Die Chorkapitelle im Kaiserdom zu Königslutter

 

Von Otto Kruggel

"Hätte ihn (Kaiser Lothar) nicht der Tod vorzeitig abberufen, er wäre dazu geschaffen gewesen, durch seine Tüchtigkeit und Beharrlichkeit der Krone des Reiches das frühere Ansehen wiederzugeben," schrieb Bischof Otto von Freising, der Halbbruder Konrads III. und Onkel Barbarossas, um 1145 in seiner berühmten Chronik (VII, 20).
Hätte ihn der Tod nicht vorzeitig abberufen, hätte Kaiser Lothar der Krone des Reiches nicht nur das frühere Ansehen wiedergegeben, sondern auch endlich eine ansehnliche, würdige Heimstatt.
Den Grundstein zu dieser künftigen kaiserlichen Residenz konnte er am 29. Juni 1135 noch an der Stelle legen, der er den verheißungsvollen Namen Regis-Luttera, d.h. Reine (Stätte) des Königs, gab, aber erbaut wurde sie nie, da er schon am 4. Dezember 1137 starb und die Krone des Reiches danach an die Staufer ging.
Selbst die den Apostelfürsten Petrus und Paulus gewidmete Abteikirche , vor deren Portalen die Residenzgebäude entstehen sollten, wurde nur im Ostteil nach den gediegenen Plänen des Kaisers und seines Baumeisters aus dem Kreise der Hirsauer Reformer gebaut.

Doch dieses Drittel ist einzigartig in der gesamten christlichen Baukunst.

Nur hier hatten die Schöpfer Gestaltungen in Stein zu schaffen, die Willen und Würde des Kaisers repräsentieren und Forderungen der Reformmönche verkünden sollten. Schon ihre Entscheidung, dafür antik-römische Gestaltvorbilder  zu verwenden, spricht für die Größe ihrer Konzeption. Sie reihten sich damit ein in die Reihe derer, die bemüht waren, die doktrinäre Kluft zwischen Antike und Mittelalter zu überwinden. Sie schufen den Musterbau der Protorenaissance in Norddeutschland.

In der monumentalen Pfeilerbasilika aus präzise gefügten Großquadern lagern Schildbögen und Gewölbegrate auf Halb- und Dreiviertelsäulendiensten mit antikisierenden Kapitellen von einer Schönheit, die es zuvor in Norddeutschland nur bei antiken Originalen gab.
Zwei kräftige monolithe Vollsäulen bilden den Höhepunkt dieser reichen Säulenornamentik. Sie flankieren den Hauptaltar des Hohen Chores, über dem die Majestas Domini gemäß Offb 4.2-3 dargestellt ist, die im 9. Jahrhundert Standardmotiv für die Apsiskalotte geworden war.
Umgeben von den Symbolfiguren der vier Evangelisten und den Patronen St. Peter und Paul sitzt der wiedergekommene Christus in der Regenbogenmandorla auf "seinem Thron der Herrlichkeit " (Mt 25.31-46), die Rechte zum Hoheitsgestus erhoben, in der Linken das Buch des Lebens, in dem alle verzeichnet sind, die ihrer guten Werke wegen das Paradies, das ewige Leben, erreichen werden (Offb 20.12).

Gott hat aber seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn errettet werde, heißt es bei Joh 3.17.

Wenn Rettung durch das Vollbringen guter Werke erreicht wird, dem Menschen gesagt ist, was gut ist (Mi 6.8) und Gott ihn seiner Willensentscheidung überlassen hat (Sir 15.14), ist Entscheidung für gutes Tun der Weg zur Rettung des Einzelnen und zur Besserung der Welt. Christus scheidet lediglich die Geister nach ihren selbstgewählten Geschicken.

Da die Hirsauer Reformer sich eifrig für die Verbesserung des damaligen Lebens einsetzten, in dem die höchsten Vertreter der Christenheit, die Päpste und Kaiser, einander bekämpften, wiesen sie betont auf das Göttliche im Menschen, auf die Willensfreiheit hin und mahnten eindringlich, den rechten Gebrauch davon zu machen.

Auch der Kaiser war als admonitor zur Mahnung zum christlichen Leben verpflichtet, und Kaiser Lothar bewies durch die Wahl der Reformmönche für seine Hauskirche, daß er diese Verpflichtung sehr ernst nahm, und so erhielt diese Mahnung einen ganz besonderen Platz in dieser Kirche, den Platz in den Kapitellen der beiden bedeutungsvollen Säulen im Allerheiligsten.
Sie flankieren wie die fast genau 2000 Jahre zuvor errichteten Säulen Boas und Jachin des salomonischen Tempels den Altar im Presbyterium und stellen somit einen Bezug zu Salomo als Lehrer der Weisheit  her, dessen Sprüche niedergeschrieben wurden, "zu lernen Weisheit und Zucht, Verstand, Klugheit, Gerechtigkeit, recht und schlecht..."(Prov 1.1).

Diese Erkenntnisse sind ja die Voraussetzung für kluge Willensentscheidung, zu der die einzigartige Darstellung der Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen nach Mt 25.1-13 in den antikisierenden Kapitellen dieser alttestamentlichen Säulen mahnt.

Christus wählte für diese am meisten in der christlichen Kunst dargestellte seiner Parabeln das Bild des in der Antike üblichen und bereits von Homer in der "Ilias" (18.492) beschriebenen Brauchs, bei dem die Bräute mit leuchtenden Fackeln aus den Gemächern geführt wurden. Der Meister von Königslutter wählte antike Kapitellformen für seine Darstellung dieser christlichen Parabel.

In der frühchristlichen und frühmittelalterlichen Wand- und Buchmalerei hatte sich für diesen Text ein Darstellungstyp entwickelt, bei dem die klugen Jungfrauen von Christus durch die geöffnete Pforte ins Paradies gelassen werden, weil das Licht ihrer guten Taten hell leuchtet, während die törichten auf der anderen Seite eine verschlossene Tür finden, da sie kein Öl, d.h. keinen Willen, Gutes zu tun, und deshalb keine leuchtenden guten Taten vorzuweisen haben.
Im Hildesheimer Dom ist auf dem Epiphanius-Schrein im Hohen Chor eine solche Darstellung zu sehen, die um 1130/40, also gleichzeitig mit unseren Chorkapitellen entstanden sei, und im Tympanon des alten Kirchenportals von Egisheim im Elsaß erscheint sie 100 Jahre später noch in dieser Form.
Die Hirsauer suchten in ihrem Reformeifer nach neuen Wegen und Mitteln zur eindringlichen Verbreitung ihrer Lehren und schufen für ihre einzige kaiserliche Klosterkirche eine einmalige Veranschaulichung dieser Mahnung.  Sie ließen alles Historische, Erzählende und Detaillierende weg und konzentrierten sie ganz auf den Gesichtsausdruck nach der Erkenntnis der unabänderlichen Konsequenz
ihres irdischen Wohl- bzw. Fehlverhaltens. Die Premiere der Darstellung des seelischen Ausdrucks in der mittelalterlichen Kunst fand also hier , und nicht wie vielfach behauptet, in der Gotik statt.
Mit dem Appell an seine Willensfreiheit und Eigenverantwortlichkeit erhielt der Mensch das individuelle Gesicht und dieses den Ausdruck der Gefühlsregungen.

Auf der Nordseite, die dem Weltlichen oder Bösen zugeordnet ist, schaut jeweils in der Mitte der drei freien Kapitellseiten der lebensgroße Kopf einer törichten Jungfrau , also einer Verdammten, mit aufgerissenen Augen ins Leere. Die tiefe Bestürzung ließ ihr Antlitz erstarren. Dem Apostelwort (Tim 2.9 und 1 Petr 3.3) zuwider trägt sie als eitlen äußeren Schmuck Lockenwerk, statt dessen es nun laut Jes 3.24 eine Glatze geben wird.

Daß sie dem Teufel ausgeliefert ist, zeigen die flankierenden Köpfe des brüllenden Löwen nach 1 Petr 5.8, der umhergeht und sucht, wen er verschlinge. Dies ist der Text der Komplet, den die Mönche zum Abschluß eines jeden Tages zwischen den beiden Chorkapitellen sangen, die somit ständig gemahnten, die Instrumente, Gutes zu tun, die ihre Klosterregel im Kapitel 4 aufzählt, Tag und Nacht unermüdlich zu handhaben und dadurch "vom Herrn jenen Lohn zu empfangen, den er selber versprochen hat."

Dieser Lohn ist in dem Kapitell auf der Südseite, der Gottesseite nach Hab 3.3, durch die klugen Jungfrauen symbolisiert. Auch sie sind von Löwen flankiert, aber diesmal sind es lächelnde ! Selbstverständlich symbolisieren diese Christus als Löwen von Juda.

Der Meister von Königslutter veranschaulichte zum ersten Mal in der christlichen Kunst das Böse und Gute nicht nur als wichtige und endgültige Unterscheidung der Menschen allein durch die menschliche Mimik, sondern auch als ethische Grundkategorien im Gesichtsausdruck der Löwen als stärkste Lebewesen!

Bereits am Königsportal mahnen die ersten lebensgroßen Löwenfiguren auf deutschem Boden, ein das Böse packender und ein das Gute beschützender, zur Entscheidung für das Gute, für die Christusnachfolge, zu der Heinrich der Löwe 50 Jahre später im Krönungsbild seines berühmten Evangeliars mittels kostbarer, aber exklusiver Buchmalerei auffordert.

Etwa zur gleichen Zeit läßt der Meister des Schottenportals in Regensburg den wiedergekommenen Christus im Tympanon von gutartigen und grimmigen Löwen flankieren.

Obwohl der Kopf der Klugen in unserem Chorkapitell mit dem Ausdruck der ruhigen guten Gewißheit nicht minder schön ist als der der etwa gleichzeitig geschaffenen berühmten großen Eva von Autun, ist er selbst den meisten Kennern und Liebhabern der Romanik unbekannt, und die bedeutendsten Kapitelle von Königslutter fanden keine Nachfolge.

Erst 100 Jahre später folgten die ersten lebensgroßen klugen und törichten Jungfrauendarstellungen in Deutschland am Magdeburger Dom, aber diesmal als gotische Ganzfiguren mit reichem differenzierten Ausdruck durch Mimik, Gestik, Körpersprache, Gewandbehandlung und mit den üblichen Attributen.
Ihr Theater durfte aber nicht im Allerheiligsten aufgeführt werden. Sie mußten vor die Tür.
Ob bei der durch sie erzeugten Augenlust der Betrachter sich noch ermahnt fühlt, seinenWillen, die höchste menschliche Funktion überhaupt, auf das höchste Ziel des christlichen Menschen zu richten?

 

veröffentlicht im Kreisbuch 2001 des Landkreises Helmstedt S. 43-48