquatica. - viridis. - gentilis. - crispa. Letztere wird häufig in Gärten gezogen, und zu verschiedenen allgemeinen Volksgetränken, besonders zum Kwuas und Kwlj Schtschi, gebraucht. Teucrium botrys. Glecoma hederacea. (Russ. Budra.) Prunella vulgaris. Dracocephalum Ruyschiana. - nutans. - thymiflorum.
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Thymus serpyllum. (Russ. Bogorodytzkaja trawa.) - Acinos. DIDYNADMIA. ANGIOSPERMIA. Antirrhinum Linaria. (Russ. Dikoi len.) - minus. Lathraea squammaria. (Russ. Petrow krest.) Euphrasia officinalis. (Russ. Otschnaja pomotsch.) - Odontites. Rhinanthus, crista galli. Limosella aquatica. Pediculatis comosa. Herr Stepan, der sich um die Moskowische Flora so verdient gemacht, hat eine kleine Schrift unter dem Titel de Pediculari comosa 1791. herausgegeben. Meines Wissens findet sich die Pflanze außerhalb Rußlands nicht. - sceptrum carolinum. - palustris. Scrophularia nodosa. (Russ. Noruschnik.) - aquatica. Melampyrum nemorosum. - arvense. - pratense.
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Melampyrum sy1vaticum. - cristatum. TETRADYNAMIA. SILICULOSA. Lepidium ruderale. (Russ. Dikoj Kriag.) Thlaspi bursa pastoris. (Russ. Komelek.) - arvense. - campestre. Lunaria rediviva. Myagrum paniculatum. - perfoliatum. Alyseum incanum. - calycinum. Bunias orientalis. Iberis nudicaulis. Draba verna. - muralis. TETRADYNAMIA. SILIQUOSA. Erysimum officinale. (Russ. Gortschitza poliäwaja.) - barbarea. - cheiranthoides. - alliaria. Ich habe in Moskwa eine Frau gekannt, Wichelhausens Moskwa, [12]
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die durch Einreibung des frischen Krautes zuweilen Gichtschmerzen glücklich vertrieb. Brassica campestris. - napus. (Russ. Dykaja Repa.) Sowohl aus dem Feldkohl als aus dem Reps wird mitunter Oel gepreßt. - oleracea. Wird unter allen Gemüsen am häufigsten angebauet, und die Moskowiter essen es häufig in einer sauern Suppe, die bei ihnen Schtschi heißt. Sinapis arvensis. - nigra. (Russ.. Gerschütza.) Raphanus raphanistrum. Sisymbrium nasturtium aquaticum. - amphibium. - Sophia. - Loeselii. - sylvestre. Cardamine pratensis. Der ausgepreßte Saft war nach meiner Erfahrung zweimal in Wassersuchten, die nach hitzigen Fiebern entstanden, von auffallendem Nutzen. Turritis glabra. MONADELPHIA. DECANDRIA. Geranium syIvaticum. - pratense.
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Geranium palustre. - robertianum. - cicutarium. - molle. - sibiricum. - rotundifolium. - sanguineum. POLYANDRIA« Malva rotundifolia. (Russ. Proswirky.) - mauritiana. Lavatera olbia. DIADELPHIA. HEXANDRIA. Fumaria officinalis. - bulbosa. OCTANDRIA. Polygala vulgaris. DECANDRIA. Lathyrus pratensis. - palustris. - sylvestris. - latifolius. - pisiformis. Lotus corniculatus.
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Ein gutes Futterkraut. Ervum hirsutum. - tetraspermum. Trifolium Melilotus officinalis. - - coerulea. - montanum. -agrarium. - procumbens. - spadiceum. - pratense. - alpestre. - arvense. - incarnatum. - repens. Medicago falcata. - lupulina. Astragalus glyciphyllos. Orobus vernus. - niger. - tuberosus. Genista tinctoria. Ihre Anwendung zum Gelbfärben ist den Russen in Moskwa sehr wohl bekannt. Robinia caragana. Ornithopus perpusillus. Vicia sativa. Dieses Futterkraut könnte mit großem Vortheil gebauet werden. - sylvatica.
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Vicia dumetorum. - cracca. - cassubica. - sepium. POLYADELPHIA. POLYANDRIA. Hypericum perforatum. (Russ. Swerowoj.) - quadrangulare. - montanum. SYNGENESIA. POLYGAMIA AEQUALIS. Leontodon taraxacum. - autumnale. - hispidum. - hastile. Cichorium intybus. Die Wurzeln werden, wie in Deutschland; getrocknet und von den ärmern Leuten als Surrogat des Caffees gebraucht. Arctium lappa. (Russ. Lapatwik.) Carduus lanceolatus. - crispus. - acanthoides. - nutans.
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Carduus eriophorus - palustris. - serratuloides. - heterophyllus. Wird in Moskwa zum Gelbfärben angewendet. Sonchus palustris. - arvensis. - oleraceus. Hieracium pilosella. - incanum. - cymosum. - praemorsum. - paludosum. - umbellatum. - murorum. Tragopogon pratense. Lactuca Scariola. Picris hieracioides. Prenanthes muralis. Lapsana communis. Cnicus oleraceus. Hypochaeris maculata. Hyoseris minima. Serratula arvensis. - altissima. - tinctoria. (Russ. Serpucha.) Wird von den Russen zum Gelbfärben benutzt, aber bei Moskwa nicht eingesammelt
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oder kultivirt, sondern aus der Ukraine und dem Astrakanischen. Verschrieben. Eben dies ist der Fall mit dem wilden Krapp (Marena) und dem Ginst (Drok.) Bidens cernua. - tripartita. (Russ. Tscherjoda.) Dient auch zum Gelbfärben. Eupatorium cannabinum. Carlina vulgaris. Crepis biennis. - sibirica. - tectorum. POLYGAMIA SUPERFLUA. Tussilago farfara. (Russ. Belokonütnik.) Die gemeinen Russen brauchen beim Husten die Blätter als Thee - petasites. Solidago virgaurea. Coryza squarrosa. Tanacetum vulgare. (Russ. Dykaja Riäbinka.) Die Landleute kennen die wurmtreibenden Kräfte der Blätter und Blumen. Matricaria chamomilla. (Russ. Romanka.) Ist ein gewöhnliches Hausmittel der Moskowischen Damen. - suaveolens. - parthenium. Senecio vulgaris. - tenuifolius.
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Senecio sylvaticus. - paludosus. - Jacobaea. - Saracenicus. Erigeron acre. - canadense. Cineraria palustris. (Russ. Vypadasdinnaja trawa.) Die Muschicks bereiten aus dem Pulver der Wurzel und Leinöl eine Salbe, welche sie bei alten Geschwüren gebrauchen. Artemisia Absynthium. (Russ. Palyn). Der Muschick macht vom Kraut einen Aufguß mit Branntwein, und nimmt davon bei Magenbeschwerden. Auch braucht er es zum Gelbfärben, in Verbindung mit dem Ginster (Genista tinctoria), wie dies, nach Lepechins Bericht (Th. I. S. 74), auch die Morduanen thun, welche an den Ufern der Okka und Wolga wohnen. - vulgaris. Vielleicht wäre die Wolle zu benutzen, die unten an den Blättern dieser Pflanze ist. Nach Herrn Storch wird sie in Rußland wie die Moxa der Chineser und Japaner gebraucht, welches aber in und bei Moskwa nicht der Fall ist. - campestris. - abrotanum.
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Gnaphalium sylvaticum. (Russ. Stejuwnik.) - uliginosum. - dioicum. Centaurea Cyanus. (Russ. Wasilkwoi Zwiät.) - Jacea. - Phrygia. - paniculata. - scabiosa. Achillea Millefolium. (R. Grutscha dikaja.) - ptarmica. (R. Tschegornaja trawa.) Chrysanthemum Leucanthemum. - corymbosum. Anthemis tinctoria. (Russ. Pupawka.) Wird von den Landleuten zum Gelbfärben benutzt. - arvensis. - cotutla. Inula helenium. - dyssenterica. - hirta. - salicina. POLYGAMIA NECESSARIA. Filago arvensis. MONOGAMIA. Viola palustris. - hirta. - canina.
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Viola mirabilis. - arvensis. - tricolor. Die Blume hat in Moskwa einen angenehmen Geruch, den im in Deutschland nicht bemerkt habe. - odorata. Ich habe die Blätter und die Wurzel mehrere Male bis zu zwei Drachmen gegeben, doch in Moskwa nie Erbrechen und Purgiren darauf erfolgen sehen, wie dies, nach des berühmten Willemets Versuchen, in Lothringen der Fall ist, und wie es auch in Deutschland geschieht. Impatiens noli tangere. GYNANDRIA. DIANDRIA. Orchis morio. - bifolia. - coriophora. - militaris. - mascula. - latifolia. - maculata. - odoratissima. - conopsea. - fuscescens. Man kann sich der runden, zwiebelförmigen
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Wurzeln von den ersten fünf hier angeführten Arten, bei theuern Zeiten bedienen. Sie geben einen Gallert, der sehr nahrhaft ist. Zu drei Solotknik (einem Quentchen) Pulver der getrockneten Wurzel gebraucht man 48 Solotnik (ein halbes Pfund) Wasser, um einen ziemlich dicken Schleim zu erhalten. Die oxchis morio ist diejenige, von welcher uns die Salep-Wurzel aus China und Persien zugeschickt wird. Ich bin aber durch Versuche, die ich in Moskwa angestellt habe, völlig überzeugt, daß die einheimische Pflanze jene fremde überflüssig macht, und daß noch mehrere Species von orchis dazu dienlich sind. Die Wurzeln müssen im Herbst eingesammelt werden, und die neu hervorkommenden Knollen werden vorzüglich aufbewahrt. Durch warmes Wasser sondert man die äußere Haut ab; man läßt sie in einem Ofen trocknen. In feuchten morastigen Gegenden von Rußland, wo diese Orchis-Arten am häufigsten gefunden werden, könnten sie bei einer Hungersnoth vielleicht eine gute Nothhülfe abgeben. Satyrium repens. Ophrys nidus avis. (Russ. Ptitsche gnezdo.) - ovata. - monorchis. - spiralis.
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Serapias latifolia. - lancifolia. - rubra. HEXANDRIA. Aristolochia Clematitis. POLYANDRIA. Calla palustris. (Russ. Naputnik beloi.) Die gemahlenen Wurzeln können im Nothfall unter das Mehl gemischt werden, wie dies, nam Georgi‘s Bericht, zuweilen in Finnland geschieht. Man pflegt ihnen alsdann durch siedendes Wasser vorher ihre Schärfe zu nehmen. MONOECIA. MONANDRIA. Chara vulgaris. DIANDBRIA. Lemna minor. (Russ. Riaska.). - trisulca. - gibba. - polyrhiza. TRIANDRIA. Carex arenaria.
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Ich habe die Wurzel allezeit mit großem Nutzen anstatt der theuern ausländischen Sassaparillwurzel (Smilax Sassaparilla) gebraucht, die ohnedies nur selten echt zu uns kommt, oft auch durch die Länge der Zeit won ihren Kräften viel verloren hat. In Russischen Hospitälern und bei den Armeen sollte man sie durchgängig anstatt der Sassaparilla einführen. Carex dioica. - uliginosa. - pulicaris - leporina. - brizoides. - loliacea. - remota. - muricata. - Oederi. - flava. - panniculata. - montana. - ericetorum. - filiformis. - limosa. - caespitosa. - acuta. - vesicaria. - hirta. Typha latifolia. (Russ. Palyn kosch.)
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Typha angustifolia. Sparganium erectum. TETRANDRIA. Betula alba. (Russ. Beresa.) Ist in ganz Rußland eine der gemeinsten Holzarten, und findet sich besonders häufig um Moskwa. Die Birke ist in Rußland von sehr mannichfaltigem Nutzen. Das Holz wird zum Brennen, und besonders zum Kohlenbrennen gebraucht. Aus der Rinde macht man allerlei Hausgeräthe und Geschirre. Eine Art länglicher Gefäße mit einem Deckel dient zum Aufbewahren des Caviars (Ikra) und anderer Lebensmittel, welche zum Verkauf herumgetragen werden. Auch gebraucht man die Rinde zum Gerben, und zieht daraus eine Art von Theer. Die jungen Blätter dienen zum Gelbfärben. Aus dem Safte wird durch Gährung mit Honig und Zucker eine Art von Meth oder Wein bereitet. Zu Pfingsten werden die Kirchen und Häuser mit jungen Birkenbäumen ausgeziert, um dadurch die Wiederkehr der schönen Jahreszeit zu feiern. Ihr Verbrauch zu Baderuthen (Weniki) ist sehr beträchtlich. Hierzu dienen mit Laub bewachsene Reiser, womit der gemeine Russe sich im Bad reibt oder schlagen läßt. Auch Bastschuhe
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werden aus der Rinde gemacht, aber doch nicht so häufig wie aus Lindenbast. Betula nana. (Russ. Beresowoi Jerik.) - alnus. (Russ. Olecha.) Die Kohlen des Holzes werden zur Pulverfabrikation gebraucht. Urtica urens. (Russ. Kropiwa.) Wird häufig als Zugemüse gegessen. - dioica. Kann zum Hanfbereiten benutzt werden, wie dies, nach Herrmanns Zeugniß, in Sibirien geschieht. PENTANDRIA. Xanthium strumarium. Amaranthus blitum. POLYANDRIA. Quercus robur. (Russ. Dub.) Dieser Baum findet sich hier und da um Moskwa, und im Ganzen nur wenig im Moskowischen Kreise. Er gelangt nicht zu der Größe und Dicke, wie in andern Ländern, und das Holz ist auch weniger dauerhaft. In Gerbereien wird die Rinde fast gar nicht benutzt, indem man sich zu den Juften der Weidenrinde, und zu andern Häuten am gewöhnlichsten der Birkenrinde bedient. Ich habe armen Leuten zuweilen das Pulver der
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Rinde, anstatt der theuern Chinarinde, verordnet; aber es entsprach seltener meiner Erwartung, als die Weidenrinde und die Wurzel vom Benedictenkraut (Geum urbanum). Die Galläpfel werden gesammelt. Corilus avellana. (Russ. Oreschnik.) Myriophyllum spicatum. Ceratophyllum demersum. Sagittaria sagittifolia. In Sibirien füttert man mit der Wurzel die jungen Schwäne, die davon sehr fett und schmackhaft werden, und deren geräucherte oder an der Luft getrocknete Brüste man nach Moskwa versendet. Pinus sylvestris. (Russ. Sosna.) Ist der gemeinste Waldbaum um Moskwa, wie überhaupt in ganz Rußland, und wird zum Brennen und zum Bauen am häufigsten gebraucht. Außer der gewöhnlichen Benutzung des Kienbaums, verdient erwähnt zu werden, daß die Landleute mit Splittern von diesem Baum ihre Hütten zur Abendzeit erleuchten, wodurch schon manche Feuersbrunst entstanden ist. - Abies. Findet man sehr häufig im Moskowischen Kreise, besonders am linken Ufer der Moskwa.
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DIOECIA. DIANDRIA. Salix alba (Russ. Tal twa.) - pentandra. - vitellina. - fragilis. - helix. - amygdalina. - hermaphrodita. - myrsinites. - aurita. - incubacea. - viminalis. - caprea. Außer der gewöhnlichen Anwendung der Weiden, wird die Rinde in Moskwa zum Gerben gebraucht. Die Rinde von den zartesten Aesten der. gemeinen Weide (Salix alba) habe ich häufig, anstatt der Chinarinde, mit vielem Nutzen angewendet. Da jene wohlfeiler ist, als diese, und leichter unverfälscht erhalten werden kann, so wäre es vielleicht ein nicht übler Vorschlag, sie für gewöhnliche Krankheiten in den Hospitälern und bei den Armeen einzuführen, besonders da die Gewinnsucht oft die unentbehrlichste Arznei so verfälscht, daß die armen Kranken keine Hülfe dadurch erhalten, und in den Wichelhausens Moskwa, [13]
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Hospitälern dieser Ursache wegen oft das Leben verlieren. TETRANDRIA. Hippophae rhamnoides. PENTANDRIA. Humulus lupulus. (Russ. Schmel.) Der Moskowische Hopfen ist weniger bitter, als der Deutsche. Cannabis sativa. (Russ. Konoplä.) Wächst wild um Moskwa, wird aber auch häufig angebauet und gibt eine dreifache Ernte. Es ist bekannt, daß der Russische Hanf der beste in Europa ist und deswegen viel ausgeführt wird. Man preßt auch Oel aus den Samen. OCTANDRIA. Populus tremula. (Russ. Osyna.) Findet sich sehr häufig, und fast in allen Wäldern um Moskwa. - nigra. ENNEANDRIA. Mercurialis perennis. (Russ. Polerka.) Hydrocharis morsus ranae. (Russ. Liaguschnik.)
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MONADELPHIA. Juniperus communis. (Russ. Mochwenik.) KRYPTOGAMIA. FILICES. Equisetum sylvaticum. - arvense. - palustre. - limosum. Der daraus bereitete sogenannte Shachtelhalm ist gewöhnlich sehr rauh, und zu Drechsler- und andern Arbeiten nicht so brauchbar, wie der ausländische. - hyemale. Osmunda Iunaria. - regalis. - struthiopteris. Pteris aquilina. Asplenium ruta muraria. Polypodium vulgare. - pheopteris. - cristatum. - dryopteris. - fragile. - Filix foemina. - - mas. Lycopodium selago. (Russ. Baranetz.)
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Lycopodium clavatum. Hier und da sammelt man die Samen davon. Auch werden aus den Stengeln niedliche kleine Teppiche geflochten. - complanatum. (Russ. Seleniza.) Wird beim Färben als Beitze, anstatt des Alauns, gebraucht. Man mischt das Pulver mit Kwuas, und legt die zu färbenden Zeuge hinein, wodurch sie zu besserem Annehmen der Farben geschickt werden. MUSCI. Phasoum cuspidatum. - muticum. Sphagnum palustre. Hedwigia apocarpa. Gymnostomum pyriforme. - truncatulum Tetraphis pellucida. Leersia pulvinata. - cirrhata. - vulgaris. Grimmia apocarpa. Weissia viridula. - paludosa. Orthotrichum striatum Hedwigii. Polytrichum commune. - piliferum.
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Polytrichum nanum. - undulatum. Trichostomium hypnoides. Fissidens bryoides. - taxifolius. - denticulatus. Digranum purpureum. - scoparium. - heteromallum. - pellucidum. Tortula muralis. - subulata. Barbula ruralis. Neckera crispa. - dendroides. - sericea. Leskia complanata. Hypnum triquetrum. - parietinum. - praelongum. - Crista castrensis. - abietinum. - cupressiforme. - squarrosum. - purum. - velutinum. - serpens. gracile. Bryum argenteum.
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Bryum anotinum. - hornum. - serpilifolium. - cuspidatum. - proliferum. - undulatum. - caespititium. - fissum. Koelreutera hygrometrica. Webera pomiformis. - pyriformis. Fontinalis antipyretica. - pennata. Jungermannia asplenioides. - viticulosa. - biscuspidata. - bicuspidata. - complanata. - dilatata. - platyphylla. - ciliaris. - epiphyllas. - pinguis. Marchantia polymorpha. ALGAE. Riccia fluitans. Lichen scriptus.
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Lichen pertusus. - niger. - fagineus. - candelarius. - centrifugus. - saxatilis. - olivatius. - parietinus. - physodes. - stellarius. - ciliaris. - islandicus. - pulmonarius. - furfuraceus. - prunastre. - caperatus. - aphthosus. - caninus. - cocciferus. - pyxidatus. - foliaceus. - gracilis. - rangiferinus. Kann zum Winterfutter des Rindviehes dienen, muß aber zu diesem Zwe vorher abgebrühet und mit Salz vermischt werden. (M. s. Preisschriften und Abhandlungen
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der Petersburgischen freien ökonomischen Gesellschaft. B. I. S. 121.) Lichen uncialis. - paschalis. - jubatus. - hirtus. - floridus. Lepra antiquitatis. - flava. - botryoides. Byssus flos Aquae. - septica. - phosphorea. - velutina. Conferva rivularis. - fontinalis. - bullosa. - reticulata. - gelatinosa. - capillaris. - glomerata. Ulva intestinalis. - peruniformis. FUNGI. Die Schwämme sind für Rußland ein sehr wichtiges vegetabilisches Produkt, weilsfie in den Fasten eine vorzüglich beliebte Speise ausmachen.
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Daher ist es wichtig, die eßbaren genau zu kennen. Agaricus integer. (Russ. Voloni.) Dieser Schwamm wird sehr häufig in den feuchten Wäldern um Moskwa gefunden. Man hat zwei Varietäten davon, die sich durch ihre röthliche und grünliche Farbe unterscheiden. Die röthlichen findet man am häufigsten. Beide Varietäten werden ohne den geringsten Nachtheil häufig genossen, und nie habe ich schädliche Folgen davon gesehen, wie dies, dem Herrn von Krapff zufolge, bei einigen Varietäten dieses Schwammes der Fall seyn soll. - muscarius. Vom Fliegenschwamme sah im mehrere Male unglückliche Ereignisse entstehen, ob es gleich zuverlässig ist, daß die Muschicks ihn häufig ohne Nachtheil genießen. - deliciosus. (Russ.Ryschik.) Ist einer der besten und wohlschmeckendsten Schwämme, und wird in Moskwa sehr häufig gegessen. Man muß sich hüten, ihn nicht mit dem Fliegenschwamme, der, wenn er alt geworden ist, ihm zuweilen etwas ähnlich sieht, zu verwechseln. - lactifluus. Dieser eßbare Schwamm läßt sich durch Cultur gut vermehren.
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Agaricus piperatus. (Russ. Grusdi.) Er hat einen milchichten Saft, der wie Pfeffer schmeckt, und ist schädlich. Dessen ungeachtet habe ich öfters gesehen, daß die Muschicks ihn ohne nachtheilige Folgen in Menge genossen. - campestris. (Russ. Grib.) Findet sich häufig, und ist während der Fasten die gewöhnliche Volksspeise. - violaceus. Ist ganz unschädlich, wird aber dessen ungeachtet fast gar nicht genossen. - cinnamomeus. (Russ. Volshanka.) - extinctorius. (Russ. Skrypiza.) Beide werden genossen und sind sehr gut. - fimetarius. - fragilis. (Russ. Opionka.) - umbelliferus. - tomentosus. Merulius cantarellus. - betulinus. Boletus suberosus. - igniarius - versicolor. - perennis. - luteus. (Russ; Beresowik.) Wird viel gegessen. - bovinus. (Russ. Korowik.)
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Boletus subsquamosus. Hydnum imbricatum. Wird meines. Wissens in Moskwa nicht genossen, ob er gleich eßbar ist. - tomentosum. - parasiticum. Phallus esculentus. (Russ. Smortschock.) Die Spitzmorcheln finden sich häufig. Sie werden getrocknet und zu mancherlei Speisen gebraucht. Peziza lentifera. Octospora cyathoides Hedwigii. - coronaria. Clavaria pistillaris. - hypoxilon. - coralloides. Der Korallenkeulschwamm wird immer ohne allen Nachtheil gegessen. Lycoperdon tuber. In Moskwa wird eine große Delikatesse daraus gemacht. - bovista. - stellatum. - epidendrum. - luteum. - epiphyllum. Mucor sphaerocephalus. - mucedo. - glaucus.
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Mucor Erysiphe. - septicus.
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Man sieht aus diesem Verzeichnisse, daß die Gegend von Moskwa einen Reichthum an wildwachsenden Pflanzen hat. Ich bin indeß überzeugt, daß dieses Verzeichniß bei weitem nicht vollständig ist, und daß fortgesetzte Nachforschungen es vermehren können. Was die angebauten Pflanzen betrifft, so sind zuverlässig wenige Gegenden in Europa, wo man in ihrer Cultur eben die Fortschritte gemacht hat, wie in Moskwa, und wo so viele nützliche und seltne Gewächse aller Erdzonen so häufig gefunden werden. Indeß ist die Gartencultur noch nicht sehr lange eingeführt. Den Nachrichten des Barons von Herberstein zufolge, war sie im sechzehnten Jahrhundert noch in ihrer Kindheit *).
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*) Commentari della Moscovia p. 368. b. Er sagt: La qual regione benohe par la cura et opra degli Agricoltori sia assai coltivata, non dimento, oltro le cose che nascano nelli proprii campi, tutte l‘altre cose delle provincie circonvicine sono portate a quel luogo. --- Doch macht er bei den Melonen eine Ausnahme, indem er S. 37. a. sagt: Li meloni con singulare cura et industria seminano.
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Außer Kohl, Zwiebeln, Knoblauch, Gurken, Melonen und einigen Baumfrüchten, wurden fast keine Gewächse gezogen. Mit dem Anbau und dem Genusse mehrerer Gartengewächse sind die vormaligen Einwohner von Moskwa erst durch Ausländer bekannt geworden. So haben diese zuerst die Cultur und den Genuß der verschiedenen Salatgattungen eingeführt *), und die Russen mit mehreren Blumen bekannt gemacht. Der Holländer Bruyn erzählt, daß die Deutschen erst am Ende des siebzehnten Jahrhunderts den Anbau verschiedener Wurzelgattungen, Rüben, Sellery, und feiner Kohlarten in Moskwa eingeführt, und daß im Anfange des vorigen Jahrhunderts Spargel und Artischocken nur in den Gärten der Ausländer zu finden gewesen **). Eben derselbe versichert, daß die Blumenkultur zu seiner Zeit nur von Ausländern betrieben worden sey, und in den Russischen Gärten nicht Statt gefunden habe. Olearius
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*) Olearius‘ ausführliche Beschreibung der kundbaren Reise nach Moscow und Persien u. s. w. S. 114.
**) Meiners im a. B. Th. I. S. 93. 94.
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berichtet als eine Seltenheit, daß er bei einem Holländischen Kaufmann daumdicke Spargel gegessen, und daß im Jahre 1643 Peter Marcellus die ersten Rosen (Rosa centifolia) aus Gottorp habe kommen lassen *). Indeß hatte man damals schon Aepfel, Birnen, Pflaumen und andere Baumfrüchte, erhielt auch bereits Melonen aus Astrakan, und Trauben aus Kiew **). Seit Peter dem Großen und seinen aufgeklärten Nachfolgern, hat die Gartencultur eine neue Gestalt bekommen, und sich allmählich so verbessert, daß sie jetzt auf einem Grade der Vollkommenheit steht, welcher der Thätigkeit und der Industrie der Russischen Nation Ehre macht. Alle Gartenfelder um Moskwa sind mit Gemüsen von mancherlei Art bepflanzt. Vorzüglich werden aber Kohl (Brassica oleracea), Gurken, Zwiebeln, Knoblauch, Rüben, Kartoffeln, mehrere Wurzelgattungen, Spinat, Salate, Bohnen und Spargel angebauet. Außerdem daß in Moskwa viele einheimische und ausländische Gärtner sind, die sich
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*) Im a. B. S. 155.
**) Meiners im a. B. Th. I. S. 95.
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mit dem Anbau der Gemüse beschäftigen, kommen alle Jahre im Frühling, oft aus dem Innersten von Rußland, viele Muschicks, welche hierauf speculiren, und deshalb ganze Säcke voll Sämereien mitbringen. Diese pflegen gewöhnlich auf ein oder mehrere Jahre ein Stück Feld zu miethen. Kein Fleckchen Land um Moskwa ist so öde, kein abgelegner kleiner Winkel so verwildert, daß diese industriösen Leute ihn nicht brauchbar machten. Sie düngen ihr Land mit Gassenkoth oder Mist, and bearbeiten es mit solcher Sorgfalt, daß die darauf gepflanzten Gemüse vortrefflich und oft besser gerathen, als die von Kunstgärtnern gebaueten. Sie verkaufen es vor den Thüren, und sorgen für den Wintervorrath derer, die nicht selbst Gärten oder Landgüter haben. Hierbei leben sie auf die frugalste Weise, und übernehmen sich fast gar nicht im Branntweintrinken, was von den andern Moskowischen Muschicks nicht zu rühmen ist. Gegen den Winter ziehen sie mit ihrem ersparten Gelde unter fröhlichen Gesängen in ihre Heimath, um mit den ersten Strahlen der Frühlingssonne wieder zurückzukehren. Unter den Gemüsen wird in der Gegend von Moskwa die Runkelrübe nicht ganz vernachlässigt.
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208 Sie geräth daselbst sehr gut, und könnte, wenn sie häufiger gezogen würde, zum Winterfutter der Kühe mit großem Nutzen gebraucht werden. Auch hat man bereits Versuche gemacht, Zucker daraus zu gewinnen, die überaus gut ausgefallen sind. Unter andern waren der General Blankenagel und der Oberstlieutnant Jessipow sehr glücklich darin; sie haben, wie man sagt, sogar die Zubereitungsart auf einen hohen Grad vervollkommnet. Es sind dem großen Kaiser Alexander bereits Proben davon vorgelegt worden, die dessen Beifall erhalten haben. Aepfel, Haselnüsse, alle Gattungen von Johannisbeeren, Himbeeren und Erdbeeren gedeihen sehr gut. Eine Gattung von Aepfeln, die ursprünglich aus China herstammt und in freier Luft sehr gut fort kommt, ist besonders merkwürdig. Man nennt sie Naliwi Jabloki (vollgegossene Aepfel), weil sie, gegen die Sonne gehalten, so durchsichtig sind, daß man deutlich die Kerne darin wahrnehmen kann. Die durchsichtigsten davon wachsen bei der Kreisstadt Dmitrow. Ihr Geschmack ist angenehm säuerlich. Birnen, Pflaumen und Kirschen erhalten in freier Luft nicht den Wohlgeschmack,
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wie in gemäßigten Erdstrichen. Die, welche aus Wolodimir gebracht werden, sind noch die besten. Ueberhaupt bekümmerte sich der Muschick bisher nicht viel um das Anpflanzen neuer Obstbäume, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil er kein Eigenthum besitzen durfte, und also auch seinen Nachkommen die Früchte davon nicht zu gut kamen. Jetzt, da durch die Milde des edlen Kaisers Alexander einem beträchtlichen Theile der Landleute und den Bürgern diese Erlaubniß ertheilt worden ist, wird wahrscheinlich die Obstcultur immer mehr in Aufnahme kommen. Die Cultur der Melonen und Arbusen (Cucurbita Citrullus) war bereits vor mehrern Jahrhunderten in Moskwa bekannt. Schon im sechzehnten Jahrhundert, zog man in freiem Felde mehrere Gattungen davon, deren Geschmack alle Reisebeschreiber jener Zeiten loben. Herberstein *) erwähnt derselben; und Olearius sagt, daß zu seiner Zeit die Einwohner von Moskwa sehr viele Sorgfalt auf den Bau der Melonen verwendet, und einen ansehnlichen Handel damit getrieben haben. Er setzt hinzu, daß er eine derselben als Geschenk erhalten,
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*) Comm. della Mosc. p. 37. b.
Wichelhausens Moskwa. [14]
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die über 40 Pfund schwer gewesen sey *). Von jeher hatten die Moskowiter besondere Kunstgriffe bei der Cultur dieser Frucht. Sie weichen den Saamen entweder in Milch oder in eine Mischung von Schafmist und faulem Regenwasser ein. Hierauf pflanzen sie denselben in tiefe Mistbeete, die während der Nacht und an kalten Tagen mit gläsernen Glocken bedeckt werden. Eben so verfahren sie mit den Arbusen. Indeß kommen diese in freier Luft angebaueten Melonen und Arbusen denen nicht bei, welche in den Gewächshäusern gezogen, oder von Masdok, Kislar und Krementschuk hergebracht werden. Auch auf den Anbau der Artischocken (Cyara scolymus) wird vieler Fleiß verwendet. Die Menge der Kunstgärtner in und bei Moskwa ist außerordentlich groß. Ein Ausländer, der zum ersten Mal durch die Gegenden um Moskwa wandert, erstaunt, eben hier, wo er nach den allgemeinen Vorurtheilen vielleicht nur öde Wildnisse erwartete, paradiesische Anlagen und prächtige Zaubergärten zu finden. Der Kenner der Gartenkunst wird
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*) Im a. B. S. 154.
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freilich den Geschmack, der in vielen dieser Gärten herrscht, nicht loben können; er wird öfters jene einfache Benutzung der natürlichen Anlagen, die ein Zeichen des wahren Geschmacks ist, vermissen und zuweilen sogar über die Hand der Kunst zürnen, die geschäftiger war, als es die ästhetischen Regeln verlangten. Auch wird er wünschen, daß bei manchen künstlichen Anlagen auf die Beschaffenheit des rauhen Klima‘s mehr Rücksicht genommen wäre; denn was für den sanften Himmel Italiens und des südlichen Frankreichs paßt, ist im Norden nicht immer an der rechten Stelle. Indeß gibt es auch Prachtgärten, welche musterhaft sind und dem Geschmack ihrer Besitzer Ehre machen. Unter diesen zeichnet sich der Paskowische besonders aus. --- Die Zahl kleiner Gartenwohnungen, wo Personen vom Mittelstande die schöne Jahreszeit zubringen, ist nicht minder beträchtlich. Auch hinter den Häusern in der Stadt sind gewöhnlich größere oder kleine Gärten. Vielleicht gibt es nirgends in ganz Europa so viele und gut eingerichtete Treibhäuser, als in und bei Moskwa. Die Kunst hat hier gezeigt, was sie vermag: sie ersetzt was die Natur versagte, schafft einen wahren Reichthum
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an Gewächsen aller Erdzonen, der wohl nirgends größer ist, und trotzt dem Einflusse der Jahreszeiten auf eine bewunderungswürdige Weise. In Deutschland, Frankreich und Italien findet man zwar in großen Städten einzelne Treibhäuser, welche frühzeitige Gartengewächse liefern und viele seltne Pflanzen enthalten; Moskwa aber hat ihrer vielleicht einige Hunderte und mehr, bei denen kein Aufwand gesparet wird. Das Blühen der großen Aloe (Agave americana) ist in Moskwa keine Seltenheit. Auch Früchte, die selbst in Italien nicht oft vorkommen, sind ziemlich häufig. Unter diese gehört die Ananas, welche man im Sommer das Stück für einen Rubel bei den Fruchthändlern in Menge kaufen kann. Die herrlichsten Melonen hat man in Ueberfluß, und besonders Cantalupen, die um nichts schlechter sind, als die, welche ich in Florenz genossen habe. Unter andern Sorten, aß ich einmal bei dem Herrn Leow Procopitsch Demidow von der delicaten Art Cantalupen, die äußerlich schwarzbraun aussieht und einen weinartigen, sehr süßen Geschmack hat *).
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*) Man nennt sie, ihres lieblichen Geschmackes wegen, in Italien il melone dei Santi, was so viel heißt, als die Melone für die Heiligen.
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Schon in der Mitte des Maimonaths sieht man die herrlichsten Pfirsiche. Mitten im Winter sind Pflaumen, Kirschen, Aprikosen und andere Baumfrüchte zu haben. Alle Gattungen von Salaten werden den ganzen Winter hindurch von den Gemüsehändlern *) (Selenschicki) in solcher Menges vor den Thüren feil geboten, daß sie für einen geringen Preis täglich in allen Haushaltungen eingekauft werden können. Bereits im Februar kommen auf die Tafeln der Großen verschiedene Sorten junger Gemüse, auch mancherlei Sommerfrüchte; und nicht lange nachher sieht man dergleichen auf vielen Tischen des Mittelstandes. Um die Vervollkommnung der Gartencultur, besonders in Rücksicht der Treibhäuser, hat die berühmte Demidowsche Familie besondre Verdienste. Vorzüglich zeichnete sich aber der verstorbene Staatsrath Profofii Afümsitsch Demidow aus, der auch allen Pflanzenkennern bekannt ist. Wie weit die Cultur, von Gewächsen in dessen Gärten und Treibhäusern ging, kann man daraus abnehmen,
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*) Die Moskowischen Deutschen nennen dieselben die Grünkerls.
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daß im Jahre 1781 darin 2224 Gattungen vorhanden waren *). Obgleich dieser für die Botanik so wichtige Garten in späterer Zeit sehr vernachlässigt worden ist, so sieht man doch noch immer seltne Gewächse darin. Auch die Herren Leow Prokopitsch und Paul Gregoritsch Demidow sind große Verehrer der Botanik und Kunstgärtnerei. Ich sah in Beider Gärten, unter mehreren seltnen Gewächsen, die wahre Rhabarber-Pflanze (Rheum palmatum). Der Apotheker-Garten, welcher gut in Ordnung gehalten wird, hat die meisten officinellen Gewächse. Vorzüglich sind die Gärten und Treibhäuser des reichen Grafen Scheremetiew in Kuskowa --- des Feldmarschalls Rasumowsky in Petrowskoj --- des Grafen Panin in Michalkowa --- und der Fürsten Schtscherbatow und Chowanskoj berühmt. Auch bei einigen Kaiserlichen Lustschlössern, als in Zariiczin und Petrowsky, findet man vortreffliche Orangerieen.
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*) Enumeratio plantarum Hort. Demid. recens.. PALLAS. 1781.
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VIII.
Viehzucht.
Einfluß des Klima‘s auf das Thierreich --- Vernachlässigung der Viehzucht --- Rindvieh --- Die Kunst Butter zu machen ist unbekannt --- Viehseuchen --- Nutzen der Orräusschen Heilmethode --- Pferdezucht --- Schweine --- Schafe --- Geflügel.
Die Thiere in und bei Moskwa tragen, gleich den Pflanzen, das Gepräge des Klima‘s. Ueberhaupt sind sie meistens kleiner, als in südlichen Gegenden, und die Farben ihrer Haut heller, oder auch einem periodischen Wechsel unterworfen. So werden z. B. die Hasen im Winter weiß, im Frühlinge grau, im Sommer bräunlich, und in seltnen Fällen ganz schwarz *). Der Fibernbau der meisten Thiere ist von zäherer Structur und ihre Haut mit längern und härteren Haaren besetzt, um den Einflüssen der rauhen Jahreszeit widerstehen
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*) Man sieht im Naturatien-Cabinet des verstorbenen Staatsraths Nikit Akümfitsch Demidow einen schwarzen Hasen ausgestopft.
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zu können. Diese und andere klimatische Modificationen fallen auch bei den gezähmten Thieren auf. Die meisten derselben sind noch in einem halb wilden Zustande, da auf ihre Zucht sehr wenige Mühe verwendet wird. Mit einer beispiellosen Indolenz überläßt der Landmann die Sorge für seine Heerden der Natur. Kaum ist der Schnee geschmolzen, so müssen sie ihr Futter auf nahen und entfernten Triften selbst suchen; und wenn der wiederkehrende Winter sie daran verhindert, wird ihnen in elenden Ställen nur so viel Futter gereicht, daß sie zur Noth ihr Leben erhalten können. Dies Futter besteht nur aus Stroh, und in seltnen Fällen aus schlechtem Heu, so daß manches arme Vieh vor Hunger umkommt. Man muß hierüber um so mehr erstaunen, da es im Moskowischen Kreise nicht an fetten, kräuterreichen Wiesen fehlt, die hinreichendes Winterfutter liefern könnten; aber Theils beschäftiget man sich nicht zur rechten Zeit und gehörig mit dem Heumachen, und Theils verkauft man es lieber für ansehnliche Preise in die Stadt, als daß man es zur Winterfütterung des Viehes aufbewahren sollte. Es ist traurig anzusehen, wie schlecht das Vieh gegen die rauhe Winterwitterung
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geschützt wird. Die Ställe sind so leicht gebauet, daß der Schnee hineindringen kann. Aber --- wie wird auch der Muschick für zweckmäßige Viehställe sorgen, da er in Betreff seiner eigenen Wohnung so geringe Foderungen macht! Indeß widerfährt den Schweinen und dem Federvieh zuweilen die Ehre, daß die Muschicks ihre, wenigstens wärmeren, Wohnungen, mit ihnen theilen. Doch ist diese schlechte Wirthschaft mit dem Viehe in und bei Moskwa weniger allgemein, als in vielen andern Gegenden von Rußland, weil die Produkte in einer so volkreichen Stadt, deren Zufuhr noch überdies oft unterbrochen ist, einen hohen Ertrag geben. Man darf sogar hoffen, daß die Viehzucht sich allmählich verbessern wird, da seit einigen Jahren viele Gutsbesitzer den Kleebau mit Eifer treiben, wozu ein edler, von echt patriotischem Eifer beseelter, Deutscher die erste Veranlassung gegeben hat *). Das Rindvieh ist meistens klein, mager, rauh von Haaren, und hat sehr kurze Hörner **). Doch findet man hier und da Kühe,
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*) Richters Skizze von Moskwa, S. 103.
**) Schon Herodot führt in seiner Beschreibung von dem vormaligen Scythien, (B. IV, 28.) dieselbe Beobachtung an.
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welche von Holländischen Racen abstammen und bei gehöriger Verpflegung sehr gut gedeihen. Indeß arten auch sie allmählich aus: selten behalten sie den Glanz der Haare, den sie in ihren Heimathen hatten, und auch ihre Größe scheint sich allmählich zu vermindern. Vielleicht sind hieran, so wie an dem Umstande, daß sie unkräftigere Milch geben, als die einheimischen, besondere Verhältnisse des Moskowischen Klima‘s Schuld; denn selbst in weit nördlichern Gegenden, z. B. in Cholmogory bei Archangel, ist dieses Ausarten fremder Kuh-Racen weniger zu bemerken. Für die Pflege der Kühe wird übrigens etwas besser gesorgt, weil die Milch in Moskwa ziemlich theuer verkauft werden kann. Doch füttert man sie nicht, wie in manchen Gegenden von Deutschland, mit Runkelrüben, Kartoffeln und andern nahrhaften Gemüsen; höchstens bekommen sie, wenn sie gekalbt haben, eine Mischung von etwas Mehl und Wasser. So ist es denn natürlich, daß sie nicht sehr viele und kräftige Milch geben können. Man muß erstaunen, wenn man hört, daß äußerst wenige Landleute die so gemeine Kunst verstehen, Butter zu machen, wie sie in andern Ländern bereitet wird. Bei ihrer Art
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die Butter aus der Milch zu scheiden, befindet sich ihre gewohnte Trägheit vortrefflich; denn dabei brauchen sie fast keinen Arm zu rühren. Man schüttet bloß den von der Milch abgesonderten Rahm in platte Gefäße, und stellt diese in Backöfen, worauf sich die Butter in einer ölichten Form absondert. Daher nennt man sie auch in der Russischen Sprache Masle (Oel); und um dies aus der Milch geschiedene Oel von Pflanzen-Oelen zu unterscheiden, nennt man es Korowenne Masle, oder Kuh-Oel. Bei Viehseuchen , welche oft durch Ukrainische Ochsen nach Moskwa kommen, werden selten die gehörigen Vorkehrungen getroffen und die bewährtesten Heilmittel angewendet. Indeß ist es eine löbliche Polizei-Maßregel, daß das gefallene Vieh vergraben wird, ohne daß die Haut abgezogen und der Talg heraus genommen werden darf. Hierbei muß man sich billig wundern, daß selbst die bewährten Heilmethoden, welche in Rußland erfunden und öffentlich bekannt gemacht worden sind, so wenig ausgeübt werden. Die vortrefflichen Vorschläge des berühmten Orräus, welche in den Abhandlungen der Petersburgischen freien ökonomischen Gesellschaft (B. I.
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S. 149) stehen, haben bei weitem den Nutzen nicht gestiftet, den sie stiften konnten *). Aber wie soll dergleichen zur Kenntniß des Landmannes gelangen? Mich dünkt, es müßten in diesen und ähnlichen Fällen andere Maßregeln, als die bisher angewendeten, genommen werden, um ihn über seinen Vortheil zu belehren. Vielleicht wäre es thunlich, daß solche gemeinnützige Vorschriften durch die Geistlichen, nach Beendigung des Gottesdienstes, abgelesen würden; wenigstens gebraucht man in Deutschland dieses sehr passende Mittel, um auf das Volk zu wirken. Die ursprünglichen Moskowischen Pferde sind gar nicht schön, und gleichen einander fast alle sehr auffallend. Im Ganzen genommen, sind sie klein, und haben vorzüglich nachstehende Kennzeichen: einen gebogenen sogenannten Ramskopf, einen langen dürren Hals, lange oft bis zur Erde reichende Mähnen, einen starken Schweif, nebst einer breiten Brust, und einen gedrungenen Körperbau. Selten sind sie sehr fett; besonders im Winter haben sie lange struppige Haare, und überhaupt ein etwas
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*) Vielleicht wäre auch die Einimpfung mit Nutzen anzuwenden.
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wildes Ansehen. Dabei sind sie sehr scheu und halsstarrig, doch unermüdliche Läufer. Im Allgemeinen sorgt der Landmann nicht viel besser für ihre Zucht, als für die Zucht des Rindviehes. Wenn sie mit fremden Racen vermischt werden, so gewinnen sie zwar an äußerem Ansehn, aber nicht an Ausdauer. Man hat nicht weit von Moskwa Stutereien, worin sehr schöne Pferde gezogen werden, unter denen sich besonders die dem berühmten Grafen Alexei Gregoritsch Orlow Tschesmenkoy zugehörigen auszeichnen. Pferde, die als Harttraber abgerichtet sind, stehen in sehr hohem Preise; denn sie werden von den Liebhabern mit 1000 Rubeln, und noch theurer, bezahlt. Die Schweine sind klein, mager, und haben sehr starke Borsten. Selten werden sie gemästet, und die Eicheln der Holzungen bleiben unbenutzt. Schafe hält man im Moskowischen Kreise ziemlich häufig; auf ihre Zucht wird aber keine Mühe verwendet. Deswegen sind sie auch sehr klein, und haben kurze Schwänze und eine grobe Wolle. Im Winter werden sie nicht einmal getränkt, sondern müssen ihren Durst mit Schnee stillen.
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Da Geflügel auf den Tafeln der Reichen sehr beliebt ist, so verwenden die Landleute einige Mühe auf die Pflege desselben. Gänse, Enten, Hühner und Puter (Kalekutische Hähne) werden in Menge aufgezogen, und gerathen sehr gut. Tauben hält man weniger, weil die Russen aus einem alten Vorurtheile sie nicht essen.
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IX.
Volksmenge.
Berichte der Schriftsteller darüber --- Schwierigkeiten bei ihrer Bestimmung --- Periodischer Wechsel derselben und daher entstehende Ungewißheit --- Geburts-, Sterbe-, und Copulations-Listen --- Wahrscheinliche Volksmenge --- Fruchtbarkeit der Ehen --- Leichtigkeit der Eheverbindungen --- Weiber tragen ihre Ehemänner auf dem Arm.
Moskwa übertrifft an Volksmenge bei weitem jede andere Stadt des Russischen Reiches, ob sie schon, mit dem ungeheuren Flächeninhalte dieser gigantischen Stadt verglichen, noch gering ist. Sie stand, wie man aus meiner kurzen Geschichte von Moskwa gesehen haben wird, allezeit mit dem Flor und der Abnahme der Stadt im Verhältniß, und war also, bei den wechselnden Schicksalen derselben, bald groß, bald wieder sehr unbeträchtlich. Daher mußten denn die Nachrichten der Schriftsteller von jeher außerordentlich stark von einander abweichen. Selbst in neueren Zeiten sind die Meinungen
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224 darüber äußerst verschieden. Der Engländer Marshall, welcher zwischen den Jahren 1768 und 1770, also kurz vor der letzten großen Pest, in Moskwa war, schätzet die Volksmenge auf 500,000. Seelen *). Einer Nachricht zufolge, die im Journal von St. Petersburg (Jahr 1781.) steht, soll sie sich, nach einer Zählung des Oberpolizei-Meisters, in der Stadt auf 250,000, und in den umliegenden Gegenden auf 50,000 Seelen belaufen haben. Herrmann gibt sie auf 300,000 an **). Nach einem neueren Russischen Schriftsteller, der einige wenige, aber interessante Notizen über die Städte der Moskowischen Statthalterschaft geliefert hat, soll man im Winter 400,000, und im Sommer 300,000 Seelen annehmen können ***). Storch bestimmt die
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*) Travels in the years 1768 - 1770. London, 1773. T. III.
**) Statistische Schilderung von Rußland, in Rüksicht auf Bevölkerung, Landesbeschaffenheit, Bergbau, Manufakturen, und Handel, 1790, S. 20.
***) Istoritscheskoje i topografititskoje Opissanye gorodow Moskowskoj Gubernii ichujesdami. Moskwa, 1787.
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225 gewöhnliche Volkszahl auf mehr als 400,000 *). Richter, der ganz neuerlich über Moskwa geschrieben hat, nimmt für den Sommer 200,000, und für den Winter 300,000, Seelen: an **). Man sieht, wie ich glaube, schon aus diesen runden Zahlen, daß sie größten Theils nach ungefähren Schätzungen niedergeschrieben sind. Uebrigens ist es gewiß nicht leicht, die wahre Volksmenge von Moskwa mit einiger Zuverlässigkeit zu bestimmen. So viel kann man sicher behaupten, daß sie einem periodischen Wechsel unterworfen ist, da im Sommer die meisten reichen Edelleute mit ihren zahlreichen Leibeignen, Bedienten und Hofleuten die Stadt verlassen, um die schöne Jahrszeit auf ihren Landgütern zuzubringen, gegen den Winter aber zurückkehren, um der Vergnügungen der Stadt zu genießen. Die weniger bemittelten unter ihnen pflegen während des Sommers auf dem Lande zu sparen, um im Winter zu Moskwa desto anständiger leben zu können; ja, Einige bleiben, wenn sie bei ihrer letzten Amwesenheit
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*) Historisches statistisches Gemälde des Russischen Reiches, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Th. I. S. 589.
**) Skizze von Moskwa 1799. S. 5.
Wichelhausens Moskwa, [15]
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in Moskwa zu großen Aufwand gemacht haben, wohl Ein oder mehrere Jahre auf ihren Gütern, um sich wieder zu erholen und nachher mit desto größerem Glanze erscheinen zu können. Diese in jedem Sommer geschehende Auswanderung ist weit beträchtlicher, als man sich vielleicht vorstellt; ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich ihrem Betrag ungefähr auf 120,000 Seelen anschlage. Folgende Berechnung macht dies wahrscheinlich. Unter den 10,000 Gebäuden in Moskwa sind nur 8,360 eigentliche Wohnhäuser, und etwa 2,000 werden von Kaufleuten und anderen Personen, welche als Bürger bei den drei Gilden eingeschrieben sind, bewohnt. Ungefähr 6,360 bleiben also für adelige Haushaltungen übrig. Von diesen 6,360 will ich 1360 abziehen, die ihrer Geschäfte oder anderer Verhältnisse wegen beständig in Moskwa bleiben; dann bleiben 5000 adelige Haushaltungen, die den Sommer auf dem Lande leben. Nimmt man nun an, daß jede Familie nur aus vier Personen besteht und im Durchschnitt zwanzig Hofleute hat, so kommt die vorhin angegebene beträchtliche Zahl von Personen heraus, die sich während des Sommers nicht in der Stadt befinden.
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Die Volksmenge wird im Winter noch überdies durch eine große Anzahl von Kaufleuten vermehrt, die ihrer Geschäfte wegen aus allen Gegenden des Reiches nach Moskwa hin strömen. Diese Umstände treffen meines Wissens bei keiner andern Europäischen Stadt so zusammen, und es kann folglich auch in keiner so schwer seyn, die Volkszahl zu bestimmen. In jedem Falle muß man aber annehmen, daß die, welche Wohnhäuser in der Stadt haben, und nur während der Sommerzeit auf dem Lande leben, zu den gewöhnlichen Einwohnern von Moskwa gehören. Deshalb kommt es auf die Frage an: wie groß die Anzahl der Einwohner im Winter sey. Hierüber haben uns die Revisionslisten bisher keine befriedigende Auskunft gegeben, und nach Beschaffenheit der Umstände konnten sie es auch nicht: denn da diese Revisionen alle zwanzig Jahre bloß die aufzeichnen, welche Kopfsteuer bezahlen, und in Moskwa vielleicht 35,000 Personen leben, die ihr nicht unterworfen sind; da ferner die meisten Leibeignen, die sich zur Bedienung ihrer Herren in Moskwa aufhalten, in die Listen des Dorfes, zu welchem sie gehören, und nicht in die von Moskwa, eingetragen werden: so ist es nicht wahrscheinlich,
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daß man aus dieser Quelle zuverlässige Resultate erhalten kann, wenn auch bei diesen Revisionen nie Unterschleife vorfielen. Durch Berechnungen, welche sich auf Copulations-, Geburts-, und Sterbelisten gründen, würde man der Wahrheit wohl am nächsten kommen, wenn diese Listen in Moskwa mit eben der Zuverlässigkeit angefertigt würden, wie in St. Petersburg. Indeß kann man mit etwas mehr Gewißheit auf die Geburts-, als auf die Sterbelisten rechnen, weil die Getauften genauer aufgezeichnet werden, als die Gestorbenen. Nur müßte man hierbei die Kinder, welche in den Sommermonathen auf dem Lande zur Welt kommen, mit in Rechnung bringen können. Nimmt man für die Sommermonathe auf 120,000 Perfonen, welche Moskwa verlassen, --- nach dem Verhältnisse von 28 Lebenden zu Einer Geburt --- die Hälfte der Geburten für das Land an: so würden 2100. Geburten herauskommen. Diese zu der Zahl der Gebornen, nach einem Durchschnitt von mehreren Jahren, gerechnet, und dann mit 28 multiplicirt, geben, wie ich glaube, eine Zahl, die vielleicht der wahren Volksmenge am nächsten kommt, und uns wenigstens auf die Spur
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führt, welche unter den von verschiedenen Schriftstellern angenommenen Zahlen die wahrscheinlichste sey. Hier ist die Liste der Gebornen, Gestorbenen und Copulirten von den Jahren 1783 bis 1786.
Jahre. |
Geborne. |
Geborne. |
Gestorbene. |
Gestorbene. |
Copulierte. |
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Männlich. |
Weiblich. |
Männlich. |
Weiblich. |
Paare. |
1783 |
3636 |
3306 |
2770 |
2490 |
1427 |
1784 |
3510 |
3178 |
2603 |
2376 |
1426 |
1785 |
3480 |
3357 |
2319 |
2117 |
1496 |
1786 |
3516 |
3257 |
27771 |
2476 |
1418 |
Summe 1 |
14142 |
13098 |
10463 |
9459 |
5367 |
Summe 2 |
27240 |
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19922 |
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Diesen Listen zufolge, kommen, nach einem Durchschnitt, auf jedes Jahr 6810 Geborne, 4980 Gestorbene, und 1342 Copulirte. Auffallend ist das Verhältniß der Gestorbenen zu den Gebornen, und schon dies muß Zweifel an der Regelmäßigkeit der Listen erregen. Indeß, wenn ich auch annehme, daß das Verhältniß der Gebornen zu den Gestorbenen, im Ganzen vortheilhaft für Rußland ist, (wie dies bei der allgemeinen Uebereinstimmung so vieler Schriftsteller keinem Zweifel unterworfen zu seyn scheint): so muß hier doch ein Irrthum Statt haben, den ich mir auch leicht erklären kann. Denn obgleich in
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neueren Zeiten die weise Polizeieinrichtung getroffen ist, daß Niemand ohne einen Schein von dem Polizeimajor seines Stadttheils begraben werden darf, und obgleich also die Polizei von der Zahl der Gestorbenen die genaueste Kenntniß erhalten muß: so wird die Zahl der in Moskwa Gestorbenen doch dadurch vermindert, daß die Edelleute nur die jüngsten und rüstigsten Personen zu ihrer Bedienung wählen; kränkliche und alte aber auf das Land zurückschicken. Dieses Umstandes wegen, wird man vielleicht nie erfahren können, wie viele Personen, nach dem Gange der Natur, in Moskwa sterben würden. Aus der Anzahl der Gebornen kann man eher mit einiger Zuverlässigkeit auf die Volkszahl schließen, wenn man die 2150 Kinder, die wahrscheinlich auf dem Lande geboren werden, aber doch zur Vermehrung der Volksmenge von Moskwa beitragen, zu den 6810 aufgezeichneten Geburten addirt, welches die Totalsumme von 8960 Geburten gibt. Rechnet man auf 28 Geborne einen Lebenden, so kommen 250880 heraus. Hierzu müssen ungefähr noch 10,000 Fremde aller Nationen gezählt werden, die nicht zu der Griechischen Kirche gehören, und deren
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neugeborne Kinder folglich in den Tauflisten fehlen; ferner 5,000 Militärpersonen, und etwa eben so viele fremde Kaufleute, die im Winter nach Moskwa kommen. Dann erhält man die Summe von 270,880 Seelen; und dies ist wahrscheinlich die Volksmenge von Moskwa. Wenn ich nun auch annehme, daß ich mich bei dieser Berechnung um 30,000 Seelen geirret hätte, so kann man doch die Volksmenge in einer runden Zahl unmöglich höher rechnen als 300,000. Diese Zahl kommt auch der am nächsten, welche von dem Oberpolizeimeister bestimmt worden ist. Daher glaube ich denn, daß die Schriftsteller, welche hundert- oder gar zweihunderttausend mehr annehmen, sich einer kürlichen Uebertreibung schuldig machen. Wenn man die Ehen und deren Fruchtbarkeit zum Maßstabe annimmt, um die Volksmenge zu beurtheilen, so sind die daraus hervorgehenden Resultate für Moskwa vortheilhaft. Freilich findet bei der nach einem Durchschnitt von mehreren Jahren angesetzten Zahl von 1342 jährlich geschlossenen Ehen, dieselbe Bemerkung Statt, wie bei der Zahl der Gebornen und Gestorbenen, nehmlich, daß
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viele Ehen im Sommer auf dem Lande geschlossen und folglich nicht in die Liste eingetragen werden. Indeß bin ich der Meinung, daß man die jährliche Zahl der Ehen wohl auf 2,000 setzen kann. Im Ganzen genommen sind sie fruchtbar, so daß man zuverlässig auf 100 Ehen 450 Kinder rechnen darf. Doch ist diese Fruchtbarkeit bei den Russinnen größer als bei den angesiedelten Ausländerinnen, deren Organisation wahrscheinlich seit mehreren Generationen durch die Einflüsse der feinern Cultur und des verderblichen Luxus geschwächt ist. Auch habe ich in Moskwa die Bestätigung von dem gefunden, was Schlözer *) über St. Petersburg bemerkt: daß bei den Ausländern mehr todtgeborne Kinder vorkommen, als bei den Russen. Zwar kann ich, aus Mangel an gehörigen Tabellen, dies nicht in Zahlen darstellen; doch eigne Beobachtungen haben mich hinlänglich davon überzeugt. Der Ehestand findet in Moskwa weniger Hindernisse, als in andern großen Europäischen Städten, da der Adel meistens reich, und der Mittelstand wohlhabend ist, und da
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*) Von der Schädlichkeit der Pocken in Rußland und von Rußlands Bevölkerung überhaupt. 1768. S. 24.
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die Leichtigkeit des Erwerbes auch den gemeinen Mann zum Heirathen aufmuntert. Ueberdies werden die Ehen der Leibeignen befördert, weil sie ihren Herren vortheilhaft sind. Diese vermehren nehmlich dadurch die Anzahl ihrer Erbleute, in denen ihr eigenthümlicher Reichthum besteht; denn wenn man z. B. das Vermögen. eines jungen adeligen Frauenzimmers taxiren will, so sagt man gewöhnlich: sie bekommt 300 --- 500 --- 1000 --- 2000 oder mehr Seelen, als Heirathsgut. Indeß gibt es in Moskwa, wie in allen großen Städten, unter der dienenden Klasse viele Unverehlichte oder solche, die von ihrer Familie getrennt leben. So werden z. B. manche junge rüstige Männer aus dem Kreise ihrer Familie gerissen und zu Soldaten gemacht. Ein anderer Mißbrauch, der aber immer mehr abnimmt, ist der, daß oft sechsjährige Buben mit Mädchen von achtzehn und mehr Jahren verheirathet werden, wodurch zwar die Zahl der Leibeignen vermehrt, aber der Hauptzweck der Ehe verfehlt wird. Mehr als Einmal habe ich junge Weiber gesehen, die ihre Männer auf dem Arm trugen, welches gewiß in andern Ländern sehr auffallen
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würde, in Moskwa aber nicht ganz ungewöhnlich ist. Noch einige Umstände, welche die Fruchtbarkeit der Ehen vermindern, werde ich bei andern Gelegenheiten anführen. --- Höchst wahrscheinlich ist die Bevölkerung von Moskwa im Zunehmen, da die Industrie so viele Erwerbsmittel darbietet, wie in keiner andern Russischen Stadt, und da die hospitable Aufnahme und die gesellige Toleranz sowohl als die religiöse immer mehr Fremde herbeilocken werden.
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X.
Verschiedenheit der Stände.
Der Adel --- Geburtsadel --- Verdienstadel --- Ursprung desselben, und dessen Prärogative vor dem Geburtsadel --- Alte adelige Geschlechter --- Ihre vormalige und jetzige Lebensart --- Groß- und Seehandel entehrt keinen Edelmann --- Freie Russen --- Onodworzi --- Freilassungen --- Ausländer --- Historische Notizen über ihre Ansiedelung in Moskwa --- Ihre Privilegien in ältern und neuern Zeiten --- Schonendes Benehmen der Regierung gegen sie --- Rang und Ansehen --- Gelehrte --- Nahmhafte Bürger --- Kaufleute --- Fremde Künstler und Handwerker --- Leibeigne --- Verschiedenheit ihres Schicksals --- Kronbauern --- Leibeigne der Edelleute --- Menschliche Behandlung derselben ist am gewöhnlichsten --- Leibeigne Millionäre --- Tyranneien einiger Leibherren --- Gefährliche Toilettenstunden --- Menschenhandel --- Knechtischer Sinn der Leibeignen --- Ihre Geduld und Rachsucht --- Verbeugungen --- Die Slawen, einst eine berühmte Nation --- Blick auf die Geschichte der Leibeigenschaft in Rußland --- Sie gründet sich nicht auf ausdrückliche Gesetze --- Allmähliche und vorsichtige Lösung ihrer Bande --- Begriffe über politische Freiheit --- Die besten und weisesten Beherrscher von Rußland wünschten, die Leibeigenschaft aufzuheben --- Mißlungener Versuch der Zaren Boris und Wasilii, Schuiskoj --- Ukas des Zaren Alexei Michälowitsch --- Des großen Galitzins edles Projekt --- Katharinens der Großen ____
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Wünsche und Vorbereitungen --- Französische Revolution --- Glücklichere Lage der Leibeignen seit der Thronbesteigung Alexanders I. --- Frohere Aussichten --- Des Kurfürsten Karl Friedrichs von Pfalz-Baden erhabenes Beispiel. ---
Die Einwohner von Moskwa bestehen aus Edelleuten, einigen freien Russen, Ausländern und Leibeignen (Muschicki), welche letzteren bei weitem die zahlreichsten sind.
Mit den Edelleuten hat es in Moskwa eine ganz andere Bewandniß, als in andern Europäischen Ländern. Hier adelt die Geburt; aber noch mehr das Verdienst um dem Staat. Letzteres thut dies zwar im eigentlichen Sinne überall; doch nicht überall sind die Staatseinrichtungen so beschaffen, daß auch der Conventionsadel davon abhängt, oder wenigstens erst dadurch seinen größten Vorzug erhält. Denn wer in Moskwa bloß auf seine Geburt trotzen wollte, der würde allgemein verlacht werden, und selbst in den Kreisen der eleganten Welt nicht die Auszeichnung erhalten, die man dem Verdienstadel gern erweist.
Doch ist das Ansehn des Verdienstadels nicht so überwiegend, daß nicht dabei zuweilen
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kleine Nebenumstände in Anschlag kommen sollten. So wirkt in Moskwa, wie überall das Gold mit seiner bekannten Zaubergewalt; und ersetzt den Mangel an persönlichen Eigenschaften. Daher erzeigt man einem reichen Manne, den schon die Geburt adelte und der sich auch den Verdienstadel erwarb, meistens die vorzüglichste Achtung. Nach meiner Ueberzeugung handelt man hierin auch ganz recht; denn es ist doch wohl viel schwerer, sich bei einer meistens schlechtgeleiteten Erziehung und im Schooße der modischen Ueppigkeit, Verdienste zu erwerben, als im Mittelstande, wo das Bedürfniß mehr zu nützlicher Thätigkeit anspornet, und wo eine frugalere, einfachere Lebensweise die nöthige Festigkeit des Charakters befördert.
Aber dessen ungeachtet haben in Moskwa, und in Rußland überhaupt, weder Reichthum noch andre Vortheile, welche die Geburt verschafft, bei Mangel an persönlichen Vorzügen, ein so niederdrückendes Gewicht, wie in manchen andern Ländern, die sich einer größeren Aufklärung rühmen; was der Russischen Staatsverfassung und dem Geiste der Nation zu wahrer Ehre gereicht. Diese Einrichtung, welche die Nacheiferung zu jedem Guten befördert,
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ist das Werk Peters des Großen. In einer Angelegenheit, worüber in vielen andern Ländern jede Vereinigung bisher so viele Schwierigkeiten fand, traf dieser Monarch einen glücklichen Mittelweg, um die Ansprüche der Eitelkeit aller dabei interessirten Partheien, auf eine der Sache angemessene Art, zu befriedigen. Wenn bei vielen cultivirten Völkern die Ehrfurcht vor dem Geburtsadel ihre billigen Grenzen überschreitet; wenn auf der andern Seite der aufgeblasene Dünkel einiger Sophisten in neueren Zeiten den Begriff von natürlicher Gleichheit zu weit ausdehnte, und dadurch die schrecklichste Verwirrung veranlaßte: so führte der erleuchtete Reformator des Russischen : Volkes die nothwendigen Verschiedenheiten der Stände auf Grundsätze zurück, die der Natur der echten Staatsklugheit, und dem Grade von Geistesbildung bei seiner Nation angemessen waren. Hierdurch verschwanden auf einmal alle Rangstreitigkeiten, die mehrere Jahrhunderte hindurch so große Unordnungen in der Organisation des Reiches und in dessen Verwaltung verursacht hatten. Nach einer neuen Rangordnung, welche er einführte wurden Alle, die auf Auszeichnung Anspruch machen konnten, in vierzehn
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Klassen getheilt. Wer auf dieser Stufenleiter die achte Stufe ersteigt, erhält den Vorzug des erblichen Adels, wenn er ihn nicht schon durch die Geburt besitzt. Diese Klassen sind nach den militärischen Graden bestimmt, so daß die Titel der Civilpersonen damit übereinkommen: so ist Oberst und Collegienrath, Oberstlieutenant und Hofrath, Premiermajor und Collegienassessor einerlei. Häufig treten Militärpersonen in Civildienste; der umgekehrte Fall aber ist sehr selten. Hierin, wie in so vielen andern Stücken, haben die Russen Aehnlichkeit mit den alten Römern; nur mit dem Unterschiede, daß bei den letztern die Beschaffenheit ihrer Kriegskunst, und die Uebung, die jeder Bürger von Jugend auf in den Waffen bekam, den Uebergang aus dem Civilstande in den militärischen mehr erleichterte, als dies bei den jetzigen Verhältnissen in Rußland der Fall ist. Hingegen bekam wohl bei den Römern nicht leicht eine Militärperson, die nur in ihrem eigentlichen Fache Kenntnisse hatte, eine Civilstelle, wozu wissenschaftliche Vorbereitungen erforderlich waren, z. B. ein Richteramt, oder das Geschäft eines Sachwalters. In Rußland geschieht dies sehr häufig; indeß braucht man daselbst zu einem solchen Amte
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nicht ähnliche Kenntnisse, wie z. B. dem alten Rom *).
Mit dem Verdienstadel sind, außer den allgemeinen Adelsprivilegien, mancherlei Vorrechte verbunden; die der bloß erbliche entbehren muß. Sie beziehen sich unter andern auf die Decoration der Bedienten-Livreen und auf die Anzahl von Pferden, mit denen man zu fahren berechtigt ist. So dürfen z. B. nur die fünf ersten Klassen mit sechs, und die drei folgenden mit vier Pferden fahren. Den niedrigern, nicht adelnden Klassen werden nur zwei Pferde, und denen, die nicht Oberofficiers-Rang haben, gar nur Eins gestattet **). So
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*) Bald wird das Russische Justizwesen eine neue Gestalt bekommen; denn der gerechtigkeitliebende Alexander läßt bereits einen eigenen Codex der Gesetze, unter Aufsicht des erleuchteten Ministers der Volksaufklärung, Grafen von Sawadowsky, verfassen; wodurch das zur öffentlichen und allgemeinen Kenntniß gelangen wird, was man, seiner Natur nach, wohl nicht geheim halten darf.
**) Das Detail der von der Kaiserin Katharina eingeführten Livree- und Equipagen-Ordnung findet man in Georgi‘s-Versuch einer Beschreibung der Kaiserl. Residenzstadt St. Petersburg und der Merkwürdigkeiten der Gegend. Th. II. S. 365.
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unbedeutend diese und ähnliche kleine Vorrechte in den Augen des vernünftigen Mannes auch sind, so haben, sie doch sehr wohlthätige Folgen gehabt, besonders in Moskwa. Denn seitdem Peter der Erste die Lehngüter in Erbgüter verwandelte und den Edelleuten nicht mehr zumuthete, sich bei jedem ausbrechenden Kriege persönlich mit einer bestimmten Anzahl von Leibeignen zu stellen, (ob er gleich das Recht eine Reihe von Dienstjahren zu fordern nicht aufgab), und besonders seit dem Gesetze Peters des Dritten, welches allen Dienstzwang gänzlich aufhob, verlebten die meisten Moskowischen Edelleute ihre Tage in weichlicher Ruhe. Durch jene auf ihre Denkart berechneten Anordnungen, wurden sie aus dem Schlummer der Unthätigkeit geweckt, und angereitzt, sich wenigstens aus Eitelkeit und alter eingewurzelter Rangsucht Verdienste um das Wohl des Vaterlandes zu erwerben. Noch jetzt sucht jeder junge Edelmann sich wenigstens die Prärogative der achten Klasse zu verschaffen; denn wenn er gleich aus einer der ältesten Familien ist, den Titel Fürst (Kniäs) oder Graf führt, und über Tonnen Goldes zu gebieten hat: so kann er doch, ohne jene Prärogative, in allen Gesellschaften nur
Wichelhausens Moskwa. [16]
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eine sehr untergeordnete Rolle spielen. So wie in den alten Ritterzeiten nur dem Ritter, der sich durch Thaten berühmt machte, Ehre und Minnesold zu Theil ward; so wird in Moskwa nur der durch öffentliche Achtung ausgezeichnet und von den Schönen vorzüglicher Gunst gewürdigt, der die Privilegien erlangt hat, welche, nach der Absicht ihres größen Stifters, sonst nichts als Erfüllung der Pflichten im Dienste des Staates geben soll. --- Ob ich gleich nicht zweifle, daß bei vielen der Besseren noch edlere und höhere Bewegungsgründe zu gemeinnütziger Thätigkeit und zu Vaterlandsliebe anreitzen, so bin ich doch überzeugt, daß der große Haufe der Edelleute, bei der jetzigen Stufe seiner Cultur, diesen Antrieb zur Nacheiferung nicht entbehren kann.
Durch Peters des Dritten und Katharinens der Großen weise Verordnungen, wurden, wie bekannt, dem Adel völlige Freiheit, und fast alle die Privilegien zugesichert, welche er in andern Ländern besitzt. Nach einem Ukas *) (Befehl) dieser Kaiserin, hat der Adel sogar das Recht sich alle drei Jahre zu versammeln, um sich über die Besetzung
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*) Vom Adel. Auf höchsten Befehl aus dem Russischen übersetzt von Arndt, St. Petersburg, 1784.
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der von ihm abhangenden Stellen zu besprechen, um Vorträge der Kaiserlichen Statthalter zu vernehmen, und Einwendungen oder Vorstellungen dagegen zu machen, welche er auch, wenn nicht darauf Rücksicht genommen wird, durch Abgeordnete höheren Ortes anbringen darf.
Der Kaiser Paul Petrowitsch hatte in den Rechten des Adels mehrere Veränderungen gemacht, die aber unter der jeßigen Regierung größten Theils wieder abgeschafft worden sind. Der weise Alexander I. sucht den Russischen Adel nicht in jene uralten, dem Geiste des jetzigen Zeitalters widerstrebenden Formen einzuzwängen, die das Feudalsystem in finstern Zeiten veranlaßte. Er hat vielmehr in diesem Punkte die helleren Begriffe, denen England einen großen Theil seines Flors verdankt. Deswegen hat er neuerlich durch einen Ukas erklärt, daß es dem Russischen Adel erlaubt sey, Groß- und Seehandel zu treiben. Hierdurch vertilgt er, zur Ehre der menschlichen Vernunft, uralte Vorurtheile, die dem so nützlichen Verkehr zwischen den verschiedenen Nationen im Wege standen.
Unter den Moskowischen adeligen Familien stehen einige in vorzüglichem Ansehn; und
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dies nicht allein, weil ihr alter Geschlechtsnahme sich in dem Dunkel der Vorzeit verliert, sondern auch, weil sie sich nach dem Zeugniß der Geschichte von jeher durch Thaten ausgezeichnet, und zum Theil sogar mit den Beherrschern von Rußland in Blutsverwandtschaft gestanden haben. Zu den letztern gehört vorzüglich die berühmte Naryskinsche Familie; und unter den erstern zeichnen sich die Galitzin, Dolgorucky, Soltikow, Apraxin, Panin, Kurakin, Scheremetiew, Trubetzkoj, Tscherkasky, Tschernischeff, Chawansky und Andere aus. Viele von diesen waren in früheren Zeiten, vor der Epoche Iwan Wasiliewitsch des» Schrecklichen, regierende Herren, welche einige Aehnlichkeit mit den Fürsten des Deutschen Staatenbundes hatten, oft die Großfürsten von Moskwa befehdeten, und ihnen zuweilen nicht wenig zu schaffen machten. Obgleich ihre Herrschaft, zerstört worden ist, so hat sich -doch der Ruf ihrer vormaligen größeren Macht bei der Nachkommenschaft erhalten, und noch genießen sie, unter übrigens gleichen Verhältnissen, eine größere Auszeichnung, als der große Haufe von Adeligen. Die meisten dieser alten und berühmten Familien, ziehen den Ehrenstellen
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des Hofes ein unabhängiges Leben vor, und genießen in Moskwa einer Freiheit, die man oft, und nicht ganz ohne Grund, mit der republikanischen verglichen hat, weil ihnen daselbst keine andere Rücksichten, als nur die, welche die Gesetze fodern, Schranken setzen. Viele unter ihnen besitzen ungeheure Reichthümer, und leben fast auf einem Fuß wie Asiatische Satrapen; andere verbinden mit dem Glanze, den Glücksgüter verschaffen können, einen feinen Geschmack, und zeigen ihn in der Organisirung ihres Hofstaates, auch in mancherlei edlen Liebhabereien und glänzenden Festen.
Außer den Edelleuten gibt es in Moskwa eine beträchtliche Anzahl freier Russen. Die meisten derselben sind bei den Kaufmannsgilden eingeschrieben und entweder Freigelassene, oder aus dem Militärdienst Verabschiedete, oder auch im Findelhause und bei der Akademie der Künste Erzogene. Ob in oder bei Moskwa sogenannte Einhöfner *) (Onodworzi)
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*) Diese sind ursprünglich Nachkommen von verarmten Edelleuten, welche nur einen Hof besitzen und das Land mit eignen Händen bauen. In der Folge haben sich andere hinzugemischt; unter Peter I. traten sogar bemittelte Edelleute, die mehrere Hundert Bauern hatten, aus Feigheit hinzu, um sich von den Kriegesdiensten loszumachen, zu denen damals jeder Edelmann verpflichtet war. Sie haben etwas mehr Freiheit, als die eigentlichen Leibeignen; indeß sind sie doch an ihr Land gebunden (glebae adscripti). Zwar können sie ihre Höfe verkaufen, aber nur an Personen, die zu ihnen gehören. Sie tragen alle Lasten der übrigen Leibeignen; und wenn sie ihren Stand verändern wollen, so müssen sie ausdrücklich um Erlaubniß dazu anhalten, welche ihnen aber meistens gegeben wird, so daß sie sich zu hohen Ehrenstellen hinauf schwingen und in den Adelstand treten können.
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wohnen, habe ich nicht erfahren können. Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, daß die Anzahl der Freien von Jahre zu Jahre zunehmen wird, da viele Edelleute in ihren Testamenten ihren Hausdienern die Freiheit vermachen, wie ich während meiner Anwesenheit in Moskwa bei dem berühmten Grafen von Panin ein rührendes Beispiel davon gesehen habe. Solche immer öfter vorkommende Beispiele von Edelmuth wirken mehr, als es allgemeine Gesetze thun könnten.
Die Ausländer in Moskwa haben viele Privilegien, weshalb sie als ein eigener Stand zu betrachten sind. Schon seit mehreren Jahrhunderten bildeten sie daselbst eine Art von Kolonie, welche immer unter dem besonderen
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Schutze der Beherrscher von Rußland war, und bald mehr bald weniger Vorrechte hatte.
Wahrscheinlich gab der Handel, welcher die entferntesten Nationen in Verbindung bringt, die erste Veranlassung zum Entstehen dieser Kolonie. Schon im vierzehnten Jahrhundert hatten die Kaufleute des berühmten Hanseatischen Bundes Handelsverkehr mit Moskwa, und unterhielten daselbst ohne Zweifel Faktoren, welche ihre Geschäfte besorgten *). Vorzüglich mag wohl die Ansiedelung der Fremden in Moskwa zugenommen haben, als die Mongolisch-Tatarische Oberherrschaft aufhörte. Wenigstens hat Iwan Wasiliewitsch I., der Rußland von dem schimpflichen Joche dieser Barbaren befreiete, zuerst daran gedacht, die Cultur der Ausländer zu benutzen, und in dieser Absicht Italiäner, Deutsche und Griechen an seinen Hof zu berufen **). Sein Nachfolger Wasilii Iwanowitsch befolgte sein Beispiel. Sogar Iwan Wasiliewitsch II.,
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*) Fischers Geschichte des Deutschen Handels 2ter Theil S. 130.
**) Aristoteles von Bologna, einer dieser Ausländer, war Architekt, Stückgießer und Münzmeister zugleich. (Petersburgisches Journal, Bd. Il. S. 90.)
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der wegen seiner Tyrannei und unerhörten Grausamkeit *) bekannt ist, fühlte das Bedürfniß ausländischer Cultur; er verschrieb eine große Anzahl fremder Gelehrten, Künstler und Handwerker, besonders aber Bergleute, und trug dadurch viel zur Vermehrung der Ausländer bei.
Wie ansehnlich schon damals die Zahl derselben gewesen seyn muß, erhellet daraus, daß bereits eine reformirte und eine lutherische Kirche erbauet waren, und daß eine Englische Faktorei existirte, die, zum nicht geringen Verdrusse der Hansa, beträchtliche Handelsprivilegien hatte **). Auch der Zar Boris Födorowitsch war ein großer Beschützer dieser ausländischen Kolonie. Unter den nachfolgenden
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*) Von den vielen Zügen seines willführlichen Verfahrens und seiner Grausamkeit will ich nur Einen anführen, der ihn zugleich des Wahnsinns verdächtig macht. Einst verlangte er, die Einwohner von Moskwa sollten ihm einen Scheffel voll lebendiger Fliegen liefern, welche er, seinem Vorgeben nach, als Medicin gebrauchen wollte. Da die Moskowiter aus sehr begreiflichen Ursachen seinen Befehl nicht befolgen konnten, so wurden sie zu einer ansehnlichen Geldbuße verurtheilt.
**) Den Freiheitsbrief erhielten sie im Jahre 1569.
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Zaren, und besonders unter denen aus dem Hause Romanow, vergrößerte sie sich immer mehr, so daß, nach Tanners *) Bericht, im Jahre 1678 die Deutsche Vorstadt (Nemetzkaja Sloboda) sehr stark bewohnt, und im blühendsten Zustande war.
Im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts verließen viele Ausländer Moskwa, um sich in der neuerbauten Residenzstadt niederzulassen **). Ueberhaupt ging seit der Erbauung dieser Kaiserstadt der größte Zufluß der Ausländer dorthin, und die Moskowische Kolonie wurde dadurch in ihrem Zunehmen aufgehalten. Indeß ist die Anzahl der Ausländer noch immer sehr beträchtlich, und man kann sie auf 10,000 rechnen, unter denen die meisten Deutsche sind.
Ehemals waren die Privilegien der Ausländer nicht immer so groß, wie sie es jetzt sind. Vorzüglich wurde ihnen der Verkehr mit den Russen sehr erschwert. Die alten Zaren fühlten zwar den Werth der ausländischen größern
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*) Meiners im a. B. Th. I. S. 456.
**) Georgi Versuch einer Beschreibung der Russisch Kaiserl. Residenzstadt St. Petersburg und der Merkwürdigkeiten der Gegend 1790. I. Th. S. 132
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Ausklärung und Kultur, fürchteten sie aber auch, wozu wohl der damalige Einfluß der Geistlichkeit, welche wahrscheinlich aus guten Gründen alle Neuerungen als Eingriffe in die Religion verschrie, das meiste beitragen mochte. Am lästigsten war es vormals den Ausländern, daß sie in Rußland gleichsam gefangen saßen, da ihnen die Rückkehr in ihr Vaterland untersagt, und schon der Versuch dazu mit den größten Gefahren verbunden war. Der große Galitzin, der während der Minderjährigkeit des Zaren Födor Alexeitsch so viel für Rußland that, verschaffte zuerst den Ausländern hierin vollkommne Freiheit. Jetzt sind sie in jeder Rücksicht ungefesselt, und werden von der Regierung auf eine edelmüthige Art behandelt. Sie haben alle Prärogative der Eingebornen, und tragen doch keine ihrer Lasten; ja, sie genießen in manchen Fällen, wo die Gesetze gegen sie sprechen, einer nachsichtsvollen Schonung, die in andern Ländern ohne Beispiel ist *).
Ausländer, die in Kaiserlichen Civil- und
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*) Daß hier von der glorreichen Regierung der Kaiserin Katharina und des jetzigen jungen viel versprechenden Monarchen die Rede ist, versteht sich wohl von selbst.
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Militärdiensten stehen und Stabsofficiers-Rang haben, genießen alle Vorrechte des Adels *). Viele von ihnen setzen alsdann auch das Wörtchen von zu ihrem Nahmen; gewöhnlich aber geschieht dies nicht, oder doch nur in Fällen, wo man einen wesentlichen Vortheil für sich und seine Nachkommen davon erwarten zu können glaubt. Diese Vergrößerung des Nahmens ist in Rußland um so weniger passend, da sie in der Landessprache nicht anzubringen ist, in welcher man einen Edelmann eigentlich dadurch bezeichnet, daß man seines Vaters Nahmen zu dem seinigen fügt, als z. B. Iwan Petrowitsch, oder Johann, Peters Sohn. *), und daß man bei einer Anrede: Eure Wohlgeboren (Wasche Blagorodinije), oder Eure Hochwohlgeboren (Wasche wissocke Blagorodinije) sagt.
Ausländische Gelehrte stehen in nicht geringem
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*) Dies geschieht auch im gemeinen Leben bei den Ausländern bürgerlichen Standes. Wenn die gemeinen Russen den Nahmen. eines Ausländers nicht wissen, so nennen sie ihn zuweilen, mit einer Art von Verspottung, Iwan Iwanowitsch, weil sie voraus setzen, daß jeder Ausländer Johann oder Iwan heiße. Diese Meinung müssen auch die Türken haben; denn sie rufen jedem Fremden Juan nach. (Journal für Reisedilettanten B. III. S. 127.)
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Ansehen, vorzüglich die Professoren der Universitäten, die Aerzte und Wundärzte, auch Apotheker, und diejenigen Hauslehrer (Utschitily), welche sich durch Kenntnisse, Bildung und Sitten von dem großen Haufen vortheilhaft unterscheiden.
Reiche Kaufleute und Kapitalisten, welche von einem über 50,000 Rubel betragenden Vermögen Steuer bezahlen, und auch solche, die zweimal Beisitzer bei Stadtgerichten gewesen sind, bilden einen besonderen Stand, der bestimmte Privilegien und einige Vorrechte des Adels hat. Man nennt sie nahmhafte Bürger (Imenitoy Graschdanin). Sie dürfen Fabriken und Hüttenwerke anlegen, und zum Betrieb derselben Leibeigne kaufen. Außerdem sind sie, gleich dem Adel, von allen Leibesstrafen frei, und haben die Erlaubniß, gleich den Staabsofficieren, die zur sechsten, siebenten und achten Klasse gehören, mit vier Pferden zu fahren.
Die kleineren Kaufleute werden --- nach der Größe des Vermögens , wovon sie Abgaben entrichten --- in drei Klassen oder Gilden eingetheilt. Zu der ersten, welche die größten Handelsfreiheiten hat, rechnet man alle, die ein Vermögen von 10,000 bis 50,000 Rubeln
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besitzen. Um zur zweiten Klasse zu gehören, muß ein Kaufmann mehr als 5,000, und bei der dritten Klasse mehr als 1,000 Rubel im Vermögen haben. Die Mitglieder der letztern Gilde sind meistens kleine Krämer (Laberschniki) und Gasthalter, oder beschäftigen sich mit allerlei kleinen Gewerben.
Die ausländischen Kaufleute haben viele Vorrechte vor den einländischen. So dürfen sie z. B. Boutiken in ihren Häusern haben, die Russen hingegen nur in dem öffentlichen Kaufhofe.
Die fremden Künstler und Handwerker werden in Moskwa sehr geachtet. Sie treiben ihre Geschäfte vollkommen frei, und ihre Thätigkeit wird durch keinen Zunftzwang eingeschränkt. Die Fleißigen unter ihnen leben in viel größerem Wohlstande, und erwerben sich leichter einiges Vermögen, als es verhältnißmäßig in Deutschland geschehen kann.
Der größte Theil der Einwohner von Moskwa seufzet unter dem Joche der Leibeigenschaft. Indeß ist diese, im Ganzen genommen, nicht so drückend, wie in dem alten Rom und in Sparta; und noch weniger kann man die Russischen Leibeignen mit den Negersklaven in beiden Indien vergleichen. Ihr Loos
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ist selbst erträglicher, als das Loos der Letten, wovon neuerlich Herr G. Merkel ein so rührendes Gemählde entworfen hat *).
Die Leibeignen (Muschicki) in Moskwa gehören entweder der Krone, oder sind das Eigenthum von Edelleuten. Die ersteren haben bei weitem ein gelinderes Schicksal, als die letztern, doch diejenigen ausgenommen, welche in den Sibirischen Bergwerken arbeiten müssen. Wenn ein Leibeigner der Krone seine jährliche Steuer (Obrock) und die übrigen Abgaben richtig bezahlt, so genießt er so vieler Freiheiten, daß sein Loos ziemlich leidlich ist. Entweder bauet er in Ruhe das ihm zugetheilte Land an, gewöhnlich ohne daß er Frohnen zu leisten hat und sehr gedrückt wird; oder er treibt jedes andre Geschäft, wozu er Talent und Neigung bei sich fühlt. Jetzt hat er durch den menschenfreundlichen Alexander sogar das Recht, sich Güter anzukaufen, und sie ungestört zu besitzen, was ihn, mit wenigen Ausnahmen, den freien Leuten fast gänzlich gleich macht.
Die Leibeignen der Edelleute hingegen sind
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*) Die Letten in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Leipzig, 1800.
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beklagenswerther, weil sie mehr von der Willkühr und den Launen ihrer Herren abhangen. Ist der Herr verständig und edelmüthig, so werden sie mit Milde behandelt, und ihr Loos ist glücklicher, als man es sich vielleicht vorstellt. Sie bezahlen ihre jährlichen Abgaben, leisten einige Frohndienste, und liefern einen Theil von den Produkten ihres Fleißes an ihre Herren ab. Die geschicktesten und gewandtesten werden zum Hofdienst der Edelleute ausgewählt; die meisten dieser Hofleute sind indeß nicht aus dem Bauernstande gezogen, sondern Nachkommen von ehemaligen Kriegsgefangenen, welche in Sklaverei kamen, oder von Bauern, Fremden und selbst verarmten Edelleüten (dety Bogarsky), die Anfangs auf Verschreibungen dienten, in der Folge aber durch Mißbrauch den ersteren gleich gemachte wurden. Man läßt mehrere davon in mancherlei Wissenschaften unterrichten, und bildet sie zu allerlei Geschäften, welche zum Nutzen und Vergnügen des Herrn gereichen. Einige erhalten gegen bestimmte jährliche Abgaben (Obrock) einen Paß, mit welchem sie zur Betreibung ihres Geschäftes gehen können, wohin es ihnen beliebt. Viele unter ihnen beschäftigen sich mit dem Händel und werden durch
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Industrie und anhaltenden Fleiß öfters sehr reich. Man hat sogar Beispiele von Millionären unter ihnen. Oft bieten solche Günstlinge des Glückes sehr große Summen für ihre Freiheit, ohne sie zu erhalten. Indeß genießen sie ihres erworbenen Vermögens, und leben mit allem Aufwande, der demselben angemessen ist. Meistens hangen sie von sehr reichen und edelmüthigen Herren ab, die ihren wahren Vortheil kennen, und sie auf keine Weise drücken, sondern damit zufrieden sind, daß sie von ihnen größere jährliche Abgaben erhalten. So entrichten viele Leibeigene des berühmten Grafen Scheremetiew jährlich zwei-, bis dreihundert Rubel Obrock. Ganze Gemeinden, welche diesem reichen Herrn gehören, leben im größten Wohlstande und mit ihrem Schicksale zufrieden. Gern bieten sie ihrem Herrn 50-, bis 100,000 Rubel, und mehr, wenn sie vermuthen, daß er Geld braucht, welches er aber aus Edelmuth gewöhnlich ausschlägt, ob er gleich das Recht hat, über das sämmtliche Vermögen seiner Leibeigenen nach Willführ zu disponiren. So behandeln viele Edelleute ihre Leibeignen mit Schonung und Menschlichkeit. Ich habe in Moskwa mehrere gekannt, die mit ihren Erbleuten, wie Väter
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mit ihren Kindern verfuhren und sich nur in den dringendsten Fällen Strenge erlaubten. Auch kannte ich dort viele Edle und Gute, die ihre Rechte über unglückliche Mitmenschen nicht mißbrauchten, für die Bedürfnisse und das Vergnügen derselben sorgten, sie bei Krankheiten sorgfältig verpflegen ließen und sie überhaupt mit wahrer Theilnahme behandelten. Die, welche solche Herren haben, zittern schon bei der Drohung, daß sie an einen andern verkauft werden sollen; denn ein Theil der Leibeignen in Moskwa lebt unter einem schweren Drucke, und ist weit unglücklicher als die, welche sich mit dem Ackerbau beschäftigen. Manche haben so harte Herren; daß sie bei jedem-kleinen Versehen mit einer Strenge gezüchtigt werden, welche alle Menschlichkeit beleidigt.
So kannte ich einen Herrn, der seinen Bedienten die Batoggen *) geben ließ, wenn im Winter die Temperatur der Luft in seinen
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*) Beim Batoggiren wird der Verbrecher auf ein Bund Stroh gelegt. Ein Mann setzt sich auf den Kopf, und ein anderer auf die Füße desselben. Dann werden ihm mit Bündeln von kleinen Weidenruthen der Rücken, die Seiten und zuletzt der vordere Theil des Körpers jämmerlich zerhauen.
Wichelhausens Moskwa. [17]
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Zimmern nicht so war, wie er sie verlangte. Ein anderer ließ die Bedienten für jeden Fleck, der sich in ihrer Staatslivree fand oder für jedes Geschirr, das sie zerbrochen hatten, auf das grausamste geißeln. Eine Dame bestrafte ihre Kammerzofen, wenn sie bei ihrem Kopfputze das mindeste versahen gewöhnlich mit fünf und zwanzig und mehr Ohrfeigen, die eine der andern geben mußte, so daß den armen Geschöpfen oft das Gesicht entsetzlich aufschwoll. Ueberhaupt sind die Toilettenstunden mancher Damen sehr gefährlich für die darin aufwartenden Sklavinnen. Ich machte meine Besuche als Arzt sehr oft in diesen Stunden, und überraschte zuweiten eine solche kleine Thyrannin bei den unbarmherzigsten Mißhandlungen derer, die sich die äußerste Mühe gaben, ihre Reitze durch schickliche Anordnungen des Haarputzes zu erhöhen; ja, ich war einmal ein unvermutherer Zeuge bei kaltblütig ausgeübten Grausamkeiten, die mich mit Indignation erfüllten. Eine einzige kleine Locke, die nicht nach dem Sinne der gebietenden Dame hing, gab oft die Veranlassung zu den ärgerlichsten Auftrittenz; und dann dachte ich immer an jene Damen im alten Rom, die über solche
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wichtige Punkte eben so wenig Scherz verstanden *), als die in Moskwa. Ein Edelmann, der alle
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*) Juvenal hat uns uns in seiner sechsten Satire eine erbauliche Schilderung davon hinterlassen, die so treffend ist, daß ich sie für meine Leser hier abschreiben will.
Est operae pretium penitus cognoscere, toto Quid faciant agitentque die. Si nocte maritus Aversus jacuit, periit libraria, ponunt Cosmetae tunicas, tarde venisse Liburnus Dicitur, et poenas alieni pendere somni Cogitur: hic frangit ferulas, rubit ille flagellis, Hic acuta. Sunt quae tortoribus unnua praestent. Verberat atque obiter faciem linit, audit amicas, Aut latum pictae vestis considerat aurum, Et caedens longi religit transacta diurni, Et caedit donec, lassis caedentibus, Exi Intonat horrendum, iam cognitione peracta. Praefectura domus Sicula non mitior aula. Nam si constituit, solitoque decentius optat Ornari, et properat, jamque expectatur in hortis Aut apud Isiacae potius sacraria lenae: Componit crinem laceratis ipsa capillis Nuda humeros PSECAS infelix, nudisque mamillis. Altior hic quare cincinnus? Taurea punit Contino flexi crimen, facinusque capilli.
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seine Güter verpraßt chatte, und dem nur wenige Familien von leibeignen Erbleuten übrig blieben, zwang diese, täglich in den Straßen von Moskwa zu betteln, und ihm den Ertrag davon einzuhändigen. Brachte ihm einer nicht genug, so mußte der Unglückliche mit seiner Haut für seine geringe Gewandtheit in den Bettlerkünsten büßen. Es gab noch größere Ungeheuer, deren Grausamkeiten die Natur empören. Wem in Moskwa sind nicht die Gräuelthaten bekannt, die eine gewisse Gräfin S * * so lange ungestraft verübte? Dieser Auswurf der Menschheit fand Vergnügen an den Qualen, die sie ihre Hofleute erdulden ließ. Sie marterte mit eigner Hand, und mit Vernachlässigung aller Decenz und Schamhaftigkeit,
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Quid Psecas admisit? Quaenam est hic culpa puellae, Si tibi displicuit nasus tuus? Altera laevum Extendit, pectitque comas, et volvit in orbem. Est in consilio matrona, admotaque lanis Emerita quae cessat acu: sententia prima Hujus erit, post hanc aetate atque arte minores Censebunt: tanquam famae discrimen agatur, Aut animae: Tanta est quaerendi cura decoris.
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auf eine kannibalische-Art eine große Zahl derselben zu Tode, und büßte, weil ihre Familie in Ansehen stand, diese himmelschreienden Frevelthaten endlich nur mit ewigem Gefängniß. Ich könnte noch viele Beispiele von unerhörten Grausamkeiten an armen Leibeignen anführen, wenn ich mich hier auf einzelne Umstände einlassen wollte. Selbst diese wenigen Beispiele von der Härte Moskowischer Edelleute würde ich verschwiegen haben, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß sie und ähnliche die ungleich größere Anzahl von Besseren unter dem Moskowischen Adel, eben so wie mich selbst und jeden rechtlichen Mann, empören, und wenn ich nicht einige Hoffnung hätte, durch meine Rüge zur Verminderung und vielleicht zur gänzlichen Abschaffung solcher Mißhandlungen mit beizutragen. 'Es gibt freilich, außer solchen auffallenden Thathandlungen, noch sehr viele nicht weniger drückende Mißbräuche von der Gewalt der Edelleute über ihre Leibeignen. Dahin gehören vorzüglich die übertriebenen Frohndienste, die zu geringe Sorgfalt für die Gesundheit der Wohnungen (wovon ich schon oben geredet habe), die zu schlechte und nicht hinlängliche Beköstigung, die Versäumung der Pflege in Krankheiten,
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und dergleichen mehr, worüber ich bei schicklichern Veranlassungen noch Einiges sagen werde. Am strafbarsten ist es aber, daß man diese Unglüklichen nicht genug zu einer regelmäßigen nützlichen Thätigkeit, zu Reinlichkeit und häuslicher Ordnung anhält, und sie durch Mangel an zweckmäßigem Unterricht in einer Unwissenheit bleiben läßt, die wirklich allen Glauben übersteigt. Das drückende Loos der Leibeignen wird noch dadurch vermehrt, daß ihre Herren das Recht haben, nach Wohlgefallen ganze Familien und einzelne Personen, wie das Vieh, zu verkaufen. Diesen Menschenhandel treiben einige Edelleute mit der größten Schamlosigkeit. Zuweilen werden Ehemänner ihren Gattinnen und Kindern, der Bräutigam seiner Braut, oder Kinder ihren Eltern entrissen, und in sehr entfernte Gegenden verhandelt. Oft verkaufen Verschwender nach und nach die einzelnen Bewohner eines Dorfes, welche in glücklicher Eintracht zusammen lebten. --- Besonders trifft dies Schicksal junge, zum Militärdienst fähige Männer, weil diese meistens hoch im Preise stehen; und dann werden Weiber und Kinder zu den schweren Arbeiten des Feldbaues angehalten. Zwar sind solche Unordnungen gegenwärtig
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seltner als ehemals; indeß gibt es noch immer einzelne Beispiele davon. Bei meiner Anwesenheit in Moskwa war in der Gegend Krasnaja Plostchad (rothe Platz), nicht weit von den Trödelbuden, der Gesindemarkt, wo man dergleichen Leute miethen oder kaufen konnte. Ein Knabe von sechzehn Jahren wurde oft mit zwei- bis dreihundert Rubeln bezahlt, und ein zum Militärdienst tauglicher Mann mit fünf- bis sechshundert. Weiber und Mädchen konnte man meistens für 30 bis 40 Rubel bekommen, wenn sie sich nicht durch besondere nützliche oder angenehme Talente auszeichneten. Unter den jungen Mädchen waren oft recht interessante, die von ihren Gebieterinnen zuweilen aus Eifersucht verhandelt wurden, und zu denen sich auch bald ein Käufer fand. Uebrigens wurden Erbleute viel häufiger in den wöchentlichen Anzeigen ausgeboten.
Kann man sich wohl wundern, daß unter solchen Umständen bei dem großen Haufen der Leibeignen ein knechtischer Sinn tief eingewurzelt ist? Mehrere Male habe ich gesehen, daß Freigelassene zu ihrem gewesenen Herrn kamen, und ihn demüthig baten, sie wieder als Leibeigne anzunehmen. (Einige waren freilich alt und kränklich, und hatten kein
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Mittel sich zu ernähren und zu verpflegen.) Solche Leute ertragen gewöhnlich die härtesten Bedrückungen ohne Murren, wozu indeß vielleicht ihr Glaube an ein unvermeidliches Schicksal und ihr natürlicher Leichtsinn das meiste beiträgt. Doch ist dies nicht bei allen der Fall: viele entlaufen ihren Herren, wenn ihre Geduld auf zu harte Prüfungen gesetzt wird. Andere sinnen auf Rache; so sind mir z. B. zweimal Kranke vorgekommen, die keine Arznei einnehmen wollten, um ihrem Herrn Verdruß zu machen, und ihn durch ihren Tod in Schaden zu bringen. Einmal wurde ich zu einem Edelmanne gerufen, dem seine Erbleute den Kopf mit einem Beile gespalten hatten. Auf entfernten Landgütern sollen die Leibeignen aus Rachbegierde ähnliche Mordthaten begehen, obgleich den Thäter die schrecklichste Strafen erwarten. Die demüthigen Verbeugungen vor ihren Herren, wobei sie mit dem Kopfe die Erde berühren, empören wohl das Gefühl eines jeden, der solche die Würde eines Menschen verspottende Scenen nie gesehen hat; indeß geht man wohl zu weit, wenn man aus dieser alten Volkssitte auf eingewurzelten Sklavensinn schließt.
Uebrigens ist es wahr, daß die wenigsten
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Leibeignen durch Güte allein zu lenken sind, und daß man leider zuweilen gezwungen ist, sie durch Strenge zu ihrer Schuldigkeit anzuhalten. Indeß wo findet sich eine Nation, bei welcher der rohe Pöbel immer bloßen Vernunftgründen Gehör gäbe und bei gelinder Behandlung immer seine Pflicht erfüllte? --- Und bei den Leibeignen muß noch in Betrachtung kommen, daß meistens desto mehr als Schuldigkeit von ihnen gefodert wird, je mehr sie Fähigkeiten zeigen. Denn merkt man bei einem Muschick Anlagen zu irgend einer nützlichen oder angenehmen Kunst, so wird er im Nothfalle durch Schläge gezwungen, sie zu erlernen *). Deshalb stellen sie sich öfters ungeschickt, damit nicht mehr von ihnen verlangt werden soll, ohne daß sie einen Vortheil dafür zu erwarten haben. Bei ihrem Betragen ist also mehr List als Sklavensinn im Spiele. --- Ich bekam einmal von einem gewissen Herrn Brigadier Simonoff einen jungen
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*) Die von ausländischen Schriftstellern, und besonders von einigen gallsüchtigen Französischen Paradoxenjägern, so oft wiederholte Sage, daß man dem Russischen Muschick jedes Talent einprügeln könne, und wirklich einprügle, ist wohl nur unter großen Einschränkungen wahr.
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Knaben, als außerordentliche Belohyung für medicinische Bemühungen. Diesen Knaben suchte ich durch Güte und Freundlichkeit zu den Pflichten eines Bedienten anzuhalten, und nie bin ich in den Fall gekommen, ihn mit Strenge behandeln zu müssen. Daher glaube ich denn, daß diese Behandlung bei mehreren Leibeignen ihren Zweck nicht verfehlen würde. Der größte Beweis, daß sie nicht alles Gefühl für den Werth der Freiheit verloren haben, ist wohl der Umstand, daß sie mehr Neigung zeigen, in den Städten irgend ein Gewerbe zu treiben, wobei sie ihren speculativen Kopf und ihre Schlauheit zu ihrem Privatvortheil benutzen können, als Felder anzubauen, deren Ernte nicht ihnen entgegen lacht.
Es läßt sich zwar nicht leugnen, daß lange und harte Sklaverei einen knechtischen Sinn bei den Leibeignen verursacht hat, indeß möchte ich doch nicht unterschreiben, was so viele Schriftsteller behaupten: daß der gemeine Russe von Natur knechtisch, und zur Knechtschaft geboren sey *); und noch weniger kann
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*) Meiners im a. B. Th. I. S. 272., wo eine Menge Zeugnisse hierüber aus ältern und neueren Schriften gesammelt sind.
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ich es billigen, wenn man allen Nationen vom Slawischen Stamme einen angebornen Sklavensinn zuschreibt. Freilich ist eine lange Knechtschaft das Loos der meisten Völker von diesem in früheren Zeiten so berühmten Volksstamme, welcher damals der Stamm der Sklaven hieß. Doch diese Katastrophe kann nicht eine genetische natürliche Anlage zum Stande der größten Herabwürdigung beweisen, und gibt nicht die Befugniß, alle leibeignen Knechte nach ihnen zu benennen, wie dies schon am Ende des zehnten Jahrhunderts allgemein gebräuchlich wurde *). Der Nahme der uralten Slavischen Nation war einst eben so ehrenvoll, als der Nahme ihrer Unterdrücker, der Franken und Sachsen **). Nur die Jahrhunderte hindurch fortdauernde Wuth der schrecklichsten Vertilgungskriege, welche Karl der Große --- unter dem Vorwande, daß
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*) Antons Geschichte der Deutschen Nation, Leipzig 1793. Th. I. S. 377 u. folg.
**) Runde Grundsätze des gemeinen Deutschen Privatrechts. Göttingen 1801 §.537, und die von ihm citirten Bücher von Albert Kratz in Wendalin. lib. I. c. 6. --- und Dreyers vermischte Abhandlungen Th. I. S. 382.
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er die christliche Religion ausbreiten wolle --- zuerst anfing, stürzten ein edles, das Landleben, häusliche Ruhe und die Künste des Friedens liebendes Volk in das Unglück der Leibeigenschaft. Es hatte von den wildern, kriegessüchtigern Franken und Sachsen, den nordischen' Germanen, den Dänen und späterhin von nomadischen Horden der Mongolen und Tataren viel zu erdulden, und selbst seine größere Kultur, seine milderen Sitten trugen nicht wenig dazu bei, daß es unterdrückt wurde. Doch waren nicht alle Völker aus Slavischem Blute seit jenen Zeiten immer Leibeigne. Ja selbst die jetzigen Russischen Bauern; welche zum Theil von daher abstammen, sind es seitdem nicht immer gewesen *). Man hatte zwar, als die Russischen Bauern noch frei waren, schon leibeigne Knechte, wozu die Kriegsgefangenen meistens gemacht wurden; auch durften sich lange Zeit hindurch Bauern, Fremde, und Nachkommen von Edelleuten
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*) Wenigstens war bei ihnen die Einführung der christlichen Religion keine Veranlassung dazu, welche sie aus dem Byzantinischen christlichen Kaiserthum, auf eine, dem Sinne des friedliebenden Stifters derselben mehr angemessene Weise erhielten, als die abendländischen Slaven.
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(sogenannte Bojaren-Kinder) gegen Verschreibungen, auf bestimmte Zeit), oder auf immer, als Leibeigne verkaufen: aber die jetzige allgemeine Leibeigenschaft der Bauern fand noch nicht Statt. Diese ist nur allmählich durch Zeitumstände und Usurpation des Adels entstanden, und ihr eigentlicher Ursprung läßt sich daher nicht genau bestimmen; doch ist sie zuverlässig noch nicht dreihundert Jahr alt. Will man dem berühmten Raynal *) glauben, so besteht sie seit der Eroberung von Kasan und Astrakan, was aber wohl schwerlich zu erweisen ist.
Nach meiner Meinung that man die ersten Schritte dazu im sechzehnten Jahrhundert, als man anfing, den auf den Landgütern der Edelleute ansässigen, aber nur gemietheten, Bauern harte Frohndienste aufzulegen. Indeß waren damals die Bauern nicht an das Land gebunden (glebae addicti), und konnten ihren Wohnort nach Belieben verändern. Mehrere Umstände, besonders Vermischung mit den nomadisch lebenden Mongolischen und Tatarischen Völkerschaften, ferner die beständigen Kriege und innere Unruhen, nahmentlich
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*) Histoire philosophique T. III. Pag. 36.
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aber die, welche zu der Zelt der beiden falschen Dmitris und der Polnischen Einfälle in Rußland entstanden, gewöhnten die Bauern an eine unstäte, umherschweifende Lebensweise, die dann gänzliches, Sittenverderbniß und Vernächlässigung aller nützlichen Gewerbe und aller ländlichen Industrie zur Folge hatte. Dies bewog den Zaren Michael Födorowitsch im Jahre 1626 zu einem Befehl, durch welchen eine für den Staat so verderbliche Lebensart untersagt und der Bauer an das Land gebunden wurde. Was eigentlich ein temporäres Gesetz hatte seyn sollen, blieb bei seinem Nachfolger Alexei Michailowitsch. Daß es aber gar nicht die Absicht dieses Zaren war, die Bauern zu Leibeignen zu machen, erhellet schon aus dem Umstande, daß er ihnen in seinem Gesetzbuche (Uloshenie) ausdrücklich untersagte, sich als Leibeigene auf eine bestimmte oder unbestimmte Zeit zu verkaufen, welches bis dahin erlaubt gewesen war *). Indeß wurde das Gesetz des Michael Födorowitsch nicht aufgehoben; und da es leider in Rücksicht der Verhältnisse zwischen den Bauern und ihren Herren, keine
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*) Storch Materialien zur Kenntniß des Russischen Reiches , Th. I. S. 451.
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hinlängliche Bestimmtheit hatte, so gab es einen Vorwand zur Unterdrückung der erstern. Da kein Bauer sich mehr ohne Erlaubniß von dem Landgute, auf dem erlebte, entfernen durfte, und da es also Schwierigkeiten hatte, seine Klagen anzubringen, so hing er nun fast gänzlich von der Willkühr seines Herrn ab. Indeß ertrugen die Bauern diese der ursprünglichen Absicht des Gesetzes zuwider laufenden, eigenmächtigen Behandlungen Anfangs nicht mit Geduld, sondern empörten sich häufig gegen ihre Unterdrücker, wodurch sie aber, anstatt ihr Schicksal zu erleichtern, es nur immer mehr erschwerten, da sie, als die Schwächern und Einfältigern, durch Verdrehungen des Gesetzes immer mehr von ihren Rechten verloren *).
Wie sehr der Adel von je her darauf bedacht war, seine Rechte zu vergrößern, erhellet aus dem Umstande, daß er schon vor dem Gesetze des Zaren Michael Födorowitsch die auf Contract dienenden Knechte den leibeignen Sklaven gleich zu machen suchte, woran ihn nur ein Gesetz des Zaren Wasilii Iwanowitsch Schuiskoi verhinderte **).
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*) Storch a. a. O. S. 452.
**) Storch a. a. O. S. 454.
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Der Adel ging überhaupt systematisch zu Werke, und benutzte alles, was er nur konnte, um seine Gewalt über die Bauern weiter auszudehnen. Die Veranlassung zu der gänzlichen Herabwürdigung der armen Bauern gaben die Kriege, welche Peter I. mit Karln XII. führte. Als nehmlich nach der unglücklichen Schlacht bei Narva eine ganze neue Armee erforderlich war, wurde, nach dem Rath des Generals Tschernichew eine Volkszählung (Revision) angestellt und auf diese eine Kopfsteuer gegründet. Bei dieser Volkszählung trug man die Bauern mit den Nachkommen der ehemaligen wirklichen Sklaven, und mit den auf Verschreibungen dienenden Knechten in dieselbe Liste ein; und so wurden die bisherigen Unterschiede gänzlich aufgehoben. Nun verschwanden auf einmal die aus der Vorzeit herstammenden Rechte der Hof- und Landleute, und alle wurden leibeigne, erbliche Sklaven.
Die Rekrutenlieferungen gaben auch Anlaß zu dem verabscheuungswürdigen Gebrauche des Menschenhandels, da in langen Kriegen mancher Edelmann nicht die erforderliche Zahl von brauchbaren Rekruten stellen konnte, und gezwungen war, die ihm Fehlenden von
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andern zu kaufen. In der Folge hat man diesen, die Menschheit entehrenden Handel weiter ausgedehnt, so daß jetzt alle leibeigne Erbleute als verkäufliche Waare behandelt werden können.
Die willkührliche Eigenmacht der Russischen Edelleute über ihre Leibeignen beruhet also nicht auf bestimmten Gesetzen, sondern auf einer allmählich eingerissenen Usurpation, welcher nur die Verjährung eine Art von Sanction gegeben hat.
Bei dieser Lage der Umstände bin ich der Meinung, daß den Edelleuten kein großes Unrecht geschähe, wenn die schimpflichen Bande der Leibeigenschaft, welche das Russische Volk, mehr als sonst irgend etwas, an seiner Veredlung hindern, durch zweckmäßige Anordnungen allmählich weiter gemacht, und endlich ganz gelöset würden. Mit gutem Vorbedacht wünsche ich die allmähliche Lösung dieser Bande: denn ein allzu schneller Uebergang zu mehr Freiheit möchte wohl bei den Russen eben so wenig gute Folgen haben, als er es bei andern nicht hinlänglich dazu vorbereiteten Völkern gehabt hat. --- Ueberdies ist, nach meinen Begriffen, unbedingte Freiheit bei Menschen, die im geselligen Verein leben,
Wichelhausens Moskwa. [18]
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eine bloße Chimäre, und weder hochtönende Worte, noch selbst schöne Formen freier Staatsverfassungen führen so sicher zu Freiheit hin, als der Geist, welcher Regierende und Regierte bei ihren Handlungen beseelt. Nur dann, wenn bei einer Nation Anerkennung und Befolgung des Sittengesetzes zur herrschenden Stimmung wird *), ist es gut, daß sie alle Menschenrechte ausüben darf und also frei wird.
Ist diese Stimmung nicht ganz allgemein, so muß die Nation noch als unmündig behandelt werden, bis sie durch Erziehung und Aufklärung zu höheren Bestimmungen reift. Je nachdem ein Volk in diesen Hinsichten eine höhere Stufe erstiegen hat, um desto mehr ist es wahrer Freiheit fähig. --- Nach diesen meinen Grundsätzen über Freiheit, wäre es also wohl thöricht, einem Volke, welches, ungeachtet seiner nätürlichen guten Anlagen, jetzt noch größten Theils unter der Herrschaft der rohesten Sinnlichkeit steht und nur geringe Fortschritte in einer zweckmäßigen Cultur gemacht hat, eben den Grad von Freiheit zu wünschen, der für Menschen paßt, welche mehr auf die Aussprüche der Vernunft hören. Es
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*) Aber wann sollte diese Zeit wohl kommen! ---
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würde ein höchst lächerlicher Vorschlag seyn, Russische Muschis plötzlich z. B. in Hanseaten umschaffen zu wollen, welche Jahrhunderte hindurch frei gewesen sind, und bei denen in vielen Stücken uralte, von Vätern auf die Kinder fortgepflanzte Gewohnheiten und Sitten die Stelle der Gesetze vertreten oder eine allzu große Strenge der Gesetze unnöthig machen. Fürs erste ist also den Muschicks wohl nur zu wünschen, daß ihr hartes Schicksal gemildert, und daß sie durch zweckmäßige Anstalten für eine bessere Zukunft vorbereitet werden. ---
Mit Rührung 'und Freude sieht man in der Geschichte, daß dies der Wunsch der besten und weisesten Regenten von Rußland war. Schon bei den älteren Zaren findet man Spuren von solchen edelmüthigen Gesinnungen. Sogar noch vor der Zeit, da durch das Gesetz des Zaren Michael Födorowitsch der Bauer an das Land gebunden wurde, suchten die Zaren Boris und Wasilii Schuiskoj alle Leibeigenschaft gänzlich aufzuheben; dies gelang ihnen aber nicht, weil die Gemüther nicht dazu vorbereitet waren. Auch das, was ich vorher von dem Zaren Alexei Michaelowitsch anführte, daß er den freien Bauern
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verbot, sich als Leibeigne auf Contracte zu verkaufen, zeigt, daß dieser Gesetzgeber das Erniedrigende der Leibeigenschaft fühlte. Der Günstling der Prinzessin Sophia, der mit Recht berühmte und mit Recht groß genannte Galitzin, hatte den edlen Wunsch, die Leibeigenschaft aufzuheben, und würde, bei einer längeren Verwaltung der Regierungsgeschäfte, wahrscheinlich einen Versuch damit gemacht haben.
Peter I. mußte bei seiner erhabenen Denkungsart natürlicher Weise wünschen, über ein freieres Volk zu herrschen; selbst sein langer Aufenthalt in Holland, wo er den Wohlstand, den die goldne Freiheit schafft, kennen gelernt hatte, seine Vorliebe für Holländische Sitten, und seine Absichten, durch ausländische Cultur seine Völker glücklicher zu machen, mußten bei ihm den großen, seiner genialischen Energie ganz würdigen, Gedanken erregen, die Ketten der Leibeigenschaft zu zerbrechen. Wenn irgend jemand diesen großen Plan ausführen konnte, so war Er es. Er kannte aber sein Volk, und fühlte, daß es hierzu noch nicht reif wäre. Ob er, gleich durch Einführung der Revision Veranlassung zu Mißbräuchen gab, welche das traurige Loos der Leibeignen noch
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verschlimmerten, so war dies doch gewiß nicht seine Absicht. Uebrigens that er, was er konnte, und was die Zeitumstände erlaubten: er bereitete sein Volk auf alle mögliche Art zu dieser glücklichen Epoche vor. Viel that er selbst in diesem Stücke; aber noch mehr ließ er seinen Nachkommen zu thun übrig.
Katharina II., welche ein so großer Enthusiasmus für die Veredlung und Beglückung ihrer Völker beseelte, und welche so viele Anstalten zur Erziehung und Bildung derselben traf, würde gewiß die Leibeigenschaft aufgehoben haben, wenn sie bloß der Eingebung ihres großen Geistes und Herzens hätte folgen dürfen. Daß es ihr innigster Wunsch war, erhellet aus zu vielen Thatsachen, als daß man daran zweifeln könnte. Aber sie war zu weise, um durch einen raschen Schritt etwas durchsetzen zu wollen, das nur nach allmählichen, stufenweisen Vorbereitungen glückliche Folgen haben kann. Indeß traf sie Anstalten, aus denen man deutlich sah, daß sie zu diesem großen Werke mitwirken und ihren Nachfolgern die Ausführung desselben erleichtern wollte.
Daß der Plan, die Leibeigenschaft aufzuheben, nach ihrem Geschmacke war, kann man
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schon daraus schließen, daß in den frühesten Zeiten ihrer Regierung die freie ökonomische Gesellschaft in St. Petersburg es wagen durfte, einer Abhandlung, worin die allmähliche und vorsichtige Aufhebung der Leibeigenschaft angerathen wird *), den Preis zu ertheilen.
Katharina verschaffte den Bergwerksbauern, welche unter allen am meisten gedrückt sind, einige Erleichterung. Sie suchte die Zahl der freien Unterthanen allmählich zu vermehren, indem sie durch einen Ukas verordnete, daß es den Freigelassenen oder deren Nachkommen nicht erlaubt seyn solle, je wieder im die Knechtschaft zurück zu kehren; ferner, indem, auf ihren Befehl, alle verabschiedete Militärpersonen mit ihren Nachkommen, und alle aus den Findelhäusern und der Akademie der Künste Entlassene auf immer freie Leute werden.
Am meisten wirkte sie aber dadurch zu der gänzlichen Aufhebung der Leibeigenschaft, daß sie dem Bürgerstande eine gesetzliche Existenz gab und einer Menge von kleinern und größern Ortschaften städtische Freiheiten ertheilte.
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*) Die Frage war: ist es dem Staate vortheilhaft, wenn die Bauern Landeigenthum oder bloß persönliches besitzen?
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Gegen das Ende von Katharinens Regierung, und auch unter dem Kaiser Paul Petrowitsch waren die Zeitumstände dem Fortrücken des großen Planes zuwider, da der von Frankreich ausgegangene Schwindelgeist, der nur allzu oft echte gesetzliche Freiheit mit Zügellosigkeit verwechselte, auf alle Nationen, selbst auf die rohesten, zu wirken schien, und überall jene traurigen Katastrophen befürchten ließ, welche unvermeidlich sind, wenn irgend eine Art von Fanatismus den ungebildeten und leidenschaftlichen großen Haufen ergreift, und wenn, anstatt vernünftig entworfener und mit Klugheit ausgeführter Reformen, von einer wüthenden Pöbelrotte wilde Revolutionen durchgesetzt werden.
Jetzt, da selbst in Franfreich das Phantom einer idealischen Staatsverfassung niemanden mehr täuscht; jetzt, da die übertriebenen Behauptungen einiger dünkelvollen Sophisten durch große blutige Experimente berichtigt sind, und allgemeine Nachwehen die Besinnung wieder herstellen: jetzt wird man wahrscheinlich vom politischen Fanatismus so leicht nie wieder Zerrüttungen zu befürchten haben. --- Doch eben diese traurigen Erfahrungen werden, unter der Leitung der Vorsehung,
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manches Gute wirken, und wohlthätige Reformen früher herbei führen, als es, nach dem gewöhnlichen Gange der Dinge, sonst vielleicht geschehen wäre. ---
Als der weise und milde Alexander den Russischen Thron bestieg, mußte die Hoffnung zu allen gemeinnützigen Verbesserungen neues Leben erhalten. Es war zu erwarten, daß er sich aller Unterdrückten, folglich auch der unglücklichen Leibeignen, annehmen würde; und bis jetzt hat er, wie ganz Europa weiß, die großen Erwartungen von ihm noch übertroffen. Besonders blickte er mit Huld auf die armen Leibeignen, und erleichterte edelmüthig ihr Elend. Er gab einem ansehnlichen Theile derselben *) das bisher entbehrte so natürliche Recht, gesetzlich in Schulz genommenes Eigenthum an Ländereien zu besitzen; und gründete also, mit dem Glücke unzählbarer Geschlechter, den künftigen blühenden Zustand der ländlichen Industrie, wovon der eigentliche Reichthum eines jeden Landes abhängt.
Daß auch das traurige Loos der übrigen Leibeignen gemildert werden wird, daran ist wohl nicht zu zweifeln. Der gute Kaiser Alexander, der das Unglück und die Herabwürdigung
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*) Den Kronbauern.
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diese zahlreichsten Klasse von seinen Unterthatien tief empfindet, und deswegen das Gelübde that, ihre Zahl nicht zu vermehren *) wird sich auch ihrer Noth erbarmen. Alle Anstalten sind dazu schon getroffen. --- Volfsaufklärung --- ein Wort, vor dem man in vielen finstern Gegenden von Europa zittert --- ist jetzt in Rußland an der Tagesordnung, und ein eigner Minister steht diesem menschenfreundlichen Geschäfte vor. Es ist
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*) Hier sind die eignen Worte des vortrefflichen Monarchen, aus einem Briefe von ihm an einen Großen seines Reiches, der um ein erbliches Gut angehalten hatte. Pour la plus grande partie les paysans de la Russie sont esclaves; je n‘ai pas besoin de m‘etendre sur l‘avilissement et le malheur d‘un etat pareil. J‘ai donc fait voeu, de ne pas en augmenter Ie nombre, et j‘ai pris pour, prineipe, de ne pas donner a cet effet des paysans en propriete. Cette, terre vous sera accordee en arrende a vie, a vos et a vos descendans --- ce qui revient a peu pres, a la meme chose, avec la seule difference que le paysan ne peut etre vendu comme une bete. Voici mes raisons, et je suis persuade, que vous en agiries de meme a ma place. (Kotzebue merkwürdigstes Jahr meines Lebens.)
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also Ernst, das Russische Volk zu den hohen Bestimmungen vorzubereiten, zu denen es von der Natur so viele glückliche Anlagen erhalten hat. --- Das willkürliche Benehmen der Leibherren gegen ihre Erbleute wird früher oder später durch Gesetze eingeschränkt werden, und die Nachkommen der alten freien Slaven werden sich wieder, wie vormals, durch ländliche Industrie, mannichfachen Handelsverkehr und alle Künste des Friedens unter den Völkern auszeichnen. Unsterblich und von den entferntesten Generationen gesegnet wird der Nahme des erleuchteten und humanen Monarchen bleiben, der diese schöne Epoche herbei führte! --- Diese, Millionen beglückende, Epoche ist um desto sicherer bald zu erwarten, da die edelmüthige Elisabeth den Kaiserthron mit dem menschenfreundlichen Alexander theilt. Sie stammt aus einem Fürstenhause, welches, mit Aufopferung beträchtlicher Staatseinkünfte, durch feierliche Aufhebung der Leibeigenschaft ein erhabenes Beispiel der Gerechtigkeit und Menschlichkeit gab, das die Zeitgenossen bewundern und das in den Jahrbüchern der Geschichte den Ruhm des ersten Pfalz-Badenschen Kurfürsten, des großen Karl Friederichs, verewigen wird.
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XI.
Körperliche Bildung, Geistes- und Gemüthsanlagen.
Unterschied zwischen Edelleuten, Ausländern und Muschicks, in Rücksicht auf körperliche Bildung --- Physische Charakteristik des Muschicks --- Schönheitsbegriffe --- Frühere Mannbarkeit der Mädchen --- Storchs irrige Meinung darüber --- Frühes Alter --- Seltenheit mißgestalteter Personen --- Genetische Lebenskraft --- Gute Anlagen der Kinder --- Gefühllosigkeit --- Körperliche Ausdauer und Stärke --- Sinnlichkeit --- Hang zur Musik --- Allgemeiner Volksgesang --- Tanz und Mimik --- Einbildungskraft --- Temperament --- Gemüthsart.
In Hinsicht auf die körperliche. Bildung der Einwohner von Moskwa finden mancherlei Verschiedenheiten Statt, die von der genetischen Herkunft, der Lebensart und andern Verhältnissen derselben abzuhangen scheinen. So ist, wenn man den größten Theil des Adels und der Ausländer in Ansehung ihres Körperbaues mit dem gemeinen Volke vergleicht, ein auffallender Unterschied zu bemerken. Da der Moskowische hohe Adel meisten Theils von
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Germanischem, Polnischem, Tatarischem und Grusinischem Ursprunge ist, so sieht man an ihm nur selten die Hauptzüge der Russischen Nationalphysiognomie. Im Allgemeinen haben diese aus fremdem Blute abstammenden Edelleute, und die Ausländer größere, schlankere Staturen, feinere, mehr charakteristische Gesichtszüge, größere und dunklere Augen, besser geformte Nasen, höhere Stirnen, schwärzere Haare, und eine weißere Gesichtsfarbe, als die andern Klassen von Einwohnern. Indeß scheinen größere Cultur, wollüstigere Lebensart und Vermischung mit fremden Stämmen die körperliche Bildung der ursprünglich Moskowischen Edelleute und anderer wohlhabenden Klassen allmählich so verändert zu haben, daß man bei ihnen in den Gesichtszügen mehr Mannichfaltigkeit bemerkt, als bei dem gemeinen Manne. Die Muschicks haben in Ansehung ihrer physischen Bildung ein auffallendes Nationalgepräge. Im Ganzen genommen sind sie ein derber Schlag von Menschen meistens von mittelmäßiger Größe, breiter Brust, etwas kurzen, und dicken, aber wohlgeformten Extremitäten und starkem Knochenbau. Ihr ganzer Körper hat ein aufgedunsenes Ansehen, und
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die Muskeln desselben zeichnet sich weniger aus, als bei andern Nationen. Das Zellgewebe unter der Haut hat eine ungewöhnliche Festigkeit, und ist häufig mit vielem zähen Fett angefüllt. Dessen ungeachtet sind dickwanstige Figuren unter ihnen sehr selten. Meistens haben sie ein längliches Gesicht, eine kurze hervorstehende Stirn, etwas tief liegende kleine Augen, eine kleine gerade und spitze, oder auch eine aufwärts gebogene und zuweilen dicke Nase. Ihre Augen sind von grauer, blauer oder hellbrauner Farbe; ihre Lippen dünne; ihr Mund mittelmäßig weit gespalten und mit weißen, ziemlich großen, aber gut geordneten Zähnen besetzt. Ihre Ohren sind gewöhnlich ziemlich klein, und liegen nahe am Kopfe. Die Backenbeine stehen nicht so weit hervor, wie bei den Donischen Kosaken, aber doch mehr, als gewöhnlich bei den Deutschen. Die Wölbungen des Hinterkopfes sind verhältnißmäßig nicht sehr groß; dagegen sind die Knochen des Hirnschedels bei Erwachsenen von ungewöhnlicher Dicke, besonders an denen Stellen, wo sich die Nackenmuskeln inseriren. Ihre Gesichtsfarbe ist nicht ganz weiß, sondern vielmehr etwas aschfarbig oder bräuunlich. Eine blühende Farbe sieht man selten
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unter den Moskowischen Muschicks, woran ihre ganze Lebensart, und besonders die schlechte Luft ihrer Wohnungen, Schuld ist. Ihre Haare sind gewöhnlich lang und dick, von brauner blonder, flachsfarbiger oder rother Farbe. Die Haltung ihres Körpers ist bei weitem ungezwungener und ihr Gang leichter, als bei den gemeinen Deutschen. Ihre Geberden sind lebhaft und behend, ihr ganzer Anstand und ihr gewöhnliches Betragen macht sie dem gewandten Franzosen ähnlicher, als manchem andern schwerfälligern Volke. Der Haupt-Ausdruck ihrer Gesichtszüge und die unbestimmte Richtung und Bewegung ihrer Augen scheint keine offne, sondern vielmehr eine zurückhaltende schlaue Gemüthsart zu verrathen. Die Anhänglichkeit an Bärte, welche in vorigen Zeiten so groß war, daß Peter der Erste sie durch Strafgesetze nicht vertilgen konnte, hat sich jetzt vermindert. Kein Edelmann trägt noch einen Bart. Auch die meisten angesehenen Kaufleute und die Bedienten der Edelleute haben in diesem Punkte die vormaligen Gewissensskrupel überwunden, und lassen sich barbieren. Uebrigens zeigen sich in
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Moskwa der Bart und die Mannbarkeit früher, als in Deutschland. Das weibliche Geschlecht ist an physischer Bildung im Ganzen nicht sehr von dem männlichen verschieden. Von den adeligen und den ausländischen in Moskwa gebornen Frauenzimmern, gilt das, was ich schon im Allgemeinen von diesen beiden Klassen bemerkt habe. Meistens ist ihr Körperbau regelmäßig und schön, und äußerst selten sieht man unter ihnen ganz mißgestaltete oder häßliche Figuren. Häufiger haben sie braunes als blondes Haar. Ihre Gesichtsfarbe ist gewöhnlich sehr weiß und oft mit einer sanften Röthe schattirt. Ihre Augen, sind größer und feuriger, ihr Wuchs schlanker, ihr Busen kleiner und elastischer, und ihre Haut viel zarter, als bei den gemeinen Russinnen. Die gemeinen Weiber aus der Klasse der Muschickis gleichen in den Hauptzügen den Männern, nur mit dem Unterschiede, daß ihr Bau zarter ist, und ihre Gesichtszüge einen feineren Ausdruck haben. Ihre Brüste sind meistens ziemlich groß und schlaff, ihre Hüften breit, und die Beckenhöhle gut gebauet, so daß selten schwere Geburten bei ihnen vorfallen. Sie haben mehr Anlage zur Korpulenz
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als die Männer, und häufig findet man --- besonders unter solchen, die eine sitzende Lehensart führen --- runde, aufgedunsene, dicke Gestalten, die, nach den Landesbegriffen, für schön gelten. Ihre Zähne sind meistens schwarz *). Rothe Wangen sind bei ihnen das Hauptprädikat der Schönheit, so daß die Begriffe roth und schön in der Russischen Sprache sogar mit demselben Worte bezeichnet werden **). Die monathliche Reinigung der Frauenzimmer dauert gewöhnlich fünf bis sechs Tage; sie ist stark, und verursacht seltner Beschwerden, als in Deutschland. Meistens erscheint sie zuerst im dreizehnten, doch zuweilen auch schon im zwölften Jahre, Herr Storch
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*) Dies rührt entweder von schädlichen Schminkmitteln oder von einer Beize her, die seit undenklichen Zeiten dazu angewendet wird.
**) Ein Volkslied, welches man sehr häufig hört, fängt mit den Worten an : Krazna liza, Krugla liza; d. i. Ein rothes Gesicht, Ein rundes Gesicht,
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erklärt diese frühe Mannbarkeit der Mädchen aus dem Gebrauche der Dampfbäder *); dieser Meinung kann ich aber unmöglich beistimmen. Ich könnte sie mit vielen Gründen widerlegen, wenn dies hier nicht zu weitläuftig wäre. Doch will ich meine Leser auf einen Umstand aufmerksam machen, der schon hinreicht, die Falschheit jener Meinung zu zeigen. Woher kommt es nehmlich, daß die im Lande gebornen ausländischen Mädchen, die doch gewöhnlich keine Dampfbäder gebrauchen, ihre monathliche Reinigung eben so früh haben, als die jungen Russinnen? --- Zuverlässig muß also eine andre Ursache zum Grunde liegen, als die Herr Storch angibt; sonst würden nicht gleiche Erscheinungen bei Verschiedenheit der Ursachen eintreten. Obschon bei den Ausländerinnen der häufige Genuß von Fleischspeisen und von Gewürzen zur Beschleunigung dieser periodischen Ausleerung beiträgt, und bei den gemeinen Russischen Mädchen das durch ihre gewöhnliche Lebensart veranlaßte frühere Erwachen der Naturtriebe dabei in Anschlag zu bringen ist: so scheint mir doch dieser Umstand
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*) Historisch-statistisches Gemählde des Russ. Reiches etc. Th. I. S. 482.
Wichelhausens Moskwa. [19]
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vorzüglich von dem Einflusse des Klima‘s herzurühren; “denn, wie Pflanzen und Thiere in diesen nördlichen Regionen die verschiedenen Perioden ihres Lebens schneller durchlauefen, als in gemäßigten Erdstrichen, so muß das selbst, dem allgemeinen Naturgesetze gemäß, auch die Reife der Mädchen früher erfolgen. Diese Wirkung des Klima‘s trifft mit Erfahrungen überein, welche in andern Ländern gemacht worden sind. So gelangen z. B. nach Kalms Bericht, in Nordamerika die Europäischen Geschlechter früher zur Reife, aber auch früher zum Alter, als in Europa. Sollte hierauf nicht vielleicht der in einigen Jahreszeiten sehr beträchtliche Sauerstoffgehalt und der mächtigere Einfluß des elektrischen Feuerstromes im Luftkreise Einfluß haben? Wenigstens-hat diese Vermuthung eine Thatsache für sich; im Frühjahre nehmlich, wo der Luftkreis mit Sauerstoff vorzüglich geschwängert und die Luft-Elektricität am stärksten ist, stellt sich der monathliche periodische Ausfluß meistens zum ersten Male ein, und das abgehende Blut hat dann eine höher rothe Farbe, als in andern Jahreszeiten. So wie beide Geschlechter früher zu den Jahren der Mannbarkeit gelangen, so verwelken
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sie auch früher, und das Alter nähert sich mit schnelleren Schritten, als in vielen andern Europälschen Ländern. Ohne hier in Anschlag zu bringen, was die ganze Russische Lebensweise zu der schnelleren Hinfälligkeit beiträgt, bemerke ich nur im Allgemeinen, daß man in Moskwa in den Gesichtszügen der meisten Muschicks von beiden Geschlechtern ziemlich frühdie Spuren des Alters wahrnimmt. Männer von fünf und funfzig oder sechzig Jahren sehen oft Greisen ähnlich, und die Weiber verlieren meistens gleich nach dem vierzigsten den größten Theil ihrer Reitze. Nur selten gebären die Weiber nach dem fünf und vierzigsten Jahre, und der monathliche Blutfluß verliert sich gewöhnlich mit dem acht und vierzigsten, bei manchem auch noch viel eher. --- Aeußerst selten habe ich in Moskwa Buckelige oder sonst verwachsene Personen gesehen, und fast nie einen unter dem gemeinen Volke. Indeß sollen doch auf den Gütern der Edelleute einige, obgleich ungleich weniger als in andern kultivirten Ländern von Europa, anzutreffen seyn. Höchst wahrscheinlich tragen hierzu die genetische Bildung,, die kunstlose Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjahren,
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und die bequemen Nationalbekleidungen sehr viel bei *). Die neugebornen Kinder sind meistens stark, und verrathen sowohl durch heftiges Schreien als durch lebhafte Bewegungen der Gliedmaßen eine nicht geringe genetische Lebenskraft. Die gewöhnlichste Länge der eben zur Welt gekommenen Kinder beträgt, nach meinen Beobachtungen, funfzehn Werschocke,
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*) Was hierzu die Race beiträgt, aus welcher die Menschen abstammen, sieht man besonders in Hamburg, wo es, nach Verhältniß der Bevölkerung, eine außerordentliche Menge von Buckeligen und mißgestalteten Personen gibt. Dies fiel einen Französischen, sich daselbst aufhaltenden Arzte, Nahmens Menurret, sehr auf. Er sagt in seinem Essai sur la ville d‘Hambourg considerée dans ses rapports avec lasante etc. Hambourg, 1797. p. 73 Folgendes: „Vous auriez peine à vous faire une idee de la quantité d‘individus, surtout parmi le peuple ou le defaut dans le regime et le logement sont plus graves et plus communs, qu on rencontre: bossus, contrefaits bancroches, bancals, rortus, estropies, diversement defigurés et arretes dans leur developpement et leur croissance naturelle. Ce qu‘il y a de pis, c‘est que ces maux se transmettent hereditairement et se multiplient à mesure que les generations s‘etendent.“
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und das Gewicht achtzehn bis vier und zwanzig Russische Pfunde. Das Maaß der Erregbarkeit schien mir bei diesen Kindern verhältnißmäßig immer größer, als bei den Erwachsenen. Mit vielem Fleiße habe ich mannichfaltige Beobachtungen verschiedener Art darüber angestellt, um zu beurtheiten, ob die geringe Reitzfähigkeit und Empfindlichkeit des Moskowischen gemeinen Volkes angeboren sey oder durch andre Ursachen erzeugt werde. Die Resultate aller meiner Untersuchungen überzeugen mich immer mehr, daß die Natur mit mütterlicher Güte für das Moskkowische Volk gesorgt hat, und daß nur naturwidrige Lebensweise ihren Absichten entgegenwirkt. Bei Knaben von fünf bis sechs Jahren fand ich gewöhnlich eine außerordentliche Lebhaftigkeit und Munterkeit, großen Beobachtungsgeist, feines Gefühl und oft genialische Geistesanlagen. Von der Härte des Gemüths und der zurückhaltenden Schlauheit, welche die Erwachsenen charakterisirt, fand ich selten eine Spur, sondern meistens eine besondere mit Gutmüthigkeit verbundene Empfindlichkeit, ein offnes Wesen und ein naives Betragen. Die Natur hat also die Kinder zwar mit
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großer Reitzfähigkeit und Empfindlichkeit ausgestattet; doch diese vorzüglichsten Aeußerungen der Lebenskraft scheinen sich allmählich unter dem Drucke der rauhen Lebensweise abzustumpfen. Wenigstens stehen die klimatischen Einwirkungen nicht in Verhältniß mit der Abstumpfung dieser Kräfte, weil sonst bei den in Moskwa erzogenen Ausländern und bei Andern, die eine bessere Lebensart führen, wenn auch nicht dieselben, doch wenigstens ähnliche Folgen sichtbar werden müßten. Die Abstumpfung der Reitzfähigkeit und Empfindlichkeit wird aus einer Menge Thatsachen erhellen, die ich weiter unten, wenn ich die Lebensart des Volkes schildere, anführen werde. Für jetzt beschränke ich mich darauf, zu bemerken, daß die Muschicks in Krankheiten viel stärkere Dosen von Arzeneimitteln brauchen, als Völker und Individuen, die in ähnlichen klimatischen Verhältnissen, aber auf eine mildere Weise, leben. Wäre der Einfluß des Klima‘s unbedingt, und kämen nicht dabei viele andere Umstände in Betrachtung, so müßten ausländische Familien, die seit Jahrhunderten in mehreren Generationen hier leben, allmählich mehr klimatisirt seyn, als sie es wirklich sind. Solche Familien beobachten aber meistens
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die Lebensweise ihres ursprünglichen Vaterlandes. Deutsche, Engländer, Franzosen und andre Ausländer entziehen sich so viel als möglich dem Einfluß des rauhen Klima‘s. durch passende Vorkehrungen, und suchen die Lebensart und die Gebräuche fortzusetzen, die in den Ländern, aus denen sie abstammen, beobachtet werden. Der torpide Zustand, worin sich die Organe des allgemeinen Gefühls befinden, scheint mir auch deswegen nicht angeboren zu seyn, oder bloß vom Klima abzuhangen, weil die Muschicks fast immer eine, ungemeine Lebhaftigkeit in ihren Muskelbewegungen haben *). Man braucht nur einen Moskowischen Kutscher (Iswoschik) zu beobachten, wie er seine Pferde, tummelt, wie er sie auf mancherlei Art aufmuntert und zum raschen Laufen treibt; oder den Krämer, wie er in den Kaufbuden durch zudringliche Höflichkeiten und
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*) Ich glaube nehmlich, daß zwischen dem angebornen Maß der Bewegungsfähigkeit und der Empfindlichkeit ein harmonisches Verhältniß Statt findet, welches nur im anomalischen Zustande des Körpers verändert oder aufgehoben wird. So nimmt oft, bei der sitzenden Lebensart mancher Personen, die Bewegungsfähigkeit ab und die Empfindlichkeit zu; und in manchen Krankheiten hört die Empfindlichkeit gänzlich auf, während die Muskelbewegungen nicht unterbrochen werden.
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schlaue Geschwätzigkeit den schnell Vorübergehenden zum Kaufen einladet: so wird man überzeugt seyn, daß weder Holländisches noch Deutsches Phlegma im Charakter der Moskowischen Muschicks liegt. Auch wird meine Meinung über die Hauptursachen von der Abstumpfung der Gefühls-Organe bei den Muschicks dadurch bestätiget, daß das Maß der allgemeinen Empfindlichkeit ihrer Organe nicht mit dem Maße jeder specifischen in Verhältniß steht. Denn die Sinne des Gesichts und des Gehörs behalten bei den Muschicks meistens ihre regelmäßige Schärfe; sie sind aber auch, ihrer Natur nach, nicht unmittelbar den schädlichen Einwirkungen ihrer Lebensweise ausgesetzt. Einen so unerhörten Grad von Unempfindlichkeit, als die Reisenden des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts *) den Moskowischen Muschicks zuschreiben, bemerkt man indeß heut zu Tage nicht mehr, und hieraus sieht man deutlich, welchen mächtigen Einfluß die beginnende Cultur bereits gehabt hat. Diese geringe Empfindlichkeit macht den Muschick allerdings fähig, die größten Beschwerlichkeiten
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*) Meiners in a. B. Th. I. S. 208.
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und Strapazen zu ertragen und die fürchterlichsten körperlichen Züchtigungen zu überstehen. Indeß kann man hieraus nicht folgern, daß, überhaupt genommen, seine körperliche Constitution ausdauernder sey, als die von anderen Nationen *); denn junge Leute, welche noch nicht hinreichend abgehärtet und deren Empfindlichkeit nicht abgestumpft ist, ertragen lange Märsche und andre Mühseligkeiten nicht einmal so gut, wie die meisten andern Europäischen Völker. Sehr oft habe ich, während
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*) Storch scheint dieser Meinung zu seyn, wie dies aus folgender Stelle seiner historisch. statistischen. Beschreibung des Russischen Reiches (Th. I. S. 596.) erhellet: „Von der beinahe unglaublichen Ausdauer der Russen geben die langen und beschwerlichen Märsche der Armeen, die harten körperlichen Strafen u. s. w. Beispiele, die jeden Ausländer in Erstaunen setzen. Wie oft ist nicht der Russische Soldat gezwungen gewesen, durch wüste wasserlose Steppen zu ziehen, oder den Winter in kleinen Erdhütten, ohne Feuerung und andere Nahrungsmittel als seinen getrockneten Zwieback, zuzubringen! Wie oft sieht man nicht Verbrecher, nach einer Bestrafung, deren bloßer Anblick jede Nerve zittern macht, den Weg nach ihrem Gefängnisse ohne Unterstützung und ohne sichtbare Veränderung in ihrem Gange zurücklegen !
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der letzten Schwedischen und Türkischen Kriege, ganze Züge von jungen Rekruten durch Moskwa passiren sehen, die kaum fortkommen konnten, und deren abgezehrte Schatten ähnliche Gestalten und schlechtes Ansehen nicht von großer Dauerhaftigkeit zeugten. Auch soll damals fast der dritte Theil von ihnen gestorben seyn, ehe sie bei den Regimentern angelangt sind. So erliegen häufig junge Muschicks unter den harten Behandlungen ihrer Herren, welche ältere und mehr abgehärtete leicht ertragen. Freilich sind diejenigen, welche von der Natur eine stärkere Organisation erhalten haben und durch rohe Lebensart abgehärtet worden, sehr ausdauernd; dies ist aber auch bei andern Nationen, unter gleichen Bedingungen, der Fall. Von den Muschicks kann man nicht einmal behaupten, daß sie sich in Rücksicht der Muskelkräfte auszeichnen *); es scheint vielmehr, als wenn sie hierin andern Europäischen Nationen nachständen. So haben z. B. vier bis fünf Muschicks an einem Balken zu tragen, den in Deutschland zwei bis drei Arbeitsleute fortbringen **).
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*) Storch (im a. B. S. 596.) hat keine große Meinung von der körperlichen Stärke der Russen.
**) Ueberhaupt glaube ich, daß man sich irrt, wenn man behauptet, daß die nordischen Völker gewöhnlich stärker sind, als die südlichen. Wenigstens streiten alle Erfahrungen, die ich hierüber zu machen Gelegenheit gehabt habe, gegen diese Meinung. Vielleicht hat dies allgemeine Vorurtheil seinen Ursprung der Hypothese zu danken, daß Kälte stärke, und Wärme schwäche. --- Die meisten nördlichen Völker sind klein und schwach. Der berühmte Ritter von Pallas erzählt in seinem vortrefflichen Werke über die Mongolischen Völkerschaften (Th. I. S. 181.) von den Buräten, einem Sibirischen Volke, daß fünf bis sechs derselben mit allen ihren Kräften das nicht auszurichten im Stande sind, was ein einziger Russe leisten kann. Nach meinen Erfahrungen gibt es die stärksten Menschen in Italien, und besonders in Venedig, wo der gänzliche Mangel an Pferden mehr Uebung im Lasttragen veranlaßt.
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Man bemerkt an den Muschicks fast durchgehends die roheste Sinnlichkeit; dessen ungeachtet scheint es aber, als wären sie vom Natur zu feinern sinnlichen Vergnügungen aufgelegt. Spuren ihrer Empfänglichkeit für Harmonie sind bei ihnen unverkennbar. So ist ihnen z. B. Hang zur Musik, und besonders zum Gesang, gleichsam angeboren. Kein Volk singt vielleicht so viel, als das Russische. Nicht allein in Stunden der Muße und des Vergnügens, sondern auch bei ihren gewöhnlichen Beschäftigungen erschallen fröhliche Lieder!
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So einfach auch die Melodieen derselben sind, so verrathen sie doch im Allgemeinen Anlage zu einer Kunst, die den Geschmack an andern schönen Künsten erwecken kann. Um einen Begriff davon zu geben, setze ich hier die Melodie des allgemeinsten Volksgesanges her:
Drei Zeilen Noten
Volksgesang
Rauh und einförmig ist sie allerdings; sie zeigt indeß die natürliche Stimmung ihrer innern Gefühlsorgane besser, als man es mit Worten auszudrücken vermag. Herder sagt: „Die Musik einer Nation, auch in ihren
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unvollkommensten Gängen und Lieblingstönen, zeigt den inneren Charakter derselben, das ist die eigentliche Stimmung ihres empfindenden Organs, tiefer und wahrer, als ihn die längste Beschreibung äußerer Zufälligkeiten zu schildern vermöchte *).“ So scheint mir diese National- und Lieblings-Melodie --- welche, so weit die Russische Sprache reicht, überall gesungen wird --- den Charakter fröhlicher Gleichmüthigkeit und Sorglosigkeit auszudrücken. Außer dem Hange zur Musik, haben die Muschicks ausgezeichnete Anlagen zum Tanzen und zur Mimik. Bedeutender ist ihr Nationaltanz gewiß, als die meisten Tänze anderer Nationen. Er drückt unverkennbar den Gang der menschlichen Leidenschaft aus; besonders thut das der, welcher unter dem Nahmen Taubentanz bekannt ist --- Ihre Anlage zur Mimik ist gewiß merkwürdig, und zeigt, daß sie, im Ganzen genommen, fähiger zum Abstrahiren allgemeiner Begriffe sind, als man vielleicht glauben möchte. Kommt ein Ausländer nach Moskwa, der nicht eine Sylbe
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*) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Th. II. S. 108.
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von der Landessprache versteht, so weiß der Muschick sich ihm fast allezeit durch Pantomime verständlich zu machen, und die Meinung des Fremden mit einer Leichtigkeit zu errathen, die seinem Beobachtungsgeiste und Scharfsinn das beste Zeugriiß gibt. Als ich die Russische Sprache noch nicht hinreichend verstand, und nur wenige Worte darin vorbringen konnte, wurde ich oft zu Muschicks und Kaufleuten gerufen, die immer meine Meinung über die Krankheit und meine Verordnungen mit einer solchen Sagacität begriffen, daß ich darüber erstaunte. Dieser Umstand war mir um so auffallender, da man sich bei einer solchen Gelegenheit dem Deutschen Bauern so schwer verständlich machen kann, ob man ihm gleich in seiner Muttersprache das Erforderliche zu wiederholten Malen noch so deutlich auseinander zu setzen sucht. Der Muschick erlernt leicht eine fremde Sprache, wie man dies von allen Nationen angemerkt hat, welche Slavischen Ursprungs sind *). So sah ich in Deutschland einen Trupp kriegsgefangener Russen, die aus Frankreich
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*) M. s. Bohuslai Balbini Dissertatio apologetica pro lingua Slavonica, praecipue Bohemica. Prag. 1775. p. 46.
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und Belgien kamen, und schon ziemlich gut Deutsch und Französisch sprachen. --- Die Einbildungskraft des Muschicks ist nicht sehr lebhaft. Da er von der Sinnlichkeit gefesselt ist, so erhebt er sich selten über ihre Grenzen. Ruhig begnügt er sich mit der Gegenwart, ohne sich viel um Vergangenheit, Zukunft und abwesende Dinge zu bekümmern. Am meisten wird noch seine träge Phantasie durch das Uebernatürliche und Fabelhafte erschüttert. Leicht glaubt er deswegen an das Daseyn unsichtbarer Mächte, deren Einflüsse ihm uralte Sagen verkünden, und die Furcht ihm mit neuen Farben ausmahlt. So ist z. B. der Glaube an Hausgeister (Domowoi), allgemein. Diese sind ungefähr den Penaten der alten Römer gleich; doch eignen die Muschicks in Moskwa ihnen niedrigere Functtonen zu, als die Römer ihren Hausgöttern. Der Domowoi hat nach ihrer Meinung, die Oberaufsicht über den Stall, die Küche und den Keller; er präsidirt sogar bei den ehelichen Functionen, die ohne ihn nicht gedeihen sollen; auch verscheucht er übelthätige Geister, und wartnet durch Geräusch vor Gefahren. Wenn in meiner Wohnung zu Moskwa bei nächtlicher Stille ein Geräusch entstand, dessen Ursache
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man nicht wußte, so machte mich einer meiner Bedienten sogleich mit ernster Miene aufmerksam, und sagte leise: Horchen Sie! Da ist der Domowoi! Eine Kaufmannsfrau beklagte sich gegen mich in allem Ernst über den Domowoi, weil sie in ihrer vierjährigen Ehe nicht schwanger geworden war, und räuecherte alle Abend vor dem Schlafengehen, um ihn zu versöhnen. --- Außer den Hausgeistern, glaubt der Pöbel allgemein noch an andere Geister und Unholde. Diese treiben nach dessen Wahn, ihr Wesen an bestimmten Orten, werden aber geringer geachtet, als der Domowoi. So hausen z. B. die Waldgeister (Cestnize) in den Wäldern, und suchen den Wanderer auf Irrwege zu führen; die Wassergeister (Wodeniki) in den Gewässern, und die Feldgeister (Russalki) auf den Fluren. Die Eltern erschrecken ihre Kinder mit dem Nachtgespenst (Buka), welches auf den Höfen umher schleichen und großen Appetit zu kleinen Kindern haben soll, weswegen sie es mit einem großen Rachen und einer langen spitzigen Zunge schildern. In den Ammenmährchen spielen Riesen und Zwerge bedeutende Rollen. Der Riese Polkan kommt fast immer
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darin vor; und oft ist die Rede von kleinen den Liliputtern ähnlichen Geschöpfen, die sie Püshiki nennen. Auch von einem Riesengeschlechte, welches Woloten heißt, wird viel gefabelt. Mit diesem Nahmen benannten mehrere Slawische Völker vormals die alten Römer, welche durch ihre große Thaten bet ihnen die Idee erregten, daß sie von ungewöhnlicher Körpergröße gewesen seyn müßten. Wahrscheinlich wußten sie sich, bei ihrer herrschenden Sinnlichkeit, solche ungewöhnliche Thaten nicht anders als auf diese Art zu erklären. Nichts ist vielleicht bei den Muschicks auffallender, als die Beschaffenheit ihres Temperaments. Daß es sich bei den meisten Individuen gleicht, oder doch große Aehnlichkeit hat, darüber kann sich der Physiologe nicht wundern, wenn er bedenkt, daß die Muschicks im Allgemeinen unter einförmigeren Verhältnissen leben, als die meisten andern Europäischen Nationen. Aber sonderbar ist es gewiß, daß die Natur dieses Volkstemperaments --- unter der Einwirkung von mancherlei Ursachen, welche die genetische Spannkraft und Erregbarkeit vermindern und ihre Empfindlichkeit abstumpfen --- nicht allmählich ausartet.
Wichelhausens Moskwa. [20]
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Wirklich ist dies nicht der Fall. Das sogenannte sanguinische Temperament bleibt, mit sehr wenigen Ausnahmen, dem Moskowischen Muschick eigenthümlich. Zwar ist es in mehreren seiner Bestimmungen anders modificlrt, als bei Völkern, welche eine andre Lebensart führen; aber die charakteristischen Grundzüge desselben sind unverkennbar. -Regsamkeit und Lebhaftigkeit in allen körperlichen Bewegungen und animalischen Funktionen und ein häufiger, doch selten starker Puls, ist dem Muschick eigen. Er fängt seine Beschäftigungen mit Eifer und Geschick an; meistens ermüdet er aber bald, und läßt seine Arbeit unvollendet. Aeußerer Glanz ist ihm in allen Dingen interessanter, als innere Solidität; daher haben alle seine Kunstprodukte das Gepräge davon. Er unternimmt jedes Geschäft mit Leichtigkeit, und zeigt viel Talente bei der Ausführung; doch selten bringt er es in irgend einem Fache sehr weit, und im wissenschaftlichen bleibt er fast immer oberflächlich. Uebrigens erleichtern ihm Sorglosigkeit ohne ihres Gleichen, Ergebung in alle Schicksale des Lebens, heitere Laune und munterer Frohsinn die drückenden Verhältnisse, in denen er gewöhnlich lebt. Diese einzelnen Züge reichen
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hin, die Temperamentsbeschaffenheit des Muschicks zu bezeichnen, welche im Allgemeinen die größte Aehnlichkeit mit dem Temperament der meisten Franzosen hat *). Obgleich die Gemüthsart des Moskowischen Muschicks, im Ganzen genommen, hart ist, so kann man ihn doch nicht bögartig nennen. Er ist zum Mitleiden geneigt, und hilft gern, wo es sich ohne große Aufopferungen thun läßt; er ist gesellig, geschmeidig und weiß sich in alle Arten von Menschen zu schicken, weswegen er auf den Schleichwegen der Intrigue meistens gut fortkommt. Eine besondere Schlauheit in allem was er unternimmt, ist ein hervorstechender Charakterzug am ihm; daher hat er zu Krämergewerben große Anlagen, und betreibt sie mit Erfolg **).
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*) Diese Aehnlichkeit scheinen mehrere Französische Reisebeschreiber, besondes der ehemalige Abbé Chappe d‘Auteroche, nicht beherzigt zu haben; sonst wären sie in ihren Urtheilen wohl billiger gewesen, und hätten die schwachen Seiten des Russichen Muschicks mit mehr Nachsicht gerügt.
**) Peter der Große kannte in diesem Punkte seine Nation sehr gut; deswegen antwortete er den Juden, die ihn um Eriaubniß baten, sich in Rußland niederzulassen: Er rathe ihnen davon ab, und zwar aus der Ursache, weil seine Russen sie übervortheilen würden.
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Sonderbar ist es, daß die Gemüthsstimmung des gemeinen Muschicks sich gewöhnlich ändert, wenn er durch einen Glücksfall (der in Rußland zuweilen für ihn eintritt) zu einer andern Lebensart kommt. Solche gemeine Muschicks, denen das Glück günstig war, und die zu Reichthum oder Ehrenstellen gelangten, werden, nach meinen Erfahrungen, gewöhnlich cholerisch und hypochondrisch. Wahrscheinlich erleidet durch den Reitz einer genußreichern und leidenschaftlichern Lebensart die Form und Mischung ihres Organismus eine Modification, die zu andern Gemüths- und körperlichen Krankheiten geneigt macht. Unter den höheren Klassen der Einwohner von Moskwa findet man mehr Verschiedenheiten in Hinsicht der Gemüthsanlagen, als bei den Muschicks. Ihr genetischer Charakter, ihre Erziehung, die genußvollere und verfeinerte Lebensart, der Luxus, das Spiel der Leidenschaften, und die ausländische Cultur machen aus den Individuen dieser Klassen ganz andere Menschen, als die gemeinen Muschicks sind. So wie einheimische und ausländische Pflanzen, welche im Treibhause
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gezogen werden, zwar üppig emporschießen, aber eine zartere und schwächere Organisation bekommen und an innerer Lebensenergie verlieren: so werden diese, gegen den Genius des Klima‘s erzogene und nach dem Geiste ausländischer Cultur gebildete Menschen weichlich, und gleichen in den Hauptzügen des Charakters den überverfeinerten Einwohnern großer Europäischer Residenzstädte. Man findet also in Moskwa, wie in Paris, London und Wien, die schädlichen Resultate der modischen Erziehung, und Anlagen zu allen Uebeln, welche Luxus, Schwelgerei und naturwidrige Lebensweise erzeugen. Doch bevor ich meine Schilderung der physischen und intellectuellen Bildung bei den verschiedenen Klassen der Einwohner von Moskwa vollende, und das Verhältniß anzeige, worin der jetzige Zustand derselben mit der ihnen gegebenen Erziehung steht, will ich ganz kurz ihre Lebensweise, ihre Sitten und Gebräuche nach den Hauptzügen und Eigenthümlichkeiten aus einander setzen. Diesse enthalten viele Thatsachen, auf welche ich dann mein Urtheil über ihre Fortschritte in der Cultur und Geistesbildung gründen werde.
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XII.
Allgemeine Bemerkungen über die Lebensart, die sitten und Gebräuche der Einwohner von Moskwa.
Die Schilderungen der Schriftsteller aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert passen nicht mehr ganz --- Einförmigkeit der Moskowischen Lebensart --- Morgenländischer Ursprung der Gebräuche --- Aehnlichkeit derselben mit den Gebräuchen des alten Roms und Griechenlands --- Verbindungen der alten Slaven mit Griechen und Römern.
Im Ganzen genommen unterscheiden sich die Einwohner von Moskwa in ihrer Lebensweise auffallend von allen andern Europäischen Nationen. Zwar haben die Bemühungen Peters des Großen und seiner Nachfolger, besonders aber der unsterblichen Kaiserin Katharina, darin eine so große Veränderung hervorgebracht, daß die Schilderungen, welche die Schriftsteller aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert davon machen, nicht ganz mehr passen; dessen ungeachtet hat sie aber außerordentlich viele Eigenthümlichkeiten,
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die von der Beschaffenheit der Landesverfassung, der Religion, des Sitten und Gebräuche und von mehreren andern Verhältnissen abhangen. Diese alle weitläuftig aus einander zu setzen, gehört nicht zu meinem Hauptzweck; daher werde ich nur das davon besonders berühren, was nicht unmittelbareren Einfluß auf den Gesundheitszustand der Einwohner von Moskwa hat. Ueberhaupt findet sich in der Lebensart der Moskowiter eine größere Einförmigkeit, als bei den Einwohnern anderer großen Europäischen Städte; und die Ursache hiervon scheint in der geringeren Verschiedenheit der Stände, der Bildung, der Sitten und Beschäftigungen zu liegen. Der zahlreiche Adel lebt, mit wenigen Abweichungen, ungefähr nach einerlei Weise, und huldigt in Sachen des Luxus immer dem Modegeschmack, der in den cultivirtesten Ländern von Europa gerade herrschend ist. Die Ausländer behalten die vorzüglichsten Gebräuche ihres ursprünglichen Vaterlandes, und ahmen in Rücksicht der Ueppigkeit den Adel nach. Die angesehenen Russischen Kaufleute und diejenigen freien Russen, welche zum Mittelstande gehören, zeigen schon mehr Vorliebe für die alten Nationalsitten; und die Leibeignen,
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(welche wenigstens fünf Sechstheile der Einwohner von Moskwa ausmachen) hangen mit abergläubischer Ehrfurcht an der Lebensart und den Sitten ihrer Vorfahren. Die eigentlichen Russischen Gebräuche haben in ihren Hauptzügen offenbar das Gepräge morgenländischen Ursprungs *). Manche derselben sind denen im alten Griechenland und Rom sehr auffallend ähnlich; es ist mir daher höchst wahrscheinlich, daß die vormaligen Slaven, von denen die jetzigen Russen größten Theils abstammen, mit Griechen und Römer in Verbindung gestanden und daß diese drei Nationen einander wechselseitig ihre Cultur mitgetheilt haben. Wenigstens hat der Zweig des Slavischen Völkerstammes , dessen Wohnsitze sich von der Uralschen Gebirgskette bis zum schwarzen Meer erstreckte, und der
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*) Wahrscheinlich trugen hierzu die Handelsverhältnisse, die bereits in den frühesten Zeiten mit morgenländischen Völkern Statt gefunden haben sollen, viel bei. Wenn Constantin Porphyrogenneta (de administrando imperio. Lugd. Bat. 1617. P. II. c. 42) Glauben verdient, so haben die alten Russen bereits im neunten Jahrhundert auf eignen Schiffen mit Aegypten und Syrien Handel getrieben.
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bei den Griechischen Geschichtschreibern unter dem Nahmen der Scythen *) vorkommt, Gelegenheit gehabt, Griechische Gebräuche anzunehmen; denn bald nach dem Trojanischen Kriege wurden von Griechischen Kaufleuten aus Kleinasien, besonders aber von Milesischen, an dem Ausflusse des Borysthenes, oder des jetzigen Dnepr, und am Mäotischen Pfuhl
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*) Herodot lib. VI. cap. I. Der berühmte Bayer war einer andern Meinung, und hielt die Scythen nicht für Vorfahren der Slaven. M. s. hiervon dessen gelehrtes Werk: Opuscula, ad historiam antiquam, Chronologiam, Geographiam et rem nummariam spectantia, ed. Klotzius. Hal. 1770. pag. 63, in dem Capitel de . origine et priscis sedibus Scytharum. Indeß lag Scythien nach eben demselben Schriftsteller (l. c. de Scythiae situ p. 30.) zwischen dem 45sten und 57sten Grade der östlichen Länge und dem 47sten und 55sten der nördlichen Breite. Daher ist es wenigstens gewiß, daß die ehemaligen vom Herodot angeführten Scythen einen großen Theil des jetzigen Rußlands bewohnt haben; und wenn man erwägt, daß auch bei den Bewohnern dieser Gegenden manche Gebräuche herrschen, die mit den Gebräuchen der alten Griechen und Römer die größte Aehnlichkeit haben, so vermehrt dies, meines Bedünkens, die Wahrscheinlichkeit, daß die Scythen, bei welchen Griechische Kultur eingeführt war, zu dem Slavischen Völkerstamme gehörten.
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oder dem schwarzen Meere verschiedene Kolonien angelegt, um mit den vortrefflichen Landes-Producten Handelsverkehr zu treiben *). Ob nun gleich dieser Slavische Völkerstamm, in den Jahrhunderten der großen Völkerwanderungen aus diesen Gegenden verdrängt worden ist, so scheint es doch, als habe er manche Griechische Gebräuche auf die Nachkommen fortgepflanzt. Auch mit den Römern standen die Vorfahren der jetzigen Russen in Verbindung, wodurch sie vielleicht manche Gebräuche derselben kennen gelernt und nachgeahmt haben **). Ueberdies sind wahrscheinlich auch manche Gebräuche des alten Griechenlands mit der christlichen Religion aus dem Byzantinischen
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*) Sprengels Geschichte der geographischen Entdeckungen, S. 73.
**) Memoriae populorum olim ad Danubium, Pontum Euxinum, Paludem maeotidem, Caucasum, mare caspium et inde magis ad Septentrionem incolentium, escriptoribus historiae Byzantinae erutae a Joanne Gotthelf Strittero. Petrop. 1779. T.IV. §. 18. --- Ferner Friebe über Rußlands Handel, landwirthschaftliche Cultur, Industrie und Produkte. Gotha und Petersb. 1796, Th. I. S. 17.
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christlichen Kaiserthume gekommen *); denn, ein Zar vermählte sich sogar mit einer Griechischen Prinzessin, und es lebten auch viele Griechen an dem Moskowischen Hofe. Zwar kann hier die Rede bloß von Gebräuchen seyn, die keine Beziehung auf Religion haben; denn was mit dieser nur in der mindesten Verbindung stand, wurde in Constantinopel selbst, aus uraltem Hasse des altgriechischen Dämonendienstes, oft gegen alle Ansprüche des guten Geschmacks, nach christlicher Weise umgeändert.
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*) Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Th. IV. S. 116.
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XIII.
Hauswesen der Einwohner von Moskwa.
Menge der Hausgenossen --- Verschiedenheit derselben --- Einrichtung der Häuser --- Bog --- Schwarzstube --- Vortreffliche Methode zu heitzen --- In Moskwa spürt man die Winterkälte weniger, als im südlichen Italien und in Frankreich --- Oefen und Oefenbau --- Doppelte Fenster --- Schlafzimmer und Bette.
Fast allen fremden Reisenden ist von je her in der Moskowischen Lebensweise die große Anzahl von Personen, welche in den meisten Haushaltungen angetroffen werden, sehr aufgefallen. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß besonders reiche Edelleute in diesem Stücke die Grenzen der Nothwendigkeit und des im übrigen kultivirten Europa üblichen Luxus überschreiten. Indeß muß, wenn man diesen vorzüglichsten Zweig der Moskowischen Ueppigkeit beurtheilen will, doch mehr auf die Landesverhältnisse Rücksicht genommen werden, als es die meisten Reisebeschreiber thun. Außerdem daß es wohl ein sehr natürliches Phänomen der menschlichen Eitelkeit ist, wenn in einem Lande, wo der Reichthum nach der
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Zahl von Leibeignen abgemessen wird, ein jeder mit einem großen Gefolge derselben zu prunken sucht: so erfordern offenbar individuelle Verhältnisse, die den Reisenden meistens unbekannt bleiben, in den Haushaltungen der Edelleute eine größere Anzahl von Personen, als in andern Ländern nöthig sind Besonders ist dabei in Anschlag zu bringen; daß viele reiche Edelleute einen großen Theil des Jahres auf Landgütern wohnen, die zum Theil sehr weit von Städten entfernt sind, und wo es ihnen also an manchem fehlen würde, was die Ueppigkeit ihnen nothwendig gemacht hat, wenn sie nicht selbst dafür Rath zu schaffen wüßten. Daher suchen sie immer Leute um sich zu haben, die in den ihnen nöthigen Kunsten erfahren sind, und verschreiben sich oft aus fremden Ländern mit großen Kosten Personen, die wissenschaftliche Kenntnisse besitzen, zu deren Erlernung die Leibeignen keine Talente oder keine Gelegenheit haben. Von ihren Leibeignen machen sie einige zu Geistlichen (Popen), andere zu Advocaten (Strepschicki), zuweilen auch zu Wundärzten (Lekari); doch nehmen sie zu letztern gewöhnlicher Ausländer, in die sie mehr Vertrauen setzen. Sehr reiche Edelleute haben oft eine eigne Capelle
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mit einem Capellmeister (meistens einem Deutschen); eine Gesellschaft von Schauspielern, eine andre von Reitkünstlern; Personen, die mit Feuerwerken, Illuminationen und andern zu den ausgesuchtesten Vergnügungen gehörenden Dingen umzugehen wissen; außerdem ein Personale zu Jagdbelustigungen und besonders zu der so berühmten Hörnermusik *); Kunstgärtner, die mit ungemeiner Geschicklichkeit die Früchte fremder Klimate ziehen; Stallmeister; die nothwendigsten Handwerker, besonders Conditors, Schneider, Schuster, Kürschner, Tischler (Schreiner), Barbier, Haarkräusler, einheimische und Französische Köche u. s. w. Zur Aufwartung sind Kammerdiener, Haushofmeister, Mundschenken, Husaren, Heiducken, Jäger, Mohren, Zwerge, Kutscher, Vorreiter und eine Menge von Livreebedienten bestimmt. Gewöhnlich ist in großen Häusern auch ein Sekretär, der, außer der Russischen Sprache, wenigstens noch die Französische zu schreiben versteht. Sind Kinder in einem Hause, so sieht man, außer Deutschen und Französischen
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*) Hinrich über die Entstehung, den Fortgang und die jetzige Beschaffenheit der Russischen Jagdmusik. Petersburg, 1796.
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Hofmeistern und Hofmeisterinnen, (Utschiteli), noch Wärter (Dätka) und Wärterinnen (Nenka), die ungefähr das vorstellen, was bei den alten Griechen die Pädagogen waren. Selten findet man ein angesehenes Haus, worin nicht bei der Hausdame einige Gesellschafterinnen wären: meistens Töchter armer Edelleute oder freier Russen, welche auf die großmüthigste Art erzogen und versorgt werden. Während des letzten Türkenkrieges traf ich in vielen vornehmen Häusern Türkinnen, die bei der Bestürmung von Orschakow und Ismail gefangen genommen waren. Sie wurden verpflegt, und mit so vieler Delicatesse, mit so vielem Edelmuthe behandelt, daß viele derselben ihr Unglück vergaßen. Bei einigen Damen fand ich als Gesellschafterinnen auch Kalmückinnen, durch deren bräunliche und affenartige Gesichter sie wahrscheinlich, wie durch eine Folie, den Glanz ihrer Schönheit erhöhen wollten. Auch Hofnarren (Durak) und Hofnärrinnen (Dura) trifft man in einigen Häusern an. Das ganze Personale besteht oft aus mehreren Hunderten, so daß es meistens größer ist, als das an manchem kleinen Fürstenhofe. Die minder Vermögenden ahmen die Vornehmen nach (wie dies
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wohl überall Sitte ist), und halten oft der Mode wegen mehr Bediente, als zu ihrer Bedienung nöthig sind. Es gibt in Moskwa vielleicht keine auch noch so kleine adelige Haushaltung, worin nicht wenigstens zehn bis zwölf männliche und weibliche Bedienten wären; die meisten aber halten dreißig, vierzig, und mehr. Sogar der Mittelstand hält eine viel größere Anzahl von Bedienten, als in andern Ländern gebräuchlich ist: Manche Edelleute bringen übrigens mehrere von ihren Leibeignen mit in die Stadt, um sie in Handwerken und Künsten unterrichten zu lassen und mit der städtischen Lebensart bekannt zu machen. Was auch Reisebeschreiber, welche die Sitten fremder Länder nur nach dem Maßstabe der ihrigen beurtheilen, über diesen Zweig des Moskowischen Luxus sagen mögen, so bin ich doch der Meinung, daß er bisher für die Milderung der Sitten der Landleute wichtiger gewesen ist, als man vielleicht glaubt, und daß er, bei gehöriger Benutzung, zur weitern Ausbreitung der Cultur nicht wenig beitragen kann. Freilich müßten die Edelleute absichtlich zu diesem Zwecke mitwirken. Viele unter ihnen thun es mit einer Humanität, die ihrem Herzen Ehre macht; bei andern aber wird
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hierauf am wenigsten Rücksicht genommen. Benutzte man den Aufenthalt in Moskwa, um die Landleute mit einer besseren Lebensweise bekannt zu machen und sie allmählich an Reinlichkeit, Ordnung, mannichfaltige Thätigkeit, bessere Nahrungsmittel, bessere Wohnungen und andere Bequemlichkeiten des Lebens zu gewöhnen, so würde gewiß die Bevölkerung und der allgemeine Gesundheitszustand dadurch gewinnen, und einer mehr verbreiteten größeren Cultur vorgearbeitet werden; denn man muß zuerst eine mildere physische Lebensart einführen, ehe an bessere intellectuelle Bildung zu denken ist. Je weniger diese Zwecke erreicht werden, desto mehr leidet der Staat auf einer andern Seite durch diese Anhäufung von unzähligen Müßiggängern in der Hauptstadt, indem dadurch der ländlichen Industrie unnöthiger Weise die kräftigsten Arme entzogen werden. Alle Edelleute und andere wohlhabende Einwohner von Moskwa, haben bei ihren Wohnungen einen größern oder kleinern Hofraum und meistens einen Garten. Man kommt von der Straße durch einen Thorweg (der gewöhnlich an einer Seite des Hauses ist) auf diesen Hofraum, wo das Haus seinen
Wichelhausens Moskwa. [21]
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Eingang hat. Am Thorweg ist eine kleine Wohnung für den Thürhüter (Dwornik), der für die Sicherheit und Reinlichkeit des Hofes Sorge trägt und mancherlei andre zu seinem Posten passende kleine Geschäfte besorgt. Auf dem Hofe sieht man mehrere kleine Gebäude, die oft mit der Pracht des Hauptgebäudes seltsam contrastiren, und zu verschiedenen Zwecken, besonders zu Wohnungen für die Dienerschaft, bestimmt sind. Unter diesen Gebäuden befindet sich die Küche, die, der Feuersgefahr wegen, weislich vom Wohnhause getrennt ist; ferner die Badestube, der Eiskeller, der Stall, die Wagenremisen und mehrere zur Wohnung der Hofleute bestimmte Gebäude, worunter die sogenannte Schwarzstube (Isba) der gewöhnliche Aufenthalt des Gesindes ist. Die Wohnungen des Gesindes stehen selten mit ihrer Menge in Verhältniß, und oft wird in diesem Stücke besser für die Pferde gesorgt, als für die Menschen. Diese Einrichtung ist unverantwortlich. Wenigstens sollte man jenen in so vielen Hinsichten unglücklichen Leuten die Wohlthat einer reinen Atmosphäre in ihren Wohnungen, und besonders in Ihren Schlafstellen, nicht entziehen. Ich habe, als ich von der Bauart in Moskwa redete, schon
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Manches hierüber gesagt, und will jetzt noch Einiges hinzufügen, in der Hoffnung, daß ich dazu beitragen werde, eine in diesem Stücke so äußerst nothwendige Verbesserung zu veranlassen. Es ist unglaublich, wie viele Menschen jährlich das Opfer dieser unvernünftigen Einrichtung werden. Kann man sich etwas Schrecklicheres vorstellen, als in einem Zimmer von 24 bis 28 Fuß im Quadrat, und von 9 bis 10 Fuß Höhe, die Schlafstellen von 15, 20 und mehr Personen zu sehen, da, nach den Berechnungen der Physiker, für sechs Personen ein Zimmer von 20 Fuß im Quadrat und 10 Fuß Höhe erforderlich ist, um der Gesundheit nicht nachtheilig zu werden! Hierzu kommt noch, daß der Luft gewöhnlich jeder Zugang von außen sorgfältig versperrt wird, und daß in diesen Wohnungen nicht selten die äußerste Unreinlichkeit herrscht. Mitten in einem solchen Zimmer findet man zuweilen ein Loch in der Erde, in welches flüßiger Unrath geschüttet wird. In einer Ecke steht immer ein großer Backofen, worin Brot gebacken und Speisen gekocht werden. In der Nähe des Ofens befindet sich ein hölzernes Gerüst (Leschanka), welches zu Schlafstellen bestimmt ist, und auf welchem auch wohl nasse
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Wäsche getrocknet wird. Denkt man sich ein solches Zimmer, worin die größte Unsauberkeit herrscht und ein Haufe von funfzehn bis zwanzig Leibeignen --- Männer, Weiber und Kinder durch einander --- gelagert sind: so muß man sich wundern, wie diese Unglücklichen es darin aushalten können, da doch reine Luft eins von den nöthigsten Bedürfnissen der animalischen Oekonomie ist. Zuweilen bekam ich von Edelleuten den Antrag, gefährlich Kranke in einem solchen Zimmer zu besuchen. Wenn ich hinein trat, glaubte ich von der Hitze und der schlechten Luft ersticken zu müssen. Ein fast unerträglicher Geruch herrschte darin, wenn kurz vorher Speisen mit Hanföhl und Knoblauch zubereitet oder Brot gebacken worden war. Die Kranken lagen oft auf dem Ofen oder auf dem Ofengerüste, und ich mußte mit einer kleinen Leiter zu ihnen hinauf steigen. Im Winter hatten sie gewöhnlich einen schmutzigen Schafspelz an, und lagen mit dem Kopf auf ihrem Rock (Kaftan). Wenn ich ihren Puls befühlen wollte, und sie deshalb den Pelz öffneten, stieg von ihrer Haut immer ein Dampf auf, der nach Knoblauch roch. Doch sind auf vielen Höfen auch mehre sogenannte weiße Zimmer mit einem Kachelofen,
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worin die vornehmsten Bedlenten etwas besser, aber doch immer zu enge bei einander, wohnen, Ich muß bei dieser Gelegenheit noch anmerken, daß es gewiß eine schädliche Gewohnheit ist, auf dem Ofen oder dessen Gerüste zu schlafen, weil daselbst die Hitze zu groß wird, und das Wasserstoff Gas und andre schädliche Luftarten oder unreine Ausdünstungen sich anhäufen. Zum Beweise, in welchem Grade die Atmosphäre dieser Zimmer verdorben ist, dient der Umstand, daß darin Lichter, Lampen oder Späne von Kienholz (Luschinki), deren man sich ebenfalls bedient, nur einen sehr matten Schein geben. In einigen Häusern, wo die Zahl der Bedienten sehr groß ist, oder die Gebäude auf dem Hofe nicht hinreichen, schläft ein Theil des männlichen Gesindes auf dem Fußboden des Vorzimmers, und bedeckt sich mit den Kaftans, oder im Winter mit Schafspelzen. Zuweilen, wenn ich Morgens früh kranke Edelleute besuchte, fand ich den Boden der Vorzimmer mit schlafenden Bedienten bedeckt. Diese Art zu schlafen scheint mir aber deswegen nicht rathsam zu seyn, weil sich in den niedrigen Luftschichten der Zimmer das kohlensaure
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Gas anhäuft, welches zum Einathmen nicht tauglich ist. Ueberhaupt wäre zu wünschen, daß die Größe der Wohnungen immer mit der Zahl des Gesindes in Verhältniß stände, oder daß wenigstens dafür gesorgt würde, die Luft durch Ventilatoren zu erneuern, und daß man sie auf alle Art vor Verunreinigung in Acht nähme. Die Wände dieser Zimmer sind häufig ganz schwarz, welches vom Rauche der Oehllampen und des Kienholzes, doch auch von der schlechten Bauart der Oefen herrührt, die zuweilen nicht einmal Schornsteine haben *). Die Wohnungen der Edelleute und der vornehmen Moskowiter contrastiren, in Rücksicht der Reinheit und Temperatur der Luft, ganz mit den Wohnungen der Muschicks, und sind meistens auf eine musterhafte Art eingerichtet. Gewöhnlich bestehen sie aus einer
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*) Hierin sollten die Russen nicht die alten Griechen nachahmen, bei denen die Wohnungen nicht ganz vom Rauche frei waren, weswegen man solche Wohnungen schwarze Häuser nannte. Beim Homer (Iliad. II, 414.) kommt der Ausdruck μέλαϑρον άιϑαλόεν vor, welcher so viel als schwarze, russige Wohnung bedeutet.
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Folge sehr geräumiger Zimmer, von denen jedes zu besonderen Zwecken bestimmt ist. In alten Häusern ist zuerst ein Vorzimmer; aus diesem kommt man in einen Saal, der zu dem Speisezimmer führt. Aus dem Saale tritt man in die Visitenzimmer, an welche mehrere Cabinette und die Schlafzimmer stoßen. Das Hausgeräth ist, nach Verschiedenheit der Vermögensumstände, mehr oder minder prächtig, doch immer nach dem modernsten ausländischen Geschmack eingerichtet *). In den Häusern des Mittelstandes herrscht
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*) Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts bestand der ganze Hausrath der vornehmsten Moskowiter in einigen hölzernen Bänken. Tische und Betten waren so selten, daß selbst der Graf Carlile, welcher als Gesandter an den Zarischen Hof geschickt war und ein steinernes Gebäude in der Nähe des Kremls bewohnte, keine vorfand. M. s. des Grafen Carlile, Nahmens Sr.Königl. Majestät von Großbritannien abgelegte drei Gesandschaften an Alexium Michaelowitz, Czaren und Großfürsten in Moskau etc., Carln den Elften, König in Schweden etc. und Friedrich den Dritten, König in Dännemark, sambt einer curiosen Beschreibung des Landes Moscovien, ingleichen Lieflands und deren beiderseits Einwohner, aus dem Französischen übersetzt und auch in der Beschreibung hin und wieder vermehrt. Erfurt, 1701. S. 122.
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meistens weit mehr Pracht, als in Deutschland. Camingesimse von Marmor, Porphyr oder Granit, und darüber große Wandspiegel, krystallene Kronleuchter und Lampen, ausgelegte und geglättete Fußböden, prächtige Teppiche, Tische, Stühle, Commoden und Canapees von Mahagony-Holz, seidene Vorhänge u. s. w. sieht man bei ausländischen und Russischen Kaufleuten, bei Apothekern, Aerzten, Wundärzten, Fabrikanten und bemittelten ausländischen Handwerkern sehr häufig. In allen Häusern hängt im Vorzimmer ein Heiligenbild (Bog), vor welchem der Russe, wenn er hinein tritt, dreimal das Kreuz schlägt und drei tiefe Verbeugungen macht. In manchen Häusern hat jedes Zimmer ein solches Bild, welches bei Vornehmen oft mit Perlen und Edelsteinen geschmückt ist, und vor welchem kleine Wachslichter brennen, oder, bei minder Vermögenden, nur an Festtagen angezündet werden. Vormals entstanden dadurch viele Feuersbrünste; und noch jetzt ist dies zuweilen eine Veranlassung dazu. Die Art, die Wohnungen im Winter zu erwärmen und eine gleichmäßige Temperatur darin zu erhalten, ist merkwürdig, und verdient in andern Ländern nachgeahmt zu werden.
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329 Nirgends habe ich die Kälte weniger empfunden, als in Moskwa. Als ich gegen das Ende des Jahres 1793 Rußland verließ und durch Deutschland nach Italien reisete, konnte ich mich an die Deutschen Methoden, Wohnungen zu heitzen, nicht gewöhnen; und in Venedig, Verona und Padua, wo ich mich im Januar des Jahres 1794 aufhielt, hatte ich von der Kälte mehr zu leiden, als jemals in Rußland, während meines siebenjährigen Aufenthaltes daselbst. Nachher habe ich in Frankreich und der Schweiz mehrere Arten die Wohnungen zu erwärmen kennen gelernt; doch keine ließ sich mit der Moskowischen Methode, eine gleichmäßige Temperatur im Zimmer zu erhalten, vergleichen. --- Es ist zuverlässig eine falsche Meinung, daß man im Winter nach Italien und dem südlichen Frankreich reisen müsse, um den Wirkungen der Kälte zu entfliehen; denn in diesen südlichen Ländern herrscht alsdann öfters eine naßkalte, windige, veränderliche, in jeder Rücksicht unangenehme Witterung, und man trifft nur äußerst schlechte Vorkehrungen dagegen an *).
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*) In Venedig wohnte ich al Scudi di Francia, (unweit des ponte Rialto), einem der besten Gasthöfe in der Stadt. Der Fußboden meines Zimmers war Estrich; die Thür konnte nicht verschlossen werden; die Fenster hatten zum Theil zerbrochne Scheiben. Es war ungefähr 8 Grad Kälte nach dem Reaumürschen Thermometer. Der Sturmwind heulte fürchterlich; Regen und Schlossen drangen in‘s Zimmer. Ich saß, in meinen Pelz gehüllt, an einem kleinen Camin, wo einige Wurzein von hartem Holze (welche aus Istrien hergebracht werden) brannten, aber mehr Rauch als Wärmestoff verbreiteten. --- Ist dies das milde Italien? dachte ich, --- und wünschte, wenigstens für den Augenblick, wieder in meinem Moskowischen Zimmer zu seyn. --- Dies geschah am elften Januar 1794. Im Februar fand ich es in Florenz außerordentlich kalt, obgleich der Mandelbaum in voller Blüthe strand. In wenigen Häusern waren Camine. Frauenzimmer trugen kleine Henkeltöpfe voll glühender Kohlen am Arm, um sich die Hände zu erwärmen, die meisten Theils von Frostbeulen litten. --- In der Mitte des Märzmonaths waren in Rom noch sehr naßkalte und unangenehme Tage; nirgends aber gab es Camine, und noch viel weniger Oefen, -n denen man sich hätte erwärmen können.
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In Moskwa hingegen findet man zwar eine anhaltende und trockne Kälte, meistens bei heiterem Wetter, aber auch die zweckmäßigsten Einrichtungen aller Art, um sich davor zu schützen, so daß man die Größe der Kälte nur durch das Thermometer erfährt. So paradox dies auch scheinen mag, so hat doch die Erfahrung
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331 es mir bestätigt, und ich möchte jedem, der wegen einer gleichmäßigen Wärmetemperatur in fremde Länder reisen will, den Rath geben, im Winter nach Rußland und im Sommer nach Italien zu gehen, weil man in beiden Ländern bei allen Einrichtungen auf die am längsten darin herrschende Witterung gerechnet zu haben scheint. In den Wohnungen der vermögenden Moskowiter werden alle Zimmer geheitzt, selbst die Vorzimmer, worin sich die zur Aufwartung bestimmten Bedienten befinden. Dies kostet freilich etwas mehr Holz, als wenn nur einzelne Wohnzimmer geheitzt würden; aber es gewährt den Vortheil, daß die Wärme überall gleichmäßiger verbreitet ist, und daß der Strom der kalten Luft nicht bei jeder Eröffnung der Thüren merklich die Temperatur verändern kann. Meistens ist die Temperatur in den Wohnungen 12, 15 bis 18 Grade nach dem Reaumürschen Wärmemesser, und erhält sich ungefähr vier und zwanzig Stunden lang auf diesem Punkte, obgleich während der Zeit die Oefen nur Einmal geheitzt werden. In einigen Häusern dürfte die Wärme weder geringer noch größer seyn, ohne daß die Leibeignen Gefahr liefen, es auf eine empfindliche
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Art zu büßen. Um eine solche Temperatur zu erhalten, werden aber Vorkehrungen erfordert, die bei uns nicht so bekannt sind, als sie es zu seyn verdienen; und es scheint mir daher nicht überflüßig, sie hier etwas umständlich zu beschreiben. Zur Erhaltung dieser gleichmäßigen Temperatur trägt der Bau der Oefen das meiste bei. Ehemals waren in Rußland keine andere Oefen im Gebrauch, als die großen Backöfen, die man jetzt noch in den Schwarzstuben und den Wohnungen der Landleute sieht *). Doch schon im Anfange des vorigen Jahrhunderts hatte man Oefen von Backsteinen, die außerhalb der Zimmer geheitzet und weiß oder grau angestrichen wurden, wie man dergleichen noch in alten Moskowischen Gebäuden, nahmentlich in der sogenannten Starai Kammenoi Prikas, findet. Die Oefen mußten täglich mehrere Male geheißet werden,
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*) Buchau, der gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Moskwa war, sagt (Moscoviae ortus et progressus. Gubenae, 1679, 12. p. 240.): Omnia quae in tota Moscovia vidimus hypocausta; fornacibus destituuntur. Quum itaque furnos tantum ad coquendos cibos et panes extructos habeant, fumo tota opplentur.
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verschlangen viel Holz, und verbreiteten doch nicht eine gleichmäßige Wärme. Auch gegossene eiserne Oefen wurden hier und da gebraucht; sie geriethen aber wegen ihrer zwar starken und schnellen, doch nicht dauernden Wärme, bald in Vergessenheit. Nachher hatte man während einer ziemlich langen Zeit Oefen von glasurten Ziegelsteinen, welche zuerst aus Holland gekommen waren. Diese mußten des Tages mehrere Male geheitzet werden, um die gehörige Wärme zu geben; und dabei war dennoch eine große Ungleichheit in der Temperatur, wie das bei allen Oefen, welche die Hilze nicht lange behalten, unvermeidlich ist. Schon im Jahre 1740 hatte man in Moskwa sogenannte Circuliröfen, welche allmählich verbessert wurden und endlich ihre jetzige Vollkommenheit erhielten. Diese Oefen sind gewöhnlich sehr groß, und von dicken weiß glasurten Ziegelsteinen. Inwendig bringt man darin eine Menge, von dicken Ziegelsteinen gemachter, Zugröhren an. In diesen wird der Rauch so lange herumgeführt, bis die Wärme die Ziegelsteine durchdrungen hat; und erst dann geht er, von dem größten Theile des Wärmestoffes verlassen, zum Schornsteine hinaus. Im untersten Theile des Ofens haben
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die Röhren meistens eine horizontale, und im obersten eine perpendikulare Richtung. In diesen Zugröhren sucht man so viele Ziegelsteine anzubringen, als nur hineingehen, weil dadurch die Wärme desto länger bewahrt wird. Zuweilen legt man in das unterste Feuergewölbe auch Reihen von eisernen zwölfpfündigen Kugeln *), welche die Hitze verlängern und vermehren. Ist das Holz zu Kohlen ausgebrannt, so werden die Röhren im Zimmer durch zwei eiserne Deckel verschlossen. Diese Deckel, welche man in Moskwa Wjuschky nennt, steckt man durch besondere kleine Thüren in den Ofen, und sie verschließen daselbst die Zugröhren genau. Meistens verschließt man auch auf dem Dachboden des Hauses den Schornstein durch einen ähnlichen Deckel, wodurch die Wärme noch länger erhalten wird. Um auf die ersparendste und sicherste Art zu heitzen, kommt alles darauf an, den rechten Zeitpunkt zu treffen, wo das Holz hinlänglich verkohlt ist. Wartet man zu lange, so wird zu viel Wärmestoff verschwendet; und deckt man die Röhren
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*) Nach Vitruv‘s (de Architectura) Bericht, legten die alten Römer in die Oefen ihrer Bäder verschiedene Metalle, um dadurch die Hitze zu verstärken.
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zu früh, so hat man alle Üebel zu fürchten, die vom Kohlendampf entstehen. Gewöhnlich merkt man es an den Ausdünstungen, wenn das Verschließen zu früh geschehen ist; und dann läßt sich durch schleuniges Oeffnen der Röhren allen übeln Folgen vorbeugen. Doch ist nicht zu leugnen, daß aus dieser Ursache manche Unglücksfälle entstehen, wovon ich mehrere Beispiele erlebt habe. Die größte Vorsicht ist zumal dann zu empfehlen, wenn Kinder, Kranke, oder Personen, die den Gebrauch ihrer Vernunft nicht haben, im Zimmer sind. Besonders sollte man das Geschäft die Oefen zu heitzen, nie einem Bedienten anvertrauen, welcher der Trunkenheit ergeben ist, weil daraus die traurigsten Folgen entstehen können. Auch müssen nicht alte, mit Kalk, Fett oder auf andre Art beschmutzte, sondern ganz neue, ausgebackene Ziegelsteine zu den Circulir-Röhren genommen werden, weil sonst leicht Ausdünstungen enstehen, die bei Personen von schwachen Nerven Kopfweh und andre Beschwerden verursachen. Ein großer Vorzug dieser Oefen ist der, daß sie nie gefegt zu werden brauchen, und daß sie viel zur Reinigung der Luft in den Zimmern beitragen. Noch mehr kann man sie zu dem letztern,
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in Häusern, sowohl als in Hospitälern, geschickt machen, wenn in dem Raume des Feuerkastens zwei oder mehr Röhren von gegossenem Eisen angebracht werden, die an dem einen Ende mit der äußern freien Luft, und an dem andern mit den Zimmern in Verbindung stehen, aber dabei nach Gutbefinden durch einen Deckel geschlossen werden können. Die Röhren, welche man noch vervielfältigen könnte, tragen mehr zur Reinigung der Luft bei, als die von Herren Salmon in Nancy erfundenen Ofen-Ventilatoren, welche er Einsauger genannt hat *). In Rücksicht der Holzersparung sind diese Oefen von vorzüglichem Werth. Ein Zimmer von vier und zwanzig Fuß im Quadrat und elf Fuß Höhe erfordert, bei 8 oder 9 Grad Kälte nach Reaumur, vierzig bis acht und vierzig Russische Pfunde kernhaftes trockenes Birkenholz, um auf vier und zwanzig Stunden eine Wärme von 15° bis 12° zu erhalten. Obgleich in vier und zwanzig Stunden die Wärme abnimmt, so geschieht es doch so allmählich,
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*) Man findet davon eine genaue Beschreibung und Abbildung in Wedekinds Nachrichten über das Französische Kriegshospitalwesen, Leipz. 1797. S. 177.
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337 daß man es kaum bemerken kann; und am Morgen pflegt sie nie unter 12° zu seyn, wenn beim Einheitzen und Zudecken der Zugröhren kein Versehen gemacht worden ist *). Es versteht sich übrigens von selbst, daß, um diesen Zweck zu erreichen, die Wände der Zimmer, die Fußböden und die Decken in gutem Stande seyn müssen. Man pflegt in Moskwa überdies doppelte Fensterrahmen zu haben, die gewöhnlich in der Mitte des Octobers eingesetzet werden. Die Ritzen verstopft man mit Hanf, und überkleistert sie noch mit Papler. Die Rahmen müssen gut schließen und sechs Zoll von einander abstehen. Es ist nicht zu beschreiben, wie nützlich und angenehm diese Einrichtung ist. Man bewirkt dadurch, daß die Glasscheiben nie mit Eis befrieren, sondern auch bei der größten Kälte immer durchsichtig bleiben **). Diese vortreffliche und
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*) Ich habe verschiedene Modelle von solchen Oefen aus Moskwa mitgebracht, und bin erbötig, sie, gegen Erstattung der Kosten, einem jeden mitzutheilen, der zur allgemeinern Einführung dieser in so vielen Rücksichten vorzüglichen Oefen beitragen will.
**) Wer etwas Ausführliches über die Cautelen beim Russischen Ofenbau und über die dabei nöthigen Einrichtungen der Zimmer wissen will, der lese eine Abhandlung von Schrötern, im dritten Bande der Auswahl ökonomischer Abhandlungen.
Wichelhausens Moskwa. [22]
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ökonomische Art die Zimmer zu erwärmen, deren Erfindung man der Russischen Nation zu danken hat, sollte man überall nachahmen. Dadurch würden viele Krankheiten, die von schleunigem Wechsel der Temperatur in den Zimmern entstehen, verhütet werden. In Moskwa kannte ich mehrere Personen, die, wegen sehr reitzbarer Lungen, in Deutschland öfters Katarrhen unterworfen gewesen waren, in Moskwa aber äußerst selten davon befallen wurden; und dies schreibe ich einzig und allein der gleichmäßigen Temperatur der Wohnungen in Moskwa zu. Von dieser vortrefflichen Methode eine gleichmäßige Temperatur zu unterhalten, hangen großen Theils die vorzüglichen Fortschritte der Moskowiter in der Kunstgärtnerei ab. Diese gleichmäßige Temperatur der Zimmer macht es auch unnöthig, sich während der Nacht in dicke Federbetten zu legen, wie man es in andern Ländern fast nothwendig thun muß, wenn man dem Einflusse der strengen Kälte widerstehen will. In Moskwa ist es fast allgemein gebräuchlich, auf Matratzen zu schlafen, die mit Pferdehaaren ausgestopft und
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mit rothem Saffian überzogen sind. Zur Bedeckung pflegt man dünne mit Watten ausgefütterte Decken zu haben. Diese gesundere Art von Betten wäre, ohne die beschriebene Art zu heitzen, nicht anwendbar, zumal bei dem Moskowischen strengen Klima; es leuchtet daher ein, daß diese Russische Erfindung sehr mannichfaltige Vortheile gewährt. Ueberhaupt sind vielleicht in keinem Lande der Welt die vornehmeren Klassen mehr gegen die schnellen Abwechselungen der Luft-Temperatur geschützt, als in Rußland: denn, wenn sie zum Besuch ausfahren, so wird die Kutsche ganz nahe an die Hausthür geführt; sie steigen, in Pelze gehüllt, hinein; und beim Aussteigen treten sie sogleich wieder in ein mäßig gewärmtes Haus, lassen die Pelze im Vorzimmer, und sind also, bei einiger Vorsicht, fast keinem Hauche der kalten Luft ausgesetzt gewesen. Die Ecken der Kutschenfenster werden sogar mit Pelz gefüttert, und in den Kutschen hat man Fußsäcke. So vorzüglich, im Ganzen genommen, diese Anstalten, den Einflüssen des strengen Klima‘s auszuweichen, auch sind, so haben sie doch, bei Mißbrauch, ihre Nachtheile. Manche Personen, besonders vom schönen Geschlechte
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verzärteln sich dadurch, und entwöhnen sich so sehr von der freien Luft, daß jeder kalte Hauch ihnen Erkältungen zuzieht. Solche Personen sind den Pflanzen gleich, die in elneim Treibhause gezogen werden, und bei schneller Berührung der kalten freien Luft bald verwelken. Andre, die sich mit gehöriger Vorsicht häufig dem roborirenden Einflusse der Winterluft aussetzen, verspüren nie üble Folgen davon. Es schelnt also, daß die Moskowische Methode sich im Winter gegen die Einflüsese der strengen Witterung zu schützen, mehr geeignet ist, die Folgen zu verhüten, welche der unmäßige Aufenthalt in der Stubenluft auch in andern Ländern hervorbringt, weil durch die unvollkommneren Erwärmungsmethoden manche verzärtelte Individuen gegen ihren Willen den Abwechselungen der Luftemperatur ausgesetzt werden. Man sieht hieraus, daß die Moskowischen vortrefflichen Anstalten zur Unterhaltung einer gleichmäßigen Wärme in den Wohnungen auch --- wie alles in der Welt, selbst das Beste nicht ausgenommen --- gemißbraucht werden können; dies hebt aber ihren entschiedenen Werth bei gehöriger Benutzung nicht auf.
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XIV.
Kleidertrachten, Toilette der Damen.
Kurze historische Notizen über die Kleidertrachten in Moskwa --- Herrschaft der Mode --- Kostbare Trachten --- Perlen und Edelsteine --- Pelze --- Schädliche ausländische Kleidertrachten --- Russische Nationaltrachten --- Vorzüge derselben --- Schminke --- Toilettenmahler --- Gefährliche Toilettenartikel.
Seit uralten Zeiten haben die Russen eine Nationaltracht, die wahrscheinlich morgenländischen Ursprunges ist. Diese Tracht ist schön, bequem und der Gesundheit zuträglich; man muß es daher bedauern, daß die vornehmen Stände ihr ungetreu geworden, und in die Fesseln elender Modesklaverei gerathen sind. Schwer hat es indeß gehalten, sie dahin zu bringen; denn die Moskowiter haßten vormals alle Neuerungen in diesem Stücke, und besonders sah die Geistlichkeit dieselben als verdammungswürdige Ketzereien an. Noch im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts wurden fremde Kleidertrachten so sehr verabscheuet,
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daß neuangekommene Ausländer, die sich darin öffentlich sehen ließen, vom Pöbel ungefähr eben die Beleidigungen zu fürchten hatten, denen Fremde, welche sich nach Deutschem oder Französischem Geschmack gekleidet haben, leider, noch jetzt in England ausgesetzt sind. Die Ausländer waren daher gezwungen, die Russische Nationalkleidung zu tragen, bis der Aberglaube dazu beitrug, die Moskowiter allmählich an fremde Trachten zu gewöhnen. Meiners erzählt diese unglückliche Begebenheit (im a. B. S. 232.), nach dem Olearius, folgendermaßen: „Die Freiheit sich Russisch kleiden zu dürfen, verloren die Ausländer in Moskwa kurz vor der Ankunft des Olearius. Während einer feierlichen Prozession, theilte der Patriarch dem ganzen Volke den Segen aus. Das Volk neigte sich, da es den Segen empfing, tief zur Erde, und bekreuzte sich nach der Väter Weise. Die Ausländer, die unter den Russen umher standen, thaten weder das Eine noch das Andere. Dieser Mangel an Ehrerbietung brachte den heiligen Vater so sehr auf, daß er allen Ausländern bei harter Strafe untersagen ließ, sich fernerhin nach Russischer Art zu kleiden, damit er nie wieder in Gefahr
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komme, seinen kräftigen Segen an Unwürdige auszuspenden. Dies Verbot brachte die lächerlichsten Verlegenheiten und Scenen hervor. Die Ausländer fanden nehmlich in Moskwa keine Schneider, welche einem Jeden nach der Mode seines Vaterlandes neue Kleider hätten machen können. Sie waren daher gezwungen, entweder die alten Kleider, in welchen sie nach Rußland gekommen waren; oder die noch älteren Kleider, welche die Russen zu der Väter und Großväter Zeiten in Liefland erbeutet, und bis dahin als Alterthümer aufbewahret hatten, hervorzuziehen, und in diesen, Theils abgetragenen, Theils, altmodigen Kleidern, selbst am Hofe zu erscheinen: welches natürlich das Gelächter:unter den Fremdlingen selbst veranlaßte.“ Durch den häufigen Anblick fremder Trachten, wurden die Moskowiter allmählich daran gewöhnt. Deswegen fand Peter I. zu Anfange des vorigen Jahrhunderts weniger Schwierigfeiten, als er ausländische Kleidertrachten einführen wollte. Indeß konnte er es glücklicher Weise hierin zu keiner allgemeinen Reform bringen, so daß der größte Theil der Russen noch die alte vernünftige Tracht seiner Vorfahren beibehalten hat, Unter den folgenden
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Regierungen herrschte in diesem Stücke die größte Toleranz, bis Paul. I., auf Veranlassung der Zeitumstände, hierin einige Einschränkungen machte, die aber unter der jetzigen Regierung wieder aufgehoben worden sind. Bei meiner Anwesenheit in Moskwa befolgten die vornehmen Stände hierin den jederzeit herrschenden Modegeschmack, und zwar mit einer Eleganz und einem Anstande, worin sie vielleicht nur von den Parisern übertroffen werden. Die Stoffe zu den Kleidern sind gewöhnlich von vorzüglicher Güte, und kommen größten Theils aus Frankreich und England; doch werden auch viele, und vortreffliche, seidne Zeuge getragen, welche in Moskwa fabricirt sind. Frauenzimmer vom Mittelstande und selbst Frauen und Töchter von Handwerkern tragen sich verhältnißmäßig viel kostbarer und eleganter, als in Deutschland und vielen ändern Europäischen Ländern. Vielleicht sieht man nirgends in der Welt so vieles kostbare Geschmeide, als hier. Um sich davon zu überzeugen, muß man an einem feierlichen Tage in die Versammlungen des Adels kommen. So sah ich z. B. in dem adeligen Club, als eben der Fürst Potiemkin anwesend war, über
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dreitausend Personen mit ihren Edelsteinen, deren Glanz in dem von mehreren Tausend Kerzen erhellten prächtigen Saal einen unbeschreiblichen Effekt machte. Sehr gewöhnlich tragen die Damen an jedem Finger einen großen brillantenen Ring, und Armbänder, Halsbänder, Ohrgehänge und anderes Geschmeide von den prächtigsten Edelsteinen und Perlen. Es ist nichts Seltnes, Sterne, Achselbänder, Ordenskreuze und Hutschleifen von den schönsten Brillanten zu sehen; einige große Herren hatten auch zu Rockknöpfen große Solltärsteine, deren Werth auf mehr als eine Million geschätzt wurde. Nicht minder wird mit kostbaren Pelzwerken großer Luxus getrieben. Ich habe Pelzröcke gesehen, die mit schwarzen Fuchsfellen gefüttert und garnirt waren und über 20,000. Rübel gekostet hatten. Zobelpelze von 1000 bis 5000 Rubeln sind nichts Seltnes. Ein gewöhnlicher Zobelpelz kostet doch immer ein Paar hundert Rubel, und auch ein Pelzfutter von feinen grauen Kalmuckischen Schafsfellen wird mit hundert, bis zweihundert und funfzig Rubeln bezahlt. Am gewöhnlichsten werden Amerikanische Pelzsorten getragen, vorzüglich Bärenfelle, Zobel, und der Abfall davon, den man
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Schuppen nennt. Jeder Handwerksmann hat einen Pelz, der mit Seide oder einem andern kostbaren Zeuge überzogen ist und wenigstens 50 bis 60 Rubel kostet. Auch das geringste leibeigne Dienstmädchen geht im Winter nicht aus dem Hause, ohne eine elegante seidne, sogenannte Saloppe, mit weißen Hasenfellen gefüttert. Wildschuren von gemeinen Wolfsfellen, dergleichen in Deutschland die Honoratioren zuweilen tragen, überläßt man in Moskwa bloß den Bedienten. Ueberhaupt trägt sich der Mittel- und der Handwerkerstand viel kostbarer, als es in andern Ländern gewöhnlich ist. Um dem verderblichen Kleiderluxus, der bei den Vornehmen einen alle Vorstellung übersteigenden Grad erreicht hat, Einhalt zu thun, und vorzüglich, um die Staatsbeamten, die oft bloß von ihrem Gehalte leben müssen, zu erleichtern, hat die Kaiserin Katharina Alexiewna, eine Gouvernements-Uniform angeordnet, die allen Jahreszeiten angemessen ist. Moskowische Incroyables oder Elegans sind sehr scrupulös in der Wahl der Kleider für die verschiedenen Jahreszeiten. Deswegen wird manches Kleid nur ein Paarmal getragen, weil vielleicht ein Jahr später die gebietende
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Modegöttin andere Gesetze für die Jahrszeit, worin das Kleid passen würde, gegeben hat *). In Rücksicht auf die Form der Kleider unterwirft man sich meistens den Französischen Modegesetzen. Diesen zufolge wird der Körper eingezwängt, zusammengeschnürt, und in dem freien Gebrauche der Glieder auf mancherlei Weise gehindert, bloß weil es der Wille einiger den Ton angebenden Pariser und Pariserinnen aus den Hefen des Pöbels ist *). Durch den Druck der unter der Haut liegenden großen Blutadern entstehen Congestionen aller Art, welche die Harmonie des Kreislaufes stören und zu mannichfaltigen Krankheiten
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*) Um sich einen Begriff davon zu machen, wie weit die Moskowischen Incroyables es in der edlen Toilettenwissenschaft gebracht haben, lese man ihren eignen Landsmann, den Fürsten Cantemir (Satyres de Monsieur le Prince Cantemir, avec l‘histoire de sa vie. London, 1749. 8. p. 204 - 210.), der ihnen mit feiner Persiffktage manche derbe Wahrheiten sagt.
**) Die meisten neuen Moden werden in Paris von den Freudenmädchen des ehemaligen Palais-Royal und von ausschweifenden liederlichen jungen Leuten in Gang gebracht.
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disporiren *). Die widernatürlich eingezwängten Muskeln verlieren ihre Formen und Bewegungskräfte, einzelne Gliedmaßen werden auf mancherlei Weise verkrüppelt, und es rühren von der knechtischen Nachahmung der Französischen Mode-Alfanzereien noch andere schädliche Folgen her. Die Trachten der Frauenzimmer sind viel natürlicher und der Gesundheit angemessener geworden, seitdem das alte Griechische Costüme nachgeahmt und besonders die Mieder, Pochen, culs de Paris, und wie die lächerlichen Rüstzeuge der Verkrüppelung weiter heißen mögen, durch natürlichere, den Körper nicht verunstaltende Kleidungsstüe ersetzt worden sind. --- Bei den Muschicks trägt das männliche Geschlecht Hemden von blauer, rother oder weißer Farbe, welche öfters ausgenähete oder
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*) Ein junges Frauenzimmer consultirte mich wegen beständiger Kopfschmerzen und häufigen Nasenblutens. Sie hatte bereits viele Arzneien vergebens dagegen gebraucht, als ich von ihr erfuhr, daß sie die Gewohnheit habe, ihre Strumpfbänder sehr stark zusammen zu schnüren und ihre Füße in sehr enge Schuhe zu zwängen. Ich verbot ihr beides; und nach einigen Monathen schrieb sie mir von ihren Gütern, daß Nasenbluten und Kopfweh bei ihr verschwunden und nie wiedergekommen wären.
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gestickte Halskragen haben. Sie sind kurz, und hangen über die Beinkleider herüber, welche aus Linnen bestehen. Während des Sommers geht der Muschick, und besonders der Landmann, bloß in einem solchen Hemde, oder zieht auch wohl zwei über einander. Darüber trägt er einen weiten, bis an die Waden reichenden Rock (Kaftan), der vorn über einander geschlagen wird, und häufig in der Gegend der Brust ausgenähet ist. Dieser Rock wird durch kleine Knöpfe und einen langen Gurt (Kuschak) von wollenem Zeuge befestiget. Die Farben des Rockes sind gewöhnlich grau, blau, und am häufigsten braun. Das Zeug dazu besteht aus grobem Tuche, Leder oder Leinewand. Die Beine werden mit Lappen (Onutschi) umwunden, wodurch sie ein unförmliches Ansehn bekommen, und die Füße mit weiten Schuhen von Lindenbast (Lapti) bekleidet. Doch tragen die Muschicks, welche in der Stadt wohnen, häufig auch grobe weite lederne Schuhe und dergleichen weite Stiefeln, an welchen hinten meistens eine Art von messingenen Sporen ist. Die Hände werden gegen die Kälte mit doppelten Handschuhen geschützt, wovon die untersten von Wolle, und die obersten von Leder sind.
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Letztere haben keine besondere Fingerabtheilungen, gehen oft hoch herauf, und sind auf der oberen Fläche mit Nätherei oder eingepreßtem Goldschaum verziert. --- Im Winter tragen sie unter dem Kaftan, oder auch allein, einen Schafspelz (Schuba), welcher meistens von vielem Schmutz ein sehr widerliches Ansehen bekommt. Ihre Kopfhaare sind rund abgeschnitten, und hangen, so wie der Bart, natürlich herunter. Der Hals bleibt unbedeckt und bietet, eben so wie das Gesicht, jeder Witterung Trotz. Den Kopf bedecken sie im Winter mit einer Pelzmütze, die fast das Ansehn der vormaligen Phrygischen Hauben hat, im Sommer aber mit einem runden Filzhut, um den gewöhnlich ein seidenes Band gebunden ist. Im Hute tragen sie einen Lappen, anstatt des Taschentuches. Russische Kaufleute und andere Männer aus dem Mittelstande, die sich nach dem Russischen Costüme kleiden, haben längere Röcke von feinerem Tuche, Gürtel von Seide, Strümpfe, Schuhe, oder Stiefeln, und alles verhältnißmäßig besser und kostbarer. Sonderbar ist es, daß der Russe seinen Rock nicht anders anzieht als so, daß er ihn über den Kopf
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hält und beide Arme zugleich in die Aermel steckt. Die gemeinen Russinnen kleiden sich sehr einfach. Am Leibe tragen sie ein langes weißes Hemde; und darüber ein langes bis an die Füße reichendes Oberkleid (Saraphan) von gefärbter Leinewand, oder baumwollenem Zeuge. Im Winter hüllen sie sich in länge Schafspelze mit engen Aermeln. Auch tragen Einige Röcke und eine Art von Oberkleid (Duscha greika) ohne Aermel, welche durch ein in viele Falten gelegtes Hemde ersetzt werden. Auf den Kopf wird ein Stück Pappe gelegt, und ein seidenes Tuch sehr zierlich herumgebunden, welches sehr gut kleidet. Bauermädchen tragen ihre Haare auch in Flechten. An den Füßen haben sie Pantoffeln, oder sie gehen baarfuß. Wohlhabende Frauen aus dem Mittelstande suchen sich durch prächtige Stoffe, Geschmeide von Gold und Perlen, Tressen, und andre Verzierungen auszuzeichnen. Auf dem Kopfe tragen sie ganz kleine gestickte oder von Gold- und Silberstoff verfertigte Häubchen, von denen ein zierliches Gewebe von aufgereiheten echten Perlen bis auf die Stirn herunter hängt. Ueberdies schmücken sie sich mit allerlei Edelgesteinen, goldenen Ketten, kostbaren Pelzen
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und Muffen von Sibirischen Zobelfellen, Beide Geschlechter tragen ein Kreuz, welches ihnen bei der Taufe gegeben wird und an einem Bande von dem Halse auf den bloßen Leib herunter hängt. Die Kleider der gemeinen Russen und Russinnen sind ihrer natürlichen Bestimmung angemessener und der Gesundheit zuträglicher, als die Kleider der Vornehmen; es wäre daher zu wünschen, daß sie nie von schädlicheren verdrängt würden. Das Auflegen der Schminke ist bei den Russinnen sehr in Gebrauch. Weiber aus dem Mittelstande bemahlen sich das Gesicht auf eine höchst seltsame Weise. Auf einen weißen Grund werden rundliche, abstechende rothe Flecken aufgetragen, die vollkommen das Ansehn von Nürnberger Puppen geben *).
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*) Im siebzehnten Jahrhundert muß es mit dem Schminken noch ärger gewesen seyn; denn der Beschreiber der Gesandtschaftsreisen des Grafen Carlile sagt (im a. B. S. 640): „Es ist auch ihre Schminke so plumb und grob zugerichtet, daß es nicht anders scheinet, als wenn man mit einer Handvoll Mehl über das Gesicht gefahren und mit einem groben Pinsel die Backe roth gefärbet hätte.“
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Hierzu kommt noch, daß sie sich die Zähne mit einer Beitze schwarz färben, wodurch das abentheuerliche Ansehen noch vermehrt wird. Vornehme bepinseln sich mit mehr Geschmack, aber dennoch oft sehr auffallend. Einige belegen auch die Brüste und die Vorderarme mit Schminken, und färben sich die Haare der Scheitel und der Augenbraunen. Ich kannte eine vornehme Fürstin, die sogar einen eignen Toilettenmahler besoldete, der besonders bläuliche Adern auf den Schläfen u. s. w. künstlich anbringen mußte. Eben dieselbe schlief nie anders als mit einer Maske, um dadurch Zartheit der Haut zu erzwingen. Obgleich die Gewohnheit des Schminkens wegen des Gebrauchs der Dampfbäder in Rußland weniger schadet, als in andern Ländern, wo das öftere Baden nicht gewöhnlich -ist, so sind ihre nachtheiligen Wirkungen doch nicht zu verkennen. Diese Nothhülfe ist, nach meiner Meinung, allenfalls bei Frauenzimmern zu entschuldigen, welche von der Natur verwahrloset sind, oder deren Reitze durch die Gewalt der Zeit allmählich verwelken. Aber wenn junge Frauenzimmer mit jedem Zauber der Schönheit und Jugend, bloß der elenden Mode zu gefallen, sich das Gesicht und andere Theile
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des Körpers mit Schönheit zerstörenden Schmierereien entstellen, so verräth das Mangel an allem wahren Geschmack, und sträflichen Undank gegen die gütige Natur. Doch diese rächt sich gewöhnlich an solchen Frevlerinnen, und nimmt ihnen früh die Blüthe der Schönheit, deren Werth sie nicht zu schätzen wußten. Das Beschmieren mit Schminkmitteln stört die Ausdünstung der Haut, erzeugt Stockungen darin, nimmt derselben ihre sanfte Zartheit, und macht sie schrumpfig. Oft sind die Folgen noch gefährlicher, wenn dazu Blei und Quecksilberkalke (Oxides) genommen werden, wodurch triefende Augen und mancherlei Nervenkrankheiten, besonders Lähmungen an den Gehör- und Augennerven, zuweilen auch sogar Auszehrungen, entstehen. Der mäßige Gebrauch des Carmins und der rothen Schminkpapiere, die man über Kiachta aus China erhält, und die ich häufig auf den Toiletten Moskowischer Schönen fand, ingleichen der Saft der rothen Beten (dessen sich die gemeinen Russinnen bedienen) sind unschuldiger als Schminkmittel die aus Zinnober bestehen, und dürfen Schönen von blasser Gesichtsfarbe wohl nicht gänzlich untersagt werden. Es wäre zur Erhaltung der Schönheit
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und Gesundheit bei den Moskowiterinnen zu wünschen, daß die Polizei die Butiken der Französischen Modehändler und Parfumeurs ihrer Aufmerksamkeit würdigte, und daraus alle verdächtige Schminkpräparate und andre gefährliche Toilettenartikel, z. B. sogenannte Schönheitswasser, vinaigres de virginité, und andre noch schlimmere Dinge, die von dem äußersten Sittenverderbniß dieser leichtsinnigen Menschen zeugen, verbannen liesse.
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XV.
Leibesübungen, Fuhrwerke, Reisen.
Hang zur Unthätigkeit --- Lebensweise mancher Damen in dieser Hinsicht --- In Moskwa geht man wenig zu Fuße --- Nachtheilige Folgen von der Vernächlässigung der Leibesbewegungen --- Menge von Fuhrwerken und Pferden --- Behandlung der Pferde --- Pferdegeschirr --- Postzüge --- Droschka --- Schlitten --- Fiacres --- Harttraber --- Grausamkeit gegen Pferde --- Kibitka --- Vorzüge dieses Fuhrwerkes --- Wirthshäuser ohne Betten --- Schnelles Reisen --- Barbareien einiger Großen in dieser Hinsicht.
In Hinsicht auf Leibesübungen und Ruhe haben die Einwohner von Moskwa, wie in so vielen andern Stücken, größten Theils den Geschmack der Orientalischen Völker. Wenn der gemeine Muschick keine bestimmte Beschäftigung hat, so liegt er gern auf dem Ofen, oder sonst irgendwo, in unthätiger Ruhe. Zu welcher Stunde des Tages man in eine Schwarzstube kommen mag: immer findet man darin einige Leute, die ausruhen; und oft sieht man weiter nichts als ihre Beine, die von
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dem Ofengestelle (Leschanka) herunter hangen. Wenn ich bei meinen Krankenbesuchen aus der Kutsche stieg, legten sich gleich nachher Kutscher und Vorreiter irgendwo hin, und öfters mußte ich sie beim Einsteigen erst wieder munter machen. Auch die vornehmen Stände haben großen Hang zu Unthätigkeit und weichlicher Ruhe. Viele Damen, die nach dem sogenannten großen Ton leben, schlafen (oder liegen wenigstens im Bette) bis 10, ja bis 11 Uhr Morgens, bringen ein Paar Stunden an ihrem Putztische zu, sitzen vielleicht von zwei bis halb vier Uhr an der Tafel, halten hierauf Mittagsruhe, setzen sich gegen fünf Uhr an den Theetisch, und spielen bald nachher bis neun Uhr Karten. Während des Spiels wird Punsch getrunken, und nach dem Abendessen auf einem weichen Divan eine Stunde verplaudert, oder den faden Späßen des Hausnarren (Durak) oder der Hausnärrin (Dura) zugehört. Nach einem solchen mühselig verlebten Tage ist die Ruhe willkommen, und deswegen eilt man zu Bette, um sich in den Armen des Schlafes zu erholen. Diesen gewöhnlichen Zirkel von Beschäftigungen unterbrechen die Damen nicht anders, als wenn sie
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Visiten außer dem Hause machen, und in‘s Schauspiel oder zu einer andern Lustbarkeit fahren. Dann werden sie aber in einer mit elastischen Polstern versehenen und in Federn hangenden Kutsche so sanft fort bewegt, daß ein solches Fahren nicht für eine Leibesübung gelten kann. Um Geschäfte der Haushaltung bekümmern sie sich fast gar nicht. Nie thun Damen von diesem Schlage einen Schritt in die Küche, was doch selbst die vornehmsten in andern Ländern zu thun pflegen, und wodurch sie einige körperliche Bewegung haben. Ueberhaupt vernachlässigen die meisten vornehmen Damen in Moskwa die Geschäfte der Haushaltung fast gänzlich, und manche aus dem Mittelstande ahmen ihnen hierin so viel nach, als es ihre verschiedenen Verhältnisse nur immer erlauben *). Ich habe mehrere vornehme
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*) Eine Deutsche Schusterfrau war im Begriff eine ihrer Töchter zu verheirathen. Der Bräutigam, ein erst vor Kurzem aus Deutschland angekommener Handwerker, erkundigte sich bei der Mutter, ob seine künftige Gattin einige Erfahrung in Küchengeschäften hätte. Die Mutter gab zur Antwort: „ich werde doch meine Tochter nicht so gut erzogen haben, um eine Köchin aus ihr machen zu lassen!“ --- Glücklicher Weise ist eine solche lächerliche Großthuerei bei den Ausländerinnen nicht allgemein; ich habe unter ihnen mehrere sehr liebenswürdige gekannt, die zugleich recht gute Wirthinnen waren.
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Damen gekannt, die vielleicht in zehn Jahren nicht eine Stunde zu Fuß gegangen waren, und auch sonst keine Leibesübung gehabt hatten, ausgenommen beim Tanze oder bei andern Ergetzlichkeiten. Auch die meisten Männer und Jünglinge von vornehmen Ständen lieben die Leibesübungen nicht sehr. Reiten, Fechten und andere mit Bewegung verbundene Künste, sind überhaupt weniger nach ihrem Geschmack, als solche, bei denen man auf weichen Polstern sitzen kann. Am meisten lieben sie noch die Jagd und das Billard, welches letztere daher fast in allen großen Häusern zu finden ist. Ueberhaupt wird in Moskwa weniger zu Fuß gegangen, als in irgend einer andern Europäischen Stadt, wozu wohl der ungeheure Umfang das meiste beiträgt. Jeder, der Geschäfte außer dem Hause hat, ist fast gezwungen, Kutsche und Pferde zu halten, oder wenigstens im Winter einen Schlitten oder ein andres im Lande gebräuchliches Fuhrwerk zu seiner Disposition zu haben. Handwerker gehen
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selten zu Fuße, und selbst den Bedienten gibt man, wenn sie weite Wege zu machen haben; etwas Geld, daß sie sich ein Fuhrwerk miethen können. Denn sollte ein Bedienter z. B. von dem äußersten Ende der Deutschen Vorstadt nach dem sogenannten Jungfrauenfelde (Dewitschepole) gehen, so würde er fast zwei Deutsche Meilen zurückzulegen haben, und also zu dem Hin- und Hergehen, mit dem doch wohl nöthigen Ausruhen, wenigstens sieben bis acht Stunden gebrauchen; dies würde aber in den Wintermonathen fast den ganzen Tag wegnehmen. Fuhrwerke sind also in Moskwa unentbehrlich. Aber die vornehmen und mittleren Stände werden dadurch so verwöhnt, daß viele Personen aus denselben allmählich den Gebrauch ihrer Füße beinahe zu verlernen scheinen, oder wenigstens zu etwas anhaltenden Spaziergängen untüchtig werden. Zu gehen, halten rechtliche Leute auch beinahe für eine Schande; daher läßt man anspannen, wenn man auch nur vierzig Schritte weit vom Hause einen Besuch zu machen hat. In der That würde man in vielen Häusern auch. Gefahr laufen, vom Thorhüter (Dwornik) abgewiesen zu werden, wenn man zu Fuße käme.
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Würden nicht im Sommer auf dem Lande die Beine etwas mehr geübt, und hätte man nicht einige mit Bewegungen verbundne Ergetzlichkeiten, so müßten die Folgen dieser Verwöhnung noch viel nachtheiliger seyn, als sie es wirklich sind. Ich halte diesen Mangel an hinreichender Bewegung des Körpers, besonders an Bewegung in freier Luft, für eine von den Hauptursachen der vielen asthenischen Krankheiten, welche unter den vornehmen Klassen so häufig sind, nahmentlich der Nerven- und Gichtbeschwerden. Ohne hinlängliche Thätigkeit der Muskelkräfte verlieren die Organe allmählich ihren Ton; das harmonische Verhältniß zwischen der Ernährung und den Excretionen wird aufgehoben, und daher entstehen Stockungen in den Säften, Verhärtungen in den Drüsen, und andre Unordnungen, welche nach und nach eine Menge asthenischer Krankheitsformen herbeiführen. --- --- In Moskwa ist die Menge der Fuhrwerke und Pferde ungeheuer groß; ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich, nach einem ungefähren Ueberschlage, die Kutschen auf 25,000, und die Pferde auf 50,000 rechne. Jeder nur etwas bemittelte Edelmann hat
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auf seinem Hofe Wagenremisen (Serai) mit mehreren Kutschen und andern Fuhrwerken, und einen Stall mit Pferden. Indeß gibt es unter ihnen, besonders aber unter den Ausländern auch Wohlhabende, welche Miethspferde den eignen vorziehen, und zwar oft aus der Ursache, weil es schwer ist, einen Kutscher zu finden, der die Pferde gehörig verpflegt. So geschickt der Muschick im Tummeln derselben ist, und so meisterhaft er zu fahren versteht: so wenig bekümmert er sich doch um die Erhaltung der Pferde, die ihm anvertrauet sind. Eine solche --- fast möchte ich sagen: zärtliche --- Sorgfalt, wie der Bauer und der herrschaftliche Kutscher in Deutschland für ihre Pferde haben, ist in Rußland eine Seltenheit. Ueberhaupt werden diese so nützlichen Thiere daselbst eben nicht musterhaft behandelt. Auch dauert in Moskwa ein Pferd meistens nur fünf bis sechs Jahre aus, da es sich in Deutschland, unter gleichen Verhältnissen, funfzehn und mehrere Jahre erhalten würde. Dieses Verfahren der Muschicks gegen solche arme Thiere hängt zwar, wie so vieles andre, mit dem Umstande zusammen, daß sie kein Eigenthum besitzen und folglich nichts mit Lust und Liebe thun; es verräth aber, wenn ich nicht
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sehr irre, auch eine gewisse Härte und Wildheit des Gemüths: denn Edelmuth und sanfterer Charakter eines Volkes zeigte sich von jeher auch in der Behandlung der Hausthlere *). Bei den meisten Pferden in Moskwa sieht man auf den ersten Blick Vernachlässigung gehöriger Pflege. An Fütter läßt man es ihnen zwar nicht fehlen, und sie bekommen weit mehr Hafer, als in Deutschland, aber in größeren Zwischenräumen. Deswegen haben sie wohl auf einzelnen Reisen mehr Ausdauer, als im Allgemeinen. In der Stadt spannt man sie Paar bei Paar vor einander, und sieht dabei gewöhnlich nicht so sehr auf Symmetrie, als es in andern Ländern geschieht. Zwar gibt es einige vornehme Herren, die mit stolzen Zügen der schönsten ausländischen prächtig aufgeschirrten Pferde prunken; meistens aber wird auf
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*) So macht es z. B. dem milden und biedern Charakter der Deutschen große Ehre, daß sie, wie es scheint, selbst bei fremden Nationen in dem Rufe stehen, sich gegen die Thiere menschlicher zu betragen, als viele Andre. --- Dies war vermuthlich auch mit die Ursache, warum im Revolutions-Kriege die Französischen Machthaber vorzüglich Elsasser und Lothringer zu Cavalleristen wählten.
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Uebereinstimmung dabei nicht Rücksicht genommen: man sieht Pferde von verschiedener Größe und von allen Farben zusammengepaart, und sie sind mit Stricken, anstatt der sonst gebräuchlichen Rieme, angeschirrt *). Wenn man sich einen Kutscher in einem meistens sehr schmutzigen Schafspelz, mit seinem langen bis an den Gürtel reichenden Bart, und einen Knaben von acht bis zwölf Jahren als Vorreiter, einen Sack mit Heu unter dem Kutschersitz, und einige hintenauf stehende, mitunter ziemlich unordentlich gekleidete Bedienten, dabet den Contrast einer eleganten modischen Kutsche und der darin sitzenden nach dem neuesten Geschmack gekleideten Personen hinzu denkt: so hat man einen Begriff von den meisten Equipagen, die in den langen Straßen von Moskwa, gleichsam wie im Fluge, unter fast beständigem Schreien des Vorreiters, ohne Unterlaß hin und her rollen. Außerdem wird im Sommer sehr häufig ein Fuhrwerk gebraucht, welches in der Landessprache Droschka heißt. Es hat einige
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*) Der Kaiser Paul Petrowitsch suchte durch einen Ukas dies allerdings unanständige Anschirren der Pferde mit Stricken abzuschaffen, und dagegen die Deutsche Anspannungsart einzuführen.
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ein Aehnlichkeit mit dem in der Schweiz, besonders im Waadtlande, üblichen char à banc. Zuweilen sind auf beiden Seiten Sitze angebracht; meistens aber besteht es nur aus einem bepolsterten Bret, worauf man gleichsam reitend sitzet. Hat das letztere keine Federn, so muß man gut balanciren können, um beim schnellen Fahren nicht herunter zu fallen. Dies Fuhrwerf wird gewöhnlich nur mit Einem rasch laufenden Pferde bespannt. Im Winter fährt man meistens in Schlitten, oder man setzet auch wohl die Kutschen auf Schleifen. Die gewöhnlichen kleinen Schlitten, welche, wie Fiacres, zur Miethe auf allen Straßen stehen, haben eine ganz originelle Bauart, und gar keine Aehnlichkeit mit denen, die in Deutschland üblich sind. Es können im höchsten Nothfalle zwei Personen darin sitzen; der Kutscher balancirt auf einem ganz kleinen Bret, und läßt die Beine zur Seite heraus hangen. Der ganze Schlitten ist so eng, daß man meistens von dem -- vorn quer über gleichsam schwebenden --- Kutscher ziemlich gedrückt wird. Solche Schlitten sind mit glänzenden Eisenblechen und Schnörkeln von gebrochener Arbeit sonderbar verziert: Das Pferd wird auf eine Art eingespannt, die Nachahmung verdient,
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weil die Last dabei in ein solches Gleichgewicht gebracht ist, daß es gar keinen Druck fühlen kann. Ueber dem Kummet ist nehmlich ein halbzirkelförmiges Holz angebracht, welches damit, und mit den Zugstangen, auf eine bequeme Art befestiget wird. Einige von diesen Pferden laufen mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, und sind wie Holländische Harttraber abgerichtet. Dieser letztern bedient man sich mehr zum Vergnügen, und bezahlt sie viel theurer, als die gewöhnlichen Pferde. Junge Elegans fahren in ganz kleinen Schlittchen von durchbrochenem Bau, die äußerst leicht und öfters vergoldet sind. Solche Schlitten werden mit zwei Pferden bespannt, von denen das, welches zwischen den Zugstangen läuft, ein stolzer Harttraber ist; wodurch das andre gezwungen wird, im schnellsten Galopp zu laufen, um mit seinem Nachbar fortzukommen. Im Sommer findet man auf allen Straßen Droschken, und im Winter Schlittchen, deren Führer (Iswoschicki) sich auf eine zudringliche Art anbieten und für wenige Kopeken ziemlich weite Wege machen. Eigentliche Miethskutschen, die, wie in andern großen Städten, auf den Straßen halten, hat man in Moskwa nicht: man kann aber aus den Höfen der
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Fuhrleute, deren ungefähr achtzig sind, Kutschen und Pferde zur Miethe bekommen. Viele Einwohner von Moskwa fahren Jahr aus Jahr ein mit gemietheten Pferden. Man zahlte während meines Aufenthaltes daselbst für ein Paar monathlich 35 bis 40, und für zwei Paare, nebst Kutscher und Vorreiter, wenigstens 75 Rubel. Diese armen Miethspferde werden gar nicht geschont und wirklich grausam behandelt. Manchmal müssen sie fünf bis sechs Stunden laufen; und wenn sie äußerst erhitzt sind, und von Schweiße triefen, so 1äßt man sie, sogar zur Winterszeit bei einer Kälte von 18 bis 20 Graden, vier bis fünf Stunden und länger auf der Straße stehen. Dann sieht man an ihren langen Mähnen und ihren struppigen Haaren dicke Eiszacken hangen. Dabei bekommen sie den ganzen Tag hindurch kein andres Futter, als höchstens ein wenig Heu, welches der Kutscher in einem Sacke mitnimmt. Bei sehr strenger Kälte reißen sich junge muthige Pferde oft los, und laufen wie toll durch die Stadt, bis sie von der Polizei aufgefangen und ihren Herren zurückgeschickt werden. Alle Miethsfuhrleute haben ein ovales Blech auf dem Rücken hangen, auf dem eine
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Nummer steht, nach welcher sie in die Liste der Polizei eingetragen sind: eine Anordnung, die in vielerlei Rücksichten lobenswerth ist. Vornehme Herren bedienen sich auf Reisen der Kutschen und anderer Arten von Reisewagen, öfters aber auch des allgemeinen Russischen Nationalfuhrwerkes, welches Kibitka heißt. Ich weiß die Form der letztern nicht besser zu vergleichen, als mit großen Kinderwiegen, wie sie in Niedersachsen gebräuchlich sind. Die Kibitke unterscheidet sich indeß von solchen Wiegen dadurch, daß sie unten convex und hinten breiter als vorn ist. Gegen die äußere Luft, werden diese Fuhrwerke durch lederne Vorhänge und Fußdecken, oder auch durch eine übergehängte Matte, geschützt. Viele derselben sind mit Eisenblech beschlagen, und oben mit Leder oder schwarzer Wachsleinewand versehen. Es gibt sehr elegante darunter, die mehrere Bequemlichkeiten haben und in Federn hangen *). Anstatt daß man in gewöhnlichen
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*) Als ich Rußland verließ, bediente ich mich einer solchen Kibitke, wozu ich aber keinem Reisenden rathen will, da im vormaligen Curland, in Preußen und in Deutschland die Pferde auf eine ganz andre Art angespannt werden, als in Rußland, und da die Spur dieses Fuhrwerks für die Deutschen Landstraßen zu breit ist. Uberdies machen die Posthalter einem Reisenden, der mit einem solchen Fuhrwerke kommt, allerlei Schwierigkeiten, unter dem Vorwande, daß es nicht im Tarif stehe. So leicht auch das meinige war, so wurde ich in Königsberg doch gezwungen, fünf Pferde vorspannen zu lassen; und so viel mußte ich nachmals bis Berlin auf jeder Station nehmen.
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Kibitken auf dem hineingesetzten Reiserkoffer liegt, haben diese inwendig Kasten, die unten convex sind und in die Kibitke passen, so daß nun der Boden eine ganz ebene Fläche ausmacht. Nur ist sowohl bei diesen Kasten, als bei einem Koffer, die Vorsicht nöthig, sie mit Riemen oder Stricken zu befestigen, weil sie sonst bei etwanigem Umwerfen der Kibitke auf den Reisenden fallen würden. Auf diesen Kästen wird eine Matraße und Bettzeug gelegt, so daß man ausgestreckt, wie in einem Bette, liegen kann. Will der Reisende sitzen und mehr der freien Luft genießen, so läßt er die Beine auf einer oder der andern Seite herunterhangen; und so hat er alle Abwechselungen, die er nur verlangen kann. --- Solche Fuhrwerke sind weit zweckmäßiger, als die meisten, deren man sich in andern Ländern
Wichelhausens Moskwa. [24]
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bedient. Bei der rauhesten Winterzeit ist der Reisende darin vor der Kälte und vor jeder üblen Witterung hinreichend gesichert, und an heitern Sommertagen, kann er auf einer hinein gelegten kühlen Matratze, wie auf einem Canapee, ausgestreckt ruhen. Ueberdies kann er damit Tag und Nacht reisen, ohne in manchem Stücke seine gewöhnliche Lebensweise zu ändern, besonders auf weichem, sandigem Boden, wo er durch die gelinde Bewegung der Kibitke zum Schlafe gleichsam eingewiegt wird. Es ist auch gewiß ein nicht geringer Vortheil, immer in seinem eignen Bette zu schlafen, und es jeden Abend sogleich bei der Hand zu haben. Wer viel gereiset ist und sich an die Unbequemlichkeit und Unsauberkeit der Betten in manchen Wirthshäusern erinnert, wird mit mir diese Russische Reisemethode vortrefflich finden. Wie oft hält nicht Ekel, oder Furcht von irgend einer häßlichen Krankheit angesteckt zu werden, den ermüdeten Reisenden ab, sich in das schmutzige Bett einer elenden Dorfschenke zu legen! --- Der Gebrauch, auf Reisen sein Bett mit sich zu führen, ist in Rußland so allgemein, daß die Gastwirthe, selbst in den Städten, sich fast nie auf Betten für Fremde einrichten. Als ich im Jahre 1786
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zum ersten Mal in ein Russisches Wirthshaus kam und wegen großer Ermüdung dringend ein Bett foderte, wurde es mir mit dem Bedeuten abgeschlagen, daß jeder Reisende sich eins mitbringen müsse *). Indeß findet man in einigen wenigen Deutschen Gasthäusern zu Petersburg und Moskwa doch Betten und alle erforderliche Bequemlichkeiten. Solche Kibitken sind der Gesundheit viel zuträglicher als andre, weniger bequeme Fuhrwerke. Einen großen Vorzug haben sie dadurch, daß der Reisende in ihnen, so oft er will, seine Lage verändern kann, und überhaupt meistens ausgestreckt liegt, so daß alle Muskeln in Ruhe sind. Hierdurch wird die Bewegung eigentlich heilsam, da hingegen das lange gekrümmte Sitzen die Circulation des Blutes verhindert, und zu Congestionen aller Art besonders zu Hämorrhoiden, disponirt. Nie habe ich auf meinen Reisen in Rußland
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*) Wer in entfernten Gegenden von Rußland, besonders über große Steppen reiset, wo, außer den Erdhütten der Kosaken, welche die Pferde wechseln, auf mehreren Tagereisen keine menschliche Wohnung angetroffen wird, muß sich, außer den Betten, mit allerlei Geschirren, als Kesseln u. s. w. versehen, und Lebensmittel bei sich haben.
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die Erhitzung empfunden, welche bei Reisen in andern Ländern die gewöhnliche Folge des gekrümmten, oft äußerst unbequemen Sitzens und heftiger Erschütterungen bei angestrengten Muskeln ist, wodurch melstens Leibesverstopfung und Verlangen nach kühlenden Getränken verursacht wird. Es wäre also vielleicht nicht übel, wenn man dieses bequeme und nützliche Russische Fuhrwerk in andern Ländern nachahmte; besonders würden sich nach meiner Ueberzeugung Hypochondristen und andre schwächliche Personen, denen das Reisen zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit dienlich ist, sehr wohl dabei befinden. Auf Reisen werden die Pferde in einer Reihe neben einander gespannt, wie dies auch bei den alten Griechen gebräuchlich war *). Diese Gewohnhelt ist nützlich, weil dabei ein einziger Kutscher vier, ja sechs Pferde leicht regieren und besser zum gleichmäßigen Anziehen anstrengen kann. Meistens pflegt ein wilder Schreit und eine kreisförmige Bewegung des in die Höhe gehobenen rechten Arms hinzureichen, um sie zum Laufen anzutreiben;
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*) In der Odyssee (XIII, 81.) wird von vier neben einander gespannten Hengsten geredet.
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doch bedient man sich hierzu auch einer kurzen Peitsche. Man reiset, wie bekannt, in Rußland sehr schnell. So ist es z. B. nichts Seltenes, daß man im Winter mit aller Bequemlichkeit in drei Tagen von Moskwa bis Petersburg kommt und also in 72 Stunden einen Weg von 728 Wersten, oder 108 Deutschen Meilen, zurücklegt. .Manche Reisende brauchen oft noch viel weniger Zeit dazu, und man behauptet sogar, daß der Prinz Heinrich von Preußen diesen Weg einst in 40 Stunden gemacht habe. Wenn zu einer so außerordentlichen, vielen Lesern vielleicht unbegreiflich scheinenden, Schnelligkeit alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, so ist nichts dagegen einzuwenden. Wenn aber Russische Große, oft ohne alle Rücksichten auf den Zustand der vorhandenen Pferde, eine übertriebene Schnelligfeit erzwingen, und Menschen und Pferde zu Grunde richten, so ist dies empörende Barbarei, die geahndet zu werden verdiente. Leider war es aber nur allzu oft der Fall, daß so etwas ungestraft geschah, weil der arme unterdrückte Postbauer *) (Jämschick)
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*) Es gibt an den Landstraßen sogenannte Postdörfer (Jam), deren Einwohner sich vorzüglich mit Besorgung der Posten beschäftigen.
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bei Klagen gegen einen Großen schwerlich würde Gehör gefunden haben. Auch halten es nach allen Erkundigungen die ich sorgsfältig eingezogen habe, die Postpferde, welche der Krone gehören, nur eine sehr kurze Zeit, meistens nur ein Paar Jahre, aus; und oft ist man gezwungen, wegen Mangel derselben Bauernpferde zu einem viel höheren als dem gewöhnlichen Preise vorspannen zu lassen.
Quelle: Wichelhausen, Engelbert: Züge zu einem Gemählde von Moskwa in Hinsicht auf Klima, Cultur, Sitten, Lebensart, Gebräuche vorzüglich aber statistische, physische und medizinische Verhältnisse. Berlin bei Johann Daniel Sander 1803. XXII, 374 S. Signatur Russ. 169.
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Der Arzt und Geograph Engelbert Wichelhausen wurde am 27.10.1760 in Bremen geboren und starb am 07.01.1814 in Mannheim. Er lebte Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Jahre in Moskau. Er widmete seine Arbeit dem Fürsten Karl Friedrich von Baden, einem aufgeklärten Herrscher, der 1767 die Tortur und 1783 die Leibeigenschaft abschaffte.
Fridtjof Nansen 1922: Die Wiedergeburt der Nächstenliebe
RUSSLAND UND DIE WELT
von
Fridtjof Nansen
Gerhart Hauptmann
Maxim Gorki
Verlag für Politik und Wirtschaft. Berlin W 35.
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Copyright 1922 by
Verlag für Politik und Wirtschaft, G.m.b.H.,
Berlin W35.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck: Otto Stollberg & Co., Berlin W 35, Potsdamer Str. 45.
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Geleitwort.
Von Gerhart Hauptmann.
Aus diesen Blättern spricht eine Stimme, die man hören muß.
Vor dieser Stimme das Ohr verschließen, ist gleichbedeutend mit Selbstmord der Menschlichkeit.
Fridtjof Nansen, der große Forscher, muß es sich gefallen lassen, wenn man ihn an dieser Stelle nun auch einen großen Menschen nennt. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! — Edel, hilfreich, gut: in diesen drei Worten ist eigentlich ein und dasselbe ausgedrückt. Edelmut, der nicht gütig und hilfreich wäre, wäre kein Edelmut. Hilfsbereitschaft ohne Güte und Edelmut gibt es nicht. Güte ohne Edelmut und Hilfsbereitschaft ebensowenig. Weil aber Fridtjof Nansen dem entspricht, was mit jedem dieser drei Worte und mit allen zugleich von dem wahren Menschen und Manne gefordert wird — im größten Sinne und mit dem Einsatz seiner ganzen Person entspricht — darum ist er ein großer Mensch.
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Ich enthalte mich nicht, dies auszusprechen, obgleich ich damit rechnen muß, daß Nansen selbst sich möglicherweise durch ein solches Bekenntnis zu seiner Person an dieser Stelle störend berührt findet. Ich weiß, daß ihm die Sache, die er vertritt, alles gilt, und es ihn durchaus gleichgiltig läßt, was etwa die öffentliche Einschätzung seiner Person dabei gewinnt oder verliert. Es mußte gesagt werden, was gesagt worden ist, weil das mit seiner Persönlichkeit gegebene, große und beschämende Muster fruchtbar gemacht werden soll.
Wenn schlechte Beispiele, wie man sagt, die guten Sitten verderben, dann wolle Gott, daß auch große und gute Beispiele noch die Kraft besitzen, zur Nachahmung anzueifern.
Ich habe mich dazu verstanden, dem Nachfolgenden diese Worte voranzusetzen, weil man meint, ich könne damit das Hilfswerk fördern, dem Nansen seine Kräfte widmet. Ist es so, dann sind meine Worte gerechtfertigt. Freilich bin ich der Ansicht: wem Nansen nicht verehrungswürdig und wert, ihm nachzueifern, erscheint, wen die Gewalt der von ihm mitgeteilten Tatsachen nicht überwältigt, wessen Herz und Gewissen unter seinem von klarer Einsicht und Menschenliebe diktierten Zuspruch nicht rege wird, an dessen Ohr werden meine Worte erst recht ungehört vorübergehen.
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Die Wiedergeburt der Nächstenliebe.
Von Fridtjof Nansen.
Während des Krieges wurden viele schöne Worte zur Tröstung des Volkes gesprochen: es sei kein Krieg wie andere Kriege, es sei ein Krieg gegen den Krieg, ein Krieg für den Frieden, für die Freiheit, für die Unabhängigkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, es sei der letzte Krieg, der blutige aber notwendige Eingang zum tausendjährigen Reich.
Und der Waffenstillstand kam, und der Friede wurde diktiert, und die Jahre vergingen, aber die Menschheit kam in die alte Ordnung nicht wieder zurück, ist nicht glücklicher unter der Leitung der Diplomaten und Politiker als unter dem Donner der Kanonen.
Die großen Worte Wilsons ertranken in der Brutalität der Tatsachen und erinnern jetzt nur als ein fernes Zeugnis an die schmähliche Niederlage eines ideal veranlagten und wohlmeinenden Mannes gegenüber harthändiger Tatkraft gewandter und praktischer Politiker. Immerhin wurde sein
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Ideal eine moralische Macht, an der praktische Politik nicht vorübergehen konnte.
Die Völker winden sich in Sehnsucht nach Frieden und Harmonie, nach dem Zusammenspiel der Kräfte, nach Etwas oder nach Jemandem, dem Glaube geschenkt werden kann; aber die Führer haben immer noch nicht — noch bei weitem nicht — vermocht, ihr Sehnen zu stillen.
Als eine Opfergabe an die Völker gründete der Versailler Frieden den Völkerbund. Zweimal sind Vertreter von mindestens 40 großen und kleinen Nationen in dem Reformationssaal in Genf versammelt gewesen zur Erörterung der gemeinsamen Anliegen der Menschheit. Viel edlen Gedanken ist in Worten Ausdruck gegeben und Viel ist wohl ausgerichtet worden. Aber es läßt sich trotzdem nicht leugnen, daß der Bund bis jetzt seinen Namen nicht ganz mit Recht trägt: die Plätze der drei größten Nationen waren leer, Amerika wollte nicht kommen, Rußland und Deutschland wurden nicht zugelassen. Und daß dies die Wirksamkeit und die Autorität des Bundes lahmgelegt oder auf jeden Fall in hohem Grade begrenzt hat, ist selbstverständlich.
Im November trafen Delegierte einer Reihe von Großmächten in Washington zusammen, um zu versuchen, über die drückenden Militärlasten aller Völker, über die Möglichkeit einer teilweisen Abrüstung zu verhandeln. Der amerikanische Minister
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des Aeußeren, Mr. Hughes, eröffnete die Sitzung mit einer Rede, die die Versammelten verblüffte durch seine unerhörte Objektivität, seine positive Offenheit. Er ging an allen Phrasen vorbei, sprach keine Wünsche oder Hoffnungen aus, richtete sich an keine Adresse, sondern kam auf einmal mit bestimmten Forderungen und formte diese in unerbittliche Zahlen: Groß-Britannien sollte die Erlaubnis gegeben werden, so und so viele Kriegsschiffe zu haben, so viele Amerika, so viele Japan. Wenn die Anzahl eine größere war, sollten die überflüssigen vernichtet werden, und wenn die Mächte neue Kriegsschiffe im Bau hätten, sollten diese Bauten eingestellt werden.
Dies wirkte wunderbar, neu und erfrischend, wie ein Donnerschlag, der eine Bresche in die Drahtverhaue der alten Diplomatie riß, dieser Diplomatie, die wieder zusehends wächst und alle direkten Wege zwischen den Völkern versperrt. Den gewaltigen Widerhall, den die Worte Hughes’ erweckten, — nicht nur in Amerika, wo faktisch die ganze Nation über den Vorschlag ihres Ministers einig war, sondern auch über die ganze zivilisierte Welt, — war ein beredtes Zeugnis für die Gefühle und Wünsche der Völker. Aber dann kamen die Verhandlungen und mit diesen die Furcht und die Rücksichten und die Interessen: der kühne amerikanische Plan ist verpfuscht worden und gleichsam verloren gegangen in dem
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undurchdringlichen Nebel der Diplomatie. Bei Jahresschluß standen wir unsicher und enttäuscht und wissen nicht, ob schließlich überhaupt noch etwas aus dem ganzen herauskommen wird. —
Einmal ums andere versammelte sich in dem verflossenen Jahr der Oberste Rat. Wenn neue Schwierigkeiten entstanden oder wenn die Gefahr verhängnisvoller Konflikte auftauchte, verabredeten die ersten Minister der Entente eine Zusammenkunft. Es sitzen hervorragende Männer in diesem Rate, Männer, die um Auswege nie verlegen sind: aber man muß bedenken, daß sie hinter sich tausendköpfige Parlamente haben, die zu jeder Zeit die beste Regierung stürzen können. Die Schwierigkeit liegt selbstverständlich darin, daß der große Staatsmann rücksichtslos den Vorteil des Augenblicks erkennen muß und auch im Gegensatz zu den Parlamenten auf das große Ziel hinsteuern muß. Die Bestimmungen, die getroffen wurden, waren Kompromisse, die nicht immer die Menschheit dem Gleichgewicht nähergebracht haben, das wir so schmerzlich vermissen. Sie scheinen eher eine Aussaat für neue Konflikte zu sein.
Man muß ein starblinder Optimist sein, um die Zukunft in Rosenlicht zu sehen; wohin man den Blick wendet, sieht man dunkle Wolken am Horizont. Aber dunkler, mächtiger, verhängnisvoller als alles andere ist das Unwetter, das mit steigender
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Schnelle sich über das große russische Reich ausbreitet, das tragische Schicksal des russischen Volkes, das sich mehr und mehr, jeden Tag, jede Stunde dem Ende nähert. Wenn die Menschheit erlaubt, daß diese Tragödie zu Ende gespielt wird, wird das die unberechenbarsten Folgen haben. Nicht nur Rußland, nein, die ganze zivilisierte Welt wird eine tiefe und unheilbare Wunde davontragen.
Die Eisenbahnstationen sind überfüllt, die Züge werden von Tausenden und Abertausenden belagert. — Menschen auf der Flucht! Sie wissen nicht wohin sie wollen, sie haben nur einen Gedanken: fort. Fort von dem Hunger, der Kälte und dem Tod, — nach einem anderen Orte, wo es vielleicht Lebensmittel gibt und Feuerung, um sich zu erwärmen. Und die Wagen rollen dahin mit ihrer fürchterlichen Last, setzen die Unglücklichen ab, bald hier, bald dort; aber überall finden sie die gleichen Feinde, ebenso grausam, ebenso unbarmherzig: den langsamen Tod.
Und so ist es nicht nur in Rußland. In Georgien ist es vielleicht noch schlimmer, als im Wolgadistrikt. Auch in Konstantinopel sind 10000 russische Flüchtlinge ohne Lebensmittel, und die Menschen fallen in den Straßen um. Ja selbst in der Krim hungern sie. Und dann das unglückliche Armenien. Dort war die ganze Bevölkerung im August schon ohne Lebensmittel. Auf der Versammlung
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in Genf wurden feierliche Adressen abgefaßt, um den Armeniern ein Heim zu schaffen; aber wenn nicht bald wirkliche Hilfe gebracht wird, gibt es kein Volk mehr, um dieses Heim zu genießen, wenn es überhaupt geschaffen wird.
Oft wird über die Millionen von Menschen gesprochen, die auf den Schlachtfeldern während des Krieges geblieben sind, und Gott weiß, daß das entsetzlich war; aber in Rußland kämpfen noch heute mehrere Millionen mit dem Tod. Und welch ein Tod! Im Kriege war es doch oft nervenspannender Kampf und zuletzt eine Kugel, ein schneller Abschluß. Hier ist es der Hunger und die Kälte, eine unbarmherzige Qual — von Woche zu Woche — von Tag zu Tag — von Stunde zu Stunde.
Die Welt weiß Bescheid über das, was jetzt in Rußland vorgeht, keiner kann sich damit entschuldigen, daß er den Notschrei, der aus Millionen von Kehlen zum Himmel steigt, nicht gehört hat. Der Krieg hat aber die Menschen abgestumpft wie es scheint; natürlich hat man Mitgefühl, aber was soll man tun? Wir haben mehr als genug zu Hause zu sorgen, und außerdem, wenn es wirklich glücken sollte, Hilfe zu bringen, würde es nur eine Stärkung für die Sowjetregierung werden, und da kann das letztere schlimmer werden als das erstere. Dies mit der Sowjetregierung ist das häufigste und wirkungsvollste Argument
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gegen uns, die wir glauben, daß etwas getan werden kann und muß. Ich glaube, daß es eine falsche Auffassung ist. Ich glaube nicht, daß es die Macht der Bolschewisten stärken wird, wenn wir dem russischen Volke zeigen, daß es Herzen und Nächstenliebe in Europa gibt.
Und selbst wenn — ich wiederhole, was ich auf der Tagung des Völkerbundes in Genf sagte — selbst wenn die Macht der Sowjetregierung dadurch gestärkt werden sollte, ich frage: gibt es in dieser Versammlung ein Mitglied, ich bitte es, sich zu erheben —, das 10 Millionen Menschen lieber des Hungertodes sterben lassen wollte, als der Sowjetregierung zu helfen?
Und wirklich gab es einen Mann, einen Serben, welcher ohne Scham erklärte, daß es besser wäre, 10 Millionen Russen verhungern zu lassen, als zu riskieren, Lenins Regime zu unterstützen.
Er war der einzige.
Gewiß ist es schwierig, beides zu sein: Mensch und Politiker. Und es ist gewiß zu viel verlangt, daß ein aktiver Politiker sich von rein menschlichem Gefühl leiten lassen soll, so daß dies ausschließlich seine Handlungen bestimmt. Es melden sich sofort unzählige Rücksichten, Interessen aller Art, finanzielle, militärische, nationale, politische, wo es dann gilt, dieselben gegenseitig abzuwägen. Und es kann wohl nicht anders sein, wie die Welt
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nun einmal jetzt ist, auch wenn es noch so niederdrückend wirkt.
Aber selbst wenn man Menschenliebe außer Acht läßt: Die Lösung des russischen Problems ist an und für sich von überwältigender Bedeutung, nicht nur für Rußland selbst, sondern für das Geschick der ganzen zivilisierten Welt. Es ist nicht nur eine Mitleidsache, sondern mindestens ebensosehr eine Vernunftfrage und eine Interessenfrage.
So wie die materielle Kultur sich entwickelt hat, mit wachsender Schnelle namentlich im letzten Jahrhundert, kann kein zivilisiertes Land, selbst das reichste nicht, isoliert leben. Wir sind alle abhängig voneinander geworden, unser Wohlbefinden hängt von dem Wohlbefinden all der anderen ab. Die zivilisierte Welt ist eine mächtige und verwickelte Maschine geworden, in der unzählige Räder ineinander eingreifen, fein ausbalanciert. An der nicht das geringste beschädigt werden kann, ohne daß es für das Ganze fühlbar wird. Und wenn eines der Haupträder nicht mehr weiter geht, werden Störungen verursacht, Brüche, Schwierigkeiten. Not auf der ganzen Welt! Rußland war vor dem Kriege Europas Kornkammer; eine endlose Reihe von Schiffen führte das Korn die Wolga hinab und von den Häfen des Schwarzen Meeres und den Ostseehäfen aus — jetzt stehen die vielen Kornsilos an der Wolga leer, die Müller
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haben nichts zu mahlen, und das Korn wird jetzt den entgegengesetzten Weg gebracht, die Wolga aufwärts. Vor dem Kriege war Rußland Europas größter Markt, 150 Millionen Konsumenten gaben Europas größten Fabriken und Handelshäusern zu tun — jetzt können die Ladungen, die ostwärts gehen, leicht gezählt werden. Es ist nicht zu verwundern, daß die europäischen Kapitalisten — ohne Furcht, die Macht der Sowjetregierung zu unterstützen — ihre Hände mit Begierde nach russischen Waren und Kunden ausstrecken. Die Menschen sind offenbar weniger ängstlich, wenn es Vorteil gilt, als wenn es Barmherzigkeit gilt.
Europa kann auf die Dauer Rußland nicht entbehren. Die Frage ist, ob das Land gerettet werden kann oder ob es rettungslos verloren ist, ob es verurteilt ist, in dem Chaos zugrunde zu gehen, das unglückliche Umstände und Fehler in vielen Jahren vorbereitet haben. Viele, unter ihnen kluge Männer, welche die Verhältnisse kennen, sind geneigt, das letztere anzunehmen. Aber nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, kann ich die Lage nicht als hoffnungslos betrachten. Man kann über Lenin sagen was man will, über seine Theorien und seine Methoden; ich habe ihn leider nicht persönlich getroffen, aber aus seinen Handlungen muß man schließen, daß er auf jeden Fall ein Mann ist, der mit der Wirklichkeit rechnet. Er hat keine Angst gehabt, frei, öffentlich vor Hindernissen
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zurückzuweichen, die er für unüberwindbar hielt. Er hat ohne Vorbehalt seine Niederlagen anerkannt, hat die Undurchführbarkeit des kommunistischen Ackerbaues eingeräumt, hat Staatsrequisitionen eingestellt, die die Arbeitslust der Bauern tötete und in bedenklichem Grad die Produktion herabsetzte, hat den Handel freigegeben usw. Und die neuen, richtiger gesagt, die alten Methoden, haben unzweifelhaft schon begonnen, ihre Wirkung zu tun.
Am schwierigsten ist es vielleicht mit dem Geldwesen. Die russischen Machthaber haben die Unmöglichkeit eingesehen, mit einem Tauschhandel in einem so großen Land auszukommen. Sie haben eingesehen, daß ein Geldsystem nötig ist. Aber der Sowjetrubel ist bis jetzt nicht der Aufgabe gewachsen gewesen, als brauchbare Einheit in dem täglichen Verkehr zu gelten. Als ich im August nach Rußland kam, war ein Pfund — 350000 Rubel. Im November war ein Pfund gleich 700000 Rubel, und im Dezember 1100000. Auf diese Weise stürzt der Rubel mit einer Schnelligkeit herab, mit der die Zettelpresse kaum Schritt halten kann; ein solches Münzwesen ist eine unbrauchbare Fiktion. Es wird unumgänglich nötig werden, einen Ausweg zu finden, um die Valuta zu stabilisieren, und dies ist nicht leicht.
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Aber selbst wenn es gelingen würde, wäre Rußland zurzeit außerstande, sich selbst zu helfen. Hilfe von außen ist absolut notwendig und die Hilfe muß sofort kommen. Jede Verspätung bedeutet Verlust und unmenschliche Grausamkeit, Verlust für Rußland und für die ganze Welt, Grausamkeit gegen die leidenden Millionen, für die jeder Tag eine unerträgliche Marter ist. Wenn die Frühjahrssaat nicht bald gesät ist, wird es unberechenbare Folgen für dieses und das nächste Jahr haben. Das gilt nicht nur für das Getreide sondern auch für Pferde und Vieh, die gleichfalls in größter Gefahr sind. Wir können viel ausrichten für verhältnismäßig wenig Geld. Zum Beispiel habe ich für ca. 100000 Dollar 3000 Tons Hafer gekauft. Mit diesem Hafer retten wir beinah 5000 Pferde, die für Transport-, Saat- und Erntearbeit unentbehrlich sind. Das ist ein gutes Geschäft. Lassen wir die russischen Pferde stürzen und wir müssen neue Pferde anschaffen, so werden diese Pferde dann ein Mehrfaches von 20 Dollar pro Pferd kosten.
Alles in allem ist die ganze Frage eine Geldfrage. Wir bitten nicht um unerschwingliche Summen. Wir bitten die sämtlichen Regierungen Europas um 5 Millionen Sterling insgesamt. Das ist nur die Hälfte von dem, was ein modernes Schlachtschiff kostet. Die Regierungen wollen aber nicht, sie bedauern, daß sie nicht
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können, nicht dürfen. Sie besprechen es, tagein tagaus, ohne Ergebnis. Monat für Monat vergeht, mittlerweile aber sterben die Menschen vor Hunger.
Wir sind also hauptsächlich auf den privaten Opferwillen und den Unternehmungsgeist angewiesen. Aber wir stoßen auch hier auf Widerstand. Wir sind von einer Lügenpresse verfolgt, die falsche Nachrichten verbreitet und unsere Tätigkeit auf jedem Schritt zu behindern versucht. Wir finden sogar Widerstand bei den einflußreichen russischen Emigranten, für die das Leiden ihrer Landsleute und das Elend ihres Landes offenbar weniger bedeutet, als die Beseitigung der gegenwärtigen Regierung in Rußland.
Es ist unseren Gegnern jedoch nicht gelungen, eine große Hilfsaktion zu verhindern.
Zuerst muß die vorzügliche amerikanische Hilfsaktion, die von Hoover geleitet ist, hervorgehoben werden. Die Amerikaner ernähren jetzt fast eine Million Kinder im Wolgagebiet. Mit unserer Organisation arbeiten das englische Save the Children Fund und die internationale Union für Kinderhilfe, die jetzt beinah 250000 Kinder in den Provinzen Saratov und Markstadt ernähren. Weiter arbeiten mit unserer Organisation die Quäker, die in der Gegend von Buzuluk in Samara 65000 Kinder ernähren. Das schwedische Rote Kreuz, unterstützt von der schwedischen
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Regierung, ernährt 10000 Menschen in der Nähe von Samara. Der Papst hat uns eine Million Lire geschenkt, und für dies Geld haben wir teilweise Kinder ernährt, teilweise Getreide zur Verteilung unter den Erwachsenen in der Gegend von Saratow gekauft. In Holland sind bedeutende Summen gesammelt worden, und die holländische Regierung und das holländische Rote Kreuz haben uns 4000 Tons Lebensmittel gegeben. Die internationale syndikalistische Federation in Amsterdam hat Arzneien für 2 Millionen deutsche Mark gegeben und außerdem Lebensmittel für ein halbe Million Gulden nach der Wolgagegend geschickt. Die italienischen Sozialisten senden Lebensmittel für 2½ Millionen Lire nach Novorossisk am Schwarzen Meer, die italienische Regierung hat 6 Millionen Francs gegeben und die englische Regierung Waren und Arzneien für eine Viertelmillion Pfund Sterling. Die britische Hilfsaktion für Rußland sammelt Geld, und die große englische Zeitung „Manchester Guardian“ hat in kurzer Zeit beinah 20000 Pfund Sterling für Einkauf von Getreide gesammelt.
Die internationale kooperative Alliance in London hat uns bedeutende Summen gegeben. Die schweizerische Regierung hat 100000 Franken für medizinische Hilfe gegeben. Die deutsche Regierung und das deutsche Rote Kreuz arbeiten zusammen mit uns und haben eine medizinische Expedition nach der Wolga gesandt,
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durch die vorzügliche Hilfe geleistet wird. Das Rote Kreuz in Belgien hat uns große Summen für Getreide für die Wolgagegend gegeben. Die Vereine des Roten Kreuzes in Estland, Bulgarien, Italien, Serbien und Dänemark haben uns Hilfe geleistet oder werden es tun, teilweise von ihren Regierungen unterstützt. Die internationale Studentenhilfe hat auch bedeutende Summen für russische Studenten bereitgestellt. Noch viele andere Beträge haben wir bekommen.
Es muß hervorgehoben werden, daß die norwegische Regierung und das norwegische Storting die ersten waren, die Hilfe für Rußland leisteten, indem sie Fische für 700000 Kronen schenkten.
Die norwegische Regierung war auch die erste, die der russischen Regierung Kredit für Lebensmittel gewährte. Eine private große Sammlung findet gleichfalls in Norwegen statt.
Wir haben also wertvolle Arbeit geleistet, aber das Ergebnis ist doch nur ein Tropfen im Meer. Und was könnte die Welt leisten, wenn sie wollte! Wenn wir bedenken, daß jetzt 3 bis 4 Millionen Tons Getreide mehr in der Welt erzeugt werden, als die Menschheit essen kann, wenn wir bedenken, daß Weizen in Argentinien und in den Vereinigten Staaten als Brennstoff verbraucht wird, daß Weizen in den Speichern der amerikanischen Farmer verfault, daß die Schiffe, die Lebensmittel für die hungernden und sterbenden Menschen bringen
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könnten, keine Frachten bekommen können und aufgelegt werden müssen!
Wenn ich mir dies überlege und daran denke, was ich während meiner Arbeit für Rußland erlebt habe, und wenn ich versuche, die Ursache der großen Weltnot ausfindig zu machen, dann komme ich zu dem Ergebnis: Die Nächstenliebe ist als treibende Kraft in der Welt verschwunden, — sie ist nicht mehr zu finden. Die Welt ist voller Haß und Mißtrauen unter den einzelnen Individuen, unter den verschiedenen Volksklassen, unter den Nationen. Dies ist die unheilvollste Folge des Krieges. Ich sehe keine andere Rettung für die Welt als die Wiedergeburt der Nächstenliebe.
Es ist möglich, daß dies kindlich, ja, beinahe sentimental erscheint.
Ich sehe, wie die Politiker die Achseln zucken. Schöne Worte sind immer billig, aber wir brauchen Realpolitik.
Ja, Realpolitik. Auch ich bin Realpolitiker. Von ganzem Herzen. Ich interessiere mich lebhaft nur für die Wirklichkeit, aber keine Realpolitik ist in einer zivilisierten Welt denkbar ohne die Grundlage der Nächstenliebe, — Gegenseitigkeit, Hilfsbereitschaft, Vertrauen. Es ist das Urgestein, auf dem jeder menschliche Verkehr bauen muß, — das Materielle und das Geistige, Handel und Industrie, Kunst und Wissenschaft. Wenn der Bakteriologe
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Bazillenkulturen hervorbringt, die, statt die Menschen gegen Krankheit zu immunisieren, Menschen töten sollen, wenn der Chemiker in seinem Laboratorium statt neue Wahrheiten zu suchen oder neue Stoffe zur Entwicklung der Lebensmöglichkeiten der Menschheit zu erzeugen, neue Gifte für Massenmord erfindet, — wenn Dichter und Maler, anstatt der Menschheit neue Schönheitswerte zu schenken, ihre Kunst zu Hetzerei und zur Verbreitung von Haß unter Volksklassen und Nationen benutzen, — wenn man anstatt in gegenseitigem Vertrauen seine Menschheitspflicht zu tun und die Verteilung der Lebensgüter mit passendem Verdienst zu vermitteln in räuberische Habgier verfällt und seine Mitmenschen aussaugt, — wenn der Unternehmer sein Kapital benutzt, um die Arbeiter auszuhungern, — wenn der Arbeiter sabotiert und nützliche Werte zerstört, — wenn dies alles rings um uns geschieht und wir es nicht verhindern können, dann geht die Zivilisation unweigerlich ihrem Untergang entgegen und fällt in vorgeschichtliche Barbarei zurück: Kampf aller gegen alle.
Ja, Nächstenliebe ist Realpolitik, — die einzig mögliche. Ich weiß, es gibt Menschen, die meinen, daß nicht Nächstenliebe, sondern Egoismus die ausschlaggebende Macht der menschlichen Geschichte wäre. Aber das ist Geschwätz. Die Nächstenliebe schwebt nicht in der Luft, sie hat
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ihre Wurzel im Selbsterhaltungstrieb. Dieser hat sich mit dem Wachstum des menschlichen Gemeinschaftslebens in zwei — scheinbare — Gegensätze differenziert: Egoismus und Altruismus. Ein kultivierter Mensch fühlt instinktmäßig nicht nur das Recht der Selbstbehauptung, sondern auch die Pflichten gegenüber anderen und die Pflichten anderer Menschen sich gegenüber. Die beiden Instinkte entstammen derselben Wurzel, aber es ist zweckmäßig, die beiden Worte zu benutzen. Keiner wird bezweifeln, was ich mit Nächstenliebe meine. Das Verhältnis zwischen dem einzelnen Individuum und der Menschengemeinschaft ist dasselbe, wie zwischen den Zellen des tierischen Organismus. Die Zelle lebt ihr eigenes Leben, aber nur um den anderen Zellen des Organismus zu dienen. Versagen die Zellen ihre Pflicht und fangen an, ihren eigenen Weg zu gehen, entsteht die Krebskrankheit, die den ganzen Organismus sowohl wie die einzelnen Zellen unweigerlich zum Untergange führt. So steht es auch mit den Individuen in den einzelnen Völkern und mit den einzelnen Nationen in der großen Menschengemeinschaft. Deshalb heißt auch das alte Gebot, nüchtern und ohne Uebertreibung: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Das Gebot ist streng genug und schwer zu erfüllen. Zu allen Zeiten hat man gegen dieses Gebot furchtbar gesündigt. Aber die Nächstenliebe war trotzdem immer der leitende Grundsatz,
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gleichsam der offiziell anerkannte Grundsatz, und der Egoist, der Sünder, der sich dem Gebote entzogen hatte, mußte sich verstecken, mußte sich in die Gestalt der Nächstenliebe verkleiden, mußte heucheln. Und hier gilt das französische Sprichwort: Die Heuchelei ist die Huldigung des Lasters vor der Tugend.
Aber jetzt scheint selbst der Grundsatz der Nächstenliebe seine Macht verloren zu haben. Der Egoismus, der enge, unsoziale, für die Menschheit selbstmörderische Egoismus triumphiert, — der Haß, das Mißtrauen, die Unbarmherzigkeit.
Aber ohne Nächstenliebe können wir nicht leben.
Ich entsinne mich eines Bildes. Wir hatten die unerhörten Leiden und das Elend in einem der vielen sterbenden Dörfer an der Wolga gesehen. Aber die Leute dort sagten, daß es in der Nachbarschaft noch schlimmer sei. Dort lägen die Leichen auf der Straße, man hätte nicht Kraft genug, sie zu beerdigen. Uns wurde der Weg dorthin gezeigt und wir fuhren über die schneebedeckten russischen Steppen, — flach, flach, wie ohne Ende, ohne Bäume, ohne Abwechslung, ohne einen anderen Weg als die gefrorenen Radspuren derer, die vor uns dort gefahren waren — die große, wehmütige Einöde. Wir fuhren und fuhren, bis der Chauffeur plötzlich hielt, er wußte nicht mehr, wo wir waren und wo wir den Weg suchen sollten. Wir versuchten
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in mehreren Richtungen, aber überall dieselbe Einöde, die endlosen Steppen. Wir konnten weder Dorf noch Leute finden und mußten kehrt machen.
So ist die Entfremdung unter den Menschen. Sie irren auf den unfruchtbaren Steppen herum. Es gilt den Weg zu Menschen zu finden, zum Nächsten, zur Nächstenliebe.
Sei gegen andere, wie du willst, daß Menschen gegen dich sein sollen!
Lysaker 1. Februar 1922
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Wenn Europa sich nicht besinnt.
Von Maxim Gorki.
Fridtjof Nansen, das edle, in tätiger Menschenliebe flammende Herz, hat uns von der Wirklichkeit ein schreckliches Bild entrollt. Und doch ist diese Wirklichkeit an sich noch weitaus schrecklicher.
Schrecklicher schon deshalb, weil die den Worten Nansens innewohnende Kraft sicherlich nicht imstande sein wird, jene dicke Schicht namenloser Gleichgültigkeit zu zerstören, hinter welcher sich die Europäer von heutzutage verschanzt halten.
Fridtjof Nansen, John Keynes, Nitti und die anderen Ritter der Vernunft und des Gewissens, die als Vertreter eines bald ausgestorbenen Europäertypus gelten können, haben viel Besorgniserregendes, viel Weises zur Sprache gebracht und haben auch das dunkle Lebenschaos mit einer Fülle strahlender Worte durchleuchtet. Mit Worten über die Notwendigkeit, die Nächstenliebe aufzuerwecken oder auch die verlorengegangenen,
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vernünftigen „sachlichen“ Beziehungen der europäischen Staatengebilde zueinander wieder herzustellen.
Jedoch fast unbemerkbar sind die Anzeichen dafür, daß diese Bemühungen ehrlich gesinnter und humaner Männer ein Mitleidsgefühl ausgelöst hätten mit den Millionen im Hunger verkommender russischer Bauern, mit dem Millionenvolk eines Tolstoi, eines Dostojewski, mit jenen Elenden, die zu Menschenfressern werden.
Und auch dafür, daß nüchterne und wahrhafte Beweise über die Verderblichkeit der Ausplünderung Deutschlands der hartnäckigen Arbeit Einhalt gebieten könnten, die auf die wirtschaftliche Zerstörung dieses Landes hinzielt, auch dafür sind keine Anzeichen vorhanden.
Nach dem verruchten Kriege von 1914 bis 1918 habe ich den Glauben an Europas Genius verloren. Mir scheint es, daß sein Herz verblendet, abgestumpft ist und sein Hirn verwesend sich in grünen Schaum verwandelt und alles das mit seinem Gift bespritzt, was früher für human, für Menschenpflicht gegolten hat.
Und dabei ist Europa doch der Mittelpunkt der schöpferischen Energie der ganzen Welt; wie von der Sonne gingen von Europa Strahlen aus, die die gesamte Welt mit dem Feuer seines furchtlosen Denkens durchströmten und mit den Wohltaten
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seiner Wissenschaft und Kunst, mit den gewaltigen Errungenschaften seiner wunderschaffenden Technik beschenkten.
Ich lasse nicht außer acht, daß seine Politiker und Ausbeuter — was übrigens ein und dasselbe ist — den lebendigen Menschen die Haut vom Leibe herunterzureißen pflegten. Wir müssen aber dabei nicht vergessen, daß das habgierige Europa gleichzeitig auch die Ideen der Gleichheit und ihre Kulturgaben in der Welt verbreitete. Seine Habgier rief den Protest gegen die Habgier hervor, und seine Herzlosigkeit erzeugte das Streben zur Menschlichkeit.
Jetzt aber — glaube ich — hat Europa seine moralische Autorität als Schöpferin von Kulturwerten verloren.
Die farbigen Rassen haben gesehen, mit welcher Energie, teuflischer Kunstfertigkeit und tierischer List die so christlich gesinnten Weißen einander vier Jahre hindurch zerfleischten, mit welchem wahnwitzigen Eifer ein europäischer Stamm den anderen unterjocht und ausplündert, zu welchem chaotischen Wahnsinn das Leben der Europäer geworden ist, mit welcher Gleichgültigkeit das „humane“ Europa sich zu dem hinsterbenden russischen Volke verhält. Ich nehme an, daß nach alledem die Völker Afrikas und Asiens von den Europäern eine sehr herabgeminderte
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Meinung haben, und daß der Nimbus der moralischen Kraft Europas im Abnehmen begriffen ist.
Gerade dieser Nimbus war aber — meiner Meinung nach — von großem Nutzen. Denn, war der Lehrer auch grausam, so besaß er trotzdem ein ausreichendes Maß intellektueller und moralischer Autorität.
Eine Reihe von Geschehnissen in Afrika und Asien legen jedoch beredtes Zeugnis dafür ab, daß diese Autorität untergraben ist.
Ich bin kein Politiker, ich bin einfach ein Russe, der sich der Bedeutung Europas für Rußland und für die ganze Welt vollkommen bewußt ist, sowohl der Bedeutung von Europas riesenhaftem Gehirn, das alle die großen und schöpferischen Ideen des Humanismus und des Sozialismus geschaffen hat, der ungeheueren Kraft dieses Gehirns, die sich in seiner wundertätigen wissenschaftlichen Arbeit geäußert hat, — als auch der Bedeutung von Europas unermüdlichen Händen, welche die Wunder der Technik zustande gebracht haben.
Auch dessen bin ich eingedenk, daß die Europäer nur eine Minderheit in der Bevölkerung des Erdballs bilden.
Dann aber hat sich noch aus dem Inneren der europäischen gesellschaftlichen Körperschaften
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eine überaus zahlreiche Klasse von Menschen herausgebildet, denen nichts teuer ist und nichts leid tuen kann, die verwildert sind durch versklavende Arbeit, durch Unterernährung, durch Erniedrigung, durch alles das, was jenes natürliche Resultat ausmacht, zu welchem das ausgelebte und verabscheuenswerte System des Klassenstaates gelangt ist.
Dies alles zwingt mich zu der Annahme, daß — wie es seinerzeit bei dem Untergange Roms der Fall war — auch Europas Ende gleichzeitig durch einen von außen ansetzenden Druck fremdstämmiger Massen und durch eine aus innerer Anarchie — kraft der aufgespeicherten Mengen an Habgier, Neid, Böswilligkeit und Rache — geborenen Explosion herbeigeführt werden wird.
Wahrscheinlich werden sich auch über diese Gedanken alle diejenigen lustig machen, denen das Wort von der Sündflut, die nach uns kommen möge, zum Wahlspruch geworden ist.
Doch wäre es wohl angebrachter, wenn man sie zum Gegenstande ernster Betrachtung machen wollte. Mir scheint, es ließe sich darunter doch einiges finden, das wert wäre, von Ernst- und Ehrlichgesinnten beachtet zu werden.
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DURCH NOT UND ELEND
Originalaufnahmen
von Fridtjof Nansen
aus dem russischen Hungergebiet
Abb. 1: Nansen im Hungergebiet
Abb. 2 und 3: Die Erde verbrannt.
Abb. 4: Ein verlassenes Dorf
Abb. 5: Wohin?
Abb. 6 und 7: Menschen auf der Flucht
Abb. 8 und 9: Auch die Retter der Wüste erliegen der Not
Abb. 10: Kinderschicksal.
Abb. 11: In Erwartung des Todes.
Abb. 12: Letzte Fahrt.
Abb. 13 und 14: Die Ernte des Tages.
Dr. Treuenfels 1919: Rußland und wir - Auslandsdeutsche
Rußland und wir — Auslandsdeutsche. 393
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Dr. BERNHARD TREUENFELS:
Rußland und wir — Auslandsdeutsche.
POLITIK muß auf Wirtschaft gegründet werden, nicht Wirtschaft auf Politik. Das gilt sowohl für die innere wie für die Außenpolitik, gilt für uns Deutsche ebensogut wie für die Russen. Können wir den Russen etwas helfen und ihnen etwas Materielles geben, können die Russen uns etwas sein, dann müßte allerdings sofort „Politik gemacht“ werden, und zwar die Politik des engsten Anschlusses. Sind wir schon so weit? Sind es die Russen? — Wir nüchterne Auslandsdeutsche haben es verlernt, Gefühlspolitik zu treiben. Die
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Not hat uns hart, aber einsichtig gemacht, wir haben viel gelernt aus den Fehlern, die wir und andere gemacht haben; wir hatten ja auch reichlich Muße, darüber nachzudenken. Wir haben nie etwas vom „Bluff‘“ gehalten, nie etwas von der Phrase vom „In-die-Arme-werfen“, wenn diese Arme irgendwo in nebelhafter Ferne ausgebreitet sind. Und wir wußten ganz gut, wie unsere Feinde in Versailles es bewerten, wenn wir mit der Peitsche knallen, weil leider, leider wir nichts anderes mehr in der Hand haben. Wenn also die „Frankfurter Zeitung“ schreibt: „Daß unser Verhältnis zu Polen und überhaupt unsere Stellung in den östlichen Gebieten heute ganz anders wäre, wenn wir rechtzeitig einen Boden gesucht und gefunden hätten, auf dem man mit dem neuen Rußland leben kann, wird jedermann einleuchten“, so müssen wir sagen, daß uns Rückwanderern aus Rußland das gar nicht einleuchtet. Das neue Deutschland und das neue Rußland gleichen einem Einarmigen und einem Einbeinigen, die durch wegelose, leere, wasserlose Wüste voneinander getrennt sind. Können die beiden den satten, wohlausgerüsteten Siegern furchtbar erscheinen, wenn selbst von Berlin der Schrei: „Hilfe, Kamerad und Genosse“ so laut ertönte, daß er bis nach Moskau gehört wird? — Noch klingt in unseren Ohren das Wort des ukrainischen Führers Petljura: „Einst haben wir vor den Deutschen gezittert, jetzt werden wir mit ihnen fertig.“ Der angeblich „asiatisch dahindämmernde“ Russe war immer mehr Realpolitiker als wir; nie hätte er sich mit einem Greise oder selbst mit zwei Säuglingen verbündet, wenn er einen starken Mann auf seiner Seite haben konnte. Und da wir die Kenntnis vom russischen Volkscharakter nicht bloß aus den Büchern seiner großen Schriftsteller geschöpft haben, da wir den russischen Geschäftssinn, seine Eigenliebe, Eigensucht und auch den russischen Nationalismus kennen, den russischen Glauben an das große russische Reich und seine herrliche Zukunft, dank seiner unermeßlich reichen Erde, diesen Glauben, der auch in der Sowjetrepublik niemals untergegangen ist und niemals untergehen wird, so wissen wir auch, daß Rußland uns in seiner Umarmung erdrücken würde, wenn wir mit leeren Händen zu ihm kämen. Nur der wird ihm ein wirklicher „Genosse“ sein, der ihm mindestens ebensoviel gibt, als er von ihm fordert und nehmen will. Der Lausanner Geschichtsprofessor Ed. Rossier hat nach der Revolution
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von 1917 das wahre Wort gesprochen: „Rußland ist von der Geschichte schlecht behandelt worden. Davon ist ihm ein instinktiver Haß gegen alle Einflüsse von außen geblieben. Das war die Quelle für die Kraft, mit der das Zarentum im Volke wurzelte, daß es die Befreiung von den Unterdrückern brachte.“ — Der französische Botschafter Bompard mußte gehen, weil er es im Revolutionsjahr 1906 gewagt hatte, wie ein russischer Großfürst im Sonderzuge eine Inspektionsreise zu den französischen Eisenhütten und Kohlengruben im Donetzrevier zu unternehmen, der russische Außenminister Sasanow bekam 1916 seine Entlassung, weil er die Einmischung des englischen Botschafters Buchanan in innerpolitische russische Verhältnisse nicht verhinderte. Säßen jetzt im Moskauer Kreml nicht Männer, die sich und dem russischen Volke einredeten, daß sie an der Spitze einer neuen Welt marschierten, daß ihnen der Endsieg sicher, daß die abendländische Kultur dem Untergange geweiht und daß sie, die Träger des neuen russischen Zeitalters, das jetzt anbricht, auf diesen Trümmern eine paradiesische Herrschaft aufbauen werden, mit Moskau als Mittelpunkt der Welt, sie wären längst hinweggefegt. So aber halten sie sich noch trotz der fürchterlichen Blockade, trotz all der gräßlichen Not dieses Volkes, trotz der vielen Fehler, die einen schnellen Wiederaufbau des Landes bisher verhinderten.
Rußland braucht jetzt Lebensmittel für die Gebiete, die immer Versorgungsgebiete waren, braucht Kleidung, Ackergeräte und Arzeneien. Können wir liefern, was ihm fehlt?
Vor allem aber braucht Rußland Lokomotiven, Schienen und rollendes Material zur Wiederherstellung des Eisenbahntransportes aus den Ueberschußgebieten in die Versorgungs-Gouvernements. Können wir noch einmal den Russen das geben, was uns die Franzosen wohlweislich mit jenem entsetzlichen Waffenstillstandsabkommen abgenommen haben? All das kann nur Amerika geben, und Amerika wird Rußland helfen. Amerika hat niemals Rußlands Eigenliebe gekränkt, es niemals ausgebeutet, ihm blühen in Rußland die größten Chancen. Wilson ist als Träger der amerikanischen Außenpolitik erledigt, den Brief Bullits wird man dereinst als weltgeschichtliches Dokument allererster Ordnung zu würdigen wissen.
Am Zusammenbruch des russischen Eisenbahnverkehrs ging Rußlands altes Regime zugrunde, am Transportwesen krankt
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das neue Rußland. Wird es mit Amerikas Hilfe geheilt, kommt das russische Wirtschaftsleben wieder in Gang, schafft der Bauer nicht bloß so viel als er für sich und seine Familie braucht, sondern auch für den Bedarf der Städte und der Industriegebiete, arbeitet der Fabrikarbeiter so produktiv und zu solchen Löhnen, daß der Ackerbauer die Gegenstände seines notwendigsten Bedarfs zu angemessenen Preisen kaufen kann — dann, aber erst dann — wird Rußland bündnisfähig sein.
Und was für Rußland gesagt ist, gilt in höherem Maße für uns Deutsche; denn wir auf unserer mageren Erde mit unseren wenigen Bodenschätzen, die uns übrig bleiben, können uns nicht messen mit den unermeßlichen, unerschlossenen Reichtümern des großen Reichs im Osten. Unser Reichtum bestand in der Intelligenz und dem Fleiß unserer Kopfarbeiter, bestand in der gerühmten Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und dem Pflichtbewußtsein des gesamten deutschen Volkes.
Das russische Volk hat in letzter Zeit Gelegenheit gehabt, sich davon zu überzeugen, daß manches seit 1914 schlechter geworden ist beim Deutschen; das unbedingte Vertrauen, das wir noch vor dem Kriege genossen, ist vielfach schwer erschüttert worden.
Die Erfahrungen bei der deutschen Okkupation weiter Gebiete des russischen Reiches bedeuteten keinen Ruhmestitel in der deutschen Geschichte. Worin liegt hierfür die Erklärung? Hat der Deutsche wirklich in den wenigen Jahren alle seine guten Eigenschaften verloren, war alles Frühere nur ein Firnis, der so schnell abgewaschen werden konnte? Nein, das ist nicht wahr. Die Erklärung liegt in der furchtbaren Not Deutschlands. Der ungeheure Krieg dauerte schier endlos an, alles, was geschaffen wurde, mußte „militärisch aufgezogen“ werden und die Schattenseiten des Militarismus überwogen seine geringen Vorzüge. Die Not, der Hunger zog uns in die Ukraine, zwang uns zu einem „Brotfrieden“, der kein echter Friede sein konnte. Was von deutschen Behörden getan wurde, wurde diktiert von der harten Notwendigkeit, aus dem Lande soviel als möglich herauszuholen und möglichst wenig dafür zu geben. Man glaube nicht, daß unseren Führern die wahre Erkenntnis des Guten und Wahren gefehlt habe. Sie wußten ganz gut, daß eine einschneidende Agrarreform dem Lande gegeben
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werden mußte, daß der Grund und Boden dem Bauern gehören müßte, daß niemals Frieden und Ruhe herrschen würde, solange der Ruf des Bauern nach „Land und Freiheit“ ungehört verhallte.
Die Not zwang uns dazu, nicht auf den Bauern, sondern auf die ihnen verhaßten „Herren“, die Grundbesitzer, uns zu stützen; denn nur bei ihnen konnten wir hoffen, schnell die Getreidemengen zu erhalten, die wir für unser hungerndes deutsches Volk brauchten. Und selbst, wenn wir Deutsche, einst in unvergleichlicher Disziplin und Entsagung den Schmachtriemen immer noch fester ziehen, abwarten, und eine Politik von längerer Sicht treiben konnten; — unsere Bundesgenossen, die mit uns in der Ukraine waren, sie konnten es nicht. All ihr Tun und Lassen war von Panikstimmung beherrscht, und das hat seinen unheilvollen Einfluß auf unsere Maßnahmen nicht verfehlt. — Der Tag wird kommen, wo von berufener Feder die Geschichte unseres verzweifelten Ringens um unsere Existenz in allen Einzelzügen, in allen Einzelausschnitten und auf allen Plätzen des Erdballes geschrieben werden wird, wir müssen hier auf eingehende Darlegungen verzichten.
Man glaube auch nicht, daß deutscherseits niemand den Gedanken vertrat, es sei notwendig, die Friedensverhandlungen zwischen Großrußland (der Sowjetrepublik) und der Ukraine, die in Kiew begannen und schließlich scheiterten, einem guten Ende entgegenzuführen. Wie war auch hier unsere Lage? Selbst der abgesagteste Feind der verhängnisvollen „Zerstückelungsidee“, der aufgeklärte Politiker, der die augenblickliche Regierungsform und Wirtschaftsordnung in Rußland nicht als das Entscheidende ansah in der Bewertung der Nützlichkeit dauernder guter Beziehungen zum russischen Reiche, der mußte dem Gedarken des föderativen Wiederzusammenschlusses von Moskau und Kiew entsagen; denn im Augenblick war uns das hungernde Großrußland der schlimmste Konkurrent in der ukrainischen Kornkammer. Er mußte dafür eintreten, daß möglichst hohe Schranken zwischen den beiden früher eng zusammengehörenden Teilen des russischen Wirtschaftskörpers aufgerichtet wurden. Alles Brot sollte nach Westen gehen, nichts nach dem Norden! Nicht in Panikstimmung, nicht in nervenzerrüttender Not darf das deutsche Volk Politik treiben, damit nicht wieder unter dem Zwange der Verhältnisse und der dadurch hervorgerufenen
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Seelenstimmung die gleichen Fehler sich wiederholen. Wir müssen erst wieder zu uns selbst und zur Ruhe kommen. Fürchten wir nicht, daß wir etwas versäumen, wenn wir jetzt den Wettlauf um Rußland, der in Paris eingesetzt hat, nicht mitmachen. Jetzt endlich wirkt die Zeit für uns. Die Entente ist drauf und dran nun ihrerseits die schweren Sünden zu begehen, die wir begingen; sie hat aber nicht die Entschuldigung des Hungers und der schweren Not, die wir gehabt haben. Dort spricht nur Eigennutz, Gier und Krämerangst um gefährdetes Leihkapital und seine Zinsen, sündhafter Imperialismus. — Und das weiß das russische Volk.
Die Entente kennt den russischen Volkscharakter noch weniger als die Mehrzahl der Deutschen, das russische Volk aber kennt die knock-out-Engländer und die gierigen französischen Groß- und Kleinbürger; sie kennt sie nicht erst als blutsaugende Kriegsverbündete, sondern schon von Friedenszeiten her. Selbst ein Moskauer Großindustrieller, einer aus den Kreisen, die jetzt als russische Refugiés die Drähte in Paris ziehen, hat 1916 prophetisch gesagt: „Rußland stellt auf der kommenden Friedenskonferenz den Leckerbissen dar, nach dem sich zweifellos alle Hände ausstrecken. Und unsere Feinde ebenso wie unsere Freunde werden zweifellos für sich bessere Bedingungen anstreben. Aber nicht dafür haben wir unser Blut vergossen, um in die Abhängigkeit von irgendeinem anderen Lande zu kommen, nachdem wir uns durch den Krieg von der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland befreit haben.“ Auch die Entente hat jetzt ihre Refugiés aus dem Osten, die sie in den Sumpf irrlichtern werden. Um so besser für uns!
Schon jetzt schallt uns viel Sympathie aus dem Osten entgegen, man begreift dort unsere Fassungslosigkeit nach furchtbar tiefem Fall, und ahnt, daß gemeinsames Unglück das hinweggeräumt hat, was uns früher etwa trennte. Man fühlt im Osten instinktiv, daß wir deutschen Rückwanderer wiederkommen werden, ohne Monokel und ohne gepanzerte Faust, als fleißige und loyale Arbeiter, „stiller wie Wasser und niedriger wie Gras“, lautlos, unermüdlich bauend und schaffend. Wir wünschten, daß wir die Pioniere sein könnten für eine gute deutsche Politik, wenn Deutschlands und Rußlands Wirtschaft wieder gesundet. An uns soll es nicht fehlen, in Deutschland die Wahrheit über das große Reich
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im Osten zu melden, aber nicht für die große Glocke. Die Kaufleute und Techniker werden ihren Verbänden, die Handwerker und Arbeiter ihren Organisationen berichten. Und durch die deutschen Arbeitsgemeinschaften wird das ganze deutsche Volk die Wahrheit erfahren, auch ohne das Tamtam der Presse, die alles hinaustrommelt in eine uns feindliche Welt.
In einem Vortrage, den Professor Penck in Berlin einmal gehalten hat, und der wohl alle Länder der Welt berührte, in denen Deutsche wohnten, hat er allein von uns Deutschen in Rußland kein Wort gesprochen.
Das ist gerade das, was wir wünschen. Wir gehen in unser „Kinderland“ ein, wie Robert Prechtl so schön sagt und wir möchten es wahr haben, daß die besten Kinder diejenigen sind, von denen man nicht spricht.
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Quelle:
Dr. Bernhard Treuenfels: Rußland und wir — Auslandsdeutsche.
Die Glocke 5. Jg. 1919-20 Heft 13 vom 28.Juni 1919 S. 393-399
Hinweis:
Dieser Artikel aus der Wochenzeitschrift „Die Glocke“ ist online auf archive.org unter folgendem Link zugänglich:
https://archive.org/details/dieglocke5.191920hefte126/page/n1/mode/2up
Kuno Francke: Deutsche und amerikanische Ideale
Kuno Francke
Deutsche und amerikanische Ideale
Deutsche Bücherei
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Deutsche Bücherei.
Herausgegeben von Dr. phil. A. Reimann. Jede Nummer geheftet 50 Pfg. jeder Einband 40 Pfg.
Verzeichnis der bis jetzt erschienenen Bände:
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Deutsche und amerikanische Ideale
Von Professor Dr. Kuno Francke
Autorisierte Uebersetzung aus dem Englischen
Baronin Elvire von Stempel
Verlag der Deutschen Bücherei, Otto Koobs
Berlin W. 57, Bülowstraße 89.
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Verlag Deutsche Bücherei, Otto Koobs. Herausgegeben von Dr. phil. A. Reimann, Direktor der Margaretenschule. Druck von Otto Koobs. Sämtlich in Berlin.
(Nachdruck verboten.)
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Zum Geleit.
Bei der verwirrenden Zersplitterung des Urteils verdienen die Beobachtungen Franckes, des bekannten Germanisten der Harvard-University und Direktors des Germanischen Museums, der auch jüngst auf dem Historikerkongreß zu Berlin über germanische Kulturgemeinschaft gesprochen hat, im hohen Grade Beachtung; sie sind nicht nur sachkundig, sondern jedenfalls auch objektiver als fast alles, was in Deutschland über deutsche Ideale geschrieben wird.
Das Buch, das nach dem ersten Aufsatz genannt ist und aus dem die folgenden Stücke übersetzt sind, hat der Verfasser seinem Bruder Hugo und unserem Friedrich Paulsen gewidmet, dessen Freundschaft ihn durch 30 Jahre seines Lebens geleitet und begeistert habe. Es hat die Absicht, drüben in Amerika für deutsches Empfinden und deutsche Kultur Verständnis zu wecken. Tiefe Heimatliebe hat dem Autor die Feder geführt, und er hat dafür einen zum Herzen sprechenden Ausdruck in folgenden Versen gefunden, die er seinem Buch voransetzt:
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Heimatgefühl.
Die Heide blüht. Ein endlos Flimmern,
Ein Summen, Brüten weit und breit;
Am fernen Horizonte schimmern
Die Dünen, still und traumbeschneit.
Die Heide blüht. Wie Purpurquellen,
Aus braunem Sande strömt's hervor;
Und tausendfache Farbenwellen
Erzittern überm dunklen Moor.
Die Heide blüht. Aus dunklen Tiefen
Ziehn Sehnsuchtsstimmen durchs Gemüt,
Als ob sie meine Seele riefen
Zur Ewigkeit. Die Heide blüht.
Bei Weidmann erscheint gleichzeitig eine deutsche Kulturgeschichte, aus seinen Vorlesungen erwachsen, auf die wir alle Leser verweisen, die die Gedanken des zweiten hier übersetzten Aufsatzes der Beachtung wert halten.
Wir sind dem wackeren Pionier deutschen Geistes in Amerika aufrichtig dankbar, daß er uns seine glänzenden Essays zur Verfügung gestellt hat. Die Veröffentlichung erfolgt mit Genehmigung der Verlagsbuchhandlung Houghton Mifflin Company (The Riverside Preß Cambridge), Boston und New-York.
Der Herausgeber.
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Deutsche Ideale von heute.
Eines der interessantesten Fragmente aus Schillers literarischem Nachlaß ist ein Lobgesang auf Deutschland, der des Dichters Geist in den lezten Jahren seines Lebens beschäftigte. Dieser Lobgesang ist über Skizzen nicht hinaus gekommen, halb in Versen, halb in Prosa; aber diese Skizzen geben uns einen Begriff von der edlen Konzeption des Ganzen. Offenbar wollte Schiller mitten im nationalen Unglück auf Deutschlands Größe hinweisen; er wollte seinem Volk, das durch Napoleon in seinem Dasein bedroht wurde, zum Bewußtsein bringen, daß noch Hoffnung vorhanden war; er wollte der brutalen Kraft militärischer Gewalt das Ewige in Literatur und Kunst entgegen sezen. „Darf der Deutsche,“ so heißt es im Anfang dieser Skizze „in diesem Augenblick, wo er ruhmlos aus seinem tränenvollen Kriege geht, wo zwei übermütige Völker ihren Fuß auf seinen Nacken setzen und der Sieger sein Geschick
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bestimmt, darf er sich fühlen? Darf er sich seines Namens rühmen und freuen? Darf er sein Haupt erheben und mit Selbstgefühl auftreten in der Völker Reihe?
- - - - - Ja, er darf's! Er geht unglücklich aus dem Kampf, aber das, was seinen Wert ausmacht, hat er nicht verloren. Deutsches Reich und Deutsche Nation sind zweierlei Dinge. -- -- -- Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten! --
„Das ist nicht des Deutschen Größe
Obzusiegen mit dem Schwert;
[In das Geisterreich zu dringen,]
Vorurteile zu besiegen,
Männlich mit dem Wahn zu kriegen,
Das ist seines Eisers wert.“
-- -- -- Ihm ist das Höchste bestimmt. -- –
Er ist erwählt von dem Weltgeist, während des Zeitkampfes an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten, zu bewahren, was die Zeit bringt. Daher hat er bisher Fremdes sich angeeignet und es in sich bewahrt.
Alles, was Schätzbares bei andern Zeiten und Völkern aufkam, mit der Zeit entstand und schwand, hat er aufbewahrt, es ist ihm unverloren, die Schätze von Jahrhunderten. -- -- ---
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-- -- Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte; doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.“
Wie wunderbar aus der Mode erscheinen diese Worte, welche dem tiefen Schmerz eines Vaterlandsfreundes über die politische Demütigung seines Volkes entsprangen, zu einer Zeit, wo „Deutsche Nation“ und „Deutsches Reich“ glücklicherweise nicht mehr widersprechende Ausdrücke sind; wo durch ungewöhnliche militärische Großtaten ebenso wie durch eine weise und weitsehende Staatskunst die politische Macht Deutschlands fester gegründet ist, als je zuvor; wo deutscher Handel und deutsche Industrie im Wettbewerb unter den Nationen die vorderste Stelle in allen Weltteilen zu erringen streben. Die Frage, der wir heute gegenüber stehen, ist derjenigen gerade entgegengesetzt, vor der sich Schiller und seine Zeitgenossen sahen. Damals hieß es: Wird der hohe Stand intellektueller Bildung, literarischer und künstlerischer Kultur, den die wenigen Gebildeten erreicht haben, auf die Massen wirken und eine neue Aera allgemeiner Spannkraft hervorrufen? Wird das Streben des deutschen Geistes nach universellen, menschlichen und ewigen Werten, nach Aufklärung und Vertiefung, nach Weltbürgertum, auch eine Erhöhung nationaler Macht und eine Wiederbelebung des Sinnes für materielle Wohlfahrt bewirken? Jetzt stehen wir vor der Frage: Wird die neue Aera des Volkswohlstandes
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und der nationalen Selbstbehauptung auch ein Wiedererwachen höchster geistiger Strebungen zur Folge haben? Wird sie der Sehnsucht nach unvergänglichem Besitz einen neuen Antrieb geben? Wird sie zu einem edleren Begriff von Menschentum führen, zu einem tieferen Glauben an die Unendlichkeit, zu einer erhöhten Auffassung von der Bedeutung des Lebens und der Aufgabe der Kunst? Kurz, wird sie eine neue Aera des Idealismus bringen?
Die nachfolgenden Beobachtungen, welche ich kürzlich bei einem Besuch in dem Lande meiner Geburt gesammelt habe, wagen den bescheidenen Versuch, die Summe des Lebens in dem Deutschland der Gegenwart aus diesem Gesichtspunkt zu zergliedern.
Sogleich die ersten Eindrücke im heutigen Deutschland müssen den Unbefangenen davon überzeugen, daß die Fortschritte in den letzten 30 Jahren sich nicht auf industrielle und kommerzielle Entwicklung beschränkt haben; seit den Tagen der Renaissance und Reformation hat es keine Zeit gegeben, in der das äußere Getriebe ohne weiteres ein so sprühendes Leben, eine so intensive Tätigkeit auf allen Gebieten nationalen Strebens gezeigt hat, wie jetzt. Selbst der flüchtigste Beobachter muß den imposanten Eindruck von Gesundheit empfangen, von Macht, von Ordnungssinn, von allgemeiner Aufklärung in der Bevölkerung, wohin sein Blick auf der Reise auch
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fällt; das alles zeigt sich auf jeder Quadratmeile deutschen Bodens im Norden, Süden, Osten, Westen. Diese blühenden, gut gehaltenen Höfe und Landgüter, diese wohlgedeihenden Dörfer, diese schönen, sorgsam gepflegten Wälder, diese werktätigen Städte, die mit einer gut ernährten, gesitteten Einwohnerschaft bevölkert sind, diese stolzen Rathäuser, prächtigen Gerichtsgebäude, Theater und Museen, die sich überall erheben, diese bewundernswerten Verkehrsmittel, diese musterhaften Einrichtungen für Gesundheit, Erholung und Vergnügen: wie deutlich beweist alles das eine bemerkenswerte Höhe des allgemeinen Verantwortlichkeitsgefühls!
Diese großartige Armee mit ihrer straffen Manneszucht und ihrer hohen Auffassung militärischer Ehre (die nur gelegentlich zu Ausschreitungen jugendlicher Heißsporne führen mag), diese Universitäten und technischen Hochschulen mit dem Frohsinn des Studentenlebens, aber auch mit dem Ernst und der Freiheit wissenschaftlicher Forschung, die vernünftige Leitung politischer Versammlungen und Kundgebungen, die besonnene Bestimmtheit und wirksame Organisation der arbeitenden Klassen in ihrem Kampf für soziale Hebung, das ehrerbietige und aufmerksame Verhalten sogar der Massen zur Kunst in jeder Gestalt: -- welche unverkennbaren Beweise eines ausgezeichnet organisierten Gesamtwillens, eines instinktmäßigen
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Strebens nach höheren Formen nationalen Daseins!
Es ist nicht ohne Grund gesagt worden, der amerikanische Patriotismus, verglichen mit der Gefühlswelt der Alten Welt, unterscheide sich im wesentlichen dadurch, daß er vorherrschend auf die Zukunft gerichtet sei. Der Mangel einer alten, historischen Tradition, wie die riesenhafte Aufgabe, welche auf einem Volke lastet, das noch im Werden begriffen ist, begründet dieses Vorwärtsdrängen. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, daß der deutsche Patriotismus von heute vorzugsweise rückwärts schaue, daß er sich hauptsächlich darum kümmere, das Fortleben der Tradition, der Vergangenheit zu erhalten, daß er des Ausblicks in eine ideale Zukunft ermangele. Deutschland ist gleichfalls eine junge Nation; auch hier drängen sich neue Ordnung der Dinge, neue Aufgaben, neue Ideale dem nationalen Bewußtsein auf; der eigentliche Patriotismus, von seiner äußeren Erscheinung abgesehen, besteht auch hier darin, an den Problemen von morgen zu arbeiten.
Wir wollen einige der Ideale betrachten, welche bewußt oder unbewußt die intellektuelle und moralische Welt des Deutschen von heute beherrschen, um ein Bild zu gewinnen, was das Deutschland der Zukunft sein wird.
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I.
Wollte man den Durchschnitts-Amerikaner dazu auffordern, sein politisches Glaubensbekenntnis abzulegen, so würde er wahrscheinlich ohne viele Bedenken seine Antwort in dem einen Wort „Freiheit“ zusammenfassen. Dem Deutschen wäre es weniger leicht, eine überhaupt annehmbare Antwort auf diese Frage zu finden. Seine Antwort würde wechseln je nach den politischen Hauptfragen, die das Programm der Partei enthält, der er angehört. Der Konservative würde behaupten, daß eine festgegründete Monarchie die einzige Macht wäre, der man das Staatsschiff sicher anvertrauen könne, und er würde das Heer als das Bollwerk einer mächtigen Monarchie ansehen. Er würde ferner erklären, daß für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral eine feste Verbindung von Thron und Altar, von Staat und Kirche durchaus notwendig sei; er würde sich endlich ohne Zögern zu den beiden Regierungsgrundsätzen bekennen: Erhaltung althergebrachter Einrichtungen und wohlwollende Bevormundung der Massen. Der Liberale würde wahrscheinlich
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die „Englische Konstitution“ als das Ideal seines Regiments bezeichnen; er würde von der Notwendigkeit der parlamentarischen Regierung sprechen, die Unfähigkeit der gegenwärtigen Parteien beklagen, den Militarismus, die Herrschaft der Geistlichfeit und das Protektionswesen verspotten, und für die Freiheit des Gedankens und des Handels schwärmen. Der Zentrumsmann würde vor allen Dingen auf das Prinzip der Staatsallmacht schelten und die freie Kirche im freien Staate preisen; er würde die Arbeit der katholischen Kirche an der moralischen und wirtschaftlichen Entwickelung der arbeitenden Klassen verherrlichen, und für die höheren Schulen und Universitäten die Zulassung katholischen Denkens und katholischer Gelehrsamkeit in dem gleichen Maße fordern, wie es protestantischer Wissenschaft gewährt sei. Der Sozialist endlich, nicht zu reden von einer Anzahl anderer ephemerer Parteien und Fraktionen, wie den Alldeutschen, den Antisemiten u. s. w. -- der Sozialist würde nur die Republik als die ideale Form der Regierung ansehen, er würde die ganze bestehende Ordnung der Dinge als bis ins Mark verderbt und unhaltbar verdammen; er würde wünschen, das stehende Heer durch eine Miliz zu ersetzen, die anerkannten Kirchen abzuschaffen, die großen Industrieen in staatlichen Betrieb zu nehmen und alles mögliche andere. Kurz es würde bei solchen Nachfragen scheinen, als gäbe es nur ein großes
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Chaos politischer Meinungen, die einen Kampf auf Tod und Leben miteinander führten, als wäre eine Uebereinstimmung in wesentlichen Grundsätzen bei aller Verschiedenheit der praktischen Ziele in der deutschen Politik eine Unmöglichkeit.
Eine nähere Betrachtung mag jedoch die Tatsache offenbaren, daß das Bild der Zukunft, das den Vertretern der verschiedenen Parteien vorschwebt, nicht so von Grund auf verschieden ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Vor allen Dingen sind die fettgedruckten Schlagwörter in den verschiedenen Katechismen der Parteien -- in Deutschland so gut wie anderswo -- meist nicht viel mehr wie hypnotisierende Formeln, dazu bestimmt, das Auge gefangen zu nehmen und den Parteimann in den angenehmen Zustand einer einschläfernden Gewißheit zu wiegen, daß er diese Dinge glaube. In Wirklichkeit würde kein Konservativer leugnen, daß, wenn die Monarchie keine andere Rechtfertigung für ihr Bestehen hätte, als daß sie auf Bajonette und Flinten gestüßt ist, es nicht der Mühe wert wäre, eine so teure Einrichtung zu erhalten. Die Wiederherstellung der patriarchalischen Art der Regierung ohne die Kontrolle des Volkes ist ein frommer Wunsch, welcher die Brust weniger Fanatiker erfüllen mag wie einst die des berüchtigten Grafen Pückler, aber die praktische Durchführung solcher Wünsche würde den Wagemutigen in ernste Konflikte mit den Gerichten verwickeln oder ihn zum Schluß
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in eine Irrenanstalt bringen. Auf der andern Seite sind die Grundsätze der liberalen Partei -- die übrigens für den Augenblick sowohl in der inneren wie in der hohen Politik sich fast völlig erschöpft hat -- derartig überspannte, daß man wohl überhaupt an ihrer Fähigkeit zweifeln kannn, ihr doktrinäres Programm von Selbstregierung und bürgerlichen Rechten in Taten von politischem Wert umzusetzzen. *) Ihr Erfolg ist in der Hauptsache negativ gewesen; und bei mehr als einer Gelegenheit, insbesondere während der Tage des „Kulturkampfes“ ist sie von ihren eigenen Grundsätzen bedenklich abgewichen, indem sie sich selbst zum Werkzeug einschränkender Gesetzgebung gemacht hat. Was die Zentrumspartei betrifft, so ist ihr Motto „die freie Kirche im freien Staat“ in Wirklichkeit nur ein Euphemismus für „der Staat unter der Aufsicht der Kirche“, und würde von ihrem Programm in demselben Moment verschwinden, in dem der Staat auch nur im geringsten die Absicht zeigen wollte, es auszuführen, das heißt, die Kirche aufzuheben oder sich selbst zu überlassen. Und zuletzt: Das Gerede der Sozialisten von einer deutschen Republik ist offenbar ein bloßes Schlagwort oder im besten Fall ein so
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*) Seit dieses geschrieben wurde, haben die neuen Wahlen für den Reichstag stattgefunden. Sie scheinen ein Wiederaufleben des Liberalismus in Deutschland anzuzeigen; hoffen wir, daß es ein Liberalismus praktischer Natur von gesundem Menschenverstande sein wird (geschrieben 1907).
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schattenhafter Traum unreifer Köpfe, daß es nicht nötig ist, es ernstlich zu betrachten.
Während also eine gute Anzahl der scheinbaren Unterschiede und Gegensätze der verschiedenen Parteien in Wahrheit sich in Schall und Rauch verwandeln, haben nun offensichtlich alle deutschen Parteien eine wesentliche Sache gemeinsam, nämlich das starke Vertrauen in die Allgegenwart der Regierung. Dieses Vertrauen ist historisch sehr wohl begründet. Welche schlecht klingenden Namen man auch suchen mag: -- Bürokratie, Offiziösentum, Regierungskaste und was noch mehr, -- das Faktum bleibt, daß Regierungsfürsorge und Beamtentum -- sowohl in der Verwaltung wie im Heere -- während der letzten 200 Jahre der wahre Zuchtmeister des deutschen Volkes gewesen ist in seiner Entwickelung zur nationalen Größe, die stärkste Kraft in dem allmählichen Anwachsen einer aufgeklärten öffentlichen Meinung. Es kann bezweifelt werden, ob die Regierung irgend eines andern Landes, ausgenommen vielleicht des modernen Japan, so beharrlich und standhaft dem Grundgedanken der öffentlichen Wohlfahrt gelebt, es so als das einzige Gesetz für das Verhalten jedes Staatsdieners aufgestellt hat, wie Preußen und die deutschen Staaten, welche ihre Verwaltungsgrundsätze Preußen entlehnt haben. Der Gedanke, daß ein öffentliches Amt eine öffentliche Vertrauenssache ist und daß Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit die einzigen unerläßlichen Vorbedingungen
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für ein Amt sind, ist dem Deutschen etwas so Selbstverständliches, daß es in dem Programm keiner der Parteien auch nur erwähnt zu werden brauchte. Bei allen Parteien ist das stillschweigend vorausgesetzt, und wenn es auch zu viel gesagt wäre, die deutsche Verwaltung von heute sei durchaus frei von Parteigeist: das muß man ihr sicherlich nachsagen, diesem Grundsatz versucht sie nachzuleben.
Der kürzliche Konflikt des preußischen Kultusministeriums mit einem großen Teil der Studentenschaft wie mit einigen Fakultäten der Universitäten und Technischen Hochschulen ist ein gutes Beispiel für diese Tatsache. Während der letzten Jahrzehnte haben die katholischen Verbindungen einen großen Aufsschwung auf deutschen Unniversitäten genommen. Sie nehmen nur solche junge Männer auf, die regelmäßig ihren religiösen Pflichten nachkommen und in jeder Hinsicht gläubige Söhne der Kirche sind. Sie sind mit der Zentrumspartei auf das engste verbunden und machen kein Geheimnis aus ihrem Wunsch, ultramontane Propaganda zu machen. Natürlich haben sie die Feindschaft und Verachtung des größten Teiles der studentischen Korporationen auf sich geladen, die auf Gedankenfreiheit schwören, nicht ohne entschieden antiklerikale Gefühle. Als nun vor einiger Zeit die katholische Verbindung des Polytechnikums in Hannover eine offizielle Vertretung in dem Ausschuß
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der Studentenschaft verlangte, wurde diese Forderung von den anderen Verbindungen zurückgewiesen mit der besonderen Begründung, daß die katholischen Vereine dem Grundsatz der akademischen Freiheit unbedingt widersprächen und die Gemeinschaft mit den übrigen studentischen Körperschaften verschmähten. Seltsam genug, die Fakultät stimmte mit dieser Ansicht überein und andere Polytechniken und Universitäten schlossen sich an. Das Kultusministerium entschied sich jedoch für den katholischen Verein, dem Grundsatz einer Regierung folgend, welche frei von Parteigeist ist, und lehnte es ab, der Ausschließung des Vereins vom Ausschuß der Studentenschaft zuzustimmen. Darauf ging ein Sturm der Entrüstung durch die preußischen Universitäten, es ergoß sich eine Flut hochtönender Reden über Freiheit der Wissenschaft, über die Verteidigung moderner Zivilisation gegen Romanismus und mittelalterliche Weltanschauung, es jagten sich die Protestversammlungen, erfüllt mit Anklagen gegen die „reaktionäre“ Regierung. Aber das Ergebnis wird unzweifelhaft ein Sieg des über den Parteien stehenden Entscheides der Regierung sein. Nur eins ist schade, daß es nämlich zurzeit nicht gerade wahrscheinlich ist, daß die Regierung denselben Standpunkt beibehält, wenn es sich darum handelt, die Rechte anderer Verbindungen zu schützen, welche dem Staat weniger erwünscht sind, das wäre, -- zum Beispiel -- die der Sozialisten.
Deutsche und amerikanische Ideale.
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Doch kehren wir zu unserer Hauptfrage zurück, der Frage, ob es ein politisches Ideal gibt, welches die großen Verschiedenheiten der deutschen Parteien zu einem gemeinsamen Ziel vereinigt. Das traditionelle von Parteigeist freie Verfahren der deutschen Verwaltung hat, so sahen wir, es zuwege gebracht, daß alle deutschen Parteien sich viel bereitwilliger auf die Regierung verlassen, als es in den meisten andern Ländern der Fall ist. Dieses weitgehende Vertrauen auf die Regierunz hat es seinerseits zuwege gebracht, daß man allgemein viel mehr als in England und Amerika die Regierung als den großen Eintrachtsstifter und Schiedsrichter bei widerstreitenden Interessen betrachtet. Und diese Ansicht von der Aufgabe der Regierung hat wiederum eine Forderung in den Mittelpunkt des politischen Lebens gestellt, welche in anderen Ländern mehr allgemein auf moralischen und wirtschaftlichen Boden gegründet ist -- die Forderung nämlich sozialer Gerechtigkeit. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich die Idee der sozialen Gerechtigkeit als das spezifisch deutsche Ideal des politischen Lebens bezeichne.
Daß die sozialistische Partei die erste gewesen sein mußte, dieses Ideal zu verkünden, ist natürlich, weil sie die Sache der großen Masse vertritt, der ja auf dem ganzen Erdball soziale Gerechtigkeit in so hohem Maße versagt ist -- der Masse der Enterbten und Niedergetretenen.
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Aber es ist hier durchaus nicht allein das Ideal der Niedergetretenen, es ist ein Ideal, welches die Besten aller Parteien und Klassen begeistert; es ist ein wesentlicher Bestandteil des Volksgeistes. Die konservative Partei wird dazu bestimmt durch die Gewißheit, daß die Monarchie auf die Dauer nur erhalten werden kann, wenn die große Masse des Volkes sich um die kaiserliche Standarte sammelt. Das Zentrum kann sich der Ueberzeugung nicht entziehen, daß soziale Gerechtigfeit einer der ersten Grundsäße der christlichen Lehre ist. Die liberale Partei muß zugeben, daß es keine Aufklärung und Zivilisation ohne dieses Prinzip gibt. Und der einfache Mann in der ganzen Welt fühlt instinktiv, daß Deutschland von allen Ländern dasjenige ist, in dem dieser Gedanke das Leitmotiv in der Gestaltung der Zukunft der Nation zu sein bestimmt ist.
Wie abgedroschen und veraltet erscheinen die meisten andern Ideale, die in den letzten hundert Jahren ausschlaggebend waren. Wie wenige von denen, welche Schillers und seiner Zeitgenossen Brust erfüllten, haben heute noch Lebenskraft. Die Verbrüderung der Nationen? Deutschland hat genügend Grund gehabt, an der Aufrichtigkeit derjenigen zu zweifeln, welche ein Geschäft daraus machen, über Menschenliebe und Weltfrieden zu deklamieren. Jeder Schritt, den es zu nationaler Einheit und Konsolidierung gemacht hat, ist von seinen guten Freunden und Nachbarn
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angefochten worden: das Reich hat durch einen blutigen Krieg zusammengeschweißt werden müssen, der durch Napoleons Intriguen heraufbeschworen wurde; und jetzt wird Deutschlands Entwickelung zu einer Seemacht argwöhnisch beobachtet, verwünscht, und soviel als möglich von andern handeltreibenden Rivalen der ganzen Welt gehemmt. Wahrlich, diese Verbrüderung der Nationen hat keinen besonderen Reiz für das Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts! Und Aufklärung? Die Zeit ist längst vorüber, wo dieses Wort die Elite der Nation ausschließlich beherrschte. Man hat allmählich eingesehen, daß, so unschätzbar geistige Aufklärung auch ist, sie bei alledem ihre Gefahren hat und die große Masse des Volkes leicht zu Materialismus und moralischer Gleichgiltigkeit führt. Aber Freiheit? Sicherlich ist die Aufgabe der Freiheit unendlich, und es ist eine gewaltige Arbeit für sie noch zu leisten, im gegenwärtigen Deutschland so gut wie überall, besonders in religiöser Beziehung; aber es wäre sehr verkehrt zu leugnen, daß die deutsche Verfassung von heute dem Einzelnen eine Summe politischer Freiheit gewährt, wie sie sich vor hundert Jahren niemand hätte träumen lassen; sie ist in der Tat schwerer, als die Mehrzahl zu tragen fähig ist. Selbst dem Sozialisten ist Freiheit nicht mehr die einzige magische Formel, auf die er schwört; was er fordert, ist nicht Freiheit, sondern Gerechtigkeit. Nationalität?
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Für die große Menge der Deutschen hat dieses Wort mehr Inhalt als Menscheitsverbrüderung, Aufklärung oder Freiheit. Und doch bedeutet dieses nicht mehr eine die Massen beherrschende elementare Sehnsucht, es drückt eher Befriedigung aus über die Erfüllung nationalen Emporstrebens, Stolz über nationale Großtaten; es hat aufgehört ein Ideal zu sein. Die Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ läßt nicht mehr des Deutschen Herz schneller schlagen. Fortschritt und Weltherrschaft der Industrie? Sicherlich ist dieses eine Sache, für die tausend und abertausend Köpfe und Hände rastlos arbeiten, ein Ziel für den Ehrgeiz, das den klarsten und energischsten Geistern des Landes vorschwebt. Aber wie könnte man vergessen, daß eben dieser Fortschritt oft genug ein Fetisch ist, dem Tausende von lebenden Wesen geopfert werden, ein Krebsgewächs, das an der Gesundheit der Nation nagt? Wie könnte industrielles Machtstreben jemals zu dem Schwung und der hinreißenden Kraft eines nationalen Ideals kommen?
Man vergleiche mit all diesen Idealen und Zielen des Ehrgeizes die Worte „soziale Gerechtigkeit“ und man wird sofort empfinden, daß sie besser wie alle andern den idealen Inhalt dessen umschreiben, was der Deutsche heute unter Patriotismus versteht. In keinem andern Lande hat der Staat eine solche Verpflichtung, die soziale Fürsorge zu überwachen, oder eine solche Fähigkeit,
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seinem Aufsichtsrecht dauernd Geltung zu verschaffen, wie in Deutschland. Eine Regierung, welche jeden Nerv des Volkes für öffentliche Zwecke anspannt, welche einige der besten Lebensjahre jedem Staatsbürger für den Militärdienst abzwingt, welche bei jedem wichtigen Punkt in des Einzelnen Laufbahn die Verbindung mit dem Staat und die Verantwortung gegen den Staat betont, solch eine Regierung kann nicht gut die Verantwortung umgehen, als der große soziale Friedenstifter zu handeln, als der Vermittler zwischen Kapital und Arbeit, als der Anwalt der Schwachen und die Stüße der Bedürftigen; und es liegt in der Natur der Sache, daß bei Erfüllung dieser Pflicht sie immer mehr dahin getrieben werden muß, große Industrieen auf eigene Rechnung zu übernehmen, und der große Arbeitgeber zu werden. Daß die deutsche Regierung sich über diese ernste Verpflichtung völlig im Klaren ist, und in ungewöhnlichem Grade dazu fähig sie zu erfüllen, das hat sie reichlich bewiesen, einerjeits bei dem riesigen Unternehmen der staatlichen Versicherung der Arbeiter gegen Unfall, Invalidität und Alter und andererseits durch den bemerkenswerten Aufschwung der deutschen Eisenbahnen seit ihrer Uebernahme in staatliche Verwaltung.
Es ist vollständig klar, daß solch eine ungeheure Macht, einer Partei-Regierung ausgeliefert, unvermeidlich in die schlimmste Form der
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Tyrannei und Unterdrückung ausarten würde; nur eine über den politischen Parteien stehende Regierung ist imstande, diese Macht der sozialen Gerechtigkeit dienstbar zu machen. Die große Frage, die entscheidende Forderung ist nicht etwa die Einführung des englischen Prinzips einer parlamentarischen Regierung, der Sieg der Herrschaft der Majorität, sondern die weitere Entwickelung des historischen deutschen Grundsatzes einer parteilosen Regierung, der Ausbau einer Regierung, die, weil sie sich aus allen verschiedenen Parteien rekrutiert, in Wirklichkeit sowohl wie im Prinzip sich über alle Parteien erhebt, und noch ausschließlicher als bisher der einen großen Sache des Gemeinwohles dient. Ist die Hoffnung phantastisch, daß die deutsche Regierung der Zukunft gewohnheitsgemäß in sich die besten Geister der Konservativen, Liberalen, des Zentrums und der Sozialisten-Partei vereinigen, und dadurch dem Parteileben seine gegenwärtige Bitterkeit und Unversöhnlichfeit nehmen wird ?*) Zeigt nicht die ganze Richtung der politischen Geschichte mit ihrer traditionellen Abneigung gegen die Herrschaft der parlamentarischen Majorität und mit ihrer traditionellen Forderung eines bodenständigen, auf das Wohl des Ganzen gerichteten
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*) Die nötige Vorbedingung solch einer Einigung aller Parteien innerhalb der Verwaltung wäre selbstverständlich, daß die Sozialisten die Monarchie als den Grundstein der deutschen Verfassung anerkennen.
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und hochgeschulten Beamtentums nach dieser Seite? Ist das nicht ein würdiges Ziel für den patriotischen Ehrgeiz? Und wird nicht die völlige Durchführung einer über den Parteien stehenden Regierung um der sozialen Gerechtigkeit willen und der stete Ausgleich der Parteien innerhalb der vollziehenden Gewalt eine wichtige und hochlehrreiche Errungenschaft in der Geschichte der politischen Erfahrungen sein, und die Regierungsformen sogar um einen neuen und besonders wertvollen Typus bereichern? In der Tat, hier steht Deutschland vor einer Aufgabe, für deren erfolgreiche Lösung alle Nationen ihm eine Dankesschuld abzutragen haben werden; hier ist eine neue Gelegenheit für die Hohenzollerndynastie, der Welt zu beweisen, daß ihr historisches Motto: „Suum cuique“ kein leeres Wort ist, und aufs neue ihre wunderbare Macht zu bekunden, Vertrauen in ererbte Traditionen mit einem kühnen Griff nach den Problemen der Zukunft zu vereinigen.
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II.
Wenn soziale Gerechtigkeit das politische Ideal des gegenwärtigen Deutschlands genannt werden kann, so kann soziale Leistungsfähigkeit als die grundlegende Forderung der neuen deutschen Erziehung angesehen werden.
Die Zeiten sind lange vorüber, wo gelehrte Bildung noch als das Hauptziel oder sogar einzige Ziel einer höheren Erziehung angesehen werden konnte. Die Forderungen des praktischen Lebens sind so mannigfaltig geworden und so dringend, daß von der Schule gebieterisch verlangt wird, sich den verschiedenen Bedürfnissen anzupassen. Daher das praktische Streben der sogenannten Schulreform, einer Bewegung, die, durch Männer wie Paulsen, Rein, Münd und andere Universitätsprofessoren eingeleitet, unter persönlichem Druck des Kaisers und durch die energische Förderung Althoffs im preußischen Kultusministerium bald in die Bahn der Gesetzgebung geleitet worden ist. Die Aufhebung des lateinischen Aufsatzes für das Schlußexamen des Gymnasiums, die vermehrte Aufmerksamkeit, die der deutschen
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Geschichte und Literatur gewidmet wird, die Einführung der französischen Sprache vor der lateinischen in einigen Gymnasien, die Beschränkung der Zeit für das Griechische, die Gleichstellung von Schulen ohne Griechisch (der Realgymnasien) und sogar von Schulen ohne Latein (der Oberrealschulen) mit den Gymnasien, der Versuch mit den Mädchengymnasien, der Vorschlag, eine gewisse Bewegungsfreiheit in der Wahl der Studien in den höheren Klassen einzuführen, die Zulassung von Frauen zu den Universitäten und sogar den Laboratorien und anderen wissenschaftlichen Instituten auf den Universitäten, die Gründung neuer polytechnischer Schulen mit Universitätsrang und der Berechtigung, den höchsten akademischen Grad zu erteilen -- alles dieses hat entschieden ein praktisches oder, wie die Spötter sagen, amerikanisches Aussehen.
Aber so fraglos es ist, daß die meisten dieser Reformen oder sie alle den Schulen und Universitäten durch wirtschaftliche Bedürfnisse und durch den gesteigerten Lebenskampf in allen Schichten der Gesellschaft aufgedrungen wurde, ebenso gewiß ist es auch, daß es nicht allein wirtschaftliche Gründe waren, die alle diese Reformen hervorgebracht haben. Ein geistiges Motiv eben so sehr wie ein materielles liegt der Schulreform zugrunde -- und diejenigen, welche dem widersprechen -- obgleich sie sich einbilden, höhere
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Interessen zu vertreten -- sind sicher nicht die wahren Verfechter idealer Forderungen.
Der gesteigerte Kampf ums Dasein, das schnellere Pulsieren des Blutes, die größere Anspannung des Willens und des Intellektes, -- und das alles sind charakteristische Züge der neueren Gesellschaft --, bringen in Deutschland ebenso sehr wie sonst überall einen neuen Typus von Männern und Frauen hervor. Wir wollen nicht -- dieses ist das instinktive Gefühl, das unter der jüngeren Generation von Eltern vorherrschend ist -- wir wollen nicht durch das Studium der Alten in unseren Kindern das Leben ertötet sehen. Mögen diejenigen, die eine besondere Neigung nach dieser Richtung haben, sich dem Studium der alten Welt widmen. Das Verständnis der antiken Literatur und Kunst zum Hauptpfeiler der Bildung zu machen, von uns allen eine vollständige Kenntnis der griechischen und lateinischen Grammatik zu verlangen sowie der griechischen und römischen Geschichte, den besten Teil der Schulzeit Studien zu widmen, welche direkte Wichtigkeit nur für Philologen oder Historiker haben -- das heißt geistige Tyrannei. Was ist die Kolonisation von Kleinasien durch die Griechen, verglichen mit der riesigen Kolonisation von Amerika durch die germanischen und romanischen Nationen? Was ist der Kampf von Rom und Karthago um die Vorherrschaft im Mittelmeer, verglichen mit dem Kampf um die Weltherrschaft,
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der in den letzten paar Jahrhunderten vor sich gegangen ist? Was ist der Streit zwischen der römischen Plebs und den Patriziern, verglichen mit dem unermeßlichen Kampf zwischen Kapital und Arbeit, der jetzt die ganze zivilisierte Welt erregt? Was ist selbst griechische Literatur und Kunst, verglichen mit dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit künstlerischer Ideale und Formen, die Italien hervorgebracht hat und Spanien, Frankreich, Deutschland, die Niederlande und England? von anderen Nationen nicht zu sprechen, welche die Kunst unseres Zeitalters bereichert haben. Die alten Sprachen als das einzige Mittel sprachlicher Schulung hinzustellen, die Zivilisation der alten Welt als den Gipfel aller menschlichen Entwickelung zu verherrlichen, heißt einen Götzen willkürlicher Einbildung verehren. Weit entfernt davon, eine befreiende Macht auf den Geist der Jugend auszuüben, dient die Aufdringlichkeit, mit der die Schulmänner den Vorzug der alten Welt betonen, eher dazu, die Aufnahmefreudigkeit abzuschwächen, oder sie weckt sogar den Widerspruch, den alle Uebertreibung zur Folge hat, und führt so zu Gleichgültigkeit und offener Feindschaft eben gegen den Gegenstand, den zu bewundern dem Schüler befohlen wird. Die wahre und wichtige Forderung einer vernünftigen Erziehung ist, daß wir geistig zu Hause sind in unserem eigenen Lande und in unserem eigenen Volke, daß wir die Geschichte unserer Muttersprache
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kennen, daß wir mit den großen Epochen unserer nationalen Entwickelung völlig vertraut sind -- sowohl der politischen wie der literarischen und künstlerischen -- daß wir dann auch mit der Sprache und Literatur derjenigen Nationen genau bekannt sind, die den größten Einfluß auf unsere Geschichte gehabt haben, und mit denen wir jetzt in den engsten Beziehungen stehen -- in Deutschlands Falle also mindestens mit der englischen und französischen Sprache und Literatur; und erst wenn all diesen Anforderungen Rechnung getragen ist, sollte das Studium der alten Welt in den allgemeinen Schulplan aufgenommen werden.
Ist es nicht beschämend, daß die Mehrzahl unserer gebildeten Männer die beste Zeit ihrer Knabenjahre hindurch mit den griechischen Modus- und Zeitformen haben kämpfen müssen und nun nicht imstande sind, unser eigenes Nibelungenlied oder Walther von der Vogelweide im Original zu lesen? Ist es nicht eine Torheit und eine Schande, daß sie in die Details archäologischer Streitigkeiten über die Ausgrabungen in Olympia und Pergamon eingeweiht und zu derselben Zeit über die Schätze plastischer Kunst, die in den Kathedralen von Bamberg, Naumburg und Straßburg aufgespeichert sind, unwissend erhalten wurden? Ist es nicht widersinnig, daß sie sich mit Platos Dialogen und Ciceros Reden quälen mußten, ohne zum größten Teil dazu gelangt zu
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sein, deren wahren Sinn und eigene Schönheit zu erfassen -- und zur gleichen Zeit kaum mehr als die bloßen Namen von Männern, wie Milton, Voltaire und Rousseau hörten -- Männern, welche wegen ihrer Sprache und wegen des Gegenstandes, den sie behandeln, dem Verständnis der Jugend von heute viel näher stehen? Wenn wir eine völlige Umänderung der Methode in der Schulbildung der Menschheit fordern, so geschieht dies nicht aus kaufmännischem Geiste heraus, sondern in dem Wunsche, eine vernünftige, geistige Freiheit bringende Erziehung anzubahnen. Wir sind überzeugt, wenn beim Unterricht in allen Schulen der Nachdruck auf die neue Welt gelegt würde -- neuere Sprachen, neuere Geschichte, neuere Kunst und Literatur und neueres Denken -- dann würde die Erziehung eine neue Bedeutung erlangen. Sie würde aufhören, nur eine Angelegenheit der Schule zu sein, sie würde eine Art Selbstprüfung des nationalen Geistes sein und ihm neue Grundlagen für seine Machtenfaltung geben. Sie würde all die Härte verlieren und die Unnatur, welche von dem alten System unzertrennlich ist. Sie würde den Selbständigkeitstrieb des Schülers anspornen und den Wunsch auf eigenen Füßen zu stehen. Sie würde im wahren Sinne des Wortes Befreiung sein, Befreiung von Selbsttäuschung und Selbstbetrug. Sie würde ein sehr wirksamer Faktor werden in der Verhinderung oder doch Ausgleichung internationaler Mißverständnisse und
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Feindseligkeiten. Denn wie könnte ein Mann, der sich wirklich in der geistigen Welt mindestens von Frankreich, Deutschland und England zu Hause fühlt, nicht die enge gegenseitige Abhängigkeit der großen modernen Nationen erkennen; wie könnte er anders als erfüllt von dem Wunsche sein, seinen Teil zum gegenseitigen Verständnis beizutragen sowie zu freundschaftlicher Hingabe an eine gemeinsame Aufgabe?
Wenn so die Neigung zum Modernen, die im gegenwärtigen Deutschland so charakteristisch für den höheren Unterricht ist, im großen Umfange durch ideale Beweggründe beeinflußt ist, so muß dasselbe von den beiden anderen charakteristischen Merkmalen deutscher Erziehung von heute gesagt werden -- dem hohen Wert, der auf die Naturwissenschaften gelegt wird, und dem sich dauernd steigernden Interesse an Universitätsstudien, das die Frauen an den Tag legen. Was die Naturwissenschaften anbetrifft, so gewinnt die Ueberzeugung immer mehr Boden, daß sie, ganz abgesehen von ihrer nationalökonomischen Bedeutung, ein Bestandteil jeder Erziehung sein müssen, die eine allseitige Geistesausbildung anstrebt. So wenig ein Mann als wirklich gebildet angesehen werden kann, der nicht geistig zu Hause ist in den großen Problemen und Konflikten, die die Geschichte seines eigenen Landes gestaltet haben, ebensowenig kann er gebildet genannt werden, wenn er nicht geistig zu Hause
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ist auch in der physikalischen Welt, die uns umgibt. Und welches Zeitalter hat diese einleuchtende Wahrheit klarer erwiesen als das unsrige, das sein höchstes Streben in den Dienst physikalischer Beobachtung stellt, das Jahr für Jahr in der Weltordnung neue Kräfte enthüllt, die bisher verborgen waren? Und zur Erkenntnis dieser Wahrheit hat sich Deutschland in erstaunlicher Schnelligkeit erhoben. Was den Zulauf der Frauen zu den Universitäten betrifft, so steht es außer Frage, daß der Wunsch wirtschaftlicher Unabhängigkeit und die Notwendigkeit der Selbstunterhaltung nicht die zwingende Ursache für diese bemerkenswerte Erscheinung gewesen ist. Die meisten der deutschen Frauen treiben keine Brot- und Butterstudien auf der Universität; was sie fordern, ist geistige Anregung. Die deutsche Frau hat vielleicht spät, *) aber eben darum auch mit besonderem Eifer den Kampf für die Emanzipation aufgenommen; sie ist zum vollen Bewußtsein ihrer geistigen Würde gelangt. Sie wünscht nicht mehr, sich auf die enge Sphäre des Hauses zu beschränken, sie will nicht mehr ein bloßes Dekorationsstück sein, sie will sich nicht mehr mit einer Erziehung begnügen, die sie nur zum Salongeplapper befähigt. Sie ist entschlossen, geistig
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*) Es muß immerhin gesagt werden, daß Frauen eine wichtige Rolle in der deutschen Romantik gespielt haben und daß die Emanzipation der Frauen eine Forderung war, die durch die Schlegel und ihren Kreis eifrig erhoben wurde.
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auf eigenen Füßen zu stehen, mit den Problemen der modernen Welt zu ringen, ein Kamerad und gleichwertiger Genosse des Mannes zu werden, in das weite Reich einer allseitigen Geistesbildung zu gelangen. Das Ergebnis ist, daß es heute schwerlich eine deutsche Familie in den höheren Gesellschaftsklassen gibt, in welcher nicht einige weibliche Glieder einen ernsten Lebensberuf ergreifen, und daß der Stand der Dinge in einer früheren Generation, wo der Leutnant das gewöhnliche Ideal des typischen deutschen „Backfisches“ war, schon jetzt als abgeschmackt gilt. Die bemerkenswerte lebendige Tätigkeit, die deutsche Frauen in letzter Zeit in der Literatur entfaltet haben, ganz besonders in der Lyrik und in der Novelle, ist nur eine Phase, freilich eine hochbedeutende, des weitverzweigten feurigen und ernsten Strebens der Frauenwelt nach Aufwärtsentwickelung. Die Frauenfrage ist in Deutschland ebenso lebendig, ebenso von Bedeutung und auf ebenso hohem Standpunkte wie in jedem anderen Lande.
Es wird jetzt vielleicht klargelegt sein, in welchem Sinne ich soziale Leistungsfähigkeit die grundlegende Forderung für die moderne deutsche Erziehung genannt habe. Nicht in dem Sinne, als hätte nur das sozialen Wert in der Erziehung, das zur sofortigen Anwendung auf öffentliche Bedürfnisse dient; vielmehr durchaus in dem Sinne, daß nur das Wissen sozialen Wert hat,
Deutsche und amerikanische Ideale.
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Das selbst erworben ist, das ein wesentlicher Bestandteil der emporstrebenden Persönlichkeit geworden ist und zu ihrer Eigenart beiträgt, das ihre Macht der Anpassung an gegebene Bedingungen vermehrt, das zu einer volleren Einsicht in die von allen Seiten auf uns einströmenden großen Probleme führt, das zur tätigen Anteilnahme an der öffentlichen Arbeit jeder Art anspornt, das die Lebensfreude erhöht. Und es wird nun ebenso klargelegt sein, daß der Spottname „amerikanisch“, der der neuen Erziehung gegeben wurde, in Wirklichkeit nicht ein Ausdruck der Nichtachtung, sondern eine ehrenvolle Bezeichnung von tiefer Bedeutung ist. Denn er bestätigt, daß die beiden großen Nationen, die sich gegenseitig vielleicht mehr zu geben haben als irgendwo heute zwei andere Völker, Schulter an Schulter in diesem Kampfe für moderne, vernünftige Geistesbildung stehen. Es kann in der Tat keine Frage sein, daß in Amerika und in Deutschland diese Sache zuerst ihren großen bleibenden Sieg erringen wird. In keinem anderen Lande, vielleicht mit Ausnahme von Skandinavien, ist die öffentliche Meinung so überwiegend auf der Seite des neuen Ideals; in keinem anderen Lande ist das Wert der Wiederherstellung in so ernster, methodischer und umfassender Art aufgenommen worden; in keinem anderen Lande hat die Reform so scharfsichtige, unnachgiebige und furchtlose Führer gehabt. Es
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ist mehr als ein bloßes Zusammentreffen, daß im gegenwärtigen Augenblick die beiden in Erziehungsfragen einflußreichsten Männer in Amerika und Deutschland in ihrer geistigen Beschaffenheit sich so auffallend ähnlich sind wie Präsident Eliot und Dr. Althoff. *)
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*) [Althoff ist bekanntlich inzwischen gestorben, sein Werk aber bleibt lebendig. -- Anm. des Herausgebers.]
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Bisher haben wir den besonderen geistigen Strömungen, die das Leben des gegenwärtigen Deutschlands beherrschen, wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn wir diese Seite unseres Themas betrachten, so werden wir sogleich durch eine bemerkenswerte Verschiedenheit zwischen Deutschland und den anderen Ländern, besonders Amerika und England, überrascht. In Amerika und England sind Fragen des geistigen Lebens noch eng verbunden mit der Kirche; es ist kaum denkbar, daß geistige Probleme in einem dieser Länder aufkommen könnten, ohne daß die Kirche versuchte, sich ihrer zu bemächtigen. In Deutschland hat die Kirche aufgehört, ein moralischer Führer zu sein; sie ist in die Stellung eines Verteidigers des Glaubens zurückgesunken. Das innere Leben ist in Deutschland verweltlicht worden; die Männer, welche geistige Ideale schaffen, sind Philosophen, Dichter, Künstler.
Dieser Stand der Dinge beruht in weitem Umfange auf der Nachwirkung der großen Epoche deutscher Bildung, die sich an die Namen Goethe
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und Kant, Schiller und Fichte knüpft. Der letzte Inhalt der Lebensarbeit dieser Männer und ihrer Gefolgschaft besteht darin, daß sie die kirchliche Sünden- und Erlösungslehre durch den Glauben an die rettende Eigenschaft rastlosen Strebens ersetzten. Niemals in der ganzen Geschichte der Welt ist dem Menschen ein Ideal des Lebens vorgehalten worden, welches höher, begeisterter, freier von unwürdigen und kleinlichen Motiven ist, als in ihren Lehren. Sie vertrauten der wesentlichen Güte alles Lebens, sie dachten sich das Weltall als ein großes geistiges Wesen in beständiger Selbstentwickelung und in dauerndem Kampfe um höhere Formen des Daseins. Sie glaubten, daß der Mensch als ein Teil dieses geistigen Weltalls in unmittelbarer und instinktiver Verbindung mit seiner innersten Wesenheit sei; und sie sahen es als den großen Beruf des Menschen an, dem Geist zu seiner vollen Selbstverwirklichung zu helfen. Sie verschlossen ihre Augen nicht vor der Tatsache, daß es Böses in der Welt gibt. Aber sie sahen in dem Bösen nur vergebliche Versuche, das Gute zu erreichen, -- Mißerfolge gleichsam des Weltgeistes in seinem Empordringen zur Erfüllung der Selbstoffenbarung -- und das Heilmittel gegen das Böse, die Erlösung von der Schuld, fanden sie nicht in Zerknirschung oder selbst auferlegtem Leiden, sondern in erneuter Anstrengung, in erhöhter Tätigkeit, in unablässiger Arbeit. Es ist unleugbar, daß
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die praktischen Forderungen, welche aus diesem neuen Glauben erwachsen: die volleste Entwickelung aller menschlichen Fähigkeiten, der freieste Spielraum für alles menschliche Emporstreben und die Rettung des Menschen vor der Sünde durch eigene Kraft, vollständig unvereinbar mit den traditionellen Lehren der Kirche sind, den Lehren von der angeborenen Verderbtheit der menschlichen Natur, und der Unmöglichkeit der Erlösung ohne göttliche Vermittelung. Aber es ist nicht minder klar, daß sie vollkommen in Uebereinstimmung mit der ganzen Richtung, mit den stärksten Tendenzen des modernen Lebens sind. Und es kann keine Frage sein, daß Literatur und Kunst, insoweit sie zum Ausdruck bringen, was wirklich modern im gegenwärtigen Leben ist, ihre besten Eingebungen aus solchen Ansichten schöpfen und schöpfen müssen.
Während der Jahrzehnte, die auf Goethes Tod folgten, wurde die öffentliche Aufmerksamkeit durch die schweren Fragen der politischen Wiedergeburt und der nationalen Einheit so vollständig in Anspruch genommen, daß die höheren Forderungen des menschlichen Herzens, die Sehnsucht nach geistiger Vervollkommnung, nach der Identität des Individuums mit dem All, nach der harmonischen Rundung des persönlichen Lebens unterdrückt werden mußten. Daher die Lahmheit, die zwiespältige Kleinlichkeit, die vorherrschende Mittelmäßigkeit der deutschen Literatur und Kunst
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in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit der Gründung des neuen Reiches 1870 war dann dem dringendsten nationalen Bedürfnis endlich abgeholfen, war der Grund zu einer freien politischen Entwickelung gelegt. Von nun ab traten Fragen des inneren Lebens wieder in den Vordergrund, man bekam wieder ein Auge für das Genie und seine Leistung, die Philosophie erwachte aus ihrem Schlaf und mit der Zeit erfolgte eine Wiederbelebung jener moralischen Begeisterung, jenes intensiven Strebens nach freier Entwickelung der Persönlichkeit, jener furchtlosen und eindrucksvollen Ansicht von der Welt als eines großen lebenden Organismus, kurz jener geistigen Energien, die die große Epoche deutscher Kultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts herausgeführt hatten. Heute stehen wir inmitten einer literarischen und künstlerischen Bewegung, die in jeder Hinsicht ein würdiges Seitenstück zu der großen Aera moralischer Befreiung ist; heute haben Literatur und Kunst wieder die Rolle der Führerschaft in dem nationalen Streben nach geistigem Besitztum errungen.
Wenn wir mit einem Wort den Grundton dieser neuen deutschen Kunst bezeichnen wollen, gleichsam um anzuzeigen, was sie zum moralischen Bewußtsein des deutschen Volkes beigetragen hat und noch beiträgt, können wir kein besseres Wort wählen, als „Lebensbejahung“, wie Nietsche, ihr leidenschaftlichster, wenn auch keineswegs edelster
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Herold sagen würde. Selbstverständlich kann keine Kunst gedacht werden, der diese Lebensbejahung gänzlich fehle; der wesentliche Unterschied zwischen den verschiedenen Epochen der künstlerischen Entwickelung besteht gerade in ihrem größeren oder geringeren Grade, ihrem weiteren oder engeren Bereich. Aber der unterscheidende Zug in der heutigen deutschen, wie überhaupt in aller modernen Kunst, ist die brennende Kraft, das beinahe „universale Umfassungsstreben dieses Gefühles. Humanität, -- das ist der allgemeine Eindruck, den die charakteristischsten Schöpfungen dieser neuen Kunst hinterlassen -- Humanität: das heißt sich von dem heißen Wunsche tragen lassen, Alles zu umfassen, an allem innigen Anteil zu nehmen, sich mit allem eins zu fühlen. Die stumme Natur und das Leben der Tiere, die Masse auf Straße und Markt, die Plackerei des täglichen Lebens, die Leiden der Niedergetretenen und Gesunkenen, der ganze Knäuel menschlicher Instinkte und Leidenschaften, des Ehrgeizes und des Emporstrebens, -- das ist alles einer liebevollen Betrachtung und des Interesses wert, ist alles ein Teil des großen lebendigen Ganzen, in all dem ist der Atem des unendlichen Geistes zu spüren, das rastlose Streben des Gesamtlebens nach Vervollkommnung des Daseins.
Die beiden Männer, welche diesem neuen Pantheismus den vollkommensten Ausdruck gegeben haben, Richard Wagner und Arnold Böcklin,
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sind nicht mehr unter den Lebenden, aber ihre Werke sind noch heute eine so wirksame Macht zur Schaffung der idealen Atmosphäre in der deutschen Kultur, wie je zuvor. Die Tausende und Abertausende, die Jahr für Jahr den herzergreifenden Klängen von Wagners Musik lauschen, die da eintreten in die Welt elementarer Sehnsucht, Leidenschaft und Hochstrebens, verkörpert in den heroischen Gestalten von Tannhäuser, Tristan, Siegfried und Parsival -- sie müssen dabei eine moralische Umwälzung durchmachen. Sie müssen fühlen, -- ohne klare Erkenntnis vielleicht in den meisten Fällen, aber darum nicht weniger gewaltig, -- daß da Lebenstypen aufgestellt sind, die über dem gewohnten Begriff von Gut und Böse stehen, Wesen, die etwas von der urzeitlichen Macht der Natur in sich tragen, erhaben über Glück wie Unglück, ihr einziges Gesetz und ihre einzige Freude darin findend, sich auszuleben. Selbst wo ihre Namen auf kirchliche Ueberlieferung und Lehre hinweisen, sind diese Heldengestalten in sich selbst so unkirchlich wie möglich; gleichviel ob sie einem tragischen Geschick unterliegen oder ob sie siegend daraus hervorgehen; sie sind sich selbst genug, sie bleiben ungebrochen; sie haben nicht das Bedürfnis, sich selbst in irgend etwas zu wandeln, was ihren natürlichen Instinkten entgegengesetzt ist; ein unzerstörbarer Glaube an das Leben beseelt sie, bringt sie in Bewegung und erhält sie aufrecht,
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jene instinktive Gewißheit, daß sie in sich selbst unzerstörbar sind, Teile der großen geheimnisvollen Einheit des Weltalls, die sich durch unzählbare Abwandlungen und Katastrophen in unverminderter Herrlichkeit und Kraft behauptet. Und ähnlich ist die Wirkung von Böcklins Gemälden. Hier ist jauchzendes Leben, hinreißend geradezu durch das Gefühl der Einheit des Menschen mit den ihn umgebenden Mächten. Hier ist die Grenze, die Menschen und Natur trennt, gänzlich verwischt. Ob wir die Brandung gegen die Felsen schlagen sehen, in ihrem mächtigen Strudel einen Schwarm phantastischer Gestalten, halb Mensch, halb Tier, umherwerfend, oder den Kampf von Centauren auf einsamer Bergeshöhe, umwogt von schwer sich türmenden Wolken, ob die Wunder des Waldes sich uns auftun in dem scheuen, halbirren Blick des Einhorns, das lautlos durch das schauerliche Halbdunkel schreitet; ob uns der heilige Hain aufnimmt, gemeinsam mit der feierlichen Schar, die sich um den Altar sammelt, um sich vor der heiligen Flamme in stummer Anbetung zu beugen; ob wir uns selbst verlieren in wohlig-anmutiger Betrachtung bei dem ehrwürdigen alten Einsiedler, der vor dem Bilde der heiligen Jungfrau die Geige spielt; ob wir den trotzig-kühnen Träumen des fahrenden Ritters folgen, der mit erhobenem Haupte und eherner Herrenmiene über die trostlose sandige Küste reitet; ob wir die Sonne im Bache funkeln sehen und die lachenden
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Wiesen mit dem lieblichen Flor der Blumen und der fröhlich spielenden Kinder, oder ob die Toteninsel mit ihren düstern Cypressen und rauhen Felsen über dem still-klaren Meere sichtbar wird; überall scheint uns dasselbe magische, alles umfassende und entfaltende, unerschöpfliche Wesen entgegen zu blicken, von dem Menschen und Tiere und Pflanzen und alle Elemente Teile oder ihren Ursprung nicht verleugnende Ausstrahlungen und Kundgebungen sind; überall ist unser Lebensgefühl erhöht, unsere Anteilnahme erweitert, unsere edlen Leidenschaften werden aufgewühlt, unsere Sehnsucht nach einer vollständigen und harmonischen Entwickelung aller unserer Fähigkeiten wird ins Endlose gesteigert. Von Böcklin kann in Wahrheit gesagt werden, daß er die gegenwärtige Generation von Deutschen gezwungen hat, in einer neuen Art zu sehen, intensiver und mit weiterem Gesichtskreis; daß der Himmel blauer erscheint, die Wiese grüner, das Licht der Sonne blendender, der Schatten der Pappeln und Cypressen tiefer, als ehe er unsere Augen zu dieser Sehfähigkeit auftat; daß er, wie niemand vorher, die Natur offenbart hat, als ein einziges, gigantisches, unwiderstehliches Streben nach Schönheit, nach Farbe, nach Licht, nach Mannigfaltigkeit der Formen, nach Vervollkommnung der Typen. Daß ein Mann von so erstaunlicher schöpferischer Kraft und mit so ungewöhnlichem Reichtum von Ideen während seines
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ganzen Lebens gegen alle Arten von Vorurteilen und Gehässigkeiten zu kämpfen hatte, und daß er bis jetzt noch kaum begonnen hat, über die Grenzen deutschsprechender Länder hinaus einen Einfluß auszuüben, *) das beweist von neuem, wie schwer es für die wahrhaft Großen ist, plumpe Mittelmäßigkeit beiseite zu schieben.
Vielleicht kann keiner der Bildhauer, Maler, Musiker und Schriftsteller der jüngeren Generation an zeugender Kraft und an Schwung der Auffassung mit den beiden Meistern verglichen werden; ihre Werke vor allen werden wohl der Nachwelt wie in einem treuen Spiegel künden und als Symbol dafür gelten, wieviel Kraft des Denkens, des Sehnens und Strebens, welche Leidenschaft, Glut der Empfindung und Unrast die Herzen der Deutschen Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erzittern ließen. Daß aber die ganze neueste deutsche Kunst und Literatur diesen Idealen ergeben ist, daß sie von demselben Eifer beseelt ist, mit den Grundproblemen des Daseins zu ringen, daß sie von demselben Wunsche getrieben wird, die innersten Strebungen des Lebens in all ihrem Reichtum und ihrer Mannigfaltigkeit auszudrücken, das beweist zur Genüge schon die bloße Aufzählung
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*) Meines Wissens ist der kurze Aufsatz über Böcklins Werke in meinen „Glimpses of Modern German Culture“ der erste und einzige Versuch eines amerikanischen Schriftstellers, seine Kunst zu charakterisieren.
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solcher Namen, wie Richard Strauß, Max Klinger, Gerhart Hauptmann, Joseph Widmann, Wilhelm von Polenz, Gustav Frenssen, Ricarda Huch, Helene Böhlau und Klara Viebig. Und es muß noch hinzugefügt werden, daß die letzten Jahre uns nicht wenige Geistesprodukte gegeben haben, die in ihrer künstlerischen Vollendung, wie in ihrer geistigen Bedeutung zu den großen gerechnet werden können.
Denken wir an solche Schöpfungen wie Strauß' Tod und Verklärung, Klingers Beethoven, Hauptmanns Armen Heinrich, Widmanns Maikäfer-Komödie -- hat die zeitgenössische Kunst anderer Völker irgend etwas aufzuweisen, das tiefer in der Empfindung oder unwiderstehlicher im Ausdruck wäre? Führt uns Strauß' packende Komposition nicht unmittelbar in das Zentrum der elementaren Nöte und Katastrophen des Lebens; breitet sie nicht vor uns die Ansicht einer unendlichen und Alles umfassenden Tätigkeit aus? Hat Klingers Meißel nicht Beethovens Erscheinung in ein Symbol gewandelt der konzentrierten Energie modernen geistigen Strebens? verkündet nicht sein Marmor den unbezwinglichen Entschluß des modernen Menschen, den Stoff zu besiegen? Ist nicht Hauptmanns Dramatisierung der mittelalterlichen Legende des „Armen Heinrich“ eine wunderbare Verkörperung moderner Sehnsucht nach Festigkeit in der Treue, nach geistiger Auferstehung, ein Lied
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der Erlösung durch innere Wandlung? Und öffnet Widmanns phantastische Dichtung der Freuden, Wünsche und tragischen Leiden des Insektenlebens unser Herz nicht für alles, was lebt und atmet; läßt sie uns nicht unser eigenes Leben in einem neuen Licht erscheinen, vermehrt sie nicht unsere Fähigkeit zu genießen und stärkt sie nicht unsere Bereitwilligkeit zu ertragen? In der Tat, das sind ideale Schöpfungen, die aus dem Kern der geistigen Probleme, die uns umgeben, entsprungen sind; das sind Hymnen modernen Glaubens; hier erscheint die Kunst in ihrer edelsten Gestalt, als Priesterin der Humanität, heilend, emporhebend, mahnend und erlösend.
Aber ganz abgesehen von solchen Werken wie diese, welche dem rein Menschlichen dienen und ihrem Gegenstand nach dem Aktuellen entrückt sind -- was für ein Reichtum von Idealismus und sprudelnder Lebenskraft ist neuerdings in der Literatur ans Licht gekommen, die zeitgenössische Stoffe und Zustände behandelt. Ganz besonders hat die deutsche Novelle in den letzten 15 oder 20 Jahren eine vollständige Umgestaltung erfahren. Sie ist nicht vergeblich bei den Meistern des Realismus in Rußland und Frankreich in die Schule gegangen; sie hat Treffsicherheit des Ausdrucks gelernt, Präzision der Schilderung, Verständlichfeit der Gruppierung, Einfachheit und Wahrheit der Charakteristik. Vom Gesichtspunkte künstlerischer Komposition aus sind allen zeitgenössischen
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Novellen, die Europa und Amerika hervorgebracht hat, solche Werke ebenbürtig wie Polenz' Büttnerbauer, Ricarda Huchs Ludolf Ursleu, Clara Viebigs Tägliches Brot und das schlafende Heer, Helene Boehlaus Rangierbahnhof. Was jedoch diesen und ähnlichen deutschen Novellen der Gegenwart besondere Bedeutung gibt, ist die edle großzügige Menschenliebe, die sie durchströmt, das tiefe Mitgefühl mit menschlichen Leiden und Kämpfen, die barmherzige Beurteilung sogar der Entarteten und Verbrecher, die offene Empfänglichkeit für jede Art von starkem und wahrem Gefühl, der Glaube an die Heiligkeit des Lebens und der ernstliche Wunsch, allen seinen Typen gerecht zu werden, das heftige Verlangen, sich allen Fragen der individuellen Lebensführung und der öffentlichen Sittlichkeit ohne Vorurteil oder Arglist zu nähern, das Vertrauen endlich zu der rettenden Macht ehrlichen Strebens und mutigen Ringens mit den Verhältnissen. Diese Novellisten sind sittliche Führer, sogar wenn sie es nicht wissen, und besonders wirksam, wenn sie es nicht beabsichtigen. Sie verhelfen zu einer tieferen und volleren Auffassung wahren Menschentums, einer ehrlicheren Grundlegung der Moral, einer freieren Entwickelung der Persönlichkeit, einer auf Gerechtigkeit und Vernunft ruhenden Gesellschaft. Sie stärken den sittlichen Bewußtseinszustand, die Gewissenskraft des deutschen Volkes; sie bereichern die Schatzkammer seiner geistigen Ideale.
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Ich habe bereits auf die Tatsache hingewiesen, daß die Kirche, so sehr sie auch den Anspruch macht, die Erhaltung und Verbreitung geistigen Lebens zu organisieren, dem ganzen Komplex geistiger Ideale völlig fremd geblieben ist, der, erwachsen aus der großen Epoche des deutschen Klassizismus und der Romantik, seit jenen Tagen die deutsche Laienreligion geworden ist, und während der letzten wenigen Jahrzehnte in Literatur und Kunst einen neuen großartigen Ausdruck gefunden hat. Unglücklicherweise ist diese Behauptung noch nicht scharf genug. Die Kirche, die protestantische wie die katholische, hat diesen Idealen gegenüber nicht nur eine gleichgültige Haltung behauptet; sie hat wieder und wieder ihre offene Feindschaft gegen sie erklärt, sie hat sie als unchristlich und atheistisch verdammt, sie hat sie als die Wurzel alles Uebels in der neueren Gesellschaft bezeichnet.
Hier liegt der wesentlichste Zwiespalt, das größte Paradoxon des zeitgenössischen deutschen Lebens. Nirgends hat die Kirche günstigere Aussicht, geistiger Führer zu werden, in den Strom des eigenen Lebens all die höheren Bestrebungen der Nation aufzunehmen, als in Deutschland. Kein Volk ist im Herzen tiefer religiös als das deutsche, nirgends gibt es ein persönlicheres Verlangen nach der Unendlichkeit. Keine Lebensauffassung scheint unbedingter dazu bestimmt zu sein, das gemeinsame Glaubensbekenntnis der modernen
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Menschheit zu werden, als der edle Optimismus, das freudige Zutrauen zum Universum, der Glaube an die Wesensverwandtschaft aller Dinge, die Sympathie mit allem, was Leben hat, der Glaube an die Arbeit, an das unaufhörliche Streben als den königlichen Weg zur Erlösung, wie sie das lebende Vermächtnis sind unserer klassischen Literatur und Philosophie. Es ist nichts, absolut nichts in diesen Ueberzeugungen, was die Kirche nicht assimilieren könnte. Wollte sie sich auf denselben geistigen Standpunkt stellen, den unsere Denker, Dichter und Künstler einnehmen, wollte sie die unwürdige Vorstellung von einer außerweltlichen Gottheit aufgeben, welche irgenwo in einem Winkel des Weltalls thront; wollte sie die kindliche Vorstellung einer einzigen Offenbarung dieser Gottheit in vergangenen Zeiten durch den Mund einiger weniger Männer und einiger auserwählter Völker aufgeben; wollte sie den unangemessenen Gedanken der Erlösung der Menschheit durch ein stellvertretendes Opfer mit Entschiedenheit beiseite schieben; wollte sie ehrlich und offen eine Religion annehmen, die in Harmonie steht mit der modernen Auffassung der Welt, die tolerant genug ist, die Forderungen des Menschlichen in jeder Form gelten zu lassen, die furchtlos auf jede Botschaft der Natur und aller ihrer Erforscher hört: dann würde die Kirche all die suchenden, kämpfenden, strebenden Geister der Nation um sich versammeln, eine neue Aera
Deutsche und amerikanische Ideale.
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einer volkstümlichen Religion würde beginnen. Deutschland, die Heimat des freien Denkens, würde auch die Heimat einer freien Religion werden. Was sehen wir statt dessen? Wir sehen, daß unter allen Geistesmächten des heutigen deutschen Lebens keine so absolut auf dem alten Standpunkt stehen geblieben ist, wie die Kirche, daß sie sich eigensinnig an abergläubische Vorstellungen anklammert, die in direktem Widerspruch zu dem in der Volksschule erworbenen primitivsten Wissen stehen; daß sie diese Vorstellungen dem Religionsunterricht in den Schulen aufzwingt, ja sogar der theologischen Fakultät der Universitäten, der „Sitze der höheren Kritik“; daß sie ihre veralteten und unaufgefklärten Ansichten mit solcher Zähigkeit und Energie zur Geltung bringt, daß sie zum Beispiel in Preußen die Leichenverbrennung bis vor kurzem gesetzlich hintertrieben hat, nur aus dem Grunde, weil dieses Verfahren der Bestattung der Auferstehung des Leibes zuwider sei; wir sehen mit anderen Worten, daß die Kirche alles tut, um religiöses Leben der großen Mehrzahl des Volkes als eine ungeheure Lüge oder gar als Gegenstand des Spottes erscheinen zu lassen. Kein Wunder, daß, in dem protestantischen Teile Deutschlands wenigstens, der den Schulen aufgezwungene Religionsunterricht die jungen Leute bei zunehmender Reife in den meisten Fällen zur Verachtung aller mit der Kirche im Zusammenhang stehenden
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Dinge führt; daß die Predigten in der Regel vor leeren Bänken gehalten werden, daß die materialistischen Phantasien Häckels und der grenzenlose Kirchenhaß Nietzsches bei der großen Masse des Volkes ein williges Ohr findet und sie zum Abscheu vor der Religion selbst aufreizt.
Dieser Stand der Dinge kann nicht andauern. Entweder die Kirche besteht auf ihrer gegenwärtigen Verachtung alles dessen, was das Leben denkender Menschen interessant und kostbar macht, -- dann wird die Abneigung gegen sie, der Abfall von ihr naturgemäß dauernd wachsen und zuletzt eine solche Ausdehnung erreichen, daß das ganze kirchliche System seiner Auflösung entgegen geht. Oder die Kirche erhebt sich endlich und ergreift die Gelegenheit, erfüllt sich mit dem modernen Glauben an das Leben, bannt dogmatische Zänkereien für immer, predigt uns Gott, wie Christus und seine Jünger ihn gepredigt haben, als den unendlichen Geist, in dem wir leben, weben und sind. *) Dann werden wir eine religiöse Wiedererweckung erleben, wie sie Deutschland seit Luther nicht gesehen hat. Möge uns die Hoffnung nicht täuschen, daß uns die Zufunft so Herrliches beschert.
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*) Unzweifelhaft verdankt ein Buch wie Frenssens Hilligenlei seinen ungewöhnlichen Erfolg hauptsächlich der weit verbreiteten Sehnsucht nach einer religiösen Erneuerung dieser Art.
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Noch wenige Worte zum Schluß. Wir haben gesehen, daß die deutsche Gegenwart durchaus keinen Mangel an idealem Streben hat. Soziale Gerechtigkeit als ausgleichende Kraft in der Entwikelung politischer Institutionen, sozialer Betätigungsdrang als das Ziel der Erziehung, universales, warmherziges Erfassen des Lebens als leitendes Prinzip in Literatur und Kunst -- dieser Dreiklang erhebender Zwecke muß unter allen Umständen jede zum Ganzen strebende Energie aufrütteln, jede Kraft zum Guten wecken, die in der Nation schlummert. Was Deutschland braucht, ist nur ein ungestörter Fortgang der gesamtpolitischen Entwickelung, ein gutes Einvernehmen mit den anderen Mächten, gegenseitige Duldung und guter Wille in den inneren Streitfragen. Werden diese Bedingungen erfüllt, so werden die neuen Ideale, die wir eben kurz betrachtet haben, mehr und mehr das nationale Lebensgefühl vollständig beherrschen, und der Weg zu einem goldenen Zeitalter deutscher Großtaten auf jedem Gebiete höheren Strebens wird frei sein.
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Das Studium der nationalen Kultur. *)
Im vergangenen Frühjahr taten Präsident und Kollegium des Harvard-College einen Schritt, der wie manches unter der Verwaltung des Präsidenten Eliot ein ungewöhnliches Experiment, ja ein Wagnis bedeutete: sie errichteten eine Professur für Geschichte deutscher Kultur, die erste Professur für diesen Gegenstand auf einer amerikanischen oder englischen Universität, und sie übergaben dieses Amt dem damaligen Professor der deutschen Literatur.
Dieses Ereignis legt eine erneute Betrachtung der grundlegenden Frage nahe: Welcher Platz gebührt dem Studium der nationalen Kultur innerhalb der Gesamtheit der historischen und philosophischen Studien? und es ist vielleicht nicht unangebracht, einige Betrachtungen über diesen Gegenstand einem größeren wissenschaftlich interessierten Publikum vorzulegen.
Die Geschichte eines Volkes kann unter zwei Hauptgesichtspunkten studiert werden: Zivilisation
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*) Eine Ansprache, im Oktober 1906 an der Harvard-Universität gehalten.
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und Kultur. Wenn wir von nationaler Zivilisation sprechen, meinen wir damit alles, was dazu beiträgt, die äußeren Bedingungen der Lebensführung zu schaffen: die Art, einen Unterhalt zu gewinnen, die Organisierung der Familie, die Gestaltung der häuslichen und öffentlichen Gewohnheiten, die Ordnung der Gesellschaft, politische, gesetzliche, geistliche Institutionen und die freundschaftliche oder feindliche Berührung mit anderen Nationen. Wenn wir von nationaler Kultur sprechen, so meinen wir damit alles, was dazu beiträgt, das innere Leben zu bilden, die Welt des Gefühls, der Phantasie und des Gedankens zu bereichern: religiöse und philosophische Bewegungen, Strömungen in der Literatur und Kunst, Ideale, intellektuelle und geistige Umwälzungen. Die Zivilisation macht den Bürger, die Kultur den Menschen. Die Zivilisation legt Wert auf das Besondere, Wechselnde, die Kultur auf das Universelle, Ewige; die Zivilisation ist die Form, die Kultur ist der Inhalt nationalen Bewußtseins. Aber keine von beiden kann sich ohne die andere entwickeln; sie üben unausgesetzt einen gegenseitigen Einfluß aufeinander aus; und nur wer beides, die Zivilisation und die Kultur einer Nation umfassend studiert hat, kann beurteilen, was sie zur Summe der Weltgeschichte beigetragen hat.
Ich will in den folgenden Bemerkungen nicht das ganze Gebiet durchgehen, das der Rahmen
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dieser Beobachtungen umspannt. Ich will nur zeigen, wie sehr das Studium des geistigen Lebens, der Literatur und der Kunst dadurch gewinnt, daß man geistige, literarische und künstlerische Bewegungen nicht vereinzelt betrachtet, sondern in einem größeren Zusammenhang: als Teile und verwandte Kundgebungen einer gegebenen nationalen Kultur.
Es ist nichts Revolutionäres an diesem Gesichtspunkt. Seit den Tagen von Winckelmann, Wolf und Boeckh sind Studierende des klassischen Altertums daran gewöhnt, griechisches und römisches Leben in seiner Gesamtheit aufzufassen. Das kritische Studium von Homers Dichtungen, die Geschichte der griechischen Vasenmalerei, des Attischen Dramas, der Attischen Skulptur, Rednerfunst und Philosophie werden allgemein nur als Kapitel einer umfassenden Geschichte griechischer Kultur angesehen, die sich gegenseitig ergänzen und erläutern; und kein klassischer Philologe, der dieses Namens wert ist, würde sich für befugt halten, auch nur einen einzigen Paragraphen irgend eines dieser Kapitel zu schreiben, ohne wenigstens flüchtig das Gebiet der übrigen betreten zu haben. Das Ergebnis ist, daß jede griechische Dichtung von Homer bis zu Theokrit, jede griechische Statue vom Zeitalter der mykenischen Kultur bis zu den Schulen von Rhodos und Pergamon, jeder Gedanke in der griechischen Philosophie von Anaxagoras bis Plotinus,
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ja sogar der Bau jedes griechischen Satzes und jedes Brüuchstück einer griechischen Inschrist als das Zeugnis einer bestimmten Phase in der Entwicklung der griechischen Kultur vor uns steht, und uns so die besondere Beschaffenheit des Lebens offenbart, aus dem es seinen Ursprung genommen hat. Es kann auch nicht gesagt werden, daß diese Einordnung der einzelnen Werke der Literatur, Kunst und Philosophie in die geschichtliche Folge nationaler Entwicklung dem innerlichen Interesse an den Werken selbst auch nur den geringsten Abbruch getan hat. Im Gegenteil! sie hat ein sehr wichtiges Element des Verständnisses hinzugefügt. Die „Werke und Tage“ des Hesiod bedeuten uns mehr, seitdem wir gelernt haben, in ihnen den Aussdruck einer demokratischen Reaktion gegen die aristokratische Gesellschaft der homerischen Zeiten zu sehen. Wir haben eine umfassendere und intimere Kenntnis von der Besonderheit der Kunst des Euripides, seitdem wir sie als das dramatische Gegenstück zu der zersezenden Richtung der rationalistischen Philosophie seiner Zeit und zu der realistischen Darlegung menschlicher Leidenschaft in der plastischen Kunst des Skopas aufzufassen gelernt haben. Und wie viel mehr hat uns die Laokoongruppe zu sagen, jetzt, wo sie uns nicht mehr wie den Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, als eine ewig gültige, zeitlose Offenbarung des absoluten Genius, al3 die „edle Einfalt
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und stille Größe“ (wie Winckelmann es ausdrückt) des griechischen Charakters an sich erscheint, sondern erkannt worden ist als typisches Produkt derjenigen Periode griechisch-nationaler Entwicklung, in die die edle Einfalt und stille Größe des Aeschyleischen Zeitalters durch die heftig gespannte, nervös überreizte Stimmung der hellenischen Romantik verdrängt worden war.
Dieser Gedanke der Einheitlichfeit einer gegebenen nationalen Kultur scheint mir aber bis jetzt noch nicht hinreichend für die Geschichte der modernen Nationen fruchtbar gemacht zu sein; hier hat er noch lange nicht die gleiche Bedeutung erlangt, wie für die Geschichte von Griechenland und Rom.
Nicht als ob es keine hervorragenden Schriftsteller gegeben hätte, welche die literarische, künstlerische und geistige Geschichte moderner Nationen von diesem Standpunkt aus behandelten. In der Tat gibt es nicht wenige berühmte Beispiele dieser Art von angewandter nationaler Psychologie, sowohl in allgemeiner, wie in biographischer Richtung. Unter den Franzosen vertritt der eine Name Hippolyte Taine eine ganze Klasse von Schriftstellern, welche versuchen, das ganze nationale Leben in literarischen und künstlerischen Werken zu charakterisieren. In Deutschland haben Männer wie Jacob Burckhardt, Hermann Hettner und Karl Lamprecht diese Methode für einzelne
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Perioden und Phasen der geistigen Entwicklung wie für die ganze Geschichte eines Volkes in ihren mannigfaltigen Offenbarungen angewandt. In England haben John Addington Symonds und William Lecky Meisterwerke der Forschung in der Geschichte moralischer und geistiger Kultur des Mittelalters und des modernen Europas geschaffen. Und unser eigener Barett Wendell hat es versucht, auf dieser selben Grundlage eine Literaturgeschichte von Amerika aufzubauen. Von Lebensbildern epochemachender Männer hebe ich nur einzelne Werke besonderen Verdienstes hervor, Werke, die uns gleichsam den Geist eines ganzen Zeitalters, die Natur eines ganzen Volfes, zusammengefaßt in einer zentralen Persönlichkeit geben: Sabatiers „Leben des heiligen Franziskus“, Grimms „Michel Angelo“, Villaris „Girolamo Savonarola und seine Zeit“, Morleys „Rousseau“, Justis „Velasquez und sein Jahrhundert“, und ein Buch von jemand, den wir, obwohl leider nur für wenige Monate, den unseren nennen durften: Eugen Kühnemanns „Schiller“. In allen diesen Werken ist die große Aufgabe, das einzige Ziel der Schriftsteller, zu einer klaren und richtigen Vorstellung von dem Stande der Kultur eines bestimmten Zeitalters, eines Volkes und einer Persönlichfeit zu gelangen, darzustellen, welche Ideale vom Leben, welche Tendenzen, Leidenschaften und Vorstellungen diese Persönlichkeit
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im Rahmen ihrer Zeit hatte, welche Ausdrucksformen für das Allgemeine und Besondere, welche Abwandlungen typischer Gedanken sie suchte und fand, welchen Platz sie in dem unversalen Zuge menschlicher Entwicklung einnimmt, was sie unserem eigenen Leben bedeutet.
Und doch! So viel auch durch hervorragende Schriftsteller geschehen ist, um jene Rücksicht auf die Totalität des historischen Geschehens, der die großen Philologen zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bei dem Studium von Griechenland und Rom ihre Erfolge verdankten, auch auf die moderne Kulturgeschichte anzuwenden, -- es bleibt dennoch wahr, daß das Universitätsstudium moderner Literatur, Kunst und Geisteslebens noch immer im ganzen von Gesichtspunkten beherrscht ist, die zu eng sind, um den Studierenden von Anfang an in das weitere Reich nationaler Kultur zu führen.
Ich bin sicherlich weit entfernt davon, den Wert der Spezialisierung zu unterschätzen. Ich glaube durchaus, daß ein Student sich sobald wie möglich daran machen muß, einen Gegenstand bis in die Tiefen zu erforschen, ob es nun einige Besonderheiten der Syntax von Berthold von Regensburg sind oder die Darstellung der Verkündigung in der deutschen Skulptur des Mittelalters oder der Einfluß des Bernhard von Clairvaux auf die deutschen mystischen Gedanken des vierzehnten Jahrhunderts oder irgend etwas
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anderes. Aber ich denke, daß wir als Universitätsprofessoren in der Regel nicht genügend darauf sehen, daß solche Forschungen nicht ins Uferlose führen, und nicht in bloße Sammlung grammatischer Formen oder Aufzählung gewisser plastischer Typen oder in Anhäufung paralleler Stellen einer Anzahl von Schriftstellern ausarten. Daß etwas derartiges durchschnittlich der Inhalt der Doktordissertationen ist, die solche Stoffe behandeln, daran ist nicht zu zweifeln. Auch kann nicht geleugnet werden, wie mir scheint, daß die Monographien in unseren philologischen, archäologischen und literarischen Zeitschriften sehr oft einen beklagenswerten Mangel an historischer Perspektive aufweisen, daß etwas Unproduktives und Nutzloses in diesem ungeheure Getriebe von „Quellenuntersuchungen“ liegt, von Nachweisen literarischer Abhängigkeiten und Verwandtschaften, und von dem ewigen Forschen nach dem ersten als echt bewiesenen Auftreten eines bestimmten literarischen oder künstlerischen Begriffes. Die beinahe ausschließliche Herrschaft dieser Methode auf unseren Universitätsseminaren hat den geistigen Horizont begrenzt, die Phantasie unterdrückt und bei vielen jungen Doktoren und Kandidaten die Auffassung groß gezogen, als wäre Literatur und Kunst, völlig losgelöst vom Leben, nichts als ein ungeheures System automatischer Einrichtungen. Demnach wäre dann die hauptsächliche Tätigkeit des Literarhistorikers
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und Kunstkritikers, den Mechanismus dieser Einrichtungen zu analysieren und die Daten festzustellen, wann ihre Erfinder sie -- sozusagen -- amtlich patentiert haben.
Ich bin überzeugt, daß das einzige Mittel gegen diese geist- und leblose Methode des Studiums von Literatur und Kunst darin besteht, sich unausgesetzt die enge Beziehung von Literatur, Kunst und Gedankenwelt mit der allgemeinen Tendenz nationaler Entwicklung zu vergegenwärtigen und niemals die Tatsache aus dem Auge zu verlieren, daß sie erst zusammen ein lebendes Ganzes ausmachen in dem „Frucht alles ist und alles Samen“.
Lassen Sie mich ein oder zwei Beispiele geben von der Art, wie diese Vorstellung von der gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Ausstrahlungen nationalen Bewußtseins für das Studium der Einzelerscheinung fruchtbar gemacht werden kann. Wenn diese Beispiele ausschließlich dem Felde deutscher Studien entnommen worden sind, so kann man wohl an mir selbst die Folge der Ueberspezialisierung sehen, deren verengenden Einfluß auf andere ich gerade eben beklage; und ich bin bescheiden genug, diese Kritik als berechtigt anzuerkennen und nichts zu erwidern, wenn mir das Wort „Arzt, hilf dir selber“ entgegentreten sollte.
Mein erstes Beispiel betrifft eine einzelne Erscheinung des geistigen Lebens. Niemand kann
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auch nur oberflächlich sich mit der deutschen Romantik beschäftigen, ohne es auffallend zu finden, wie sehr das Problem der Geistesstörung die Aufmerksamkeit der Romantiker erregt. In der Tat gibt es kaum eine Phase geistiger Zerrüttung, welche nicht in der einen oder anderen Form in der Literatur und Kunst der Romantik zur Darstellung kommt. Da sind die überreizten Charaktere Jean Pauls, der melancholische, brütende Philosoph Schoppe, den die unversöhnlichen Kontraste des Lebens, die unermeßlichen Abgründe des Daseins des Verstandes berauben; oder der Riese an Willenskraft Roquairol, den sein grenzenloser Ehrgeiz zu innerem Ruin und geistigem Untergang führt. Da ist die Galerie exzentrischer Persönlichkeiten, die einen so großen Teil von Tiecks literarischem Haushalt füllen: der jugendliche Träumer des Lovel-Typus, der in der Berührung mit der Welt und den Lehren einer Pseudo-Fichte-Philosophie jedes Gleichgewicht verliert; der Mann der blinden Instinkte wie der blonde Eckbert, der gleichsam in einer Welt chronischer Halluzinationen lebt, der von einer beständigen Angst vor ungeheuren Ereignissen verfolgt wird; dem das Leben eine furchtbare Last und ein einziger Alpdruck ist; oder andererseits der verzückte Enthusiast, wie der alte Maler-Einsiedler in „Franz Sternbald“, dem sein sinnig- freudetrunkener Wahn die Schönheit und Harmonie der ganzen Welt erschlossen zu haben scheint.
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Da ist der Somnambulismus von Kleists Kätchen von Heilbronn; die unverantwortliche Ausschweifung oder doch Ziellosigkeit der vagabundierenden Gesellschaft in Brentanos, Eichendorffs und Justinus Kerners Erzählungen. Da ist der geisterhafte Spuk, wie ihn Amadeus Hoffmanns groteske Phantasie hervorgesprudelt hat, seine Verbrecher mit ihren fixen Ideen, seine Spukhäuser, Doppelgänger und verzauberten Bestien, sein Tollhaus von Karrikaturen und geistig oder moralisch verkrüppelten menschlichen Figuren. Daß dieses Interesse der Romantik für das Abnorme und für Geistesstörung seinen Einfluß bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ausgeübt hat, sehen wir an der Popularität des bekannten Kaulbachschen Gemäldes, das den Versammlungsraum eines Irrenhauses schildert; da gruppiert sich alles in erregter Unterhaltung oder in schweigendem Brüten; jeder stellt einen besonderen Typus von Wahnsinn oder Geistesverwirrung dar. Nun, beim Studium dieser Typen von Geistesstörung in der deutschen Romantik ist unverkennbar der am wenigsten weitschweifige und allerdings sehr reizlos-sichere Weg der der gebräuchlichen „Quellenuntersuchung“. Welche Typen von Geistesstörung die verschiedenen Schriftsteller oder Künstler am meisten bevorzugen, wie sich diese verschiedenen Schriftsteller untereinander in dieser Sache beeinflussen; inwiefern beispielsweise die irrsinnigen Charaktere bei Tieck denen bei Amadeus Hoffmann
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zum Vorbilde dienten; wer der erste Autor war, der diese krankhafte Mode aufgebracht hat; welche fremden Einflüsse, wenn überhaupt solche vorhanden sind, dabei mitgewirkt haben; inwiefern schon Tiecks Beschäftigung mit Shakespeare, Ben Jonson oder Cervantes' Don Quichote für seine Neigung zur Darstellung exzentrischer Charaktere verantwortlich war -- all dies sind völlig zweckdienliche Fragen, es sind Fragen, welche beantwortet werden müssen, ehe man zu weiterer Forschung schreitet.
Aber es möge sich ja niemand einbilden, der diese Fragen befriedigend beantwortet hat, er habe dadurch zur Aufklärung des Problems der Geistesstörung in der deutschen Romantik besonderes beigetragen. Was er getan hat, ist der Hauptsache nach von bibliographischem Interesse. Er hat gezeigt, daß es A war und nicht B, der zuerst diesen Gegenstand in der Literatur behandelte, daß D viel von seinem Stoff C verdankt, daß E eine größere Verschiedenartigkeit von Typen aufweisen kann, wie F usw. Die Frage, inwiefern dies bemerkenswerte und ausgebreitete Interesse der Romantiker an dem Phänomen der Geistesstörung im Zusammenhang mit dem nationalen Leben Deutschlands in jener Zeit steht, mit den vorherrschenden Strömungen des Gedankens und Gefühles, mit einem Wort, welchen Platz es in der Geschichte der deutschen Kultur einnimmt -- diese Frage hat er kaum berührt.
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Um diese Frage verständig zu beantworten, wird er die Bewegung der Romantik in all ihren Einflüssen auf das Gefühls- und das intellektuelle Leben jener Zeit zu betrachten haben, und er wird versuchen müssen, diejenigen Momente zu ermitteln, die entscheidend wurden für die Art, wie die Leute Fälle von Geisteskrankheit zu betrachten pflegten. Es sei gestattet, nur in wenigen Strichen den Gedankengang anzugeben, den eine solche Untersuchung nehmen müßte.
Die Bewegung der Romantik ist, in einer Hinsicht wenigstens, eine Auflehnung gegen Gesellschaft und Klassenherrschaft, ein Ausbruch persönlichen Denkens und der Leidenschaft, eine Selbständigkeitserklärung individuellen Gefühls und der Phantasie gegenüber der konventionellen Regel, sie will mitfühlen mit allem, was etwas durch sich selbst ist und nach eigenen Gesetzen sein Dasein gestaltet. Den Romantikern -- und ich begreife unter diesem Namen die ganze Schar von Dichtern und Denkern, die unter dem direkten oder indirekten Einfluß von Rousseaus Lebensidealen gestanden haben -- den Romantikern ist nichts uninteressant, ausgenommen das Künstliche, Verkünstelte. Alles, ob groß oder klein, schön oder häßlich, gebräuchlich oder außergewöhnlich, ob stark oder schwach, gesund oder krank, wohltuend oder zerstörend, solange es nicht künstlich verdreht ist und seiner eigenen Natur entfremdet, ist unseres menschlichen Interesses und unserer
Deutsche und amerikanische Ideale.
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Sympathie wert; und selbst wenn es verkehrt ist, hat es wenigstens ein Anrecht auf unser Mitempfinden und unser Mitgefühl. Die Individualität ist heilig; das Leben als solches ist etwas von absolutem Wert, und alle seine Abwandlungen haben das gleiche Recht, ihre Schwingen zu versuchen.
Ist es nicht klar, daß hier die Quellen der menschenfreundlichen Auffassung in Kriminologie und Psychiatrie liegen, die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, langsam zwar und mit wiederholten Rückschritten, doch sicher vorwärtsschreitet und zu tieferer Erkenntnis führt? Der Verbrecher ist nach Beccaria, dem großen Reformator der Kriminalgesetzgebung im achtzehnten Jahrhundert, kein Feind der menschlichen Rasse, gegen den die Gesellschaft einen unbarmherzigen Kampf zu führen hat. Viel richtiger würde man sagen, er sei ein Opfer der sozialen Zustände selbst; dann ist die Verhütung des Verbrechens durch Besserung dieser Zustände eine Sache von viel größerer Wichtigkeit als die Bestrafung des Verbrechers. Und der Wahnsinnige ist nach Pinel, Tuke und anderen Reformatoren des Irrenwesens im achtzehnten Jahrhundert nicht, wie man ihn in früheren Zeiten betrachtete, ein Schurke, von bösen Geistern geplagt, der bestraft und in Ketten gelegt werden muß, sondern vielmehr ein Schwerkranker, der unserer größten Sorgfalt und Aufmerksamkeit wert ist. Und so sind beide, der
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Verbrecher und der Geisteskranke, dem populärwissenschaftlichen Schrifttum am Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein beliebter Gegenstand für psychologische Analyse und Beschreibung.
Aus der individualistischen und humanitären Strömung der Romantik heraus versuchten nun die Prosaiker und Dichter den Wahnsinnigen gleichzeitig mit anderen Typen menschlicher Gemütszustände zu einem Gegenstand. intensiven Interesses zu machen, und wir brauchen nicht Shakespeare's Lear oder Ophelia oder Cervantes' Don Quichote zu beschwören, um die Häufigkeit von geistig gestörten Charakteren in Tiecks Novellen und Dramen zu erklären. Es kann umgekehrt eher gesagt werden, daß Tiecks Interesse an solchen Charakteren wie dem Narren in König Lear oder Don Quichote zum Teil wenigstens durch die Sympathie der Romantiker für Seltsamkeit und Verkehrtheit begründet wird. Und die ganze Klasse überspannter Figuren, die in der Literatur der Romantik so häufig vorfommen, sie, die das Leben aus einem anormalen Gesichtspunkt betrachten, die ihren eigenen Launen und Illusionen folgen, die sich durch die Welt winden wie durch ein Labyrinth reizvoller Ueberraschungen und zielloser Irrgänge, sie alle können als ein einziger, wuchtiger Protest gegen die fade, nüchterne Existenz des Philisters und Banausen, des verknöcherten Geschäftsmannes, des „nützlichen Gliedes
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der menschlichen Gesellschaft“ bezeichnet werden. Der Schwärmer ist der romantische Charakter ϰατ᾽ἐξοχὴν; seinen sensitiven Nerven offenbaren sich Freuden des Lebens, die dem abgestumpften Gehirn der robusten Gesundheit verborgen bleiben; er ist die Persönlichfeit par excellence, unbelastet von dem Druck der materiellen Welt, die die namenlose Masse beschwert und niederzieht; er schafft sich frei und mit souveränem Humor jeine eigene Welt; in ihm findet die göttliche Ironie, über die Friedrich Schlegel zum Rhapsoden wird, ihren vollsten Ausdruck. Die Verwandtschaft zwischen Wahnsinn und Genie ist eine Entdeckung, die wir der Romantik verdanken.
Dies ist die eine Seite der Sache. Aber die Romantik war nicht nur ein individualistischer Protest gegen die Gesellschaft. Sie war auch etwas, das auf den ersten Blick als das gerade Gegenteil dieses Individualismus erscheinen mag und dennoch am letzten Ende nur eine natürliche Folge davon ist: sie war die Proklamation des Weltalls als eines organischen, lebendigen Ganzen. Und auch diese Seite der Romantik ist eng verknüpft mit dem Interesse, das ihre Dichter und Novellenschreiber an dem Problem der Geisteskrankheit nahmen. Das Unbegrenzte ist die wahre Heimat des Romantikers. Novalis nennt Philosophie Heimweh -- Heimweh nach dem Absoluten. Für Schelling ist Schönheit das Unbegrenzte, in begrenzte Form gebracht. Tiecks ganzes Leben
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war eine endlose Sehnsucht nach einem gewissen Etwas jenseits und aufwärts. Alle Landschaftsbilder der Romantik atmen den bezaubernden Duft jener nebelhaften blauen Ferne, die weiter und weiter, in den unendlichen Raum hinauswinkt. Es hat vielleicht niemals eine Zeit gegeben, wo diese Welt, den paar Auserwählten wenigstens, so buchstäblich mit endloser Kraft belebt erschienen ist. Für sie gab es keine trennende Grenze zwischen Gestein, Pflanze, Tier und Mensch. Ein geheimnisvolles Band von magnetischer Anziehungskraft, so glaubten sie, verbinde Gestirne und Menschengeist, das Organische und das Unorganische, das Bewußte und das Unbewußte. Die Sinnenwelt war für sie nur ein Symbol übersinnlichen Lebens, das geheimnisvoll uns umschwebt und in uns wirkt. Sie erfaßte die ganze Natur als ein einziges Wesen, das unablässig danach strebt, sich selbst zu offenbaren und volles Bewußtsein ihres eigenen Geistes zu erlangen.
Nun ist es klar: solche Ansichten -- von mir gewiß sehr unvollkommen dargelegt, aber von grundlegender und überragender Wichtigkeit für die Romantiker -- von der Wesenseinheit alles Lebens, von der Identität von Materie und Geist, von dem Aufgehen des Individuums in dem mysteriösen All: sie sind einem nüchternen Verstande nicht völlig zugänglich, sie erfordern zu ihrer Aufnahme einen visionären Gemütszustand, eine aufs äußerste gespannte Einbildungskraft,
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eine Seele, die selbst in instinktiver Berührung mit den unsichtbaren Mächten ist. Die Persönlichkeit der Romantik in ihrer höchsten Vollendung ist der begeisterte Mystiker, der ekstatische Seher, der sein eigenes Gesetz ist und in sich selbst das Rätsel des Weltalls beherbergt. Muß man nicht sagen: hier sind wir von neuem in eine Sphäre gelangt, in der es schwierig ist, die Grenze zwischen Inspiration und Verrücktheit zu ziehen?
Hier liegt also der Zusammenhang zwischen dem geistigen Trieb des Jahrhunderts und dem zweiten wichtigen Typus geistig Kranker in der Poesie und Novellenkunst der Romantik: den Suchern nach der Unendlichkeit. Eine große Menge verschiedener Ausgeburten einer extravaganten Phantasie und krankhafter Wünsche können auf diesen gemeinsamen Typus zurückgeführt werden. Er erscheint in der Begierde nach Einsamkeit und beschaulicher Betrachtung, im Schwelgen in dem Mysterium der Nacht oder in den Wundern einer unterirdischen Höhlenexistenz, in der Verherrlichung des Irrationalen und Unlogischen. Er nimmt die Form eines naiven Sichzurückträumens in das Goldene Zeitalter an, oder eines Sichversenkens in einen verzückten Zustand der Umgestaltung, oder der Rückkehr in eine heitere, ruhige Unbewußtheit. Oder aber, wir sehen ihn in gewissen Charakteren dargestellt, die mit sich selbst im ewigen Kampfe liegen und
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Vergessenheit, Betäubung, Verbindung mit dem All-Einen suchen, sei es in mesmeristischer und spiritistischer Pseudowissenschaft, in Sinnenlust und Orgien, oder im Selbstmord.
Es ist kaum nötig hinzuzufügen, daß alle diese verschiedenartigen Typen von geistiger Gestörtheit, die in der Literatur der Romantik so häufig sind, ihr Seitenstück im Leben der Schriftsteller der Romantik finden. Das tragische Geschick von Hölderlin, Heinrich von Kleist und Lenau, die irrsalsreiche Laufbahn von Brentano und Amadeus Hoffmann sind typische Belege für die Richtigkeit von Goethes Ausspruch: „das Klassische ist das Gesunde, das Romantische das Kranke“. Zu unserer Zeit hat das Schicksal von Poe, Nietzsche und Oskar Wilde einen neuen Beweis für diese einfache Wahrheit gegeben. Jeder verständige Mensch wird indessen bei voller Würdigung dieser Tatsache zugeben, daß gerade diese Exzesse romantischer Einbildungskraft die Phantasie und Erkenntnis bereichert, das Mitgefühl gesteigert und das Interesse am Leben erhöht und dadurch unserem geistigen Besitz überaus wertvolle Schätze hinzugefügt haben.
Soviel von dem Wege, auf dem ein einzelnes literarisches Phänomen studiert werden kann oder besser studiert werden sollte: als Ausdruck der ganzen Kultur einer bestimmten Periode in der nationalen Entwieklung. Lassen Sie uns nun
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einen Augenblick bei der Frage verweilen, wie ein ganzer Komplex verschiedenartiger Phänomene der Literatur, der Kunst und des Gedankens unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt der Entwicklung der nationalen Kultur studiert werden kann. Auch hier begnüge ich mich damit, statt theoretischer Erörterungen ein konkretes Beispiel zu geben.
Geschichtsschreiber der deutschen Literatur pflegen die hohe Entwickelung des Gedanfens wie der Form, die für die klassische Epoche der ritterlichen Dichtung um die Wende des zwölften Jahrhunderts charakteristisch ist, in scharfen Gegensatz zu dem Verfall des guten Geschmacks zu setzen, der in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts eintrat. Und es muß zugegeben werden, daß in der Poesie die ganze Periode von 1250 bis 1500, das heißt vom Niedergang der ritterlichen Dichtung bis zur humanistischen Bewegung, nichts bietet, das mit dem großartigen Pathos des Nibelungenliedes oder mit der geistvollen Anmut Gottfrieds von Straßburg oder Walthers von der Vogelweide verglichen werden kann. Von dem rein literarischen Gesichtspunkt aus erscheint das dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert mit ihren schwerfälligen Romanzen, den unbeholfenen, lehrhaften Enzyklopädien, der plumpen Satire und dem überrealistischen, durch und durch possenartigen religiösen
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Drama in der Tat als eine Epoche von Auflösung und Verfall.
Sobald wir jedoch von diesem rein literarischen Gesichtspunkt absehen, sobald wir das ganze Gebiet höherer nationaler Arbeitsleistung überblicken und uns nach Erscheinungen umsehen, in denen die schöpferische Macht der Nation zu dieser bestimmten Zeit ihren vollsten Ausdruck fanden, gewinnen dieselben Jahrhunderte ein wesentlich verschiedenes Aussehen.
Wenn wir, anstatt den Abzweigungen und Ausläufern der ritterlichen Epik und Lyrik im dreizehnten Jahrhundert bis in ihr gequältes und künstliches Detail zu folgen, die Kathedralen von Naumburg, Bamberg, Straßburg und Freiburg besuchen und die Reliefs und Statuen betrachten, die ihre Portale, Chöre und Altäre schmücken, dann werden wir die Tatsache bemerken, daß der klassischen Periode der mittelhochdeutschen Poesie am Ende des zwölften und Anfang des dreizehnten Jahrhunderts nun während des dreizehnten und Anfang des vierzehnten Jahrhunderts eine gleichfalls klassische Epoche der deutschen Bildhauerkunst folgte. Und wenn wir diese plastischen Monumente unter dem Gesichtspunkt der nationalen Kultur studieren, wenn wir sie mit den großen Gestalten der ritterlichen Dichtkunst vergleichen, so finden wir, daß, obgleich Bildhauerkunst und Dichtkunst sich im Stoffe voneinander unterscheiden, der Geist dieser beiden Epochen
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klassischer deutscher Kunst im wesentlichen derselbe ist. Dieselbe Höhe der Auffassung und Technik, dasselbe vornehme Maßhalten mit den Mitteln der Kunst, dieselbe Betonung eines artigen Anstandes, dieselbe merkwürdige Verbindung von peinlichem Festhalten der Konvention in Gewandung, Gebärde und Ausdruck mit einem freien Schwung der Liniengebung des Charakters, derselbe sittliche Ernst und dieselbe phantastische Unbestimmtheit; kurz dieselbe glückliche Verschmelzung des allgemein Menschlichen mit dem eigentümlich Mittelalterlichen, die sich in solchen Charakteren wie Parsival, Tristan oder Gudrun findet, tritt zutage in den Fürstenstatuen von Naumburg, dem sogenannten Konrad der Kathedrale von Bamberg oder der Ecclesia und Synagoge der Kathedrale von Straßburg. Weit entfernt also, im dreizehnten Jahrhundert eine Periode künstlerischen Niederganges zu sehen, beobachten wir darin nur einen Wechsel der Formen, in denen sich die künstlerische Kraft der Nation offenbart; wir erhalten von diesem Standpunkt aus nun einen neuen Eindruck von dem Streben nach Persönlichkeit, von der Erhöhung des menschlichen Lebensgefühls, die zu den großen Wirkungen des erhabenen Schwunges im Rittertum und der Kirche des Mittelalters gehören. Wie die Kunst des Phidias und Praxiteles eine unentbehrliche Ergänzung der Kunst des Aeschylus und Sophokles für unser Verständnis attischer Kultur in ihrer
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Blüte ist, so stehen diese Werke deutscher Bildhauerkunst des dreizehnten Jahrhunderts in ihrer wundervollen Verschmelzung des idealen menschlichen Typus mit den charakteristischen Zügen des Porträts an der Seite der großen Schöpfungen der ritterlichen Dichter, als unbestreitbare Beweise der freien, edlen Menschenauffassung, wie sie die mittelalterliche Kultur auf ihrer Höhe zeigt. Ich darf wohl darauf hinweisen, daß Betrachtungen dieser Art vor einigen Jahren zur Gründung unseres Germanischen Museums geführt haben, als einer Stätte, in der diese eindrucksvollen plastischen Typen deutschen Phantasie- und Gefühlslebens in ihrer historischen Reihenfolge und in möglichster Vollständigkeit vor die Augen der Studierenden gebracht werden sollen.
Aehnliche Beobachtungen können über das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert gemacht iverden. Das vierzehnte Jahrhundert, so unfruchtbar und gedankenarm es erscheint, wenn wir es nach den Leistungen in der schönen Literatur messen, wird hochinteressant und bedeutungsvoll, wenn wir es als die große Epoche des deutschen Mystizismus studieren, wenn wir in dieses wunderbar intensive innere Leben eindringen, in die Welt der Visionen, Träume, Halluzinationen und die reine Sphäre erhabener Selbstverleugnung und Selbstvervollkommnung, die uns in dem Zeitalter eines Eckhart, Suso und Tauler das erste, unwiderstehliche Aufflammen des modernen
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Individualismus zeigen. Und das fünfzehnte Jahrhundert? Kann da wohl ein Zweifel sein, daß es weder Literatur noch Bildhauerkunst, noch „mystisches Grübeln, sondern die religiöse Malerei war, die die schöpferische Kraft der Zeit in sich konzentrierte? so daß, wer dieses Jahrhundert und seine Beziehung zu den vorhergehenden Epochen verstehen will, vor allem die großen Maler studieren muß von den van Eycks und den kölnischen Meistern ab bis zu Memling und Albrecht Dürer. Und indem er das tut, wird er erkennen, daß Dürer und seine Genossen dirette Nachfolger eines Wolfram von Eschenbach und Walthers von der Vogelweide und der Meister der Bildhauerkunst in Bamberg und Straßburg sind, nicht minder wie Eckharts und Susos und der anderen Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts; mit anderen Worten: nur durch dieses Schreiten von einer Sphäre nationalen Schaffens- und Geistesdranges zur anderen wird er dazu kommen, den ununterbrochenen Zusammenhang der Entwickelung der nationalen Kultur als ein Ganzes aufzufassen.
Ich bin fertig; nur ein Wort zum Schluß. Wir können zurzeit in einer Reihe von Universitäten, ganz besonders in Columbia und Harvard, eine bemerkenswerte Verstärkung und umfassende Ausgestaltung der vergleichenden Literaturgeschichte wahrnehmen. Das vergleichende Studium
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nationaler Literaturen kann nicht verfehlen, eine sehr wirksame Hilfe in der Bestimmung dessen zu werden, was Original ist und bleibenden und universellen Wert hat in der künstlerischen Mitarbeit der verschiedenen Völker am gemeinsamen Bau geistigen Lebens. So biete ich als ein Vertreter der Geschichte nationaler Kultur dieser neuen und vielversprechenden internationalen Forschung ein herzliches und hossnungsvolles Willkommen.
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Amerikanische Ideale.*)
Die folgenden Bemerkungen machen in keiner Weise Anspruch auf prinzipielle oder allgemeingültige Bedeutung. Sie sind nichts weiter als die persönlichen Beobachtungen eines Mannes, der seit 25 Jahren an der Harvard-Universität zu Cambridge als Lehrer gewirkt und somit immerhin Gelegenheit gehabt hat, die Lebensgewohnheiten und Lebensziele wenigstens der akademischen Jugend und der gebildeten Kreise Neuenglands aus eigener Anschauung kennen zu lernen.
Wie schwierig, ja wie gefährlich es ist, Urteile allgemeiner Art über amerikanische Verhältnisse zu fällen, dafür hatte ich vor mehreren Jahren, kurz nach dem Erscheinen des geistvollen Amerikabuches meines Kollegen Münsterberg, einen schlagenden Beleg. Unter den vielen faszinierenden Gedanken dieses Buches übte ein Satz einen ganz besonderen Zauber auf mich aus: der Satz, daß der amerikanische Patriotismus
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*) Aus der Neuen Rundschau, Juni 1909.
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nichts mit dem Boden zu tun habe, da der amerikanische Boden noch keinen nationalen Gefühlswert besitze, nichts mit der Volksart, da eine eigentümliche amerikanische Volksart noch nicht bestehe, nichts mit der Vergangenheit, da die amerikanische Vergangenheit noch zu wenig Geschichte habe; daß vielmehr die patriotischen Gefühle des Amerikaners sich durchaus und ausschließlich auf die Zukunft richteten, auf die gemeinsame Arbeit an der Ausgestaltung der kommenden Geschicke der Nation. Dieser Gedanke stimmte so vollkommen mit meinen eigenen Gefühlen für mein Adoptivvaterland überein, daß ich nicht umhin konnte, bei Gelegenheit einer Universitätsfeier, welche hervorragende Vertreter des ganzen Landes zusammenführte, eine größere Anzahl von Gelehrten aus den verschiedensten Teilen der Union auf ihre Stellungnahme gegenüber der Münsterbergschen Auffassung zu interpellieren. Wie groß war mein Erstaunen, als ich bei fast allen diesen Männern auf den entschiedensten Widerspruch stieß. Die einen erklärten, ihre amerikanischen Gefühle deckten sich im wesentlichen mit ihren Empfindungen für den heimischen Boden, sei es der von Massachusetts oder Ohio oder Pennsylvanien. Andere nahmen einen bestimmten provinziellen Typus, wie den des Neuengländers oder des Virginiers, als den für sie feststehenden Idealtypus des Amerikaners in Anspruch, an den sich ihre Vaterlandsgefühle
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vor allem hefteten. Es ist interessant, daß einer der schärfsten und feinsinnigsten Denker Amerikas, Josiah Royce, dieser Auffassung insofern beipflichtet, als er, in seiner jüngst erschienenen Philosophy of Loyalty, die Neubelebung der provinziellen Eigenart als dringende nationale Notwendigkeit hinstellt. Noch andere behaupteten, für sie läge die Triebkraft ihres Patriotismus durchaus in der Vergangenheit, vor allem anderen in den Erinnerungen des großen Bürgerkrieges. Die beiden einzigen, welche gleich mir die Berechtigung der Münsterbergschen Theje anerkannten, waren ein Pennsytvanier deutscher Abkunft und ein in Dakota angesiedelter Engländer. Kurzum, ich wurde zu der Annahme gezwungen, daß die Formulierung des amerikanischen Patriotismus in vollem Maße nur für bestimmte Kategorien der Bevölkerung zutrifft: für die erst seit ein oder zwei Generationen auf neuer Scholle Heimischen oder für diejenigen Teile des Landes, in welchen die Einwanderung der letzten Menschenalter die eingesessene Bevölkerung überwiegt.
Das Bedenkliche allgemeiner Sätze über amerikanische Ideale wird nun noch erhöht durch die Abneigung des Amerikaners gegen die öffentliche Geltendmachung von abstrakten Prinzipien, die in keiner unmittelbaren Beziehung zu seinem persönlichen Leben stehen. Man kann sich kaum eine Rektoratsrede an einer deutschen Universität denken, welche nicht von den Idealen des
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akademischen Lebens handelte, welche nicht im letzten Ende auf eine Verherrlichung der Forschung als solcher hinausliefe, welche nicht die Wissenschaft als Selbstzweck statuierte und unbedingte Voraussetzungslosigkeit und unbedingte Freiheit der Wissenschaft forderte. Amerikanische Studenten werden ähnliche Grundsätze nur selten in gleicher Schärfe ausgesprochen hören. Ich selber habe zahlreiche Studentenansprachen eines der bedeutendsten Vertreter amerikanischen Universitätswesens, des kürzlich zurückgetretenen Präsidenten Eliot von der Harvard-Universität, mit angehört; und immer und immer wieder war ich halb betroffen und halb von Bewunderung erfüllt über den durchaus persönlichen Grundton der Ermahnungen und Lehren, welche dieser vielfach als „der erste Bürger der Vereinigten Staaten“ gefeierte Mann an seine jugendliche Hörerschaft richtete. Häufig machte es den Eindruck, als ob der Redner das Wort „Ideale“ absichtlich vermiede; nie zeigte sich auch nur das leiseste Bestreben, seine Zuhörer durch allgemeine Schlagworte hinzureißen; immer und immer wieder richteten sich seine Worte an das natürliche Bedürfnis des Einzelnen, seine Eigenart zu behaupten, seine Kräfte zu steigern, sein Leben glücklich und nutzbringend zu gestalten. Und man brauchte nur einen Blick auf die jugendlich elastische Greisengestalt mit den aristokratischen Zügen und dem leuchtenden Auge
Deutsche und amerikanische Ideale.
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zu werfen, um zu empfinden: hier steht eine Verkörperung praktischer Lebenweisheit vor uns, wie sie vollkommener kaum gedacht werden kann. Aber auch das machten mir diese Eliotschen Ansprachen immer wieder klar, daß, wo die ganze Lebensauffassung so beherrscht ist von dem Streben nach dem Glück des Einzelnen wie in Amerika, es ungemein schwierig ist, eine allgemeine Formel zu finden, unter die sich das so vielfach verzweigte und differenzierte Glücksbegehren aller Einzelnen zusammenfassen und somit als nationales Ideal bezeichnen ließe. Das Einzige, was unter diesen Umständen als möglich erscheint, ist dies: gewisse Modifikationen des allgemeinen Glücksbegehrens, gewisse Motive zur Tätigkeit, gewisse Antriebe sittlicher Haltung hervorzuheben, die in den Vereinigten Staaten besonders häufig verbreitet und von besonders starker Wirkung sind, also vielleicht als spezifisch amerikanisch gelten können. Dies ist es, was ich in aller Kürze zu tun versuchen will.
Als die oberste Forderung, welche der Amerikaner an sein sittliches Verhalten stellt, glaube ich unbedenklich das Gebot der Selbstbeherrschung hinstellen zu dürfen. Ich werde nie eine Unterhaltung vergessen, welche ich kurz nach meiner Berufung nach Cambridge mit einem meiner amerikanischen Kollegen über das deutsche Duellwesen hatte. Natürlich trat ich als noch ziemlich jugendlicher Heißsporn für diese Institution ein, der ich einen im wesentlichen günstigen Einfluß
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auf den deutschen Ehrbegriff und die Haltung des gebildeten Deutschen gegenüber etwaiger Beleidigung seiner Ehre zuschrieb. „Beleidigung?“ unterbrach mich mein Kollege, der übrigens den Bürgerfrieg als Offizier mitgemacht hatte, „Beleidigung? Wer meine Ehre angreift, beleidigt nicht mich, sondern sich selber. Die einzige Antwort also, der ich ihn würdigen kann, ist die, daß ich mich auf dem Absatz umdrehe und ihm den Rücken zukehre.“ Es wird nicht geleugnet werden können, daß diese gewohnheitsmäßige Herrschaft des Amerikaners über seine Empfindungen dem amerikanischen Leben vielfach etwas Monotones und Interesseloses gibt. Sie vermindert die geistigen Reibungsflächen, sie unterdrückt starkes und rücksichtsloses Hervortreten innerer Eigenart, nicht selten führt sie zur Verkümmerung des Innenlebens selbst. Ich bin sicherlich kein Freund der deutschen Kondolenzbesuche; aber ich habe doch Mühe gehabt, mich an die amerikanische Vorstellung zu gewöhnen, daß es taktlos ist, bei einem Todesfall in der Familie von Bekannten, falls man nicht im Verhältnis wirklicher Intimität zu den Leidtragenden steht, seine Sympathie anders als durch Ignorierung ihres Verlustes auszusprechen. Ich verkenne keineswegs die häßlichen Auswüchse und Ungezogenheiten deutscher Gelehrtenpolemik; aber bei Diskussionen zwischen amerikanischen Gelehrten habe ich häufig den Wunsch nicht unterdrücken können: hätten diese
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Herren doch ein bischen mehr Galle, vergäßen sie doch gelegentlich ihre guten Manieren, verlören sie doch gelegentlich ihre Geduld!
Daß dieses oberste Gebot der Selbstbeherrschung dem Amerikaner das tiefere Verständnis des so viel leidenschaftlicheren deutschen Wesens so gut wie unmöglich macht (obgleich es ja sicherlich zahlreiche amerikanische Bewunderer deutscher Eigenart gibt), leuchtet von selbst ein. Es gibt eigentlich nur zwei amerikanische Schriftsteller, deren künstlerische und sittliche Selbstbeherrschung in ernstlichen Konflikt mit einem Uebermaß von Phantasie und Leidenschaft geraten ist: Edgar Allan Poe und Walt Whitman; und diese beiden Männer sind aus eben diesem Grunde in ihrem eigenen Vaterland weniger allgemein gewürdigt worden als in der Fremde, besonders in England und Deutschland. Ein amerikanischer Werther aber oder Heinrich von Kleist würde nur denkbar sein, wenn eine elementare Umwälzung die ganze Struktur des amerikanischen Wesens aus den Fugen gebracht hätte.
Noch in den jüngsten Tagen hat es sich gezeigt, wie fremd der Amerikaner dem deutschen Kunstempfinden gegenübersteht. In Neuyork ist im Januar dieses Jahres eine deutsche Gemälde- und Skulpturausstellung eröffnet worden, welche eine ausgesuchte Anzahl von Meisterwerken unserer zeitgenössischen Kunst in vorzüglicher Gruppierung vorführt. Neben den vier großen Toten der vergangenen
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Generation: Menzel, Böcklin, Lenbach und Leibl, sind Männer wie Klinger, Liebermann, Leistikow, Gebhard, Hofmann, Thoma, Dill, Trübner, Stuck, Erler, Putz, Uhde, Zügel, Hildebrand, Lederer, Tuaillon, zum Teil mit ihren allerbesten Werken, in dieser Ausstellung vertreten, so daß man mit Recht erwarten durfte, es werde endlich Bresche geschossen werden in den Wall von Gleichgültigkeit und Vorurteil, welcher der deutschen Kunst den Zug nach Westen bis jetzt versperrt hat. Was aber ist das Echo, welches diese Ausstellung in der Neuyorker Presse gefunden hat? „Ihr deutschen Künstler ermangelt der Selbstbeherrschung, und daher beherrscht ihr den Stoff nicht. Ihr lebt vom großen Wollen, von mächtigen Impulsen, von kühnen Launen, aber ihr zügelt dieses Wollen, diese Impulse, diese Launen nicht. Und daher wirkt eure Kunst, mit wenigen Ausnahmen, zu gewaltsam, zu grell, zu kraß, mit einem Wort unkünstlerisch. Eure Kraft ist anzuerkennen, euer aufrichtiges Streben erweckt unsere Sympathie; aber ihr täuscht euch, wenn ihr glaubt, daß ihr uns etwas lehren könnt.“
Ih sage nicht, daß ich dieses Urteil für richtig halte. Unzweifelhaft ist es sehr dünkelhaft und parteiisch. Aber auch das ist zweifellos, daß die Stärke amerikanischen Wesens vor allem in der nationalen Eigentümlichkeit der Selbstbeherrschung liegt. Sie schützt den Amerikaner
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vor dem liebenswürdigsten der deutschen Erbfehler, der Sentimentalität -- war es doch einer der Ehrentitel des Begründers der nationalen Selbstständigkeit, George Washington, im öffentlichen Bewußtsein, daß er never slopped over, sich nie eine Gefühlsblöße gab. Sie hat der amerikanischen Politik jene nüchterne Stetigkeit und Sicherheit in der rücksichtslosen Geltendmachung nationaler Interessen gegeben, deren Erfolge in der jüngsten Weltumsegelung durch die gewaltige Schlachtflotte einen glänzenden Ausdruck gefunden haben. Sie ist die Wurzel der Größe jener Uebermenschen der Industrie, die in ihrer Person viele von den Hoheitsrechten und -pflichten vereinigen, welche in Europa nur dem Staate zustehen. Sie gibt auch dem wissenschaftlichen und künstlerischen Leben Amerikas eine geschlossene Kraft und ein zielbewußtes Streben, wie es heutzutage in gleicher Intensität und Reinheit wenige andere Nationen aufweisen können. Conatus sese conservandi unicum virtutis fundamentum *) -- dies Spinozische Wort ist durchaus amerikanisch gedacht.
Die zweite Stelle im amerikanischen Tugendkatechismus wird wohl das Selbstvertrauen einnehmen, jene nationale Eigenschaft, der Emerson seinen köstlichen Aufsatz Self-reliance gewidmet hat. Der Amerikaner glaubt an sich selbst, er ist
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*) Die Selbstbeherrshung ist die Grundlage aller Tüchtigkeit.
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davon überzeugt, daß er im Grunde alles machen kann. Daher scheut er sich nicht (wie der Deutsche) davor, von einem Beruf zum andern überzugehen. Fehlschlag auf einem Gebiet, selbst geschäftlichen Bankerott, nimmt er nicht so tragisch wie es meistens in Deutschland genommen wird. Findet der Advokat nicht genügende Praxis, nun, die Banktätigkeit ist ja etwas Naheliegendes. Gerät der Prediger in Konflikt mit seiner Gemeinde, nun, als Versicherungsagent kann er ja auch auf die Gemüter wirken. Daß die Vielseitigkeit des Charakters und der Talente durch dieses Vertrauen auf die eigene Kraft und durch den leichten Uebergang von einer Tätigkeit in die andere gesteigert wird, läßt sich nicht absprechen. Wo in Europa fände sich wohl eine Analogie zu der Mannigfaltigkeit der Arbeitsleistung, die in der bisherigen Laufbahn des Präsidenten Roosevelt enthalten ist? Advokat und Historiker, Sportsmann und Sportschriftsteller, Polizeipräsident von Neuyork, Marineminister, Anwerber und Führer eines Freiwilligenregiments im spanischen Kriege, Gouverneur von Neuyork, zweimal Präsident der Vereinigten Staaten, das zweitemal im Kampf mit einem beträchtlichen Bruchteil seiner eigenen Partei, und nun voraussichtlich wieder Sportsmann im größten Stil und aktiver Journalist -- hier liegt eine derartig massive Verkörperung von Selbstvertrauen vor, daß man sich nicht wundern kann, wenn Roosevelt der großen Mehrheit
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seiner Volksgenossen als der eigentlich typische Vertreter nationalen Wagemutes vor Augen steht. Nicht zu leugnen ist, daß er in noch weit höherem Maße als Vertreter nationaler Ideale gelten würde, wenn er zu seinem außerordentlichen Selbstvertrauen ein größeres Quantum von Selbstbeherrschung, der Kardinaltugend des Amerikaners, hinzufügen könnte. So viel ist aber gewiß: seine Karriere zeigt nur in vergrößertem Maßstab, was in den verschiedenartigsten Abstufungen alle Amerikaner als wünschenswerte Lebensleistung betrachten; und sie ist daher viel symptomatischer für den amerikanischen Nationalcharakter als die außerordentliche Vielseitigkeit Kaiser Wilhelms II. für den deutschen.
Es ist also ein Irrtum, wenn man, wie das ja häufig geschehen ist, die äußerliche Aehnlichkeit dieser beiden Männer als ein Zeichen der inneren Verwandtschaft des deutschen und des amerikanischen Charakters hingestellt hat. Vielmehr, man kann sagen: auch in dem stark entwickelten Selbstvertrauen des Amerikaners liegt ein Grund für seine Unzugänglichkeit gegen spezifisch deutsche Anschauungen. Denn die negative Ergänzung zu jenem Selbstvertrauen bildet seine instinktive Abneigung gegen jegliche Art von Bevormundung. Er betrachtet mit Gleichgültigkeit oder gar Mißtrauen alles, was von einer Behörde kommt. Er haßt die Uniform als Ausdruck des Dienstes und der Subordination, und schätzt sie nur als eine
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Art Sonntagsanzug und Ausstaffierung für Volksbelustigungen. In wie intensivem Grade er die Polizeiorgane als Untergebene der Bürgerschaft auffaßt, das zeigen in (für Deutsche) ergötzlicher Weise die nicht seltenen privaten Verbote des Zutritts auf Grundstücke mit dem Zusatz: Police take notice. *) (In wirklich klassischer Form kommt dies Gefühl bürgerlicher Selbstherrlichkeit zum Ausdruck in einem solchen in der Nähe von Boston befindlichen Verbot, welches nach dem üblichen Hinweis auf die gesetzlichen Bestimmungen und polizeilichen Strafen mit den fettgedruckten Worten schließt: I mean business! **) Wie prinzipiell er gegen die Ausbildung bestimmter Klassen und erblicher Privilegien als gemeinschädlich eingenommen ist, das beweist die Tatsache, daß die Errichtung von Familienfideikommissen vom Gesetz nicht erlaubt wird. Kann man sich darüber wundern, daß dem Amerikaner das deutsche Beamten- und Klassenwesen unsympathisch ist? Daß er gar keine Empfindung dafür hat, was für den Deutschen das Wort „Dienst“ bedeutet? Daß er garnicht versteht, was Deutschland an seiner unvergleichlichen Hochschule nationaler Zucht, an seinem Heere, besitzt? Hier liegen fundamentale Unterschiede des Volksempfindens
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*) Etwa: Die Polizei passe auf!
**) Etwa: Und ich lasse nicht mit mir spaßen und werde zugreifen!
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vor, die kein Professorenaustausch und kein Handelsvertrag wird verwischen können.
Als dritten und letzten Artikel in dem Kredo des Amerikaners möchte ich seinen Glauben an den gesunden Sinn des Durchschnittsmenschen bezeichnen; und ich kann nicht umhin, auch in diesem Punkt die grundsätzliche Verschiedenheit des amerikanischen und des deutschen Temperamentes scharf zu betonen. Man denke nur an die beiden großen Vertreter des politischen Lebens beider Nationen im 19. Jahrhundert: Lincoln und Bismarck. Lincoln in jeder Faser seines Wesens ein Sohn des Volkes, ein Anwalt des gemeinen Mannes, ein zum Ideal durchgebildeter Typus der Masse, dessen soziales Glaubensbekenntnis sich in die Worte zusammenfaßt: „Ihr könnt einzelne zu allen Zeiten hinters Licht führen und alle zu einzelnen Zeiten; aber alle zu allen Zeiten hinters Licht führen -- das könnt ihr nicht.“ Bismarck mit jedem Pulsschlag seines Herzens der ritterliche Vasall seines Herrn, der unbeugsame Verfechter des monarchischen Prinzips, der sarkastische Verächter der Masse, der an sich selbst mißtrauisch wird, wenn ihm Symptome seiner Popularität entgegentreten, und der die rhetorischen Versuche Gagerns, ihn von der -Berechtigung des liberalen Programms zu überzeugen, mit den Worten charakterisiert: „Er hielt mich für eine Volksversammlung.“ Aber auch auf literarischem und künstlerischem Gebiet sind die großen Deutschen
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der Neuzeit samt und sonders Aristokraten, Goethe, Schiller, die Romantiker, Heine, Kant, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Wagner -- ist ein einziger unter diesen Männern, der es sich nicht verbeten haben würde, als Anwalt des gesunden Sinnes des Durchschnittsmenschen zu gelten? Und demgegenüber, nun Walt Whitman und Emerson -- der eine geradezu pochend auf seine Kameradschaft mit dem Niedrigsten aus dem Volke; der andere ein philosophischer Farmer, ein modernisierter und verfeinerter Minderbruder, ein Großer und Herrlicher, der sich ehrfurchtsvoll beugt vor der Größe und Herrlichkeit der Alltagswelt.
Diese grundsätzliche Polarität in dem deutschen und amerikanischen Verhalten gegenüber dem Durchschnittsmenschen führt nun zu einer Reihe von lehrreichen Einzelkontrasten. Im Privatleben fällt der Vergleich meiner Ansicht nach nicht eben günstig für die Deutschen aus. Es scheint im deutschen Charakter zu liegen, die Leistungen Gleichstehender oder Mitstrebender zu verkleinern. Klatschsucht und Neid sind leider noch immer hervorstehende Eigentümlichkeiten des deutschen Privatlebens, obgleich der große Zug, den die öffentlichen Angelegenheiten in den letzten Menschenaltern gewonnen haben, ohne Zweifel auch das Dasein des Einzelnen würdiger und freier gestaltet hat. Von Klatschsucht und Neid ist das amerikanische Leben in hervorragendem Grade frei.
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Nicht mit Unrecht rühmt sich der Amexrikaner der generosity, d. h. der Großzügigkeit, der Weitherzigkeit, als einer nationalen Tugend. Sie entspringt der instinktiven Achtung des Amerikaners vor seinem Mitmenschen, dem Gefühl der Kameraderie zwischen Hoch und Niedrig, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Herrn und Diener. Die Episode, welche Theodore Roosevelt aus seinem Lagerleben mit dem freiwilligen Reiterregiment erzählt: wie er eines Abends mit einigen Offizieren im Zelt sitzt, und nun eine Deputation der Mannschaft erscheint und ihm erklärt, anfangs hätten sie gerechte Zweifel gehabt, ob sie mit ihm, dem feinen und aristokratijch erzogenen Herrn, gut auskommen würden, aber jetzt hätten sie ihn kennen gelernt und müßten ihm doch das Zeugnis erteilen, er sei all right; und wie Roosevelt sich nun selbst herzlich und ehrlich über diese gute, ihm von seiner Mannschaft ausgestellte Zensur freut -- das ist in der Tat eine typische Illustration der Art, wie der Durchschnittsmensch mit dem Hochstehenden und der Hochstehende mit dem Durchschnittsmenschen in Amerika verkehrt. Daß die Plutokratie für diese echt menschliche Auffassung des Lebens, wie überhaupt für das Beste im amerikanischen Dasein, die schlimmste Gefahr bedeutet, darf nicht verschwiegen werden.
Im öffentlichen Leben äußert sich der Einfluß dieses amerikanischen Vertrauens auf den gesunden
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Sinn des Durchschnittsmenschen in einer Reihe von Symptomen, die dem in dieser Hinsicht skeptischer veranlagten Deutschen nicht anders als befremdlich erscheinen können. In erster Linie denke ich an den unverwüstlichen Optimismus des Amerikaners gegenüber zweifellosen nationalen Schäden und Gefahren. Wieviel ist nicht in den Vereinigten Staaten über Verlotterung der Stadtverwaltungen geschrieben und geredet worden, wieviel über die unverantwortliche Ausschlachtung der Wälder, wieviel über die unlauteren Machinationen der großen Syndikate! Und wie wenig ist in all diesen Dingen getan worden, um dem Uebel zu steuern! Wie leichtfertig und gewissenlos wird immer wieder, nach kurzen spasmodischen Anläufen zur Reform, weiter drauf losgewirtschaftet, und wie leichtfertig beruhigt man sich bei dem Gedanken, der gesunde Sinn der Masse werde schließlich doch alles in Ordnung bringen! Dem Deutschen, der an das prompte und systematische Eingreifen der Gesetzgebung und der Behörde in solchen Dingen gewöhnt ist, fehlt das Verständnis für diesen blinden Glauben an die automatische Heilung sozialer Schäden durch die Masse. Ihm fehlt auch das Verständnis für zwei weitere Erscheinungen, die mit dem ausgesprochenen Massensinn des Amerikaners in enger Verbindung stehen: Die Leichtigkeit, mit der der Einzelne sich durch die Masse hypnotisieren läßt, und die Rapidität, mit der neue Gedanken in der
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Masse um sich greifen und die Masse in ihren Bann ziehen.
Ich sagte vorhin, den Amerikaner schütze seine gewohnheitsmäßige Selbstbeherrschung vor einer der Hauptschwächen des Deutschen, der Sentimentalität. Dieser Satz muß dahin berichtigt werden, daß der Amerikaner periodischen Unterbrechungen seiner Selbstbeherrschung unterliegt, periodischen Anfällen der Massenhypnose, welche geradezu erstaunliche Aeußerungen von extravaganter Sentimentalität und Hysterie zur Folge haben. Glücklicherweise verlieren sich diese Krankheitserscheinungen gewöhnlich ebenso plötzlich wie sie plötzlich auftreten und lassen keine dauernden Schwächezustände des nationalen Körpers zurück. Besonders auf zwei Gebieten treten diese Erscheinungen der Massenhypnose mit konvulsivischer Gewalt auf, auf dem des Sports und des Parteilebens. Zu welch krampfhaften, phantastischen, sinnbetäubenden, allem Geschmack und aller Vernunft hohnsprechenden Massendemonstrationen die Präsidentenwahlen und ähnliche Vorgänge in den Vereinigten Staaten zu führen pflegen, ist ja allgemein bekannt. Weniger bekannt wird die Tatsache sein, daß die Sportbegeisterung gelegentlich zu ähnlichen Verirrungen des gesunden Gefühles Anlaß gibt. Ein besonders eklatanter Fall einer Verdunkelung sogar des moralischen Urteils durch die Sportmanie ereignete sich im vorigen Frühjahr an der Harvard-Universität.
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Im Juni findet alljährlich die große Ruderregatta zwischen Harvard und Yale statt, ein Ereignis, zu dem die Angehörigen und Freunde der beiden Universitäten gewöhnlich zu Zehntausenden zusammenströmen, und an dem im vorigen Jahr auch Präsident Roosevelt, als Vertreter von Harvard, und der Kriegsminister und zukünftige Präsident Taft, als Vertreter von Yale, ihre Teilnahme zugesagt hatten. Etwa 14 Tage vor der Regatta passierte eine fatale Geschichte. Zwei Leute der Harvarder Mannschaft wurden dabei ertappt, als sie aus dem akademischen Lesesaal einige für allgemeine Benutzung reservierte Bücher mit nach Hause nehmen wollten. Da sie ihren Mißgriff durch ausweichende Erklärungen noch verschlimmerten, so blieb der Universitätsbehörde nichts übrig, als beide zu suspendieren, wodurch ihre Teilnahme an der Regatta natürlich unmöglich gemacht und die Aussicht auf einen Sieg Harvards stark vermindert wurde. So unangenehm die Sache war, so konnte, nach deutschen Begriffen von akademischer Sitte wenigstens, gar kein Zweifel bestehen, daß die Universitätsbehörden das einzig Richtige getan hatten, um wenigstens den Verdacht offizieller Laxheit zugunsten sportlicher Betätigung von Harvard fernzuhalten. Nichtsdestoweniger erhob sich in der Studentenschaft und in der Bostoner Presse ein wahrer Sturm der Entrüstung über diesen Eingriff der Behörden in das Rad des Schicksals. Die Ehre
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der Universität, so hieß es, stünde bei der Regatta auf dem Spiele; seit langem seien die Aussichten für einen Sieg Harvards nicht so gut gewesen wie dieses Jahr; es zeuge von einer Verkennung der wahren Interessen Harvards, wenn der akademische Senat diese Chancen durch die Beseitigung der beiden Ruderer rücksichtslos außer acht setze, usw. Was der Sache schließlich eine nationale Bedeutung gab, war, daß Präsident Roosevelt sich verleiten ließ, als alter Harvardman eine Depesche an den Präsidenten Eliot zu richten, in der er ihn um Aufhebung des Urteils gegen die beiden Studenten ersuchte, da (dies sind seine eigenen Worte) es „unbillig und unangebracht sei, andere für ihr Vergehen leiden zu lassen“, d. h. den Anhängern von Harvard das Vergnügen zu rauben, ihre Partei bei der Regatta siegen zu sehen. Hier also ergab sich die erstaunliche Tatsache, daß der Präsident der Vereinigten Staaten und ein Mann von zweifellos ehrenhafter Gesinnung öffentlich dazu aufforderte, einer Gesezesübertretung gegenüber ein Auge zuzudrücken, um dadurch gewisse nicht in der Sache selbst begründete Vorteile zu erreichen. Zwar erfuhr er durch Präsident Eliot eine kräftige und würdige Zurückweisung, Harvard siegte ohne die Restituierung der beiden Schuldigen, und die Aufregung legte sich ebenso schnell wie sie entstanden war. Das konnte aber nichts an dem Faktum ändern, daß Hunderte, wenn nicht Tausende von
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gebildeten Männern, und unter ihnen der höchste Beamte der Nation, wochenlang geradezu unter dem Einfluß einer Massenhypnose gestanden und darüber ihr ruhiges, moralisches Urteil verloren hatten.
Nur noch wenige Worte über die Rapidität, mit der neue Gedanken oder plötzliche Stimmungen in der amerikanijchen Masse um sich greifen und die Gemüter bezwingen. Auch diese Erscheinung mutet den Deutschen, der an langsamere Entwicklung volkstümlicher Bewegungen gewöhnt ist, fremdartig und als etwas Abnormes an; sie erscheint ihm leicht zu hastig, oberflächlich und launisch. Alles dies mag richtig sein; und doch ist nicht zu verkennen, daß in diesen schnell aufflackernden und schnell wieder verschwindenden oder sich in neue Formen umsetzenden Volksbewegungen ein gut Teil des besten amerikanischen Wesens und ein gut Stück amerikanischen Idealismus enthalten ist. Als die Woge nationaler Entrüstung über spanische Mißwirtschaft in Kuba durch die Vereinigten Staaten hinbrauste, war man in Deutschland nur allzu geneigt, dies für Heuchelei zu erklären und den eigentlichen Zweck des Vorstoßes gegen Spanien in der Eroberung der reichen Insel zu suchen. Diese Annahme tat dem Empfinden des amerikanischen Volkes schweres Unrecht. Das Verhalten der Vereinigten Staaten gegen Kuba in den letzten zehn Jahren hat zur Genüge bewiesen, daß es dem Volke mit seinen
Deutsche und amerikanische Zdeale.
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Sympathiekundgebungen für die unterdrückten Kubaner ernst war, und daß hier in der Tat eine jener elementaren Erschütterungen der Volksseele vorlag, welche die innersten Bestrebungen und besten Kräfte einer Nation in Schwingung versetzen. Mit welchem Spott, mit welchen Schmähungen hat man nicht in Deutschland die Christian-Science- und die Temperenzbewegung überschüttet! Sicherlich ist zuzugeben, daß beide Bewegungen einen starken Zusatz von Unwissenheit und Fanatismus enthalten. Daß sie aber beide ein, vielleicht irrtümlicher und e1xzessiver, aber durchaus ehrlicher und ernstgemeinter Ausdruck des amerikanischen Strebens nach Verfeinerung und Veredlung der Persönlichkeit sind, daß die Stipulierung der Gesundheit durch geistige Kraft und echter Lebensgenuß ohne künstliche Reizmittel in der Tat erstrebenswerte Ziele sind, sollte doch nicht bestritten werden. --
Zweierlei wird sich vielleicht als die Summe dieser flüchtigen Bemerkungen über amerikanische Ideale bezeichnen lassen.
Erstens. Die amerikanischen Ideale sind im wesentlichen noch die des 18. Jahrhunderts; sie sind durchaus basiert auf die rationalistische und individualistische Weltanschauung; die volle Entfaltung und das Glück der Persönlichkeit ist ihr Ziel. Allerdings unterscheiden sich die Ideale des modernen Amerika von denen des „philosophischen Jahrhunderts“ dadurch, daß sie modifiziert sind
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durch ihre Anwendung auf die praktischen Probleme der Masse. Von der großen Umwälzung aber, welche die Romantik in dem Deutschland des 19. Jahrhunderts hervorgerufen hat, ist Amerika so gut wie unberührt geblieben. Vielleicht liegt hierin zum Teil der Grund für den erfrischenden, klaren Hauch, der vom amerikanischen Leben ausgeht.
Zweitens. Mit der so oft verkündeten und von übereifrigen Völkervermittlern angepriesenen inneren Verwandtschaft zwischen dem amerikanischen und deutschen Temperament ist es nichts. Im Gegenteil, es besteht in vielen und wesentlichen Punkten ein grundsätzlicher Kontrast zwischen der deutschen und der amerikanischen Lebensansicht. Freuen wir uns, daß in dem Zeitalter internationaler Verflachung es noch zwei große Nationen von so stark ausgeprägter Eigenart und Verschiedenheit gibt.
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Emerson und die deutsche Persönlichkeit.*)
Emerson war vor allem ein Amerikaner; die Liebe zu seinem Volk war die beherrschende Macht seines ganzen Lebens; und wollten wir die große Vielseitigkeit seiner Interessen und Sympathien in einem Wort zusammenfassen, könnten wir wohl keinen besseren Namen für sein Ideal finden als amerikanische Kultur. Nächst seinem eigenen Lande besaß England den vordersten Platz in seiner Neigung. Die Geschichte des englischen Volkes war für ihn nicht nur die Geschichte des Lebens seiner Vorfahren, und als solche mit dem Heiligenschein der Romantik umgeben, sondern sie bot ihm auch ein Stück Wirklichkeit von höchstem Werte: sie gab ihm die Zuversicht, daß er selbst mit seinem eigenen Fühlen und Wollen auf dem rechten Wege war, daß er nicht umsonst Selbstvertrauen, Festigkeit und praktischen Sinn lehrte. Durch sein tiefes Verständnis für künstlerische Gestaltung fühlte er sich zu Italien und Frankreich
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*) Eine Ansprache, 1903 zu Emersons Zentenarfeier in Concord gehalten.
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hingezogen; und wer immer seine feinsinnigen Gedanken über Montaigne und Michelangelo gelesen hat, wird erkennen, daß dieser Puritaner den Geist der lateinischen Rase aufrichtig verehrte. Deutschland war das einzige große Land des westlichen Europa, das er niemals besucht hat; der einzige hervorragende Deutsche, mit dem er eine freundschaftliche Korrespondenz unterhielt, Herman Grimm, kreuzte seinen Lebensweg zu spät, um seinen Gesichtskreis merklich zu erweitern. Für den größten Deutschen seiner Zeit, für Goethe, hatte Emerson trotz aufrichtiger Bewunderung schließlich doch nur ein begrenztes Verständnis; und gegen die Art des Durchschnittsdeutschen fühlte er -- so scheint es -- sogar eine natürliche Abneigung. Und doch wird es sich rechtfertigen lassen, seine inneren Beziehungen zu Deutschland nachdrücklich hervorzuheben. Welche Seite seiner Natur aber entsprach deutscher Art zu denken und zu fühlen? Welche besondere Anregung erhielt er von den großen Meistern der deutschen Literatur und Philosophie? Welcher Teil seines Lebenswerkes hat eine spezielle Bedeutung für das heutige Deutschland? Das sind die Fragen, die ich in aller Kürze zu beantworten versuchen will.
I.
Es ist eine weit verbreitete Vorstellung, Deutschland sei ein Land, das da seufze unter
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dem Druck von Militarismus und Bürokratie. Unabhängigkeit des Charakters und persönliche Initiative seien, so sagt man, notwendigerweise erdrückt durch ein Verfahren der Regierung, das die Persönlichkeit von Kindheit auf in ein System von verwickelter Routine zwinge und sie zu einem Teil eines großen seelenlosen Mechanismus mache. Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß der Druck, den die öffentliche Autorität auf die Persönlichfeit ausübt, in Deutschland größer ist wie in Amerika, England, Frankreich oder Italien. Und doch kann man mit gutem Grunde annehmen, daß eben diese Unterwerfung der Persönlichkeit unter eine höhere Ordnung einen großen Anteil an der glänzenden Entwickelung der deutschen Staatskunst, Strategie, Industrie und Wissenschaft in den letzten fünfzig Jahren hat. Ich stelle die Behauptung auf: Trotz der intensiven Beaufsichtigung des Privatlebens, des Uebermaßes von Drill und Vorschrift, des überwältigenden Gewichts von historischer Tradition und Klassenherrschaft, trotz alledem findet man in Deutschland eine entschieden größere Mannigfaltigkeit von persönlichen Ansichten, Ueberzeugungen, Grundsätzen, Arten der Lebensführung, Idealen, mit anderen Worten von individuellem Charakter, wie in Amerika. Es ist nicht meine Absicht hier alle Gründe dieses bemerkenswerten Phänomens zu analysieren; ich will nur feststellen, daß einer dieser Gründe mir eben gerade in dem Vorhandensein
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dieser Schranken zu liegen scheint, die in Deutschland die persönliche Tätigkeit einengen und hemmen. Es scheint, als ob der Zwang von außen dahin wirke, das Leben innen zu entzünden. Gewiß ist, daß der Deutsche, äußerlichen Beschränkungen unterworfen, wie kein Amerikaner oder Engländer sie dulden würde, genötigt ist, seine geistige Selbständigkeit mit einer eifersüchtigen Entschlossenheit zu hüten, der gegenüber des Amerikaners bequeme Anpassung an das, iwas man von ihm verlangt, moralischer Gleichgültigkeit nahe fommt. Sein inneres Leben sucht der Deutsche sich selbst zu gestalten; hier duldet er weder Einfluß, noch Gesetz, hier ist er sein eigener Herr, hier baut er sich seine eigene Welt.
Man sieht leicht, wie eng verwandt Emersons ganzes Wesen mit dieser Seite des deutschen Charakters ist. Das Maßvolle und Harmonische seiner Natur bewahrte ihn vor jener Eckigkeit, Sonderbarkeit und Ueberspanntheit, die so oft bei Deutschen eine scharf hervortretende geistige Eigenart begleitet. Auf seiner Eigenart selbst stand er mit wahrhaft deutscher Angriffslust. In der Tat kann man sagen, seine Erklärung, der Gelehrte sei nicht Denker, sondern denkender Mensch -- eine Definition, welche die Wurzel von Emersons ganzer Auffassung des geistigen Lebens ist, -- ist eine durchaus deutsche Vorstellung und stellt ihn in die Reihe jener herrlichen
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Verteidiger der persönlichen Ueberzeugung, die deutsches Geistessleben mit all seiner schroffen Streitsucht verkörpern, von den Tagen Luthers bis zu Lessing und Fichte, und schließlich hin zu Schopenhauer und Nietzsche.
Einige wichtige Zeugnisse für diese deutsche Liebe zu geistiger Eigenart, die mir besondere Bedeutung für Emerson zu haben scheinen, mögen wir betrachten.
Was anderes ist es, als eben die Gewißheit von dem erhabenen Wert des Innenlebens, wenn die Deutschen mehr wie andere Nationen geneigt sind, ihre Verachtung des Scheins auszudrücken, wenn sie eine Lust, zuweilen eine zynische Lust daran haben, Täuschung jeder Art zu enthüllen, wenn sie ihre Lebensarbeit mit einem Ernst ergreifen, der ihnen oft die Leichtigkeit der Bewegung und die Anmut der wechselnden Form zu rauben scheint. Selbst Goethes Faust ist in dieser Hinsicht ein echter Zeuge des nationalen Charakters. Als Kunstwerk ist er unbeholfen, ungeglättet, vulkanisch, unzusammenhängend, fragmentarisch, barbarisch. Szenen von erhabener lyrischer Wirkung, elementarer Leidenschaft, tiefster Tragik und hinreißender Poesie gehen Hand in Hand mit zynischem Gespött, allegorischem Stammeln, metaphysischer Spekulation, mit Buchgelehrsamkeit und Pedanterie. Der sinnliche Eindruck des Ganzen auf einen unbefangenen Geist kann nur
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verwirrend und beunruhigend sein. Und doch behauptet sich in allem eine mächtige Persönlichkeit, ein gewaltiger Wille! Die Schwächen, die Unwahrheiten, die Frivolitäten des Tages sind hier entlarvt. Die wahre Bedeutung des Lebens geht uns auf; der Glaube an den unendlichen Wert des Inneren, rastloses Streben nach höheren Formen des Daseins, unendliche Sehnsucht nach Vertiefung und Harmonie erfaßt uns, umfängt uns. Die Mängel und Unzulänglichkeiten der Form offenbaren eben die Größe des Geistes, der es von sich wies, in fester Grenze sich einengen zu lassen!
Daß Gedanken wie diese Emerson vertraut waren, daß sein eigenes Gefühls- und Geistesleben sich in solchen Bahnen bewegte, bedarf keines Beweises. Aber es mag wohl am Platz sein, einige Stellen anzuführen, die zeigen, wie sehr er sich der Uebereinstimmung mit dieser Seite des deutschen Charakters bewußt war:
„Was Goethe für französische und englische Leser besonders auszeichnet, ist eine Eigenschaft, die er mit seiner Nation teilt -- die nie versagende innere Wahrhaftigkeit. -- Der deutsche Geist entbehrt der französischen Leichtigkeit, des klaren, praktischen Verstandes der Engländer, der Unternehmungslust Amerikas, aber er besitzt eine Rechtschaffenheit, die sich nie mit einer oberflächlichen Leistung zufrieden gibt, sondern stetig fragt: Was ist der tiefere Sinn? Ein deutsches Publikum
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fordert vor allem Aufrichtigkeit. Lebhaftigkeit des Geistes ist gut: aber welchem Ziel strebt sie zu? Was meint der Mann? Woher, warum, wohin alle diese Gedanken?
Talent allein kann niemanden zum Schriftsteller machen. Es muß ein Mensch hinter dem Buche stehen, eine Persönlichkeit, die durch Herkunft und Art zu den vorgetragenen Lehren geradezu verpflichtet ist. -- --- Und wenn er sich heute noch nicht in der rechten Weise aussprechen kann: die Dinge bleiben ja bestehen und werden sich morgen offenbaren. Eine Last liegt auf seinem Geist -- die Last der Wahrheit, die nach Ausdruck drängt -- mehr oder minder klar; und es ist eben seine Aufgabe, sein Beruf in der Welt, gerade diese Tatsachen durch und durch zu schauen und sie bekannt zu machen. Was schadet es, daß er stammelt und stottert, daß seine Stimme rauh oder pfeifend ist, daß seine Methode und seine Sprache nicht ausreichen. Die Botschaft wird Methode und Bilderschmuck, Wobllaut und Melodie finden. Und wenn er stumm wäre, sie würde sprechen.“
Eng verbunden mit dieser Verachtung alles äußeren Scheins und wurzelnd gleich ihr in der hohen Wertschätzung der Persönlichkeit ist die oft gerühmte Andacht der Deutschen zum Kleinen. Wer es versteht, liebevoll in äußerlich geringfügige und scheinbar unbedeutende Dinge
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sich hineinzufinden, wer es gewohnt ist, die Fülle des inneren Lebens zu schauen selbst in bescheidenen und äußerst beschränkten Sphären der Gesellschaft, dem offenbaren sich neue Welten, wo der flüchtige unbefriedigte Blick weiter nichts entdeckt als einen leeren Raum. „Der Mensch auf dieser Erde“, sagt Jean Paul, „wäre Eitelkeit und Hohlheit, Staub und Asche, Rauch und Schall, --- wenn er sich nicht selbst dafür hielte. Daß es ihm möglich ist, solche Gefühle zu hegen, daß er sich selbst dabei mit etwas Höherem in ihm selbst vergleicht, das ist es, was ihn zu dem unsterblichen Geschöpf macht, das er ist.“ Hier haben wir die Wurzel jener Liebe des Deutschen für ein zurückgezogenes Leben, jener Fähigkeit, das Große im Kleinen zu entdecken, die unserer Literatur so unvergleichliche Charaktere gebracht hat, wie Jean Pauls Quintus Fixlein, Wilhelm Raabes Hungerpastor oder Heinrich Seidels Leberecht Hühnchen, die noch heute Deutschland zu dem Land aller Länder macht, wo inmitten des verwirrenden Lärmes industrieller und sozialer Konkurrenz Hunderte und Tausende von Männern sich finden, die fest entschlossen sind, dem tollen Drang nach Erfolg zu widerstehen, die vollkommen zufrieden im Winkel leben, unbeobachtet, aber selbst beobachtend, die ihr Glück in sich tragen, hingegeben einer Pflicht, einem Ideal, das, so wenig es auch mit der anmaßenden, lärmenden Welt um sie herum zu tun hat, ihre
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Seele erfüllt und jedem Augenblick ihrer Existenz innere Weihe gibt.
Niemals hat ein Amerikaner gelebt, der in dieser Hinsicht dem deutschen Wesen näher. verwandt war als Emerson. Er war in der Tat der Jean Paul Neu-Englands. Neu-Englisches Landleben, die Farm, das Rauschen der Tannen, die liebliche Anmut des Flusses, das Blöken des Viehs auf den Hügeln, die andächtige Ruhe über den Büchern oder ein freundnachbarliches Gespräch im Kaufladen des Dorfes oder im Gemeindehaus -- das war die Welt, in der er sich heimisch fühlte, in der er sein eigenes Inneres wiederfand. Hier erstarkte er zum Widerstand gegen närrische Moden und einfältige Vorurteile der sogenannten Gesellschaft; hier sog er den lebenslänglichen Haß gegen niedrigen Ehrgeiz ein; hier überkam ihn jene Einsicht von dem Werte der Anspruchslosigkeit, die er so trefflich ausgedrückt hat: „Ich frage nicht nach dem Großen, dem Entfernten, dem Romantischen; ich umfasse das Alltägliche, ich erforsche was nahe liegt und zum Herzen spricht, ich sitze zu den Füßen des Geringen“; hier erwarb er die tief wurzelnde und völlig deutsche Ueberzeugung von der Weihe eines zurückgezogenen und einfachen Gelehrtendaseins, die sein ganzes Leben zu einer praktischen Anwendung seiner Lehre machte:
„Er (der Forscher) muß die Einsamkeit wie
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eine Verlobte umarmen. Er muß seine Freuden und seine Trübsale allein genießen. Seine eigene Achtung muß ihm Maßstab, seine eigene Anerkennung sein einziger Lohn sein . . . . Wie gemein ist es, als bunter Schmetterling durch die Salons der Mode oder der Politik zu flattern, ein Narr der Gesellschaft und des Bekanntgewordenseins, ein Objekt für die Zeitungsschreiber, ein Teil der Straße -- und das edle Vorrecht des schlichten Rockes, die Zurückgezogenheit, das treue und warme Herz des einfachen Bürgers mit Füßen zu treten!“
Das natürliche Gegenstück zu dieser hohen Würdigung des scheinbar Kleinen und Unbedeutenden -- die wir sowohl für deutsches Wesen wie für Emerson charakteristisch fanden -- ist ein stark entwickelter Sinn für die geistige Einheit aller Dinge, ein stark entwickeltes Bewußtsein von dem einzigen Wert des unendlichen Ganzen, dem alle Einzelwesen nur als Teile angehören, ein ahnendes Erfassen der Geistigkeit oder des Gesamtwillens des Universums. Und hier liegt wiederum ein Berührungspunkt zwischen Emerson und Deutschland. Wie tief der deutsche Mystizismus des Mittelalters aus dieser Quelle des Unendlichen geschöpft hat, wie stark er den Sinn selbst des gemeinen Mannes mit der Idee der Hingabe und des Versunkenseins in den göttlichen Geist durchtränkt hat, davon mag eine Anekdote
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aus dem vierzehnten Jahrhundert zeugen, die mit dem Namen des großen Predigers, Mystikers und Denkers Johann Tauler verbunden ist. Es wird erzählt, daß zu der Zeit da Tauler auf der Höhe seines Ruhmes und seiner Popularität in Straßburg war, eines Tages ein einfacher Laie zu ihm kam und ihm freimütig sagte, daß, ungeachtet seines theologischen Studiums und seiner schönen Predigten, er von der Erkenntnis Gottes weiter entfernt sei, denn manch ungelehrter Mann aus dem Volke. Auf den Rat des Laien, so fährt die Erzählung fort, zog Tauler sich nun von der Welt zurück, gab seine Bücher fort, enthielt sich des Predigens und widmete sich andächtigen Betrachtungen in der Einsamkeit. Erst zwei Jahre später wagte er es wieder die Kanzel zu besteigen; aber als er zu sprechen versuchte, fehlten ihm die Worte; unter dem Spott und Hohn der Gemeinde war er gezwungen die Kirche zu verlassen und wurde nun von jedermann als gottloser Narr betrachtet. Aber in eben dieser Krise entdeckte er das Unendliche in sich selbst, gerade die Verachtung der Welt erfüllte ihn mit der Gewißheit der Nähe Gottes, der Geist kam über ihn, seine Zunge löste sich von selbst, und er gebot plötzlich über eine Gewalt der Sprache oder vielmehr sie gebot über ihn, daß er die ganze Stadt begeisterte und beherrschte, wie kein Prediger vorher es je vermocht hatte.
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Diese Erzählung des vierzehnten Jahrhunderts *) mag man eine symbolische und instinktive Vorahnung des genau formulierten philosophischen Glaubens an die geistige Einheit des Weltalls nennen, wie er von allen großen deutschen Denkern und Dichtern am Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts festgehalten wurde. Goethe, Schiller, Novalis, Tieck, Jean Paul, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, so sehr sie auch in ihrer Natur und besonderen Richtung von einander verschieden waren, alle stimmten darin überein, daß die ganze sichtbare, mannigfaltige Welt ihnen der Ausdruck derselben unendlichen Persönlichkeit war, die vielgestaltige Verkörperung eines universalen Geistes; sie alle sahen den Gipfel der Herrlichkeit und Göttlichkeit des Menschen in seiner Fähigkeit, diese Einheit der Welt zu fühlen, die Stimme des Weltgeistes in sich zu hören, der Ewigkeit versichert zu sein trotz des beständigen Wechsels und Verfalls der sichtbaren Form.
Es bedarf keiner langen Erläuterung, wie nahe all dieses verwandt ist mit Emersons Ansichten über das Wesen des Geistes. Aber zur Illustration mag es gestattet sein, zwei Aeußerungen von Emerson und Novalis über die Wesenseinheit, die allem Leben zugrunde liegt, nebeneinanderzujetzen.
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*) Ich bin wohl darüber unterrichtet, das Denifle ihren unhistorischen Charakter bewiesen hat.
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Aeußerungen, die, abgesehen vom Stil und dem künstlerischen Wert, von demselben Manne stammen könnten. So heißt es bei Novalis *):
„Für sie (die Dichter) hat die Natur alle Abwechselungen eines unendlichen Gemüts; und mehr als der geistvollste, lebendigste Mensch überrascht sie durch sinnreiche Wendungen und Einfälle, Begegnungen und Abweichungen, große Ideen und Bizarrerieen. Der unerschöpfliche Reichtum ihrer Phantasie läßt keinen vergebens ihren Umgang aufsuchen. Alles weiß sie zu verschönern, zu beleben, zu bestätigen; und wenn auch im Einzelnen ein bewußtloser, nichtsbedeutender Mechanismus allein zu herrschen scheint, so sieht doch das tiefer sehende Auge eine wunderbare Sympathie mit dem menschlichen Herzen im Zusammentreffen und in der Folge der einzelnen Zufälligkeiten. -- Wird nicht der Fels ein eigentümliches Du, eben wenn ich ihn anrede? Und was bin ich anders als der Strom, wenn ich wehmütig in seine Wellen hinabschaue und die Gedanken in seinem Gleiten verliere?“
Und Emersons ein wenig dilettantische, aber doch ganz richtige Bemerkung lautet:
„Der Granit unterscheidet sich im Gesetz seiner Entstehung nur durch die größere oder geringere
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*) Die Lehrlinge zu Sais, Schriften ed. Heilborn I, 234 f.
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Wärme von dem Flusse, der ihn fortschwemmt. Der Fluß, wie er dahinflutet, ist wesensgleich der Luft, die über ihm flutet; die Luft ist wesensgleich dem Licht, das sie in feineren Strömungen durchdringt; das Licht ist wesenensgleich der Wärme, die mit ihm den Raum durchstrahlt. Jedes Geschaffene ist nur eine Modifikation der andern; die Aehnlichkeit in ihnen ist größer als der Unterschied, und ihr ursprüngliches Gesetz ist ein und dasselbe. So geschlossen ist diese Einheit, daß sie durch das Kleid der Natur überall hindurchschimmert und ihre Quelle im Geist des Weltalls verrät. . . . . Es ist das eine zentrale Feuer, das aus dem Munde des Aetna flammt, die Vorgebirge Siziliens erhellt und aus dem Schlund des Vesuvs die Türme und Weingärten Neapels erleuchtet. Es ist das eine Licht, das aus tausend Sternen strahlt. Es ist die eine Seele, die alle Menschen belebt.“
Als der vierte und letzte Beweis für die Charakterverwandtschaft zwischen Emerson und dem Deutschen, eine Verwandtschaft, die, ich wiederhole es, auf der gemeinsamen Basis des Persönlichkeitsdranges ruht, -- nenne ich den Mut der persönlichen Ueberzeugung und die Verachtung von Kompromissen im Reiche des Geistes. Ich erwähne diesen Punkt zuletzt, weil er mir als der wichtigste von allen erscheint. Es ist nicht zu leugnen, daß in einem Lande, wo ein jeder
Deutsche und amerikanische Ideale.
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in der einen oder der andern Weise beständig davon berührt wird, was die Massen denken, wünschen oder mißbilligen, es keine größere Gefahr für die Individualität gibt als den Mangel geistiger Differenzierung. Die Demokratie ist durchaus nicht die einzige oder notwendig beste Bürgschaft für geistige Unabhängigkeit. Im Gegenteil, sie mag in dem Individuum den Wunsch fördern, sich dem allgemeinen Standpunkte der Meinungen anzupassen, Reibungen zu vermeiden, die scharfen Ecken persönlicher Ueberzeugung zu glätten, Grundsätzen auszuweichen, gelegene Umstände zu ergreifen. Ich kann mich nicht von dem Eindruck befreien, daß das Leben auf amerikanischen Erziehungsanstalten und Universitäten die Wirkung dieses natürlichen Strebens zeigt. Da ist eine entschiedene Monotonie der Typen, ein Uebergewicht der Mittelmäßigkeit rund umher. Es gibt nur wenige Professoren der Hochschulen, die mehr sind als gute Hochschulprofessoren, die irgend welche großen Prinzipien vertreten, nur wenige Kämpen, wenige Führer der öffentlichen Meinung, wenige, von denen gesagt werden kann, daß sie das nationale Bewußtsein darstellen. In Deutschland ist das anders. Der Deutsche liebt Kontraste, er liebt Reibungen, er liebt den Kampf des Geistes; er identifiziert sich mit der Sache, die er vertritt, und indem er sich selbst in seiner Sache verliert, zögert er nicht, eine offene Sprache zu führen, selbst wenn er zu befürchten hat, daß
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sie zu offen für viele Ohren ist. Ich verschließe meine Augen nicht gegen die Mängel, die diesem Nationalcharakter anhaften. Er hat zweifellos in Deutschland das politische Leben zu einer so verwirrenden Vielseitigkeit feindlicher Parteien und Parteiprogramme geführt, daß eine parlamentarische Regierung beinahe unmöglich ist; er gibt deutschen wissenschaftlichen Diskussionen oft einen Ton persönlicher Bitterkeit und Schärfe, der Fernstehenden abstoßend oder auch belustigend erscheinen muß. Und doch ist es wahr, daß hierin gerade die Wurzeln deutscher Größe liegen. Der Mut des Geistes hat Deutschland trotz staatlicher Allmacht und kirchlichen Hochdrucks zur Heimat des freien Gedankens gemacht; die Verachtung der Kompromisse verleiht dem Leben in DeutschIand trotz aller Hemmungen und Sonderbarkeiten, trotz aller Streitsucht und dem Mangel an Urbanität eine so intensive und fesselnde Innerlichkeit; die Prinzipientreue macht die deutschen Universitäten zu auserwählten Hütern nationaler Ideale, zieht die freiesten, fortschrittlichsten und kühnsten Geister des Landes in ihren Dienst, beschenkt sie mit dem Besten, was republikanischer Geist ihnen bieten könnte.
Emerson war kein Mann der Universität im deutschen Sinn. Aber von allen amerikanischen Schriftstellern des Jahrhunderts hat keiner diesen fundamentalen Grundsatz deutschen Universitätslebens
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so tief erfaßt und innerlich durchlebt wie er. In der Tat war sein ganzes Lebenswerk ein fortlaufender Kampf gegen den Standpunkt der Menge, trage sie nun Modegewand oder Arbeiterkleid. In seinem Verzicht auf das Pastorat, in seinem Widerstand gegen öffentliche Verpflichtungen, die ihn in seiner freien Tätigkeit gehemmt hätten, in seiner Befürwortung der Handfertigkeit als Erziehungsfaktor, des Wahlsystems an den Studienanstalten, in seiner Verteidigung des Arbeiters gegen die Uebergriffe des Industrialismus, in seinen Reden gegen Daniel Webster und das Gesetz gegen die „flüchtenden Sklaven“ -- Überall dieselbe freie, unerschrockene, selbstvertrauende Persönlichkeit, „ein Reformer“, (um seine eigene Charakteristik des Idealamerikaners anzuführen) -- „ein Reformer, der nicht zufrieden ist, durch die Welt sich hindurchzuschlängeln, wie ein Lakai oder Spion, der da mit Gewandtheit und Entschuldigungen sich möglichst jedem Zusammenstoß entzieht, sondern der als braver, aufrechter Mann, seinen rechtschaffenen Weg finden oder sich bahnen muß zu jedem ausgezeichneten Ding auf der Erde; der nicht nur selbst ehrenvoll vorwärtsschreiten, sondern es allen, die ihm folgen, erleichtern will, in Ehren und mit Segen seine Bahn zu wandeln“. So hat er denn unbewußt sich und seine Sendung für das amerikanische Volk charakterisiert in jener edelgeformten Stelle seiner Vorlesung über die Zeiten:
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„Dann und wann kommt ein mutigerer Geist, oder besser eine Seele voll tieferer Hingebung, mehr erleuchtet und geleitet durch Gott, die den übrigen weit voraus ist, von ihnen ganz unverstanden, die prophetisch verkündet, wovon bald alle Welt voll sein wird. Nicht anders, wie wenn wir am Strande des Meeres stehen, während die Flut kommt; eine Welle kommt daher über das Geröll, weit höher als alle andern; und sie weicht wieder zurück und eine lange Weile kommt keine bis zu diesem Ziel; aber nach einiger Zeit ist die ganze See dort und darüber hinaus.
II.
Bisher haben wir Charakterzüge betrachtet, die eine innere Verwandtschaft zwischen Emerson und dem deutschen Geist offenbaren. Aber -- wie jedermann weiß: es gibt einen unmittelbareren und direkteren Zusammenhang zwischen den beiden. Emerson weist eine ähnliche Beziehung zu den deutschen Idealisten des achtzehnten Jahrhunderts auf, wie die Kirche sie sich für die Apostel zu den Propheten denkt. Er ist von ihren Gedanken inspiriert, wie sie ihm zumeist durch Coleridge und Carlyle überliefert waren; er fügt ihnen wenig hinzu was eigen oder neu ist; aber er verwendet sie nach dem Bedürfnis seiner Zeit und seines Volkes. Und da er zu einem freien Volke spricht, einem Volk, das mit jugendlicher Energie sich dem Strom unbegrenzter Tätigkeit
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hingibt, so verleiht er diesen Gedanken eine noch größere Lebenskraft, eine noch intensivere menschliche Wirkung, als sie in den Händen ihrer Schöpfer hatten.
Was waren die Grundzüge des neuen Menschentums, das der Welt am Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch die großen Deutschen entgegengehalten wurde durch Kant, Schelling und Fichte, durch Goethe, Schiller und Novalis? In erster Reihe eine absolute Unabhängigkeit von traditioneller Autorität. Es hat wohl niemals in der Geschichte der Menschheit eine Periode gegeben, in der man die Dinge von einem so hohen Standpunkt aus und mit so wenig Vorurteil betrachtete. Humanität im weitesten Sinne war das Lieblingsstudium der Zeit. Ueberall, -- in der Sprache, in der Literatur, in politischen Institutionen, in der Religion, versuchte man das menschlihe Element zu entdecken und brachte es ans Licht mit aller Furchtlosigkeit wissenschaftlichen Eifers. Mit dieser Kühnheit der Forschung war zugleich das höchste Interesse am Innenleben verbunden. Den Menschen betrachtete man natürlich als mit der Welt der Sinne eng verbunden und an sie gekettet, als an den Schauplatz seiner Tätigkeit; aber doch seinem Kern nach als ein geistiges Wesen, das der materiellen Welt mehr Grenzen setze, als daß ihm von ihr Grenzen gesetzt würden, das
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für seine Handlungen nur dem untrüglichen Richterstuhl seines eigenen moralischen Bewußtseins verantwortlich sei. In dem Meer von Kritik und Zweifel, das alle traditionelle Vorstellungen fortgerissen hatte, erschien dieses innere Bewußtsein als der eine unerschütterliche Fels. Hier, so scheint es, lagen die wahren Grundlagen für einen neuen, religiösen Glauben, einen Glauben, der darauf fußt, es sei vollständig unmöglich, Gott anders zu dienen, als durch Erfüllung der Pflichten gegen die Menschen; einen Glauben, der das Göttliche eher als das letzte Ziel, denn als vorexistierende Ursache des Leben ansieht. Und endlich, es lebte ein freudiger Optimismus in den Menschen dieser Zeit, der sie mit zwingender Gewalt in eine höhere Sphäre erhob. Sie glaubten an das Zukünstige. Sie glaubten an die Ewigkeit. Sie glaubten, daß die Menscheit langsam der Vervollkommnung sich nähere, daß eine Zeit kommen müsse, wo die Gedanken der wenigen weisen Männer, die Träume der wenigen Poeten und Propheten in das Lebensblut der Massen überströmen, wo das Gute geschehen werde, weil es das Gute sei, wo Neigung und Pflicht zusammenfielen; und sie sahen die Quelle ihrer höchsten Inspirationen in dem Gefühl, daß sie selbst Arbeiter im Dienst dieser herrlichen Sache seien.
Es ist leicht zu sehen, daß hier Wort für Wort die Wesenselemente von Emersons geistiger
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Welt zu finden sind, -- sein Abschütteln der Tradition, sein tiefgehendes Interesse am Menschen, sein Glaube an die moralische Freiheit und an die moralische Ordnung des Weltalls, sein Pantheismus, sein Optimismus, sein zuversichtliches Vertrauen in die Vervollkommnungsfähigkeit der Rasse. Aber es ist doch erwähnenswert, daß in der Anwendung dieser Grundsätze, -- wie ich sie schon andeutete, --- zwischen Emerson und seinen Meistern ein entschiedener Unterschied besteht. Obwohl die großen deutschen Idealisten das Menschentum in ihren Gedanken umfaßten, obwohl sie sich an der Idee eines starken, freien Allgemeinlebens berauschten, wandten sie sich in Wirklichkeit doch nur an einen kleinen Kreis auserwählter Geister; diese hofften sie zu beeinflussen; ihnen paßten sie die Art ihres Vortrags an; mit der breiteren Schicht des Volkes hatten sie wenig zu tun. Sie waren, mit anderen Worten, bei all ihren demokratischen Sympathien im Grunde durch und durch Aristrokraten. Die Folge davon ist, daß die deutsche Literatur jener Periode, Poesie wie Prosa, zum großen Teil den Stempel einer gewissen Ueberfeinerung, einer theoretischen Kultur des Schreibtisches trägt; daß ihr oft die Einfachheit fehlt, und der starke direkte Appell an das Herz des Volkes.
Es muß ferner im Gedächtnis behalten werden, daß das deutsche Volk zu jener Zeit in gänzlicher politischer Auflösung sich befand, daß
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die Grundlagen nationaler Existenz vor dem Sturm der fremden Invasion eine nach der andern zusammen brachen, und daß die Aufgabe der Zukunft nichts Geringeres war, als eine völlige Reorganisation des öffentlichen Lebens. Was also in der deutschen Literatur der Zeit dem Volke ans Herz greift, das ist durch das Unglück eingegeben, durch die bittere Not der Stunde, und legt Zeugnis ab von dem Todeskampf einer sozialen Welt, die in Ruinen zerfällt, und den Geburtsswehen einer neuen noch nicht völlig reifen Ordnung der Dinge.
Auf der andern Seite hat Emerson, so sehr auch sein Leben inmitten der gebildetsten Kreise neuenglischen Kulturlebens sich abspielte, so sehr auch alles, was er dachte und schrieb, sich stets an die feinsten und vornehmsten Regungen des menschlichen Herzens wandte, dennoch immer mit vollem Bewußtsein über seinen eigenen Bildungskreis hinaus in die weiteren Sphären des gewöhnlichen, des Alltagsleben geblickt. Bei all seiner aristokratischen Haltung und Vorliebe war er im Grunde durchaus Demokrat. Und das Volk, dem er sein Lebenswerk widmete, war keine in ihrer Existenz bedrohte Nation, gelähmt, ja vernichtet, sondern eine Nation, die erst unlängst ihre Freiheit errungen hatte, ein gesunder junger Riese, überfließend von unerprobter Kraft, mit latentem Lebensdrang, unerfahren, aber vollkommen normal, unberührt durch Enttäuschungen,
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mit einer unermeßlichen Zukunft in seinen starken Lenden. Ist es ein Wunder, daß Emersons Neuformung des deutschen Idealismus im Ganzen gesünder war, normaler, kräftiger, mehr wirklich populär, daß sie den ganzen Menschen noch tiefer erfaßte, als der deutsche Idealismus selbst?
Es sei gestattet, diese Seite von Emersons Verwandtschaft mit deutschem Geiste durch eine kurze Parallele zu erläutern, zwischen ihm und demjenigen deutschen Denker, mit dem er die schlagendste Aehnlichkeit besitzt, obzwar er mit seinem Denken nur durch das Medium von Carlyles Schriften bekannt geworden ist: mit Johann Gottlieb Fichte.
Es gibt keine größere und wirkungsvollere Gestalt in der Geistesgeschichte, als die des Denkers Fichte. An Originalität und Konstruktivität des Gedankens überragt er Emerson so gewaltig, daß die beiden kaum zugleich genannt werden können. Aber als Menschen, als Schriftsteller, als Staatsbürger können sie wohl miteinander vergleichen werden.
Fichtes historische Aufgabe war es, den deutschen Geist, der durch zu große Verzärtelung in ästhetische Kultur sich aufgelöst hatte, auf den einen Punkt der nationalen Wiedergeburt zu konzentrieren. Er fühlte es deutlich, daß Deutschlands Zukunft nur durch eine völlige Umkehr
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der Gefühlswelt gerettet werden konnte. Was hatte die nationale Katastrophe herbeigeführt, was hatte den alten Ruhm Deutschlands vor der triumphierenden Fahne Napoleons zusammenbrechen lassen? Die ungehemmte Herrschaft des Egoismus, lautete seine Antwort. Was nur konnte die Nation retten? Nach seiner Ueberzeugung nur unbedingte Selbstverleugnung. Wie er selbst sagt:
„Das vernünftige Leben besteht darin, daß die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze und es ihm aufopfere; das vernunftlose hingegen darin, daß die Person nichts denke denn sich selber, nichts liebe, denn sich selber und in Beziehung auf sich selber, und ihr ganzes Leben lediglich an ihr eigenes persönliches Wohlsein setze. Und falls das, was vernünftig ist, zugleich gut, und das, was vernunftwidrig ist, zugleich schlecht zu nennen sein dürfte, so gibt es nur eine Tugend: die, sich selber als Person zu vergessen, und nur ein Laster : „Das, an sich selbst zu denken.“ *)
Das also war der Erweckungsruf, den Fichte an die überkultivierte, überindividualisierte und darum auseinanderfallende Nation ergehen ließ: Welche Fortschritte auch der Mensch bis jetzt gemacht haben mag -- denn es gibt auch im Verfall einen Fortschritt, -- welche Segnungen der
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*) Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Sämtliche Werke VII, p. 35.
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Zivilisation wir auch besitzen: sie sind nur durch die Entbehrungen, die Leiden, die Selbstaufopferung derer möglich geworden, die vor uns waren und für das Leben der Gattung sich selbst dahingaben. Laßt uns diesen Menschen nacheifern! Jeder von uns sei ein gemeinnütziger Charakter! Laßt unsere Philosophen und Dichter sich von der Ueberzeugung durchdringen, daß nicht sie es sind, sondern der Geist des Weltalls in ihnen, der durch ihre Gedanken oder ihre Lieder spricht, daß es Sünde wider den Geist wäre, ihre Talente durch die Knechtschaft persönlichen Ehrgeizes oder der Eitelkeit zu erniedrigen. Laßt unser politisches Leben frei sein von Despotismus und Monopol; laßt unsere sozialen Einrichtungen sich aufbauen auf dem Fundament gegenseitiger Pflichten, der Verantwortlichkeit des einen für alle! Laßt es die arbeitenden Klassen fühlen, daß sie nicht den Launen eines Einzelnen dienen, sondern dem Wohl der Allgemeinheit, und dies nur so weit, als die Allgemeinheit ihrer bedarf. Laßt den Reichen derart leben, daß er sagen kann: „Nicht ein Heller unseres Erwerbs wird verausgabt ohne Förderung höherer Kulturzwecke; unser Gewinn ist der Gewinn der Gesamtheit.“ Laßt das Ideal einer vollkommenen Gesellschaft das Leitmotiv der Zeit sein:
„Nichts Einzelnes vermag zu leben in sich und für sich, sondern alles lebt in dem Ganzen, und dieses Ganze selber in unaussprechlicher
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Liebe stirbt unaufhörlich für sich selber, um neu zu leben. Das ist einmal das Gesetz der Geisterwelt: alles, was zum Gefühle des Daseins gekommen, falle zum Opfer dem ins unendliche fort zu steigernden Sein; und dieses Gesetz waltet unaufhaltbar, ohne irgend Eines Einwilligung zu erwarten. Nur dies ist der Unterschied, ob man mit der Binde um das Haupt, wie ein Tier, sich zur Schlachtbank wolle führen lassen; oder frei und edel, und im vollen Vorgenusse des Lebens, das aus unserem Falle sich entwickeln wird, sein Leben am Altare des ewigen Lebens zur Gabe darbringen.“ *)
In Zeiten der Not, in einer jeden großen nationalen Krisis wird dieser herrliche Aufruf Fichtes zur Selbstverleugnung des Individuums seine begeisternde Kraft bewähren, wird immer wieder von neuem seinen unvergänglichen Wert beweisen. Aber es kann schwerlich geleugnet werden, daß er die Merkmale der ungewöhnlichen und außerordentlichen Zeit trägt, die ihn in Fichtes Geist entband. Die spartanische Härte, die Forderung staatlicher Allmacht -- eine Konsequenz, die Fichte selbst gezogen hat -- das Streben nach Einheitlichkeit in der Erziehung, die stoische Geringschätzung des Instinktiven macht das Ganze nicht zu einem gesunden Wahrspruch für alle
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*) Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Ges. Werke VII, p. 63.
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Zeiten und alle Nationen, und beeinträchtigt deshalb seinen universalen menschlichen Wert.
Emersons geschichtliche Aufgabe war es, das amerikanische Volk, das nur an materielle Wohlfahrt dachte, zum Erfassen seiner geistigen Bestimmung zu erziehen. Es fehlte ihm weder an Einsicht in die Schäden der Zeit und der ihn umgebenden Gesellschaft, noch sparte er die Geißel des Sarkasmus und der moralischen Empörung, wenn er diese Uebel strafte. Man lese seine drastische Schilderung der Dekadenz, die der Reichtum mit sich bringt, jene Gegenüberstellung von Vater und Sohn -- der Vater ein selfe-made-man, der Sohn ein Geschöpf der Verhältnisse:
Statt der erfrischend guten Laune, des Kraftgefühls, des Vertrauens in die Unerschöpflichkeit der Hilfsquellen im eigenen Selbst, statt der starken und geschulten Hände, der scharfen und schnell erfassenden Augen, des geschmeidigen Körpers, des kräftigen und gesunden Herzens, wie es der Vater hatte, den die Natur liebte und fürchtete, den Schnee und Regen, Wasser und Land, Fisch und Vieh zu kennen, dem sie zu dienen schienen, -- haben wir nun ein schwächliches, wohlverwahrtes Persönchen, gehütet vor Erde und Himmel durch Mauern und Vorhänge, Oefen und Daunenbetten, Kutschen und männliche und weibliche Dienerschaft, einen Menschen, der in der Abhängigkeit von all diesen edlen Hütern auferzogen, nur in der Angst lebt, sie zu verlieren, und sich gezwungen sieht,
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so viel Zeit daran zu verwenden, sie zu bewahren, daß er den Blick für den wahren Wert des Geldes völlig verloren hat, nämlich das Streben nach wahrhaft menschlichen Zielen, ein Leben in Liebe, die Förderung seiner Freunde, die Verherrlichung seines Gottes, die Erweiterung seiner Kenntnisse, den Dienst am Vaterlande, die Erfüllung alles dessen, wozu ihn ein edles Gefühl treibt; er ist nur das, was man einen reichen Mann nennt, -- der Knecht und Laufbursche seiner Reichtümer. Und er faßte ganze Philippiken gegen die Geldherrschaft in solche Sentenzen zusammen, wie: „Das ganze Interesse der Geschichte liegt in dem Schicksal der Armen“, oder in den Versen:
„Das ist das viehische Los der Armen
Garn zu spinnen, zu schroten das Korn;
Macht sitzt im Sattel und braucht den Sporn,
Reitet die Menschheit ohne Erbarmen !“
Aber Emerson sah sich nicht wie Fichte inmitten eines nationalen Zusammenbruches. Die sozialen Uebel, gegen die er Kritik und haßerfüllten Tadel richtete, waren die Begleiterscheinungen einer nationalen Entwickelung, die im Grunde gesund und voller Verheißung war. Seine Botschaft gipfelte daher, indem sie Fichtes Ruf zur Selbstverleugnung privater Interessen zu Gunsten öffentlicher Zwecke völlig aufnahm, doch nicht in der Forderung der Konzentration, sondern der
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Expansion des Individuums. Für ihn wie für Fichte war das Allgemeinwohl das höchste Ziel; für ihn wie für Fichte war jedes Individuum -- der Farmer, der Handwerker, der Geschäftsmann, der Gelehrte, der Künstler -- vor allem ein Diener des Staates. Aber dieser Dienst bestand für ihn vornehmlich in der vollsten Entwicklung aller höheren Instinkte, (es laufe, wie er sich ausdrückt, nur von oben ins Faß) und dem möglichst freien Zusammenwirken höchst ausgebildeter Persönlichkeiten. Nichts lag seinen Idealen ferner, wie patriarchalische oder staatliche Allgewalt; niemals hätte er die Erziehung der heranwachsenden Generation der ausschließlichen Aufsicht des Staates anvertrauen, niemals sich der Schranke sozialistischer Gemeinschaft unterwerfen wollen. Bis zum letzten Atemzuge hielt er sich an den in seinen besten Mannesjahren gefaßten Grundsatz: „Entwickelung zur Persönlichkeit, das ist das Einzige, das des Nachdenkens wert ist“; bis zum letzten Atemzuge sah er die Hoffnung der Zukunft darin, diesen Geist lebendig zu erhalten:
„In dem bohrenden Hirn des Fanatikers, in der stürmischen Hoffnung des einsamen Hirtenknaben, den die jungen Städter für einen Tölpel halten, weil sie nicht begreifen, was seine Brust schwellt, in dem flüchtigen Liebesstrahl, der unbemerkt aus eines Mädchens Auge bricht, in dem haarspaltenden Spintisieren irgend einer exzentrischen
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Person, die einige neue Bedenken gefunden hat, um sich selbst, und ihre Nachbarn dazu, zu quälen, in all dem liegen konstituierende Elemente der Zukunft.“
Müssen wir nicht sagen, ohne die glänzenden Verdienste Fichtes und der andern deutschen Idealisten herabzusetzen, daß wir hier eine Botschaft haben, die mehr universelle Wahrheit, mehr Weisheit enthält, und für die Allgemeinheit, für die natürlichen und normalen Bedürfnisse der Menschheit größeren Wert hat, als ihr edler, die Schranken des Alltags weit hinter sich lassender Geistesflug?
III.
Emerson gehört der Welt an. Aber es scheint allerdings, als ob zur Zeit kein Land ein größeres Anrecht an seine Dienste und ein dringenderes Bedürfnis nach ihnen habe, als gerade Deutschland. Es kann nicht geleugnet werden, daß die großen politischen Kämpfe und Errungenschaften, die großzügige industrielle und kommerzielle Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, für den Augenblick den deutschen Genius ein wenig in seinem geistigen Flug gehemmt oder doch abgelenkt haben. Unserer Zeit hat gigantische Aufgaben überwältigt. Sie hat einige dreißig aufeinander eifersüchtige und mißtrauische, größere und kleinere Staatsgebilde zu einer Nation zusammengeschweißt; sie hat einen Krieg durchgeführt, der
Deutsche und amerikanische Ideale.
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mit unvergleichlichen Siegen und Triumphen gekrönt war; sie hat Deutschland aus einem vorwiegend Ackerbau treibenden Lande zu einem der größten Zentren des Erdballs in Handel und Gewerbe umgewandelt; sie hat es zu einem der machtvollsten Konkurrenten in der Politik der Ausdehnung gemacht, die jetzt die Welt beherrscht. All dies gehört mehr dem Reich der Tatsachen als dem Reich des Geistes an. Das hat zu einer Ueberspannung des Willens geführt; es hat das Gefühl abgestumpft; es hat den Sinn für Moral gelähmt; es hat die Beschaulichkeit in Fesseln geschlagen; es hat die Versönlichkeit brutalisiert.
Religiöses Leben wagt sich im modernen Deutschland beinahe garnicht hervor. Ich zweifle nicht daran, daß es existiert, nicht nur unter den Tausenden von andächtigen Männern und Frauen, die der Kirche ihrer Väter in traditioneller Art dienen, sondern vielleicht noch mehr unter den Millionen, die sich mit Haß und Geringschätzung abgewandt haben von den kirchlichen Bräuchen und Bekenntnisformen, die ihnen zur leeren Phrase geworden sind. Aber es bleibt Tatsache, daß es in Deutschland keine Form des religiösen Lebens gibt, die in irgend einer Weise der getreue Ausdruck des nationalen Gewissens ist. In ethischen Theorien ist der Durchschnittsdeutsche von heute, bewußt oder unbewußt, Anhänger von Nietzsche. Er glaubt an eine Persönlichkeit, aber es ist nicht jene Persönlichkeit der großen deutschen
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Idealisten vor hundert Jahren, die Persönlichkeit, die einen Teil des unendlichen Geistes, eine sichtbare Manifestation des Göttlichen ist, -- sondern die Persönlichkeit des zynischen Mannes, der „Menschliches -- Allzumenschliches“ schrieb, ein Bündel animalischer Instinkte mit dem Wunsch der Selbsterhaltung und des Selbstgenusses, dem Durst nach Macht, dem Trieb, Schöpfer und Herr zu sein. In den Wissenschaften -- sowohl in den Geistes- wie in den Naturwissenschaften -- ist der Tatsachenmensch, der Spezialist, der Mann des Tages; und was auch zugunsten der Spezialisierung als der einzigen gesunden Basis wissenschaftlicher Untersuchung gesagt werden mag, (es ist ja klar, daß es da keine andere gleich gesunde gibt): die exklusive Herrschaft der Spezialisierung hat unserm ganzen Gelehrtenleben zweifellos etwas Geistloses, Engherziges, Mechanisches gegeben. Niemand hat das tiefer gefühlt und klarer ausgedrüct, als Herman Grimm, der letzte große Repräsentant des Goldenen Zeitalters der deutschen Literatur, der bis in unsere Zeit hineinreicht. Er sagt:
„Wir haben die Kenntnisse im Kopfe, wir sind solvente Leute und jeden Augenblick bereit die geforderte Summe an Wissen bar auszuzahlen, so hoch unsere Wechsel lauten. Aber die Ehe dieser Gedanken mit dem Geist, der sie beherbergt, ist eine kühle Konvenienzheirat ohne Gemeinschaft und ohne Kinder. Man will nirgends Konsequenzen
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ziehen. Was über das Bereich des Positiven, durch Bücher zu Belegenden hinausgeht, sind bedenkliche Konjekturen. Nur das Unangreifbare wird frech geäußert und die Meinung mit bedenklichem Schweigen übergangen, die kein anderes Fundament hat, als das tiefe Gefühl dessen, der sie aufstellt.“ *)
Meine Ausführungen scheinen klargelegt zu haben, weshalb Deutschland zur Zeit in einem besonderen und wichtigen Sinn reif für Emerson ist. Emerson ist, wie wir gesehen haben, mit dem deutschen Geist durch eine tiefe und nahe Verwandtschaft verbunden. Er hat die deutsche Liebe zur Individualität, den deutschen heiligen Ernst und den Abscheu gegen Schein und Unrecht, die deutsche Andacht zum Kleinen, den deutschen Denkermut und Widerwillen gegen Kompromisse. Und mehr: er schöpfte seine höchsten und besten Gedanken in reichem Maße aus dem schönen Schatz des deutschen Idealismus vor hundert Jahren, und er erweiterte diese Gedanken und gab ihnen eine tiefere Bedeutung, indem er sie den Bedürfnissen einer freien, jugendkräftigen Nation anpaßte. Jetzt ist die Zeit für Deutschland gekommen, von Emerson zu empfangen, die Zeit auch für Emerson, Deutschland
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*) H. Grimm, 15 Essays, erste Folge, 3. Aufl. (1884), S. 433.
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zurückzuerstatten, was er ihm verdankt, ihm den Idcealismus seiner eigenen Denker in geläuterterer, gesünderer und menschlich wahrerer Form wiederzugeben.
Das ist nicht bloß Theorie. Emersons Laufbahn in Deutschland hat bereits begonnen. Kein geringerer als Herman Grimm lenkte zuerst die Aufmerksamkeit auf ihn als auf einen der wahrhaft Großen, als eine geistige Macht, als einen Helfer und Tröster, als einen Befreier vom heutigen Zynismus und Pessimismus, von dem Kultus der rohen Tatsache. Sagte er doch schon in einem seiner frühesten Essays:
„Emerson ist ein perfekter Schwimmer im Elemente des modernen Lebens. Er fürchtet sich nicht vor den Stürmen der Zukunft: weil er die Ruhe ahnt, die auf sie folgen wird; er haßt nicht, er widerspricht nicht, bekämpft nicht: weil sein Verständnis der Menschen und ihrer Fehler zu groß, seine Liebe zu ihnen zu mächtig ist. Ich kann nicht anders als mit inniger Verehrung seinen Schritten folgen und ihn anstaunen, wie er das Chaos des heutigen Lebens sanft und ohne Leidenschaft in seine verschiedenen Provinzen abteilt. Lange Bekanntschaft hat mich sicher gemacht, und im Gedanken an diesen Mann fühle ich, daß es vor Zeiten wirklich Lehrer geben konnte, mit denen ihre Schüler jedes Schicksal teilten, weil ihnen Alles zweifelhaft und unlebendig
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erschien ohne den Geist des Mannes, dem sie folgten.“ *)
Grimms ehrliche Bewunderung blieb nicht ohne Einfluß auf denkende Männer in Deutschland. Allmählich, aber sicher, erweiterte sich Emersons Einfluß. Julian Schmidt, Friedrich Spielhagen spürten seine Kraft, sogar Nietzsche konnte seiner Persönlichkeit nicht widerstehen. Von den achtziger Jahren ab halfen zwei Oesterreicher seine Gefolgschaft vergrößern: Anton E. Schönbach, dem wir die erste, objektive Würdigung von Emersons Lebenswerk in deutscher Sprache verdanken, und Karl Federn, der zuerst eine vollständige Uebersetzung seiner Essays veröffentlichte. Eben jetzt ist eine zweite und anspruchsvollere Ausgabe von Emersons Werken in deutscher Sprache in Leipzig erschienen.
Indessen ist, unabhängig von Emerson, eine Bewegung erstarkt, die immer weitere Kreise deutschen intellektuellen Lebens zu ihm hinzieht, eine Reaktion gegen den Pessimismus Schopenhauers, gegen den Zynismus Nietzsches, gegen die geistlose Monotonie wissenschaftlicher Spezialisierung. Herman Grinms eigenes Lebenswerk, sein unaufhörlicher Hinweis auf den Wert künstlerischer Kultur und einer freien, edlen, von Ehrfurcht getragenen Persönlichkeit, hat vielleicht die kraftvolle Initiative zu diesem geistigen Wiedererwachen
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*) H. Grimm, 15 Essays, erste Folge (1884), S. 444 f.
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gegeben. Aber andere und jüngere Männer sind in seine Fußtapfen getreten. Die Zeichen der Zeit sind voll Verheißung. Der ungewöhnliche Erfolg eines Buches wie Harnacks „Wesen des Christentums“; der weitgehende Einfluß eines solchen Universitätslehrers, eines so weisen, freien, gütigen Idealisten wie Friedrich Paulsen ; die entsagungsreiche Arbeit, die Rudolf Eucken, Eugen Kühnemann, Friedrich Naumann, Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und andere sich auferlegen, um die Massen zurückzugewinnen für geistige Entwikelung und aufgeklärten Glauben; das neue Leben, das sich allenthalben entzündet in Dichtkunst, Novelle und Drama: all das ist ein schlagender Beweis dafür, daß wir uns an der Schwelle einer neuen Aera des deutschen Idealismus befinden. Und wenn sie kommt, so kommt mir ihr die Forderung: Weniger Nietzsche und mehr Emerson; und ein neues geistiges Band zwischen Amerika und Dentschland wird geknüpft sein.
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Inhalt
Zum Geleit . . . . . . . . 3
Deutsche Ideale von heute . . . . 5
Das Studium der nationalen Kultur . . 53
Amerikanische Ideale . . . . . . . . 78
Emerson und die deutsche Persönlichkeit . . . . . . 100
Quelle:
Prof. Dr. Kuno Francke
Deutsche und amerikanische Ideale
Übers. aus dem Englischen durch Baronin Elvire von Stempel
Herausgegeben von Dr. phil. A. Reimann
Deutschen Bücherei Nr. 134/135, Berlin, Otto Koobs 1913
Hinweis:
Ein Scan dieses Buches von Kuno Francke ist im Internetarchiv https://archive.org/ unter folgendem Link zugänglich:
https://archive.org/details/deutscheundameri00fran/page/n1/mode/2up
Emerson 1838: Über den Krieg
„Internationale Organisation“ Heft 8
ÜBER DEN KRIEG
von RALPH WALDO EMERSON
Deutsch von Sophie von Harbou
VERLAG DER „FRIEDENS-WARTE“ BERLIN 1914 / W., BÜLOWSTRASSE 66 UND LEIPZIG
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DIE FRIEDENSWARTE FÜR ZWISCHENSTAATLICHE ORGANISATION XV. JAHRG.
HERAUSGEBER: ALFRED H. FRIED BERLIN-WIEN LEIPZIG
DIE FRIEDENS_WARTE ist das führende Organ der neueren, auf realer Grundlage beruhenden Friedensbewegung im deutschen Sprachgebiet.
Sie erscheint seit 1899 (erste Haager Konferenz) und zählt neben den bekannten Pazifisten hervorragende Völkerrechtsgelehrte, Abgeordnete, Diplomaten und Wirtschaftspolitiker zu ihren Mitarbeitern.
Man findet
die Friedens-Warte in allen Volksbibliotheken und öffentlichen Lesehallen Deutschlands und in den Universitätsbibliotheken Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, der Schweiz, Hollands, der skandinavischen Länder, Grossbritanniens, Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Bezieher erhalten das Blatt für Mk. 6.— =Kr. 7.20 in Deutschland und Oesterreich-Ungarn, für Mk.6,60 im Weltpostverein postfrei zugesandt. Einzelnummern 60 Pfg. Man bestellt bei jeder Buchhandlung wie unmittelbar bei der Versandstelle: Pass & Garleb G.m.b. H., Berlin W, Bülowstr. 66.
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Über den Krieg
von
Ralph Waldo Emerson
Deutsch von Sophie von Harbou
VERLAG DER „FRIEDENS-WARTE“ BERLIN 1914 / W., BÜLOWSTR. 66 UND LEIPZIG
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Die neuere Philosophie beschäftigt sich mit Vorliebe damit, einen stufenweisen Fortschritt der Menschheit nachzuweisen, zu beobachten, wie ein Gedanke zunächst in dem Geist eines einzelnen auftaucht, dann einige wenige ergreift, hierauf einen etwas größeren Kreis, wie er sich immer weiter ausbreitet, schließlich Allgemeingut wird und sich der Welt dadurch kundgibt, daß er die bestehenden Gesetze und Einrichtungen zerstört und neue ins Leben treten heißt. Von dieser höheren Warte eines allgemeinen und geschichtlichen Standpunktes aus betrachtet, tragen die Dinge ein ganz anderes Gepräge, als wenn man sie in der Nähe und im einzelnen beobachtet. Dies gilt ganz besonders — vom Kriege. Während Menschen mit gesunden Sinnen heutzutage den Krieg als eine epidemische Tollheit ansehen, die hie und da ausbricht, wie etwa die Cholera oder die Influenza, — mit dem einzigen Unterschied, daß seine Bazillen das Hirn, statt der Eingeweide vergiften, — erscheint er uns in einer fernen Vergangenheit als ein integrierender, in seiner Art notwendiger Bestandteil im Zusammenhang der Ereignisse.
Soweit uns die allmähliche Entwicklung irgendeines wilden Völkerstammes von der Geschichte übermittelt worden ist, will es uns scheinen, als wären Kriege unter solchen ungezügelten, leidenschaftlichen, von tausend unbefriedigten Bedürfnissen bewegten und dabei starken Geschöpfen gar nicht zu vermeiden gewesen. Denn in
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dem Kindheitsstadium der menschlichen Gesellschaft, da eine schwachgesäte Bevölkerung und ein Mangel an Erfahrung noch nicht genügend für Nahrung und Obdach Sorge zu tragen weiß, und da Hunger, Durst, körperliche Schmerzen und erfrorene Glieder die geistigen und seelischen Bedürfnisse noch in den Hintergrund treten lassen, wird sich der stärkere Wille naturgemäß auf Kosten des schwächeren Geltung zu verschaffen wissen, welche Art künftiger Vergeltung er auch damit heraufbeschwören mag. Auch ist es klar, daß mit dem ersten Heraufdämmern eines religiösen Gefühls, sich solches mit ihren Leidenschaften verbinde und Oel ins Feuer gieße. Es hat nicht nur jeder Stamm seine Kriegsgötter und seine religiösen Siegesfeste —, es hat auch jeder seine Religionskriege.
Der Geschichtsforscher nimmt dieses übermäßige Blutvergießen früherer Jahrhunderte, zumal eines Blutvergießens im Namen Gottes, um so bereitwilliger als etwas Unvermeidliches hin, als er weiß, es handelt sich um einen vorbereitenden und vorübergehenden Zustand, der tatsächlich der Kultur förderlich ist. Der Krieg erzieht die Sinne, setzt den Willen in Tat um, stählt den Körper und bringt die Menschen in kritischen Augenblicken in so rasche und unmittelbare Berührung, daß es gilt, sich Mann an Mann zu messen. Auf seinem eigenen Gebiet, bei den Tugenden, die er liebt, duldet er keine Spiegelfechterei, er schüttelt vielmehr die ganze Gesellschaft bunt durcheinander, bis jedes Atom, den Gesetzen seiner eigenen Schwere gehorchend, an die ihm gebührende Stelle fällt. Der Wert gesunden Menschenverstands und weiser Voraussicht kann ihm nicht lange
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verborgen bleiben, und er weist Odysseus den Platz unmittelbar neben Achilles an. Seine Führer, auserlesene Männer, deren Mut und Tatkraft in fünfzig Schlachten geprüft und bewährt worden ist, brennen vor Eifer, es einer dem andern an neuen Verdiensten, an Großmut, Gastlichkeit, einem glänzenden Auftreten vorauszutun. Das Volk eifert seinen Führern nach. Der starke Volksstamm, in dem der Krieg zur Kunst ausgebildet worden ist, greift seine Nachbarn an, besiegt sie und lehrt sie seine Geschicklichkeit und seine Tugenden. Ein erweitertes Gebiet, vergrößerte Heere und ein umfassenderer Interessenkreis ruft neue Kräfte und Fähigkeiten wach, und der Stamm gewinnt zusehends an Bedeutung. Und schließlich, nachdem er sich mehr und mehr vervollkommnet hat, trägt sein Einfallen in fremde Gebiete alle Geheimnisse seiner Weisheit und seiner Künste, als edle Aussaat, in neue Gefilde. In seinem Aufsatz über die Erfolge Alexanders nennt Plutarch die Eroberung und Unterwerfung des Ostens durch Alexander eine der schönsten und anziehendsten Seiten der Geschichte; und man kann nicht leugnen, daß er seine Ansicht aufs glücklichste begründet. Das Ergebnis dieser Eroberungen war eine Vereinigung der bisher getrennten Gemeinwesen ganz Griechenlands zu einer einzigen großen Interessengemeinschaft und die Erfüllung ihrer Ratsversammlungen mit einem neuen und weiterblickenden Geist. Sie trugen die Künste, die Sprache und die Philosophie der Griechen unter die noch in Schlummer und Barbarei versunkenen Völkerstämme Persiens, Assyriens und Indiens. Stämme, die bisher nichts als Jagd und Viehzucht gekannt hatten, lehrten sie die Künste des Ackerbaues. Die Scythen
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und Perser entwöhnten sie von manchen grausamen und wilden Gepflogenheiten und lehrten sie ein gesittetes Leben. Sie führten die Heiligkeit der Ehe bei ihnen ein. Siebzig neue Städte waren das Ergebnis dieser Eroberungen, und in ganz Asien herrschten fortan griechische Sitten und menschlichere Gesetze, die feindliche Nationen unter dem gleichen religiösen Bekenntnis vereinigten. Verschiedene Familien des Menschengeschlechts wurden auf solche Weise zusammengebracht, und führte diese Vereinigung auch zuerst zu Schlägen, allmählich kam es doch zu einem Waffenstillstand zwischen ihnen, zu Handelsbeziehungen und zu Heiraten. Es würde ein Leichtes sein, analoge Vorteile als Ergebnis kriegerischer Bewegungen späterer Jahrhunderte nachzuweisen.
Derartige Betrachtungen führen uns dazu, einen der Bedeutung und der Natur des Krieges gegenüber gerechten Standpunkt zu gewinnen. Wir sehen ihn als den Mittelpunkt der gesamten Geschichte, als die Hauptbeschäftigung der berühmtesten Leute; wir beobachten, wie er noch heutzutage die Begeisterung der halben Welt erregt, fast aller jungen, unerfahrenen Personen; wir verfolgen ihn in dem fortwährenden Schauspiel der stummen Natur, wo sich die verschiedenen Gattungen oder die einzelnen Individuen der gleichen Gattung unaufhörlich befehden. Das Mikroskop offenbart uns ein stetes Gegeneinanderrasen der Atome. Wir sehen in einem durchleuchteten Wassertropfen unermeßlich kleine Lebewesen gegeneinander anschwimmen und kämpfen, und dieser kleine Weltball ist ein nur allzu getreues Abbild des großen.
Was bedeutet all dieser Krieg, der auf den niedersten
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Stufen der Schöpfung beginnt und bis zum Menschen heraufreicht? Vertritt er nicht offenbar ein großes und wohltätiges Lebensprinzip, das der Natur sehr am Herzen liegt? Was für ein Prinzip ist das? Das der Selbsterhaltung! Mit dem Leben zugleich pflanzt die Natur jeglichem Geschöpf den Trieb der Selbsterhaltung ein, das stete Bestreben, zu sein, jeglichen Widerstand zu überwinden, seine Freiheit zu wahren und sich ein dauerndes, gesichertes und wohlbehütetes Dasein zu bewahren. Und jeglichem Geschöpf sind diese Ziele so erstrebenswert, daß es immer wieder sein Leben dafür einsetzt, sie zu erringen.
So tief aber auch dieses Grundgesetz mit dem Sein jedes einzelnen Wesens verwoben ist, so ist es doch immerhin nur ein einzelner Trieb, und, obschon einer der ersten, ja, der Urtrieb, so wird er dennoch gemildert und in Schach gehalten, sobald die andern Triebe auf der Bildfläche erscheinen. Sie lenken alsbald seine Kräfte in harmlose, nützliche und edle Bahnen, zeigen, welcher Zweck jenem Triebe tiefsten Grundes innewohnt und berauben ihn schließlich seiner Giftzähne. Sehr früh entfaltet sich der Trieb der Selbsterhaltung unter der rohen und brutalen Form des Krieges; es geschieht dies, solange die andern Triebe noch kindisch und unbeholfen sind, und dauert bis zu deren voller Entfaltung. Was in der Menschheit zum Kriege drängt, ist ihr kindlichster, ihr unerfahrenster Teil. Ein leerer und kindischer Sinn begehrt nach derartigen Reizmitteln, und alle Knaben haben einen Hang, Katzen zu töten. Stiergefechte, Hahnenkämpfe und Wettringen sind die Freuden desjenigen Teiles der menschlichen Gesellschaft, dessen animalische
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Seite bisher die einzig entwickelte ist. In einigen Teilen unseres Landes, wo die moralischen und geistigen Fähigkeiten bisher noch fast gänzlich brach liegen, ist der Brennpunkt jeglicher Unterhaltung das Prügeln. Wer hat miteinander gerauft, und wer ist ge prügelt worden? Der einzige Zug an einem Mann, einem Knaben oder einem Tier, der diese Leute interessiert, ist deren Kampflust. Warum das? Weil ihnen jeder andere Zug männlicher Tatkraft und männlicher Tugend fernliegt. Sie wissen nichts von Ausdauer, Duldsamkeit, nichts von Güte oder von Wahrheitsliebe. Versetzt derartige Leute in einen Kreis gebildeter Menschen, deren Unterhaltung um die großen Fragen kreist, an denen die menschliche Vernunft herumrätselt, und er wird sich so stumm und unbehaglich unter ihnen fühlen, wie ein Indianer in einer Kirche.
Für gesetzte und reife Menschen dagegen, die Bildung und geistige Regsamkeit besitzen, haben die Einzelheiten eines Kampfes etwas unerträglich Langweiliges und Empörendes. Ihnen ist eine derartige Unterhaltung nichts anderes als das Geschwätz irgendwelcher Monomanen, wie wir ihnen gelegentlich in Gesellschaft begegnen, die von nichts anderem als von Pferden sprechen können. Fontanelle sagt ganze Bände, wenn er erklärt: „Ich hasse den Krieg, denn er verdirbt jegliche Unterhaltung.“
Nichts ist charakteristischer, als daß die Sympathie für den Krieg ein Vorrecht der Jugend, und daß sie etwas Vorübergehendes ist. Nicht nur das moralische Empfinden bäumt sich dagegen auf —, Handel, Gewerbe, Wissenschaft, alles, was irgend im Verkehr der Menschen untereinander eine Rolle spielt, ist einig darin, den Krieg
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zu bekämpfen. Jedermann weiß, daß Handel und Krieg unversöhnliche Gegner sind. Wo kein Eigentum vorhanden ist, da hängt man den Bettelsack über die Schulter und geht auf die Suche nach Brot. Handel und Gewerbe aber wird durch jeden Krieg geschädigt und zerstört. Und überdies, Handel und Gewerbe bringen den Menschen dazu, einander Auge in Auge zu sehen; sie lehren beide Teile, daß ihre Feinde jenseits der See oder jenseits der Berge ebensolche Menschen sind, wie sie selbst, Menschen, die lachen und Leid tragen, die Furcht und Liebe kennen, wie sie. Und Kunst und Wissenschaft und mehr als alles andere, die Religion, webt Bande zwischen den Völkern, denen gegenüber Krieg aussieht wie Brudermord —, und was ist er im Grunde anders?! Ist die ganze Geschichte, wie wir gesagt haben, ein Bild des Krieges, so ist sie doch nicht weniger eine Chronik der Beschränkung und Mäßigung der Kriege. Im elften und zwölften Jahrhundert waren die italienischen Städte so volkreich und so stark geworden, daß sie den Landadel zwangen, die Befestigungen ihrer Burgen, dieser Schlupfwinkel schlimmster Grausamkeiten, zu schleifen und ihren Wohnsitz in den Städten aufzuschlagen. Den Päpsten wird es ewig zur Ehre gereichen, daß sie die Tage des „Gottesfriedens‘ einrichteten, während derer in der gesamten Christenheit die Feindseligkeiten ruhten und den Menschen Zeit blieb, Atem zu schöpfen. Der Fortschritt der Kultur hat mit der Verwendung von Gift und Folter aufgeräumt, die einstmals für so unentbehrlich galten, wie heutzutage die Flotte. Und schließlich hat die Kriegskunst, dank der taktischen Errungenschaften und des Schießpulvers, die Gefechte,
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wie allgemein eingeräumt wird, weniger häufig und weniger mörderisch gemacht.
Alle diese Ursachen haben zusammengewirkt, die Kriege mehr und mehr einzuschränken. Wir lesen mit Staunen von den grausamen Gefechten alter Zeiten. Noch im Zeitalter Elisabeths war Seeräuberei außerhalb der europäischen Gewässer ganz allgemein. „Kein Friede jenseits des Aequators‘, pflegte man zu sagen, und der Schiffer verheuerte sich seinem Kapitän unter dem Abkommen: „Keine Beute — keine Löhnung!‘“ Der berühmte Cavendish, der seinerzeit für einen guten Christen galt, schrieb bei seiner Rückkehr von einer Reise um die Welt folgendermaßen an Lord Hunsdon: „Es hat Gott, dem Allmächtigen, gefallen, mich den ganzen Erdball umkreisen zu lassen, indem ich zuerst die Maghellaens-Straße und zuletzt das Kap der Guten Hoffnung passierte, auf welcher Reise ich alle reichen Plätze der Welt entweder entdeckt oder, sofern sie irgendein Christ bereits entdeckt hatte, doch gewisse Kunde von ihnen gebracht habe. Ich schiffte an der Küste von Chile, Peru und Neu-Spanien entlang, wo ich große Plünderungen vorgenommen habe. Neunzehn Schiffe habe ich verbrannt und in den Grund gebohrt, kleine und große. Sämtliche Städte und Dörfer, die ich anlief, habe ich niedergebrannt und geplündert. Und wäre ich nicht an der Küste aufgespürt worden, so würde ich riesige Schätze erbeutet haben. Mein bestes Stück war ein großes Schiff des Königs, das ich in Kalifornien wegnahm” usw. Und der gute Cavendish beginnt doch seine Schilderung
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mit den frommen Worten: „Es hat Gott, dem Allmächtigen, gefallen.“
Unsere amerikanischen Jahrbücher verzeichnen — leider — Spuren barbarischer Kriegsführung sehr viel jüngeren Datums. So las ich in Williams „Geschichte von Maine“, daß „Assacombuit, der Häuptling der Anagunticooks“, alle anderen bekannten Indianer an Wildheit und Grausamkeit übertreffe. Im Jahre 1705 habe ihn Vaudreuil nach Frankreich gesandt, wo er dem König vorgestellt wurde. Als er bei Hofe erschien, erhob er die Hand und sagte: „Diese Hand hat innerhalb der Gebiete Neu-Englands hundert und fünfzig Feinde Eurer Majestät erschlagen!“ Solches gefiel dem Könige dermaßen, daß er ihm den Ritterschlag erteilte und ihm eine lebenslängliche Rente von acht Lire täglich aussetzte. Diese schätzenswerte Persönlichkeit verfiel nach ihrer Rückkehr nach Amerika auf den Gedanken, die eigenen Nachbarn und Anverwandten zu töten und gab sich dieser Liebhaberei mit solchem Eifer hin, daß sich sein Stamm alsbald gegen ihn verbündete und ihn getötet haben würde, wenn er nicht aus seinem Heimatland geflohen wäre, um niemals wiederzukehren.
Die Empörung, die uns solchen Tatsachen gegenüber ergreift, beweist, daß wir bereits ein wenig vorwärts gekommen sind. Die ganze Geschichte berichtet vom Niedergang der Kriege, wenn schon von einem sehr allmählichen. Was die menschliche Gesellschaft bisher erreicht hat, ist eine gewisse Einschränkung; die Lehre von der Berechtigung der Kriege ist noch nicht erschüttert.
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Durch Jahrhunderte (denn Gedanken brauchen Jahrhunderte und wachsen in Generationen von Menschen) hat sich die zivilisierende Menschheit die — wie soll ich sagen? — Tyrannei dieser ersten brutalen Form, die das Ringen um ihre Menschenrechte annahm, gefallen lassen; das heißt, durch Jahrhunderte hat sie in dieser Hinsicht das Triebleben der niederen Tiere, der Tiger, der Haifische, der Wilden und der Bewohner des Wassertropfens geteilt. Alles Gute und alles Böse, das diese Form umschließt, hat sie in diesem Zeitraum gewissermaßen erschöpft, hat diese ihre Schmach so fest umklammert, wie es ihr der ärgste Feind nur irgend hätte wünschen können. Aber alles hat einmal ein Ende, und so auch dies. Der ewige Keim eines zum Besseren Reifens hat neue Kräfte, neue Instinkte entfaltet, die in Wahrheit bereits unter dieser rauhen, armseligen Rinde schlummerten. In einer und der anderen glücklichen Seele an verschiedenen Enden der Erde ist der göttlich-schöne Gedanke aufgetaucht: Kann nicht die Liebe so gut wie der Haß das Feld behaupten? Würde Liebe nicht das Gleiche oder gar ein noch Besseres erreichen können? Sollte es nicht möglich sein, daß statt des Krieges der Friede herrsche?
Dieser Gedanke ist nicht die Erfindung irgendeines Menschen, etwa St. Pierres oder Rousseaus, nein, er ist aus dem allgemeinen Fluten der Menschenseele geboren, — am lebendigsten aber regte er sich und zeigte sich am ersten in den reinsten und schlichtesten Seelen, und sie sind es daher auch, die ihn uns zuerst kundgetan haben. Schon aber gewahren wir ihn alle. Schon ist es ein Gedanke, der der gesamten Menschheit vertraut geworden
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ist, schon schließen sich ganze Gesellschaften zusammen, um ihn zu fördern. Man erläutert, man illustriert, erwägt ihn mit größerer oder geringerer Klarheit, — und seine Verwirklichung oder die Maßnahmen, die zum Herbeiführen einer solchen ergriffen werden könnten, werden je nach der Sehergabe des Propheten, der sich für ihn begeistert, vorhergesagt.
Die Idee an sich verleiht der Zeit, in der wir leben, ihr Gepräge. Die Tatsache allein, daß sie einen Kreis von Menschen so bis ins Tiefste beschäftigt, daß sie zum Gegenstand ihrer Gebete und ihrer Hoffnungen, ihres Zusammenwirkens und ihres lebhaften Austausches geworden ist, — beweist ihr lebendiges Sein. Hat sie soviel erreicht, wird sie auch weiter vordringen. Revolutionen kennen kein Rückwärts. Mag zunächst nur ein einziger Mensch unserer Hemisphäre die oberen Strahlen eines neuen Gestirns an unserem Horizont haben auftauchen sehen, ist es einmal aufgegangen, wird es steigen und steigen, bis es auch andern Menschen, ja, bis es großen Scharen sichtbar wird und schließlich zum Zenith aller emporklimmt. Es kommt nicht darauf an, wie lange sich die Menschen sträuben, an den Advent des Friedens zu glauben: schon liegt der Krieg in den letzten Zügen, und so gewiß die Kultur über die Barbarei und ein liberales Regiment über die Zeit der Hörigkeit den Sieg davon getragen hat, so gewiß wird sich das Reich des Friedens einmal über die ganze Welt dehnen. Es fragt sich nur, wie bald?
Daß der Gedanke eines ewigen Friedens einer großen Anzahl verständiger Leute einstweilen nur ein Traumbild, ja, daß er manchen lächerlich und den Ernsten
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und Gütigen praktisch unendlich schwer durchführbar erscheint, — das ist nur allzu natürlich. Da heißt es: „Ach, was für eine öde langweilige Gesellschaft ihr sejd! Wahrhaftig, wir sehen nicht ein, was ihr eigentlich wollt?! Friede! Ja, gewiß! Aber wir haben ja Frieden! Wenn uns wieder eine fremde Nation mutwillig beleidigen oder unsere Handelsbeziehungen stören sollte, schlimmer noch, wenn sie gar unsere Küsten, unser ganzes Land mit Raub und Mord überziehen wollte, was meint ihr, sollen wir dann ruhig dasitzen und uns berauben und hinmetzeln lassen? Ihr verkennt unsere Zeit, ihr überschätzt die Menschen! Ihr vergeßt, daß die Ruhe, die jetzt über Stadt und Land lagert, die uns erlaubt, unsere Waren ohne Bedeckung von Ort zu Ort zu schaffen und unsere Landsitze unbefestigt zu lassen, auf der absoluten Gewißheit begründet ist, daß Schwert, Handschellen und Galgen dahinter stehen, die jeden Friedensstörer sofort zur Rechenschaft ziehen werden. Gewiß, darin sind wir ja alle einig, daß es das allerbeste wäre, wenn die ganze Welt sozusagen eine große Kirche und alle Menschen die edelsten Geschöpfe und mit dieser Regel vollauf einverstanden wären. Aber für eine einzelne Nation ist es Wahnsinn, einen derartigen Versuch zu machen! Darauf möchten wir zunächst antworten, daß ein Einwand, der nur den gegenwärtigen Zustand der Welt betrifft und im übrigen die Durchführbarkeit, wie die Vortrefflichkeit des Planes vollkommen zugibt, wenig in Gewicht fallen kann. Das Beste entspricht auch allemal der Wahrheit am meisten, und das Wahre, das heißt das, was dem Wesen des Menschen tiefsten Grundes am entsprechendsten und am wohltuendsten ist, muß
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schließlich über allen Widerstand und alle Gegnerschaft den Sieg davontragen. Es gibt keine Segnung, deren sich die menschliche Gesellschaft heute erfreut, die nicht einstmals ebenso problematisch und unerreichbar ausgesehen hätte, wie dieses. Alles, was wahrhaft im Interesse der Menschheit liegt, wird zur gegebenen Zeit der Wunsch und das Ziel werden, an deren Erlangung sie alles setzt.
Des weiteren aber schöpft jeder Weise aus der Geschichte diese Lehre, daß es den Gedanken vertrauen gilt, nicht den Verhältnissen. Wir alle sind aufgewachsen unter dem Anblick von Fregatten und Schiffswerften, von Schanzen und Befestigungen, von Waffenlagern und Heerwesen. Aus den Militärlisten jeglicher Nation können wir erfahren, wie viele Tausende oder Millionen von Menschen augenblicklich in all den großen Gebieten Groß-Britanniens, Rußlands, Oesterreichs und Frankreichs unter Waffen stehen, mit Entsetzen vergegenwärtigt man sich, um welchen Preis der Friede des Erdballs aufrecht erhalten wird. Dieser Riesenapparat von Kanonen, Flotten, Bastionen, Schanzen und Küstenbefestigungen, — dies stete Auf und Ab der Wachen, — dies Flattern der Fahnen, — dies Geschieße am Morgen und am Abend, — diese Militärmusik, dies unaufhörliche Spielen von Märschen und Singen von Kriegs- und Soldatenliedern erscheint uns als eine so überwältigende Wirklichkeit, daß es uns dünken will, Jahrhunderte dürften darüber hingehen, bis sich alledem gegenüber das armselige Häuflein derer, die den Frieden lieben, Geltung zu schaffen vermöchte.
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So lassen wir uns immer wieder durch den äußeren Schein entmutigen, ohne zu bedenken, daß dessen Bedeutung einzig und allein in unserem eigenen Gemüt wurzelt. Letzten Grundes sind doch Gedanken das Fundament dieses ganzen unheilschwangeren Kriegsgebäudes, und Gedanken sind es auch nur, die es einstmals stürzen werden. Jedes Volk und jeder einzelne tritt nach außen hin solcher Art in die Erscheinung, wie es seinem moralischen oder intellektuellen Zustand entspricht. Man achte nur einmal darauf, wie jede Wahrheit und jeder Irrtum, ja, jeder menschliche Gedanke sich allmählich materialisiert, d. h. sich in Gesellschaften, Häuser, Städte, Sprachen, Gebräuche, Zeitungen umsetzt. Nehmen wir die Gedanken, die heute die Welt bewegen. Orthodoxie, Skeptik, Mission, Volkserziehung, Mäßigkeit, Antisklaverei usw. — jeder einzelne dieser abstrakten Begriffe hat sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft mit einem großartigen Aufwand an äußeren Formen verstofflicht; Bauholz, Ziegel, Lehm und Stein haben sich gefällig gestaltet, um dem herrschenden Gedanken in der Seele vieler zum entsprechenden Ausdruck zu verhelfen.
So erfährt man eines Tages von wilden Phantasien, wie sie im Hirn irgendeines Menschen spuken, von unheilschwangeren, heimlich getanen Schwüren. Zwei oder drei Jahre gehen ins Land, und, siehe da, jener phantastische Gedanke hat sich in große, massive Gebäude von Holz, Stein und Mörtel verwandelt. Hundert Pressen bedrucken Millionen von Blättern; Menschen, Pferde, Räder sind um dieses Gedankens willen in lebhaftester Bewegung, — eine Fülle von Erscheinungen,
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die samt und sonders dazu dienen, jenes einen Menschen wilde Phantasien in Taten umzusetzen. Etwas Derartiges können wir jedes Jahr, jeden Tag in unserer Umgebung beobachten, und häufig handelt es sich dabei um Nichtigkeiten, um irgendwelche schlauen Einfälle, irgendwelche leere Spekulationen. Päppelt man sie ein wenig auf, können sie wohl ihre drei, vier Jahre das Leben fristen, bevor sie wieder in ihr Nichts zurücksinken. Taucht aber eine Wahrheit auf, — wie zum Beispiel die in dem Hirn des Kolumbus geborene Ueberzeugung, daß sich in den westlichen Meeren Land finden müsse, so mag dieser Gedanke in ihm allein wirken und von allen übrigen verspottet werden, — dennoch weiß sich diese Wahrheit Schiffe zu erbauen, Flotten auszurüsten, halb Spanien und halb England über den Ozean hinüberzuführen; sie wird sich zu einer Kolonie ausgestalten, zu einem Staat, zu einem Konglomerat von Völkerschaften, ja, zu einem halben Erdball voller Menschen.
Wir pflegen uns, je nachdem es unserer Willensfreiheit und unserer Geschicklichkeit entspricht, mit Dingen zu umgeben, die unsere eigene Persönlichkeit spiegeln, seien es Schiffe, Bücher, Kanonen oder Kirchen. Das stehende Heer, das Zeughaus, Galgen und Feldlager sind kein wesentlicher Besitz des Menschen. Sie sind gewissermaßen ein Index, der angibt, wie weit der Mensch eben jetzt gelangt ist, — wie launenhaft und ungezügelt sein Temperament, wie böse sein Nachbar, wie saft- und kraftlos seine Liebe ist und wie armselig seine Hoffnung! Wer das Glitzern der Bajonette liebt, sieht in ihrem Gefunkel nichts andres, als was er zuvor im Herzen empfunden hat. Habsucht und Haß, die bebende Lippe,
Ueber den Krieg.
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das kalte, liebeleere Auge, die sind es, die Pulvermagazine und Waffenlager errichtet haben.
Die weitere Folge, die sich hieraus ergibt, ist die, daß der geringste Wandel im Menschen selbst auch seine Lebensverhältnisse umwandelt, — die geringste Erweiterung seines Ideenkreises, der leiseste Wechsel in seinen Empfindungen für andere Menschen, so zum Beispiel, wenn er mit einer warmen Zärtlichkeit gegen seine Mitmenschen erfüllt werden sollte, so daß er in jedem Menschen ein zweites Ich erblickt, mit dem er vielleicht einmal gemeinsame Arbeit verrichten könnte, wie die linke Hand der rechten hilft. Je größere Kreise diese Empfindung ziehen wird, um so überraschendere Veränderungen werden wir ringsum in der Außenwelt wahrnehmen: die Zeltlager werden fallen, die Kriegsschiffe am Ufer vermorschen, die Waffen verrosten‚ aus Kanonen werden Prellsteine werden, aus Lanzen Harpunen zum Fischfang; die Militärkolonnen werden sich in Züge friedlicher Forscher verwandeln, in Gesellschaften harmloser Pioniere an den Quellen des Missouri und des Wabash. Es kann nicht anders sein: zuerst werden Büchse und Schwert nach und nach ihre unbescheidene Aufdringlichkeit fallen lassen, dann werden sie völlig in den Hintergrund treten, wie Galgen und Pranger heute, und schließlich wird man ihnen nur noch in den Kuriositätensammlungen begegnen, wie heute Folterwerkzeugen und Giftbechern.
So geben Frieden und Krieg wie die Quecksilbersäule des Barometers den jeweiligen Stand der Kultur an. Auf einer gewissen Lebensstufe liebt der Mann, wenn er an Leib und Seele gesund ist, den Kampf. Ist er ein
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wenig weiter vorgeschritten, so vermeidet er selbst einen Anlaß zum Streit, ist aber schnell bei der Hand, jegliche Beleidigung zurückzuweisen und von schwer versöhnlicher Gemütsart. In einem noch reiferen Stadium erreicht er die Region heiliger Stille, die leidenschaftlichen Erregungen sind zur Ruhe gekommen, was kriegerisch in seinem Wesen war, hat sich in tätige, heilende Kräfte umgesetzt; er weiß sich zu überwinden, willig nimmt er die ermüdenden Aufgaben der Selbstverleugnung und der mildtätigen Güte auf sich. Wird er angegriffen, so duldet er es und bietet die andre Wange auch dar, wie einer, der fortan durch sein ganzes Leben nicht mehr im Dienste irgendeines einzelnen steht, sondern im Dienste der allen Menschen gemeinsamen Seele. Seit die Frage des allgemeinen Friedens in weitere Kreise gedrungen ist, gilt es natürlich für die, welche ihre Berechtigung vertreten, manches größeren und geringeren Widerstandes gewärtig zu sein. Die Neugier stellt immer wieder die gleichen Fragen, — sittliche Probleme, ähnlich jenen Rechenexempeln, an deren Lösung die Bauern gelegentlich an langen Winterabenden die Härte ihrer Schädel ausprobieren. Und meist heißt es: Entweder sich durch Dick und Dünn zu diesem Grundsatz bekennen, ihn auf alle Fälle durchführen und die Folgen auf sich nehmen, — oder aber — wenn man eine Grenzlinie zieht „bis hierher und nicht weiter‘, den Grundsatz aufgeben und die Sache so lösen, wie sie dem gesunden Menschenverstand am besten entspricht, nämlich einen Angriffskrieg als verbrecherisch und einen Verteidigungskrieg als gerecht betrachten. Besteht man anderseits darauf, jegliche Kriegsform zu verwerfen, dann
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gilt es, konsequent sein und auch auf der Landstraße oder im eigenen Hause keine Selbstverteidigung üben. Soll man wirklich so weit gehen? Soll man an diesem Grundsatz, sich niemals zu verteidigen, auch dann festhalten, wenn einem die Kasse erbrochen wird oder wenn einem Weib und Kinder unter den eigenen Augen geschmäht und gemordet werden? Bejaht ihr auch das, heißt es, so ladet ihr Räuber und Mörder geradezu in euer Haus, und bald werden ein paar blutdürstige Tollköpfe die Guten niedermetzeln.
Denjenigen, die das Prinzip unbedingten Friedens durch einen Hinweis auf seine äußersten Konsequenzen ad absurdum geführt zu haben meinen, möchte ich erwidern, daß sie nur die eine Hälfte von Tatsachen ins Auge gefaßt haben. Sie betrachten nur die passive Seite des Friedensfreundes, seine Leidensfähigkeit, und vergessen, daß es auch seine Aktivität erwägen gilt. Wir dürfen aber von vornherein annehmen, daß nie jemand die Sache des Friedens und der Menschenliebe um des einzigen Zwecks, der einzigen Befriedigung willen, sich ausplündern und totschlagen zu lassen, zu der seinen gemacht haben wird. Ein Mensch wird nicht zum Märtyrer, ohne daß er eine tatsächliche Absicht verfolgt, ohne irgendwelche Beweggründe, die ihm solchen Einsatzes wert erscheinen, ohne irgendeine flammende Liebe! Gibt es irgendwo eine ganze Nation von Menschen, die einen so hohen Kulturstand erreicht haben, daß sie keinen Krieg erklären, noch Waffen tragen wollen, weil solcher Wahnsinn in ihren Hirnen nicht mehr Raum hat, so handelt es sich um eine Nation von Liebenden, von Wohltätern, von wahrhaftigen, großen und hochbefähigten
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Leuten. Die Nation möchte ich kennen! Ich weiß, ich würde sie nicht träge dasitzen finden, die Hände im Schoß gefaltet! Von Liebe, Ehre und Wahrheit erfüllte Menschen würde ich finden, Menschen von gewaltigem Fleiß, Menschen, deren Einfluß sich über die ganze Welt fühlbar macht, Menschen, in deren Blick und Stimme der Urteilsspruch von Ehre oder Schande läge, deren Willensstärke und Ueberredungsgabe sich alle Kräfte beugen würden. Wo immer wir eine Nation sehen, die die Lehre des Friedens vertritt, da dürfen wir sicher sein, daß es sich nicht um ein Volk handelt, das Beleidigungen herausfordert, sondern dem im Gegenteil im tiefsten Herzen jedes, selbst des wildesten und armseligsten, Menschen ein Freund lebt, ein Volk, gegen das alle Waffen machtlos sind, ein Volk, bei dem die Menschheit eine Stätte des Geborgenseins weiß, zu der sie mit ihren Tränen kommen kann, und die ihre Segenswünsche umkreisen.
Handelt es sich aber darum, was der einzelne Mensch im äußersten und schwierigsten Falle zu tun habe, so halte ich es immerhin für selten, daß einen guten und gerechten Menschen etwas Derartiges treffe. Auch läßt sich vorher kaum bestimmen, was in solcher Lage zu machen sei. Ein Weiser wird sein künftiges Sein und Tun niemals im voraus verpfänden. Er vertraut darauf, daß ihm seine Natur und Gott zur rechten Stunde eingeben werden, wie er zu handeln habe.
Wie läßt sich denn dieses Trachten menschlicher Sehnsucht in Leben und Wirklichkeit umsetzen? Welcher Art ist es aus dem Zustand der Gedanken in den der Dinge zu verwandeln?
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Sicherlich nicht in erster Linie auf dem Wege der Routine und bloßer Formen, — der allgemein üblichen Methode moderner Politik, auch nicht dadurch, daß sich ein Verein bildet, der sein Dasein in einer Reihe von Resolutionen und öffentlichen Demonstrationen kundgibt, damit die öffentliche Meinung und die Zeitungen von ihm Notiz nehmen. Das Spiel haben wir bis zum Ueberdruß betrieben. Es gibt amerikanische Städte, wo bekannte Zweikämpfer im Vorstand eines Vereins zur Bekämpfung des Duell-Unwesens sitzen. Menschen, die an der schillernden Seifenblase der öffentlichen Meinung Gefallen finden, meinen, wenn sie ihr Zuckerpüppchen nur erstmal durch eine ganze Reihe von Reden und Bravorufen und zwei, drei öffentliche Versammlungen hindurchgehätschelt haben, sei alles getan. Als wenn sie überhaupt etwas tun könnten! Sie stimmen bald für dies und bald für jenes, schreien Hurra auf beiden Seiten, keiner trägt die Verantwortung, keiner kümmert sich im Grunde einen Deut darum. Uebers Jahr gibt's einen Indianerkrieg, oder unser Handel wird durch die Malayen beunruhigt, oder die Partei, zu der er gehört, versucht im Kongreß die Genehmigung für eine Besitzergreifung zu bekommen, — gleich stößt er ins andere Horn und ruft: „Mord und Krieg!“
Die öffentliche Meinung ist es nicht, die diese Sache auf ihren Schultern emportragen wird. Das vermag nur die Meinung, die Ueberzeugung, die tiefe, hingebungsvolle Liebe des einzelnen. Denn die einzige Hoffnung, die es für sie gibt, ist eine tiefere Einsicht. Vollendet aber wird sie nur durch die spontane Lehre einer hochstehenden Seele, die im stillen zu der Erkenntnis durchgedrungen ist,
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daß es an der Zeit sei, aus dem Zustand des Tieres zu dem des Menschen zu gelangen, einer Seele, die Gottes Stimme hört, welche den Teufeln, die uns „gezerret und gerissen“ haben, gebietet, von uns auszufahren, um fortan „bekleidet und vernünftig‘ unsere Straße zu ziehen.
Und weiter: Furchtsame Gemüter werden den Friedensgedanken nicht seiner Verwirklichung näher bringen. Feiglinge vermögen ihn nicht zu verteidigen, noch zu fördern. Was Großes geschieht, kann nur von wirklicher Größe vollbracht werden. Der Mannesmut, der sich bisher im Krieg betätigt hat, muß der Sache des Friedens dienstbar gemacht werden, wenn anders der Krieg seinen Reiz für die Menschen verlieren und der Friede ihnen anziehend werden soll.
Die Anziehungskraft, die der Krieg auf die Menschen ausübt, offenbart durch alles Brüllen der Geschütze und Donnern der Belagerungen, durch die Erstürmung von Städten, die Turniere der Ritterschaft und die aufeinander prallenden Feindesheere hindurch die eine, als Ueberzeugung der gesamten Menschheit, daß ein Mensch mit Gut und Blut selbst verantwortlich ist für sein ganzes Handeln, daß er nicht um die Gunst des Staates zu buhlen, nichts vom Staate zu wollen braucht, daß er selber in sich ein Staat und ein Königreich ist, und keinen Menschen zu fürchten hat, daß er wohl bereit ist, sich der Vorteile und Hilfsmittel zu bedienen, die ihm eine gute Regierung gewährt, aber ebensowenig verzagt, noch sich in Wahrheit ärmer dünkt, wenn Regierung, Gesetz und Ordnung zugrunde gehen sollten. Denn in ihm selbst wohnen unerschöpfliche Hilfsquellen; er ist seiner selbst
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sicher und braucht keinen zweiten zu fragen, was er in irgendwelcher kritischen Lage zu tun hat.
Was macht uns die Helden des griechischen und römischen Altertums so anziehend? Was verleiht dem romantischen Zeitalter mit seinem Lehnswesen, seinem französischen und englischen Rittertum, mit seinen Warwicks, seinen Plantagenets einen derartigen Zauber, daß es von Shakespeare bis zu Walter Scott den Stoff zu Tausenden von Romanen und Dramen geliefert hat? Das vollkommene Beruhen aller jener Menschen auf der eigenen Kraft! Mich wundert’s nicht, daß einige Anhänger der Friedensidee eine starke Abneigung gegen Shakespeare empfinden. Kann sich doch kein Bauernlümmel und kein noch so blutiger Jakobiner dem Reiz entziehen, den das ganze Gebahren und Sich-Geben dieser hochmütigen Lords atmet. Wir begeistern uns wie Knaben und Barbaren an dem Auftreten von ein paar reichen und halsstarrigen Herren, die selbst ihre Ehre in die Hand nehmen, dem eignen Mut und der eignen Kraft vertrauen, der ganzen Welt Trotz bieten, und deren bloßes Auftreten eine Offenbarung von Leben und Heldensinn ist. Sind die Zeiten gefahrvoll, so fehlt’s ihnen nicht an Gelegenheit, Proben ihres Mutes zu liefern, und daher wirkt ihr Name jedesmal wie ein Trompetentusch. Zum wenigsten sind sie uns lebendige Wirklichkeit. Sie sind keine Theaterfiguren, sie sind der Stoff, daraus jene Zeit und jene Welt gemacht war. Die wahren Helden ihrer Zeit sind sie. Was sie im Herzen hegen, ist ihnen jedes Opfer wert. Um eine Beleidigung zu sühnen, ist ihnen der ganze Glanz und Reichtum ihres Lebens, ja, ist ihnen ihr Leben selbst nicht zu teuer. Aber nehmt
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ihnen das Grundgesetz ihres Wesens, ihre Selbstverantwortlichkeit, — und es bleiben Räuber und Schurken übrig.
Dieses absolute Beruhen auf der eigenen Kraft ist der eigentliche Reiz des Krieges, denn ein festes Selbstvertrauen ist uns gleichbedeutend mit Mannhaftigkeit. Aber es steigt eine neue Zeit herauf, eine wahrere Religion, eine tiefere Ethik, und der Mensch ordnet sich ihren Grundsätzen unter. Ich sehe ihn als den Diener der Wahrheit, der Liebe, der Freiheit, ein Fels unter den anstürmenden Wogen der Masse. Der Mensch, der sich selbst und seinen Grundsätzen treu ist, der keines Trompetentusches, keiner Titel und Würden, keiner Leibwache, keines Ruhmes in fernen Landen bedarf, noch ihrer wartet, der Mensch, der in einsammer Stille den rechten Schritt tut, ohne zu wanken, aus eigner Wahl und ohne der Folgen zu achten, der braucht, meines Erachtens, keinem andern zu weichen. Er wird sich lieber an seinem einen Türpfosten aufhängen lassen, als seine Freiheit und seine Ueberzeugung preisgeben. Was sind mir heute die Namen, die mir einstmals so lebhaft im Ohr klangen? Ein Mann, wie dieser, ist ein Freiherr von besserem Adel und edlerem Blut.
Die Sache des Friedens ist nichts für Memmen! Wahrt und verteidigt man den Frieden um der Furchtsamen und um derer willen, denen Wohlleben über alles geht, so ist es ein Pseudofriede und ein unwürdiger Friede. Dann, wahrlich, ist der Krieg besser, auch wird solcher dann nicht lange auf sich warten lassen. Soll der Friede von Dauer sein, so muß er von tapferen Menschen getragen werden, von Menschen, die um nichts schlechter sind, als Helden, die willens sind, ihr Leben
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in der Hand zu tragen und es jederzeit für ihre Ideale zu wagen, — die aber eins vor dem Helden voraus haben, daß sie niemals nach eines andern Leben trachten, — Menschen, die dank ihrer intellektuellen Einsicht oder ihrer sittlichen Höhe, ihres eigenen innern Wertes so gewiß sind, daß sie weder ihr Eigentum, noch ihr Leben für ein so großes Gut halten, als daß sie es um den Preis eines solchen Hochverrats ihrer Grundsätze retten möchten, wie ein Abschlachten von Menschen es bedeutet.
Wenn der allgemeine Schrei nach der Umgestaltung so vieler alteingewurzelter Mißstände, der die Welt durchdringt, wenn die Sehnsucht einer großen Klasse junger Leute nach einem bisher vergeblich gesuchten Glauben und Hoffen — in intellektueller, wie in religiöser Hinsicht — ein Omen ist, dem wir trauen dürften, wenn die Neigung, sich hinfort in Sinnen und Handeln in höherem Maße auf die noch unergründeten Schätze der menschlichen Natur zu verlassen, wenn das Trachten, den erhabenen Geboten der Sittlichkeit und der Quelle unseres Hoffens und Vertrauens in der Menschenbrust statt in Büchern nachzugehen, sie in der Gegenwart zu suchen, statt in der Vergangenheit, weiter fortschreitet, wenn die neue Generation dazu kommen wird, es für unwürdig zu erachten, sich in den Greueln der Vergangenheit festzunisten, und den großherzigen Wagemut der Furchtlosigkeit und Tugend zu empfinden, — dann wird die letzte Stunde des Krieges nicht mehr fern sein, und der Brunnen menschlichen Blutes wird bald versiegen.
Es kommt wenig darauf an, durch welche Mittel und auf welche Weise dieses Ziel der Großmut und
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der sittlichen Höhe erreicht wird. Worauf der Bau unserer Gesellschaft und der gegenwärtige Stand der Ereignisse hinweist, ist zweifellos dies, daß ein Kongreß aller Völker diese Sache zu der seinen mache. Hat die Seele diesen Idealen erst einmal Tür und Tor geöffnet, wird sie einen Ausdruck ihres Wollens bald genug finden. Ist nicht die Zeit und die Stätte, da sich dieser Gedanke zum erstenmal geregt hat, wunderbar geeignet? Nicht in einem weltfernen Winkel, nicht im altehrwürdigen Europa, nicht unter tausend festgeprägten Normen, wo jeder Schritt vorwärts Revolution bedeutet, ist diese heilige Saat ins Feld gestreut, — nein, in diesem großen Amerika, das Gott und dem Menschen gehört, wo man erst unlängst damit begonnen hat, den Urwald auszulichten, und die grüne Erde einer Flut von Einwanderern zu öffnen, die aus allen Landen herbeiströmt, in denen Unterdrückung herrscht und Schuld. Hier, wo nicht eine Familie, nicht einige wenige, nein, wo die Menschheit beschließen kann, was sein soll, hier laßt uns fragen: „Was soll auf Erden herrschen, Krieg oder Frieden ?“
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Im Verlag der Friedens-Warte erschien:
Handbuch der Friedensbewegung,
Von ALFRED H. FRIED. Zweite, gänzlich umgearbeitete und erweiterte Auflage.
Band I: (1911)
Grundlagen, Inhalt und Ziele der Friedensbewegung,
I. Abschnitt: Die Grundbegriffe der Friedensbewe; .— II. Abschnitt: Die realen Grundlagen der Friedensbewegung. III. Abschnitt: Die
Organisation des Weltfriedens. — IV. Abschnitt: Streitlösung ohne Gewalt. — V. Abschnitt: Das Haager Werk.
X und 269 Seiten. M. 3.— = Kr. 3,60.
Band II: (1915) Geschichte, Umfang und Organisation der Friedensbewegung,
VI. Abschnitt: Die Geschichte der Friedensbewegung. (A. Bis zum Wiener Kongress. — B. Vom Wiener Kongress bis zur ersten Haager Konferenz. — C. Von der ersten Haager Konferenz bis zur Gegenwart (1912). — VII. Abschnitt: Die Friedensbewegung und ihre Organe. (A. Institutionen, Gesellschaften, Stiftungen, Zentralstellen usw., die der Friedensidee dienen, — B. „Wer ist's“ des Pazifismus. 330 Biographien. — C. Führer durch die pazifistische Literatur.) — Sachregister — Personenregister.
492 Seiten. M. 8.— = Kr. 6.—.
Beide Bände (771 Seiten) in einen eleganten = = Halbfranzband gebunden M. 10.,— = Kr. 12.—. Man erhält das Buch in allen Buchhandlungen oder bei der Expeditionsstelle der „Friedens-Warte“ PASS & GARLEB G. m. b. H., Berlin W., Bülowstrasse 66.
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Von der Sammlung „INTERNATIONALE ORGANISATION“ erschienen bisher:
Heft 1. The Right Honourable Viscount Haldane, Lordkanzler, „Deutschland und Grossbritannien“. Eine Studie über nationale Eigentümlichkeiten. Festrede, gehalten am 3. August 1911 zur Eröffnung der Sommer-Ferienkurse an der Universität Oxford. Autorisierte Uebersetzung von Dr. Rudolf Eisler. 31 SS.
Heft 2/3. Rud. Goldscheid, „Friedensbewegung und Menschenökonomie“. 64 SS.
Heft 4. Alfred H. Fried, „Kurzgefaßte Darstellung d. pan-amerikanischen Bewegung“. Vortrag, gehalten in der Wiener Soziolog. Gesellschaft. 36 SS.
Heft 5. David Starr Jordan, Präsident d. Leland-Stanford-Universität, Kalifornien, „Krieg u. Mannheit“. 30 SS.
Heft 6. Bertha von Suttner, „Die Barbarisierung der Luft“. 32 SS.
Heft 7. Geheimrat Prof. Karl Lamprecht, „Die Nation u. die Friedensbewegung“. 12 SS.
Heft 8. Ralph Waldo Emerson, „Ueber den Krieg“. Deutsch v. Sophie v. Harbo. 28 SS.
Die Sammlung wird fortgesetzt. ! Preis jedes Heftes 30 Pf.
Paß & Garleb G. m. b. H., Berlin W. 57.
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Rezension zum Werk Emersons „Über den Krieg“ in der Deutschen Literaturzeitung 36. Jg. 1915 Seite 723:
„Ralph Waldo Emerson, Über den Krieg. Deutsch von Sophie von Harbou. [Internationale Organisation. Heft 8.] Berlin und Leipzig, Verlag der Friedenswarte, 1914. 27 S. 8°. M. 0,30.
Schöne Worte eines empfindsamen Friedensapostels, die auch jetzt gehört zu werden verdienen – vor allem in Amerika, an das sie sich zunächst wenden. Es wäre nicht ohne Interesse gewesen, zu erfahren, wann diese Schrift entstanden und zum ersten Mal erschienen ist.“