K. F. A. Scheller: "De Kronika fan Sassen in Rimen fan Wedekind went up Albregt fan Brunswyk 1279"

Reimchronik des Sassisch-Brunswykischen Fürstenhauses
Auszug: Seiten 70 bis 118

____
70

Kap. XXII.
Gelasius papa II. Henricus imperat. V.

Wer nu gêrne wille weten, / We hyrna besäten / Dankwerderode de hershap, / Märket, dat de markgrevinne gav / De wêde frowe Gêrdrûd / Ore leven dogter gûd / Riksen êr dissen dagen / Einem heren, hôrde ek sagen, / De kam hër gehowen an den kreit. / Ek weit forwâr, syn fader heit / Fân Suppelingeborg greve Gevehard, / Geboren hër fan forsten ârd / He mag ein here wäsen wol, / Wente syn lyv was aller doged fol. / Greve Luther was her genand / Fan Suppelingeborg; ût Sassenland / Was he hyrbeforen / Fan den édelesten geboren. / He zyrde ôk sine doged gâr / Sine gebôrd edel undë klâr. / He was manlik, klûk undë wys, / Des mêrde sek syn hoge prys. / Haldesleve de graveshaft / Ome ein angefälle gav, / De greven Bernhardes was / Fan Haldesleve, also ek las, / Unde sines sones. By den dagen, / Also uns de boke sagen,
____
71

Erstarv de forste ût Sassenland; / Hertoge Magnus was her genand, / De des hertogdomes hadde geplägen. / Dat wârd do gelägen / Fan deme fêrden kaiser Henrik / Greven Lüdere fil werdiglik, / Fan Suppelingeborg der hi is genand, / Do heit he hertoge ût Sassenland. / Fan dëme solde ek fil doged spräken: / An den sinnen wil 'es mer untbräken. / He was ein forste ûterwäl'd, / Unde an dögeden ein manlik held, / Regte ein kämpe unforhouwen, / Also men an sinen wärken mag shouwen,./ Wo he dorg regt gûd unde lyv / Satte an einen groten kyv / To deme Welpes-holte an deme wike / Weder kaiser Henrike / Den fyvden, dën ek êr nande, / De mid rove unde mid brande / Kwam to Sassen dorg den olden hât, / Des her an härten nu forgat / Sedder sines fader tiden. / We skolde one dâr bestriden / Dorg de overgroten hêrfârd? / Fan Halberstad bishop Reinhard / Unde der forste ût Sassenland, / Der hertoge Lüder is genand, / Unde fan Arneborg greve Herman, / De wolden den kaiser dâr bestân, / Unde fil heren gâr formäten, / De an Sassen waren gesäten,

___
72

De dat regt beshärmen wolden, / Wat se darumme liden solden. / De stryd ging tô, han ek gehôrd, / Dâr gesha grôt môrd / An folke an beider syd. / Et was wol de meiste stryd, / De by korten dagen is geshên / An Sassenlanden, hôrde ek jên. / Aldâr wârd ein here erslagen, / Dën hôrde men fil sere klagen, / Greve Hoyger was he genand. / He solde ok an Sassenland / Hävven dat hertogdôm besäten, Ofte de sege tôgemäten / Were deme kaiser Henrik; / Wente he was gâr ridderlik / Sines heren hoivedman. / De regtigheid sek mären began, / Unde breiden kräftig fôrd. / Dusend jâr na Kristi gebôrd / Unde fovtein unde hunderd, Wârd dâr also gewunderd. / Uppe sunte Scholastiken dag, / Also ek dat an der skrivt sag, / Fôrging de grote folwyk. / De Sassen weren unglyk / Deme kaiser an der tale, / Dog wârd he fan dem male / Gehouwen sunder sake nigt. / Dat regt hadde togepligt / Mid den forsten an Sassenland: / Des wârd ome de segehaftige hand.

___
73

Nu hadde an groter wêrdigheid / De markgrevinne gâr gemeid / Gertrud follenbragt dat gestigte, / Dat se to eren uprigte / Sunte Illigen unde sunte Autore, / Also ek sprak hyrfore. / Oren swager se dâr bad komen / Hertogen Luder, han ek fornomen, / Unde bishop Reinharde fan Halverstad, / Dârto fan Rome einen legât, / De was geheiten Diderik. / Do ward ein hogtyd êrlik: / Dâr wigede Bishop Reinhard / Fan Halverstad, bin ek gelârd, / Dat monster an groten eren. / Men sägt, dat dër tyd ôk weren / Fan Kristi gebôrd gesunderd / Dusend fovtein jar unde hunderd. / Gêrdrûd, de frowe klâr, / Levede dârna twe jâr, / Unde starv fil saliglike. / Ör sele hävve dat himmelrike. / Se wârd an dat goddes-hûs / To Dankwerderode sunte Petrus / Mid groten eren begraven, / Dat dâr was erhaven, / Dat nu Brunswyk is genand. / Hertoge Luder, der dogeden pand, / Des lives ein held formäten, / Des härte ôk was untsäten / Fan tornhaftigen sinnen, / Boven alle ding began he to winnen

____
74

Godde Ieiv, den fil wêrden. / Des kronede he one hyr up êrden / Mid doged, wêrde unde ere, / Dat he hyr maister were / Siner shâp shanden-lere.

Kap XXIII.
Innocentius papa II. Henricus imp. V.

Nu weren fan Kristi gebord, / An einem boke ek dat' hôrd', / Dusend unde hunderd jar / Ses unde twintig forswonden gâr, / Elven jâr na deme groten stride, / Do de krone was worden kwide / Fan deme fyvden kaisere Henrik, / De to Spire stary na deme wyk,./ Wârd de forste ût Sassenland, / An dëme de truwe folge fand, Luder, uppe dën se hadden gesworen, / To Menze to koninge gekoren / Fan den forsten algelyk, / De dâr hôrden to deme ryk, / Mid willen unde mid leve gâr; / Wente he was ein forste klâr, / Des de werlde ere hadde unde fromen / Ek hävve ôk for wâr fornomen, / Wo öme syn frowe gar forsunnen / Rikse hädde gewunnen / Eine dogter sunder hone. / Gêrdrûd heit de maged shone,

____
75

An lyv, an dögeden gâr gemeid; / Mid leve unde mid wêrdigheid, / Gav se or fader herlik / Fan Beigeren hertogen Henrik / To Mersborg to deme hove, / Eineme forsten fan hogem love, / Unde makede one to Sassen / Hertoge: wente he was gewassen / Fan hoger ârd unde geboren. / Twe jâr dârna, dat erkoren / Was or fader to deme rike, / Men sägt, dat de forste brëke / Winzenborg, dorg dat de greve Herman / An der shuld was befân / Des greven dodes fan Lukke. / Dit unde fil mêr shoner stukke / Findet men fan ome geskreven. / Dissem forsten was ôk gebleven / To Dankwerderode. de hershap, / De ome dorg wessel wedergav / De Palenzgrevinne Gêrdrûd Umme ander land unde ander gûd, / De frowen Riksen suster was, / Do dusend jar, also ek las, / Dre unde drittig unde hunderd / Fan Kristi gebôrd weren gesunderd. / O'k was de tyd forhard, / Do de koning sine fârd / To Rome makede fil herlik, Luder der dogeden ryk, / Dat he untfeng dâr den sägen / Unde de krone, der he solde plägen

___
76

Den argen to ainer wrake, / Wedewen unde weisen to overdake, / Fan deme pawese, dën he do fand: / De andere Innocentius was genand, / De one wigede unde kronede, / Dat he an dogeden gronede, / An sunte Johannes kärken to Laterân. / Wo herliken dat wârd gedân, / Dat solde ek ôk wol sagen, / Men dat mot ek fôrbat jagen. / Twelv jâr he der krone plag. / Syn doged ome ôk jag / Truwe, fredes unde ôk leve. / Martinianus on an sinem . breve / Einen waren kristen ertuget, / Unde der kristenheid einen suged. / An ome was anderweide geboren / Augustus, de hyrtoforen / So groten frede hadde erworven. / De was dog fôr ome gestorven / Negentein jâr unde elven hunderd. / Luder, mid dëme god also gewunderd / Hadde, dat he fan Rome ein kaiser heit. / Forwâr he des nu en leit, / He en forsollede't mid der dâd, / Wat uns syn namen bedüded hat, / Dat he an dogeden luder skein. / Luder unde luter is filna ein. / Do he des rikes ere agte, /Dat he Lumbardien bragte / An frede unde an stedigheid, / Do fôr he weder, also men sait,

____
77

Fil herlik in Dudeshe land; / Wente et do was gewand, / Dat he ein deil bedroved fand.

Kap. XXIV.
Innocentius papa II. Luttarius imp.

An Denemarken by dën dagen / Was besäten, hôrde ek sagen, / Ein koning fôr dogeden wol behûd, / De dorg sinen overmûd / Den Dudeshen tô dreiv shande, / Wôr he se fand an sinem lande. / Dat meigede deme kaiser sere / Dorg der Dudeshen ere, / Wente he ein Dudeshe was geboren. / Dorg dat was gesworen / Deme kaiser ein grôt hêrfârd / Hen to Denemarken ward / Fan den sinen kräftiglike, / Also dat het deme rike / Redde to eren unde to love. / Snel to des koninges hove / Fan Denemarken kwemen de märe, / Dat de kaiser komen were / Mid so overgroter hêrfârd. / Des wârd de koning gâr forfârd, / He dede, also et do was gewand, / He kwam drade, dâr he fand / Den kaiser, he bad on dôr God, / Unde dorg dat kaiserlike gebod,

___
78

Dârmede God hädde syn heil / Gedured, dat syn gnaden-heil / Over one dede milden shyn, / Wente he mid den kräften syn / Ome nigt gestriden mogte. / De kaiser sine gnade rogte: / He lägde einen hov / To Halverstad, dâr he grôt lov / Erwarv unde wêrdigheid, / Dâr mannig forste gâr gemeid / Sine reise henne nam. / Fan Denemarken ôk dâr kwam / De koning mid feler riddershap, / Alda he sek up gnade gav / Deme kaiser unde deme rike. / De kaiser ome weder fil herlike / Lêt syn rike unde de kronen. / He swôr ome ôk to sonen / Mid den forsten sines rikes, / Dat he alles gelikes / Unde syn koningrike solde untsân / Fan deme kaiser, unde kronen hân / Unde or rike fan deme Romeshen rike / Ummerme sekerlike. / Disse ere, hore ek gein, / De Lutario so geshein, / Dat nu kaiser me geshag. / Alda up einen ôsterdag / Ging umme hov de kaiser ryk / Gekroned fil herlik, / Fôr ome de koning wärd, / Unde drôg ome syn swërd.

____
79

Dârna an korten tiden sedder / Fôr de koning to lande wedder / Fan Halrerstad fan deme hove / Mid des kaiseres orlove, / Unde wârd dârna, hôrde ek sagen, / In den pingisten erslagen / Fan sinen figenden. By der tyd / Sworen de forsten sunder stryd / Einen frede to tein jaren./ Do fan Kristi gebôrd waren / O'k ergangen dusend jâr / Hunderd unde fyv un drittig gâr, / Wärd gewandeled dat gestigte / To Lutter, dat erste uprigte / Fan Haldesleve greve Bernhard, / De ôk êr genomed wârd, / De et hadde begunnen, / Also dat et weren nunnen, / Dat de kaiser unde syn frowe / Rikse de döged-showe / Wandelden, dat et worden / Swarte monike, de dâr hôrden / To sunte Benedictus orden.

Kap. XXV.
Innocentius papa II. Luttarius imp. III.

Luder aller shande frige / Fôr weder an Lumbardige. / Dâr kârde he to Pulle / Mid grotes heres fulle

____
80

Wedder den koning Rogere, / De dat land hadde wente an dat mere / Mid gewald besäten. / De was so gâr formäten / Deme pawese ein wedersate, / De ome ôk to hate / Fil ungefuges dede mid stride. / De kaiser unde de pawes mede / Kwemen mid groter riddershap / To Pulle, unde wonnen ome av / Dat land wente an Bare. / Men sagt ôk forware, / Wo he mid endeliker dâd / O'k wonnen Bare de stad, / Unde fordreiv one an Secilienland / Rogere, dën ek êr hävve genand. / Alsus wolde God syn heil meren. / Dâr bleiv he mid groten eren / Eine pingisten fil fro / Mid deme pawese Innocentio. / Ein shone ding aldâr geshag: / Do et kwam an den pingistdag, / Unde de pawes sulven missen sang, / Ein guldene krone fan dem himmel swang, / Dârboven swëvede ein duve wiz, / Or fedderen gaven blanken gliz; / Under der kronen sag men ôk / Einen groten düren rôk, / De ût einem fate shone drang, Darby twe kärzen lang / Unde regte shone branden. / Dat segen alle, de dat kanden.

____
81

Dat konde mank alle den luden / Nemand erfaren eder duden: / Dog wârd et gepröved des, / Dat de kaiser unde de pawes / Weren also forsoned. / Luder so hoge gekroned, / An dëme de trüwe raste fand, / De fôr do ôk an Kalabri-land, / Des wan he ein mighel deil. / Glükke unde salde drôg syn heil, / Also et an allen dingen skein; / Wente he dorg hât nog gûd drôg ein, / Was den fianden kwâd, den frunden frund. / Dësse doged is uns allen kund / Fan deme kaiser Lutario, / Deme dridden, de so ho / Dat rike hadde gemered, / Dat he was geéred / Fan mangerhande luden, / De ek jik wil duden: / Fan den Walen unde fan den Russen, / Unde fan Ungeren, Greken un Prussen. / Fan der koninge gave ryk / Was he geéred algelyk; / Wente he was wol eren wêrd, / Also hadde ome God ere beshêrd, / Dat frolik weren sine dage. / He satte ôk dikke an de wage / Sines sulves lyv to pande, / Dat he frede shôp an deme lande. / Des nande men one sunder kere / Des landes fader unde here.

____
82

De landlude frogten ôk do nigt / To unregte orer hershop tigt; / Mär de städe unde ôk de wike / Beseten dat öre fredelike. / Ek wil to wäge weder. / De kaiser kârde seder / Hen to Dudeshen landen ward. / By Norenbärg up der sulven fârd / Fil he mid groter unmagt: / Dâr starv he unde wârd gebragt / To Lutter an syn egen. / Sine gravt nigt werd forswegen: / He ward gegraven herlik, / Also it wol tämede deme kaiser ryk. / Dat gesha, also ek hôrde, / To der tyd, do fan goddes bôrde / Dusend jâr unde hunderd / Agt un drittig waren gesunderd. / Fil hôrde men den edelen düren klagen. / Wolde et God sulven sagte dragen, / Ek wolde one shulden unde spräken, / Dat he et ju rogte bräken, / Dat he so hoge hat ûterwäl'd. / Mek is dog dat wol formeld, / He dede't, dorg dat he one krônde / In deme himmelrike unde shônde, / Also he hyr kronen hadde gedragen. / Wat mag ek mêr fan öme sagen? / He was ein telge unde ein twyg / Der edelen forsten fan Brunswyg. / Laten dat de jungen gard, / Se slagten na der sulven ârd;

____
83

Wente et is natûrlik, / Dat des bomes junge twyg / Shoner lôv dragen / Wan de alden, hore ek sagen, / Do ek 'es begunde to fragen.

Kap. XXVI.
Lucius papa II. Conradus imperat. III.

Hyrbeforen ek untwag / Einer rede, do ek sprak / Fan deme êrsten kaiser Otten, deme groten, / Af ji et hävven besloten, / Wo de hertoge Magnus fan Sassen, / (De here was gewassen / Fan Hermanne Billinges sone,) / Hadde gewunnen shone / Twe jungfrowen reine. / Wolfhild heit de eine, / Elike was der anderen name. / De nam ôk sunder shame / Fan Ballenstede greven Otten. / Ek en wil des nigt spotten: / Wolfhild nam ôk fil herlik / To manne hertogen Henrik, Einen forsten ut Beigerland, De ôk de swarte was genand, / Also ek hyrbeforen sprak. / De forste, also men jag, / Gewan to ärve fil herlik / Eine Jütten unde hertogen Henrik,

____
84

Des to Beigeren was de hershap / Unde to Sassen, de ome gav / De kaiser, de syn herre was, / De wêrde Lüder, also ek las, / Mid Gêrdrude sinem kinde. / Fan dissem forsten ek ôk finde, / Dat he besat algelyk / De hershap in Brunswyk, / De was siner frowen egen. / Nu werd ôk nigt forsvregen / Fan Swaven hertoge Frederik: / Dëme gav de swarte hertoge Henrik / Jütten, sine dogter hôggeboren. / Dat is wâr. He was hyrbeforen / Fan einem hogen geslägte. / Skolde ek et nomen to regte, / Et was by koninge Karles dagen / Ein gewaldig forste, hôrde ek sagen, / De was geheiten also / Mid deme guldenen wagen Etiko. / He wolde dorg gave nog dorg Iôn / Neineme minshen manheid dôn, O'k deme kaiser, so men sait, / Dorg sine groten edeligheid. / He hadde einen sone Heinrik, Dëme gav de kaiser Lodewig, / De syn swager was genand, / Dat hertogdôm an Beigerland. / Jutte was fan deme sulven kunne. / Men sägt ôk, dat se gewunne / By hertogen Frederike shone / Fan Swaven twe sone,

____
85

Fan Greken den kaiser ryk, / Undo den êrsten kaiser Frederik. / Hyr wil ek et nu laten bliven; / Ek en kan et nigt al geskriven, / Wat hoger forsten fan ome kwamen. / Dog skolle ji ör namen / An einem anderen bleke sen, / We fan frowen Eliken, / De frowen Wolfhilde suster was, / Kwam markgreve Albregt, also ek las, / Des sone was hertoge Bernhard, / Also jik hyrna werd forklârd. / Ek wil weder to wäge ward.

Kap. XXVII.
Eugenius papa III. Conradus rex III.

Fan Sassen unde ut Beigerland / Hertoge Henrik, (de genand / O'k was forste in Brunswyk, Des fader hertoge Henrik / De swarte hadde gewäsen, / Ek hävve ôk geläsen, / Wo he öm was algelikes / Des êrsten kaiseres Frederikes,) / Dëme hadde des kaiseres dogter gûd, De hertoginne Gêrdrûd, / Gewunnen ein kindelyn, / Dat heit men na deme fader syn. / Dog was under on beiden / De name undersheiden:

____
86

De fader heit Henrik dat Welp, / De sone heit Henrik Gelp. / He erwarv, dat he ward genand / Henrlk de Louwe ût Sassenland. / Hyr hat sek de bôm gesloten, / Dâr he is utgesproten / Fan twe wortelen, also ek sprak / To dem êrsten. Er idweder lange plag / Des hertogdômes to Sassen. / Henrik dat Welp was gewassen / Fan hertogen Hermannes kunne. / So sägt men, dat gewunne / De hertoginne or geslägte / Fan hertogen Ludolfe, de to regte / Fan Brunswyk Brunes fader was, / De besäten hadde, also ek las, / Dat hertogdôm an Sassen. / Alsus was de bôm gewassen / Fan twe wortelen ûterkoren. / Wat forsten sint fan ome geboren, / De ek nigt al en kan nennen! / Dog skole ji se erkennen / In eineme andern speigel-glans / Ein islik wortele besunder gans. / Ör kunne unde ör geslägte, / Skolde ek et räkenen regte, / Wiste ek, wente ek des al bedägte.

Kap. XXVIII.
Eugenius papa III. Conradus rex III.

De junge louwe Henrik, / De wârd gebragt to Brunswyk

____
87

Fil jung an sine eigenshap, / Dâr ome fan moder-halven gav. / Syn ärve was ôk to Stade / De hershap to der tyd de kwade. / Do weren forswunden dusend jâr / Hunderd unde ein un fêrtig gâr, / Erstarv syn fader ût Beigerland / Unde fan Sassen, de was genand / O'k forste in Brunswyk, / Unde dat Welp hertoge Henrik. / He ward begraven mid groten eren / To Luttere by sinem heren. / Men sägt, dat do de Henrik ware / De junge an deme fyvden jare. / Na sines fader dagen / Nam syn moder, hôrde ek sagen, / Einen forsten herlik / Fan Swaven hertogen Henrik, / Des broder koning Konrâd was, / De der kronen plag, also ek las, / Na kaiser Lutere fil agtbare. / Se starv in deme êrsten jare. / Hertoge Henrik êr êrste kind, De grote louwe, wos up find / An tugt unde an wêrdigheid, / Also dat men syn lov breid / Wyd an allen landen fand. / He besat ôk an Sassenland / Fil shone dat hertogdôm. / Sind laid to Rëgensborg syn ôm / De êrste kaiser Frederik / Einen hov fil herlik,

____
88

Also ek hyrna spräke, / Uppe dat ek de rede nigt tobräke. / Dar behêld Henrik an Beigerland / Dat hertogdôm, do was he genand / Fan Beigeren unde fan Sassen Henrik / Hertoge unde forste fan Brunswyk. / De was ein fil shone lode, / De an so shonem un gewäldigen gebode / Alsodaner shonen hershap plag. / Mid flite he ôk anesag / Sine gebôrd, den hogen stam, / Dan he sine wortelen nam, Dat he frugtbâr were, also men sait; / He tog ôk de sotigheid / An sek angebôrner döged / Fan kinde an der jöged, / Wente an sines endes tyd. / Dissem forsten men des gyt, / Dat he mid groter ere / Shone fôr over mere. / Men sägt ôk, dat an der share / Mid ome ôk ander heren waren, / Fan sunte Egidien in Brunswyk / De wêrde abbed Henrik, / Dën he dârna in dat gestigte, / Dat he sulven shone uprigte, / To Lubeke makede bishop, / De ôk dârna stigte dorg dat lov / Goddes unde dorg syn ere / Dat klôster to Sisemere. / Fan dissem forsten gar gemeid / Wârd gemered unde gebreid

____
89

De fäste to Brunswyk; / Wante he ûtgav dat blêk, / Dat geheiten is de Hagen, / Unde heit dat ûthouwen unde ûtslagen, / Unde et buwen unde fästen, / Dat et fôr argen gästen / Seker were ôsten unde westen.

Kap. XXIX.
Adrianus papa III. Conradus rex III.

Ik las, dat dre unde fövtig jâr / Dusend unde hunderd gâr / Fan Kristi gebôrd waren hin, / Do de dridde Konradyn / De wêrde was gestorven, / De mid dogeden hadde erworven, / Dat he was an deme rike / Fovtein jâr fil herlike. / Na ome wârd ein forste erkoren, / Den ek nande hyrbeforen / Fan Swaven hertoge Frederik. / Syn fader ome ôk heit gelyk. / De was ein forste milde, / De mid spere unde mid shilde / Fil dikke prys bejagede, / Dat by ome bedagede / Lov an mangen steden. / Des wârd nu formeden, / Dat he des rikes kronen drôg. / By der tyd he sek forwôg

____
90

Einer groten hêrfârd / Hen to Langbarden ward, / Unde forhêrde alle dat land. / Mid rôv unde brande wârd dat geând / Ein mighel deil ût fan Mela. / De kaiser hadde ôk alda / Teindusend ridder unde knapen, / De weren alle regtgeshapen, / An siner groten riddershap. / To hoivedmanne he one gav / Hertoge Henrike ût Beigerland / Unde fan Sassen, dën ek han genand, / De ome ôk dâr to hulpe kwam. / De kaiser sine reise nam / Fan dâr hen to Rome: / Aldâr in sunte Peteres dome / Wârd de kaiser rike / Gewiged fil herlike / Fan deme dridden Adriano, / De was to Rome pawes do. / Mid groten eren dat geshag. / Seven unde drittig jâr he plag / Der kronen, de he dâr gewan. / Do et allent was gedân, / Fil shone do he wolde keren / Weder mid sinen heren / U't fan Rome in dat feld, / Dâr mannig paulûn unde geteld / Fil shone was upgeslagen, / Dâr de andern inne lagen. / De Romer kadden ôk erdagt, / Wo se mid örer magt

____
91

Deme kaiser eine shimperture / Makeden. Dât ward on to sure, / Also ek han fornomen. / Do de kaiser was gekomen / An dat blêk, dat heiten si / Porta sancti angeli, / Unde mid ome syn getrekke lank, / Ein islik fôr den andern drang. / De Romer kwemen hërgerand / Mid fil starken gewapender hand. / Also se to stride weren bereid / Hinden an der share breid, / Filna an des kaiseres geteld, / Hertoge Henrik kwam an dat feld / Mid den sinen hër gehouwen / Gewapend. He wolde shouwen, / Wat de groten kryg were. / Weder de shâr der Romere / He kwam fôr on allen gerand; / Syn manheid one des hadde gemând. / Dâr en waren nigt fil wôrd, / Sunder fil grot môrd, / Fan ön beiden word de stryd gedân, / Dog wolde et den sege hân / Mid deme kaiser, hore ek sagen. / Aldâr worden ôk erslagen / Fyvhunderd Romer ûterwäl'd. / U't den sulven waren getäld / Ses unde drittig senaten, / Unde twelve ût deme rade. / Hertoge Henrik ût Beigerland / Unde fan Sassen, de dâr was genand

____
92

Hoivedman, also ek dede kund, / He was an deme Stride gewund. / De kaiser sulven mid der hand / Forleit den knôp unde de band / Sines helmes blôdfâr. / He nam der wunden gude wâr, / Unde wesede ome mid flite / Dat blod fan deme antlite. / Alsus grote ere fan Henrike / Gesha deme kaiser Frederike, / Des lovede he ome fil grôt, / Des he dog kleine genôt. / De kaiser dorg den sulven torn / Brande wyngârden unde born, / Unde wat der Romer was. / Do fôr he weder, also ek las, / Hen to Dudeshen landen ward. / O'k was an der sulven fârd / Luttik to deme ende gekârd.

Kap. XXX.
Adrianus papa III. Fredericus imperat. I.

Kaiser Frederik de forste bald / Gav hertogen Henrike de gewald, / Dat he an der Wenden land / Mogte bishoppe sätten, wôr he fand, / Unde papen godde to eren, / Unde de kristenheid dârmede meren. / Dorg dat fôr he anderweide / Den Wenden gar to leide

____
93

Mid groter hêrfârd an dat land. / Do wârd et forhered unde forbrand. / An den sulven dagen / Dâr wârd ôk or here erslagen: / Niklaus was her genand. / Alsus bewaldegede he de land. / Disse forste hôggeboren / Stigtede ôk hyrbesoren / To Lubeke dat kovent, / Do san goddes bôrd ummentrent / Waren dusend jâr gesunderd / Agt un sestig unde hunderd, / Unde aldâr dat bishopdôm. / Men sagt ôk al sunder rôm, / Dat disse sulve forste Henrik Twe bishopdôm fil herlik / Stigte, Rasseborg unde Sweryn. / Dat reid ome de doged syn. / Men sägt ôk shone märe, / Wo he de sulve were, / De dorg shyn groter truwe / Fornüwede dat gebuwe / In der borg to Brunswyk, / Dat he leit wärken so herlik / Ane kost mid groten listen / Sunte Johanne Baptisten, / Unde deme guden sunte Blasio, / Unde san Kantelenbärge dârto / Sunte Thomasse to eren, / Dat de dre dâr weren / Hövedheren uterkoren. / Dar hadde ôk hyrbeforen

____
94

Ein ôld gebuwe gestân, / Dat leit he allent dâr forgân. / We dat hadde gestigted, / Des bin ek unberigted. / Dog bin ek 'es nigt fordaged, / Ek hävve's fil gefraged / Wise lude, de an boken / Es fil begunden soken, / Dat se es to kunde kwemen. / Nigt mêr se dârfan fornemen, / Also ek ôk sulven sag, / Dar mek de skrivt also jag, / Wo fan Hildenshem bishop Goddehard, / De to godde dede sine fârd / Dusend jâr na siner gebôrd, / Unde agt un drittig, han ek gehôrd, / Wo he wigede, dat is wâr, / Des gestigtes hogeste altar, Dat to Dankwerderode lag. / Aldâr hövedhére to wäsende plag / Petrus unde Paulus. / We et gestigted hadde alsus, / Des kan ek up neine kunde komen. / Dog hävve ek for wâr fornomen, / Also mek de skrivt began to sagen, / Wo dâr by ôlden dagen / Were ein provest Aderolt, / De deme stigte rike sold / Gav mid so groter üve: / He gav ome wol hunderd hüve, / Unde fevtig gude bûghe. / Islik minshe et wetten rûghe,

____
95

De nog up der êrden / Lange skal geboren wêrden. / Alsus gav de skrivt orlûd, / Dat de provest gav dat gûd / Deme stigte fôrgenand / Dorg sines wêrden heren hand / Markgreven Ekebregte des alden. / Siner sele god walden / Mote dôrt an himmelrike. / De sulve provest rike / Starv na Kristi gebôrd, dat is wâr, / Dusend unde hunderd jâr, / Unde ward gegraven in dat gebuwe. / Do et aver makede nuwe / Henrik de forste klâr / Na Kristi gebôrd dusend jâr / Dre un seventig unde hunderd, / Ward syn gebeine ûtgesunderd / Des sulven provestes hêr, / Unde wârd under deme kandelër / Gelägd midden nedder, / Dat de werde forste sedder / Heit smeden mid shoner kunst un riker kost. / Also bin ek der rede erlôst, '/ De ek dede umme dat ôlde stigte, / Also ek jik hyr berigte. / Wo herlik ein forste ware / Henrik, dat dôt uns openbare / Sine wärk, de dâr mogen / Der wârheid orkünde togen. / Wente he buwede, also ek las, / De kapellen, unde dat pallas

____
96

Sunte Georgen in der borg / Heit he maken wol unde nigt korg / An ornate mid kostbaren glysse, / Unde let dat maken mid allem flysse / Dat gebuwe al mid al. / O'k heit he fan metal / Einen louwen geten fan riker kost, / Dën he leit sätten up einen post / Fan steine wolgehouwen, / Also men nog mag shouwen / In der borg to Brunswyk. / Dat dede de forste Henrik / Dusend jâr, han ek gehôrd, / Hunderd ses un sestig fan Kristi gebôrd, / Na sines namen shine unde ôrd.

Kap. XXXI.
Alexander papa III. Fredericus imp. I.

Nu skolle we ein ding märken, / Wo dat an goddes wärken / Wo dat sine ordel syn / Deper wän ein avgrunde, dat is wol shyn / Fil unde an mangen saken. / Wën he wil rike maken, / Al sete he in deme stove, / He bringet öne to hove, / To forsten unde to heren. / Wil he sek fan ome keren, / Wo fil gewald he hat erworven, / Des snellen lükkerades orden

____
97

Dat tût one dog in de grund. / Dit is godde alleine kund, / Wo dat wäsen moge / Depe unde hoge, / Aller ding breide unde wide. / Ek wil der rede folgen mede. / Nu makede de kaiser ryk / Eine hêrfârd fil kräftiglik / Frederik, dën ek hävve genand, / Anderweide an Langbardenland, / Also dat he Melan besat / De guden stad dorg groten hât, / Dën he wedder se harde drôg. / Se hadde ôk fil unde genôg / Ome an orloge to leide gedan; / Dorg dat he des willen gewan, / He wolde se gâr fortéren. / Se hadden ôk sinen heren / Nigt lange dârbeforen avgeslagen / Den sege; hôrde ek sagen, / Dat an der sulven share / Hertoge Henrik ware, / Ein edel forste agtbâr unde gemeid. / He hadde an fil groter wêrdigheid / Deme kaiser bragt fovtein hunderd / Riddere ûtgesunderd. / De kaiser drôg so groten torn, / Dat he ummer wolde forstor'n  / Melan, de stad, de he besat. / Fil düre he sek des format. / Nu twang den fan Beigerland / Den louwen, dën ek fôr hävve genand,

____
98

De mid deme kaiser was alda, / Grôt frundshop dër fan Mela, / Dat he fan dâr wolde keren / Weder to lande mid sinen heren / Fan deme kaiser Frederike. / He bad one fil lêvlike, / Dat he mid ome bleve da / Fôr der stad to Mela. / Dat en halp allent nigt, / Also ek des bin berigt, / De kaiser bôd sek ome to fote -. / Dat was ein der kunesten grote, / De jü forsten mogte geshên, / We et regte wil anesên. / Do sprak ein siner ambagt-man: / Here, wettet dat sunder wân, / Sind dat de krone up juwen fôt / Is komen, dat se sek negen môt, / Unde komet wol up juwe hoved; / Des syt seker unde glovet! / We! dat he de tungen röret, / Unde alsodane wôrd föret, / Dat de forste nümêr forwan! / Märket, wo disse märe gan: / Wo fele de kaiser bidden mogte, / Dat he dâr bliven rogte, / Dat halp allent nigt ein stov. / Sunder willen unde orlov / Sheide de forste fan dannen / Mid mangen stolten mannen / Fan Mela der stad. / Dat dede de arge râd, / De mangen man bedrogen hat.

____
99

Kap. XXXII.
Alexander papa III. Fredericus imp. I.

We! deme rosse, dat fan dâr drog / Den forsten, dat he dat nigt en slôg, / De dat deir heit stille stàn, / Also ek ôk gehôrd han, / Dat hyrbeforen Baalam reid! / We! dat de forste jü bestreid / Dat ros to so leider fârd, / Dër he so gâr untärved wârd! / Wat dede kaiser Frederik, / Dat syn mag Henrik / Alsusgedane wys fan ome reid? / He gewan dog, also men sait, / De guden stad unde de düren / Mela, unde laid ör müren / Hoge neder an de grund, / Unde tostôrde dat darinne stund, / Dusend jâr na goddes bôrd / Hunderd twe un sestig, han ek gehôrd. / O'k to der sulven tyd / Bishop Renold, also men gyt, / Bragte de hilgen koninge dre, / De lange hadde e / Gebragt de kaiser fan Persia, / Fan Konstantinopel to Mela / Bragte se sunte Scharius; / Do Mela wârd gewunnen alsus, / Bragte se to Kolne bald / De wêrde bishop Renald.

____
100

By des sulven kaiseres dagen / Ward an Engeland erslagen / To Kantelenbärge sunte Thomas. / Do de tyd fan Kristi gebôrd was / Dusend jâr hunderd dre un seventig, / De werde kaiser Frederik / Kwam weder an Dudeshe land, / Dâr he de forsten alle fand. / He klagede ön allen gelike / Over hertogen Henrike, / Dat he ome untreden was. / He wârd syn sigend, also ek las, / Na Kristi gebôrd, dat is wâr, / Dusend ses un seventig jâr / Unde hunderd, hore ek sagen. / O'k by den sulven dagen / Fan Halverstad bishop Ulrik / De buwede Langenstein sik. / Dat wêrde ome ût Beigerland / Hertoge Henrik, uhde wârd gebrand / Up der fäste al dat gebuwe. / Darna makede he et wedder nuwe. / Des halp öme bishop Wigman / Fan Maideborg, dat he'es began / Wederbuwen mid sinen heren. / Des konde ome do nigt geweren / De forste hertoge Henrik. / Dog makede he ein hêr heimelik / Fôr den Hârt in to dem lande, / Dat mid rove unde mid brande / Den heren skolde lokken / Fan der fästen unde tokken.

____
101

Dat hêr wârd formeld: / Do et kwam an dat feld / An einem nevele by deme Broke, / Alsus las ek in einem boke, / Dâr kwemen jegen de ôster-heren, / Unde begunden sek dâr shëren / De shâr an jowilker syd. / Dâr ward ein fil mighel stryd: / Beigerland nigt ward forswegen. / Wôr sek de share negen, / Dâr men de fanen swëven sag, / De eine houw, de ander stak: / Dat feld fan frishem blode flot - / De lust erskal fan krige grôt: / Hurra! heia! Beigerland! / Halverstad! fil dikke wârd genand, / Wôr sek de shâr dâr braken. / Beigerland begunde swaken / An deme gefilde overal, / We lude Halverstad! erskal, / Do der fane ward nedergeslagen. / Alsus wolde God den forsten plagen, / Dat he dâr forlôs dat feld. / We nog spelet umme geld, / De skal dorg dat nigt forzagen, / He skal et aver wagen, / As an deme beginne / Dat glükke ön anesigt mid unminne. / Na einer droven wolkelyn / Komet dikke ein sunnenshyn. / Wat hilpet mêr hyrav getald? / Et was alle goddes gewald!

____
102

Dar wârd ût Westfalenland / Ein here gefangen wol bekand, / Greve Simon fan Tekelenborg, / De de an doged nü wârd worg, / Unde wol drehunderd helde bald. / Dârmede waren getald / Fil ridder unde knapen, / De dâr drogen wapen, / De alle worden behalden: / Des mögte God walden! / Do klageden gemeinlike / De forsten over Henrike, / Unde de markgreve Diderik / Fan Landesbärge harde kämpiglik / Sprak one mid wôrden an, Dorg dat de Wenden hadden gedân / Den groten brand also starke / To Lusiz an der Marke, / So ome for wâr gesaged wârd. / De hertoge blèv dog unforsârd, / Wo syn gelükke dog was gekârd.

Kap. XXXIII.
Alexander papa III. Fredericus imp. I.

De hoge kaiser Frederik, / De also formäten hadde sik / Weder den hertogen sinen mâg, / He lägede ome so mangen dag / Unde hov, wente he ome was so gram. / Do he allent dâr nigt en kwam,

____
103

He dede ön an de agte. / Mid der sulven hagte / Bleiv he jâr unde dag unforfârd, / Umme dat öme fordeiled wârd / Egt unde regt, lein unde eigen, / Dat et lein solde neigen / An de hershap: ôk word getald / Dat eigen kaiserliker gewald. / To Maideborg dârnág / Lägede uppe sunte Johannes dag / De wêrde kaiser Frederik / Einen hov fil herlik, / Dâr de forsten alle kwemen. / Se loveden unde se nemen / Uppe den forsten eine hêrfârd, / De fôr Haldesleve geleisted wârd. / Er de hêrfârd wârd fullenbragt, / Also se de kaiser hadde erdagt, / De to Maideborg was gesworen, / To Hermissen dârbeforen, / Brande hertoge Henrik / Halverstad, dar bishop Olrik / Mid fil luden gar formäten / Wârd gefangen; do wârd besäten / Haldesleve, des forsten fäste, / Mid fil shâr leider gäste, / Dër ek ju ein deil nomen wil. / Dâr erhôv sek ein nuwe spil. / Sig, wër komet dâr hërgefaren? / Syn banner swëvet also ein aren / Wit mid einem swarten krüze! / He is ein Riner unde nigt ein Prüse!

____
104

To Kolne is her ein bishop genand! / Wat dait he hyr an Sassenland? / Er shâr dunket mek so wide! / Ek se, wol dâr komen mede / Faren de Borgonier, / Unde mannig wêrde Franzoser. / De men mid ome komen sag, / De waren getald filnag / For ridder fovtein hunderd, / De hadde he ûtgesunderd, / Regte de se tälde: / For wâr ek des nigt en melde. / Alsus wârd Haldesleve besäten. / We mannig ridder gâr formäten / Under der banner here drang, / Dar de gedeilde louwe inne swang / Over landgreven Lodewik! / Dâr to helpe deme ryk / Mid den O'ster-forsten alle, / O'k mid fil grotem shalle / Hôrde men eine shâr komen. / Or banner was, han ek fornomen, / Fan fyv stukken gold unde blaw. / He was genand ein forste da / Fan Landesbärg greve Diderik. / He wolde ôk algelyk / Deil an des rikes hêrfârd hân. / Fan Maideborg bishop Wigman / De was ôk an der sulven fârd. / Sig, wo kräftigliken wârd / Haldesleve belägen! / Wer hadde se alle ûtgewägen?

____
105

Dat dede dat kaiserrike, / Dat den forsten so hastiglike / Fan Beigerland wolde untärven / Hertogen Hinrike unde fordärven! / De borgere fan der fäste, / De dorg de leiden gäste / Dülden sware manigfald, / Se wolden an des rikes gewald / De fästen geven untobroken, / Also dat an on nigt geroken / Worde, dat deme rike was gedàn. / Alsus wolde se de bishop untfàn; / Des en wolden de forsten nigt: / Sus bin ek des for wâr berigt. / Se foren alle fan dannen / Mid frunden unde mit mannen; Wän de bishop mid den sinen / Fan Kolne de wolde se pinen. / He bleiv dog dâr nigt lange, / He fôr weder to lande. / He gav deme landgreven rike / Hermanne unde Lodewike / So fele, dat he mid groter magt / Over de Wesere wârd gebragt. / Dorg groten frogten dat geshag / Hertogen Henrikes, de dâr plag / Des hertogdômes an Beigerland, / Den ek fil dikke han genand. / Alsus bleiv de gude fästen / Ungewunnen fan den gästen, / De se besäten ôsten unde westen.

____
106

Kap. XXXIV.
Alexander papa III. Fredericus imperat. I.

To des landes behode / Shôp de kaiser hôggemode, / Dat de forsten algelike / Fôr deme hertogen Henrike / To Goslar reden in, / Do de ôsteren woren hin. / De werde hertoge Henrik, / De sinem namen toglyk / Drôg eines louwen härte, / De hadde grote smärte / Siner forlust unde shaden. / Des begunde he aver laden / Beide frunde unde mage, / De he aver an de wage / Weder den kaiser wolde lägen, / De de louwe hadde ûtgewägen, / Also frund by frunde dôt. / De hertoge hôggemôd / Mid der sulven share / For he shone unde openbare / Mid upgerigten fanen / Goslar de nägesten banen, / Dâr de forsten legen alle. / He trekkede mid grotem shalle, / Mid fil taburen, de men dâr rôrde, / Mid pipen, basunen, de men dâr hôrde, / Dârsan dat feld erskal, / Alsus trekkede he bärg unde dâl

____
107

Dorg den wôld an Doringenland, / Da fan den sinen ward gebrand / Des rikes stad Nordhusen / An Doringen unde Molhusen. / De forsten, de dar lagen, / Unde des landes hude plagen / Na des kaiseres gebode / Mid einer kräftigen rodde, / De wide gesammed wârd, / Trekkeden se de sulven fârd / Deme forsten nag an Doringenland. / Se hadden boden fôrgesand / An landgreven Lodewike, / De sek ôk kräftiglike / Reide an des rikes hêrfârd, / Also dat he to hulpe wârd / Des kaiseres forsten alle. / Dat kwam öm to falle. / Dit was allent uppe dën fan Beigerland, / Dorg dën ward manig held ûtgesand, / De darheime leit fil härteleiv, / Des sheiden ome fan härten dreiv / Fil mangen trân ût ogen, / De sek sil fil trurig togen / An roseligten wangen syn, / Dorg den leven frund syn. / Wat mag nu de fan Beigerland / Nü dôn, de dâr hat angerand / Doringen so waldiglike? / Wat, oft eme dat rike / An Sassen den sege avgeslôg, / De jü syn härte hoge drôg,

____
108

Skolde he dorg dat nu forzagen? / Nein! he skal et aver wagen! / Ligte of sek syn gefälle / Dorg des glukkes lôp also snelle / An ein ander grâd hat gewand! / De landgreve ût Doringenland, / De mid kräften was gekomen Deme rike: dat wârd fornomen / Fan deme hogen hertogen Henrike. / We sute unde wo frundlike / He to den sinen alle sprak: / slik here, frund unde mâg, / De hyr dorg den willen myn / So fêrne hërgekomen syn, / Denket, wu dorg wêrdigheid / Ummer prys sy bereid / An Beigeren unde an Sassenland. / Denket juwer fôrfârne hand, / De 'is dorg eren älendhaftigen mûd / An manger riddershop so gûd / Unde an stride han gedân, / Unde wo et dikke is ergân / Fil unde an mangen dingen; / Unde wo et ôk erginge / Markgreven Ekebregte, / De fôr neinem dinge frogte regte, / Unde wo he prys bejagede / By sinem levedagede, / Do islik was besäten / Fan deme kaiser Henrike gâr formäten! / Unde wo hertoge Luder de rike / Unse fader streid fil manlike

____
109

To deme Welpes-holte an dem wike / Weder den fyvden kaiser Henrike! / Seit, wo mangerleige riddershap / We ör eine skollen houwen av / Dârsulven mid deme swërde! / Iseren twang jü sülveres härde! / Syt älendhaftig alle hude ! / Et sagen wise lude, / Dat he weder sek sulven ist, / We figenden givvet lives frist, / Dat he et sek sulven neme! / Is hyr ôk jimand, dëme et täme, / De et hävve to härten genomen, / Wän de shâr tosamen komen, / Dat he dänne wil geven den rukke, / De do dat nu, unde hävve glukke, / Er dänne men't ome fôrkere! / Ein jowilk ridder unde here / De spräke sine werden man! / De rede en was nigt al getân / Fan deme forsten ût Beigerland, / Ein bode kwam snel hërgerand. / Syn ros al fan swete flôt, / Dat blod ome dorg de siden gôt, / He sprak: Herre, wettet dat forwâr, / Dat de forsten mid örer shar / Den bärg komen upgedrungen, / Unde or banner boven on geswungen. / Disser tal is so fil, / Sik hävet hyr ein ander spil! / Do sprak Henrik de hoge forste: / If ek nu nigt striden dorste,

____
110

So were wyvlik myn manheid! / Givt jemanen härteleid / Leves wêrder grôt, / Dat he sek fan ome sheiden mot, / He skal et laten faren hin: / Dorg wyv skolle we alle manliken syn! / De shâr weren bereide an beider syd: / De sunne hadde den êrsten stryd: / An deme wedderglaste / An mangem wêrden gaste, Des shild tegen de sunnen braste.

Kap. XXXV.
Alexander papa III. Fredericus imp. I.

Wat taburen men dâr hôrde! Wo jowilk sine shâr fôrde! / Basunen unde skalhoren, / De or stimme gâr forloren, / Wôr sek de storinge rôrde! / Grote krige men dâr hôrde, / Dat alle dat gefilde erskal. / Mannes houw unde rosses fal / Gav dâr so overgroten dôs, / Also of et an den luften grôs / Ein wäder tegen dat ander gan. / Men skolde't wol for shimp untfân: / Alsus was dar ein wederriden, / Unde ein manlik striden. / De melm en wolde des nigt miden, / De de sek erhôv fan allen fiden

____
111

Unde dovede in der sunnen. / De blomen unde de klever wunnen / Fan blôd ein nüwe overdâk. / Jünd de man unde hyr dat ros erlag. / Alsus wârd de plân gestrouwed, / Unde dat gröne gras dorgdouwed / Mid manges düren heldes blode. / Henrikes shâr, de hôggemode, / Des kriges ôk nigt forgat. / Dat was des rikes forsten hât! / Al dat gefilde: hei, jo hei! / Fil lude: Beigerland! erskrei. Henrike do fan blomen glans / Sätte up syn hoved einen krans / Frowe Victoria, de dâr pläget / Des seges, wëme dat se neget, / De is segehaft an der stund. / Dat was Henrike worden kund. / Se soneden mid ome na den slägen, / Also de moder dait na der wegen, / Wan dat kind beginnet skrigen. / Sege unde lov men hôrde krigen / U't Beigerland Henrik. / Den landgreven Lodewik / Unde sinen broder Hermanne / He dâr feng, unde fil fromer manne, / Ridder wol ses hunderd / Unde knapen ûtgesunderd, / De dâr tegen one weren komen, / Do se hadden fornomen, / Dat de fan Beigeren Doringenland / Also hadde forhered unde forbrand.

____
112

He en klagede nü forlust nog nôd, / Dat was ome allent dôd, / Do sek so shöne swingen / Sine fanen, herfôr klingen / Over alle dat feld: Beigerland! / Dat er blômen drôg, dat was nu fand / Mid blode gemished overal, / Unde dat de rosse hadden de tâl / Gâr erfülled mid deme falle: / Unde dat de sine alle / So manlik hadden gewäsen, / De dâr waren genäsen, / Des drog he froide grôt. / Fil mildigliken he begot / Riken sold mid der salven / Den forwundeden an allenthalven. / Dat makede ome de sine fro. / Fan Kristi gebôrd weren do / Hen hunderd unde dusend jâr / Unde ses un agtentig, dat is wâr. / O'k is uns mêr openbâr.

Kap. XXXVI.
Alexander papa III. Fredericus imp. I.

Shire kwemen de märe, / Wo et ergangen were, / An den kaiser Frederik: / Eine hêrfârd overkräftig / Makede he an Sassenland, / De up Henrike wârd gewand.

____
113

Dorg groten torn dat geshag. / Fil mangen ridder he ûtwag / Lives unde gudes ungespârd / An de overgroten hêrfârd. / Blankenborg unde Woldenbarg / Mid riddershop harde unkarg / Kräftigliken wârd besäten. / De kaiser gâr formäten / For Legtenbärge sulven lag. / Syn grote kraft öme dat jag, / Dat nigt fel sunder grote arbeid. / Er dän he fan dâr sheid, / Gewan se alle dri / De forste. Nu wanet aver by / Henrike grôt ungefal; / Dog behêld he den wâl / In Doringen kräftigliken. Wolde ome aver God swiken, / Also was et allent alse ein gras. / Wi hoges sinnes syn härte was, / Dit moste he allent liden. / De kaiser wolde des nigt formiden, / He en bräke se an de grund / Alle dre, unde dat dâr uppe stund. / De kaiser to der sulven tyd / Buwede weder, also men gyt, / Hârtesborg de fästen / Uppe deme Hârte tegen dat westen. / Fan dâr fôr he mid aller share, / (Wo kräftig dat se ware, / Des kan ek nigt al geräken,) / To Lübeke began he to trekken

____
114

Fôr de stad, de he gewan. / Forbat kârde he do dan, / Also mek de wârheid lârde, / Dorg hertogen Bernharde,/ De ôk êr is genand, / Dën he hadde an Sassenland / Dat hertogdôm gelägen / An der fasten, des geplägen / Hadde hertoge Henrik. / Des makede he nu on gewäldig. / Dat was ein forborgen ordeil / Goddes, unde des forsten unheil, / Dat sek do to breiden êrst began. / Fan Maideborg bishop Wigman / Mid kräften aver sek des format, / Dat he Haldesleve besat / Dârna in der fasten, / Unde begunde se överlasten. / Mid watere he se dränkede / An alleuthalven unde enkede. / He gewan se, hôrde ek sagen, / Fôr deme nägesten pingestdage. / Dârna an korter tyd, / As mek de skrivt wârheid gyt, / An jamerliken maren / Dat God nigt wolde sparen: / He ertogede härteleid / Unde sinen torn der kristenheid, / Dat he des wolde gunnen / Deme düvele, dat gewunnen / Jerusalem de herlike stad, / Fan dër so fele gesproken hat

____
115

Der profeten maistershap, / Unde dat overhilge grav, / Dâr he sulven inne lag, / Unde des dârná de ängel plag, / Unde fil des heren landes me, / Des de kristen plagen e, / Dat gewan de wäldige man / Salatin de soldân / Fan Damaske, de dâr segehaft / Wârd mid fil groter heres-kraft. / Dër, de des kruzes plagen, Aldâr worden ôk erslagen / Wol twehunderd dusend helde bald, / De or sele geven an Goddes gewald, / Fan allen ôrden der gedosten, / De dat hemmelrike kosten / Mid örem blode. U'tgesunderd / Dusend jâr unde hunderd / Seven un agtentig, also ek hôrde, / Gesha et na Kristes gebôrde / An sunte Barnebas dage, / Dat de jamerlike klage / So overlude erskal / An der kristenheid overal, / Also sik fan regte getam, / Dat Saladin, de leide man, / In den heren tempel düre / Mid so groter ungestüre / Sinen rossen to einem stalle! / We deme overgroten falle, / Dat et jü also ward gewand, / Dat fan der Sarrezinen hand

____
116

Wârd gesalved unde beflekked / Dat grav, darinne gestrekked / Ward Jesu Kristi de here lyv, / Dën gebâr, de nü wârd mannes wyv, / Maria, sunder mannes samen, / Mid mägedliken shamen, / Sunder aller pine we, / Des gelyk nü en wârd e, / Edder en shût nummerme.

Kap. XXXVII.
Urbanus papa III. Fredericus imp. I.

Also et godde wolde hagen, / Nu hadde sek de tyd gedragen / Up der feide sonendag, / Dër tein jâr de kaiser plag / Mid sinem mage so hätelike / Deme wêrden hertogen Henrike, / De sek for Mela hadde erhaven, / Dorg dat he fan ome dorste draven / Sunder orlov mid unminne. / Dat was nu an deme beginne, / Dat de forste to hulden kwam: / Des he kleinen fromen nam / Na der jamerliken klage, / Dorg dat de grote plage / In deme hilgen lande geshag. / In deme êrsten härveste dârnág / Fan Maideborg bishop Wigman, / Dën ek ôk êr genomed han,

____
117

Mid geleide unde mid orlove / Bragte he hen to hove / Henrike to des rikes hulden, / De he hoge moste forshulden / An sinem lene unde an sinem ärve, / Er dän he se erwärve. / Sholde et hävven gewäsen, / He mogte syn bät genäsen, / Hädde he fore geweten, / Wo shire skolde ersliten / De kaiser unde alle syn magt. / Al folk ding wârd dog nu erdagt! / Do de fôr den kaiser kwam, / Unde he one to sinen gnaden nam, / He moste loven, dat syn tunge / Nummermêr dede forderunge / An lein unde an eigen algelyk, / Wän Lüneborg unde Brunswyk, / Unde dat ome dârto besheiden wârd. / We! we! der rüweliken fârd, / Dat he dër nigt formiden wolde! / De kaiser ome teig, he skolde / U't deme lande syn dre jâr. / De kaiser lovede ôk forwâr / Öme unde den sinen wedder / Ganssen frede dârna sedder. / To deme êrsten ôsterdage / For he, hôrde ek sagen, / An den koning fan Engeland, / Des süster Megthild was genand, / De öme to wive was gegeven. Se hadde ôk, finde ek beskreven,

____
118

Togendlike gewunnen shone / To der werlde fêr sone. / Hertoge Henrik heit de êrste, / De ander Otte unde de hêrste, / De plag des rikes kronen sind. / Den dridden men genomed find / Willehelm, Luther den fêrden. / Megthilde de wêrden / Leit he an Sassen hinder sik / An siner stad to Brunswyk. / Uns saget ôk de mare, / Se storve binnen dëme jare, / Do men räkende fan Kristi gebôrd gâr / Dusend unde hunderd jâr / Agt unde agtentig an der tal. / Or sele mid gode wäsen skal. / Or grav mid groten eren, / Also et wol tämede der heren, / Wârd gedân an dat gebuwe, / Dat over drittig jaren nuwe / Makede or here Henrik / In der borg to Brunswyk / Fil shone unde herlik.



Quelle:
K. F. A. Scheller: "De Kronika fan Sassen in Rimen fan Wedekind went up Albregt fan Brunswyk 1279"
Hergestellt aus der Wolfenbüttelschen Handschrift (N. 81. 14. Mscr. Aug. Fol)
Reimchronik des Sassisch-Brunswykischen Fürstenhauses
Seiten 70 bis 118
Brunswyk, 1826
Drükked im Förstlichen Weisenhuse
In Bekostinge H. Voglers to Halverstad

Hinweis:
Die vollständige Schrift ist in der Bayerischen Staatsbibliothek auch digital unter folgendem LINK verfügbar:
http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10113141_00005.html


Mit Hochachtung spricht Scheller im Vorwort auf Seite IX über den unbekannten Verfasser der Chronik:

"Ich hoffe nun, durch die Berichtigung des Textes, wodurch übrigens kein Wort geändert ist, diese Chronik nicht nur verständlicht, sondern einzelne Geschichtserzählungen, wovon manche einen bedeutenden geschichtlichen und einen grossen poetischen Werth haben, klärer gemacht zu haben. Überhaupt leuchtet die strengste Wahrheitsliebe aus jeder Zeile der Chronik hervor, indem der Verfasser bei dem, was er nicht genau weiss, auch jedes Mal seine Unkunde und Zweifel gesteht,..."

Schellers Verdienst besteht darin, diese handschriftliche Chronik in seiner Veröffentlichung ohne inhaltliche Änderungen in einer verständlichen sassischen Sprache einem großen Publikum zugänglich gemacht zu haben, das die Lebendigkeit und Zeitnähe der bis 1279 geschilderten Ereignisse mit Sicherheit schätzt. In diese Zeit fallen u. a. die Regierungszeit des deutschen Kaisers Lothar III. und insbesondere auch die seines Enkels, des Herzogs Heinrich des Löwen.

Zur Verbesserung der Verständlichkeit der Chronik hat Scheller ihr auf den Seiten 305 bis 336 noch eine Erklärung von ungewöhnlichen sassischen Worten beigefügt.

 

 



Dr. Carl G. W. Schiller 1845

Braunschweig's schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur.

Zum hundertjährigen Stiftungsfeste des Collegii Carolini,

von Dr. Carl G. W. Schiller.

Wolfenbüttel, Verlag der Holle’schen Buch- Kunst- und Musikalienhandlung.

1845.





____

Sr. Hoheit

dem

regierenden Herzoge Wilhelm

von Braunschweig-Lüneburg-Oels etc.

in tiefster Unterthänigkeit zugeeignet

vom Verfasser.


____

Durchlauchtigster Herzog!


Nicht etwa weil ich mir schmeichelte, das das vorliegende Werk, welches einen einzelnen Abschnitt aus der Literaturgeschichte ganz speciell berührt, an und für sich der Allerhöchsten Beachtung Ew. Hoheit werth sein dürfe, sondern nur, weil ich darin für mein eigenes Herz eine Genugthuung zu finden glaubte, wagte ich es, Ew. Hoheit diese Schrift unterthänigst zuzueignen.

____

Deutet doch, direct oder indirect, fast jede Seite derselben, besonders in deren Anhange, auf die unsterblichen Verdienste hin, welche sich Ew. Hoheit erlauchte Ahnen um Kunst und Wissenschaft erworben haben. Den Dank dafür vermochte ich nur auf Ew. Hoheit zu übertragen, Höchstwelche sich, wie dem Berufe, so der eigenen Wahl zufolge, die große Lebensaufgabe gestellt haben, im Geiste der Hohen Verklärten fortzuwirken.

Genehmigen Ew. Hoheit den Ausdruck der tiefsten Ehrfurcht, mir der ich verharre

Ew. Hoheit

unterthänigster

C. Schiller.


____
Vorwort.

Der Anwendung jener goldenen Regel: „Nonum prematur in annum.“ kann sich bei vorliegender Schrift der Verfasser fast in buchstäblichem Sinne rühmen; ohne aber damit irgendwie einen höheren Anspruch begründen zu wollen. Ungunst der Verhältnisse hatte nämlich größeren Antheil an der verzögerten Herausgabe, als freie Wahl. Die äußere Veranlassung zu diesem Werke gab dem Verf. ein Freund durch ein, zum Besten des Lessing-Denkmales intendirtes Lessing-Album, für welches diese Schrift in ihren ersten Grundlinien entworfen wurde. Da aber unvorhergesehener Weise der Redacteur jenes Albums durch einen ihm gewordenen, sehr lästigen Beruf gänzlich von seinem Vorhaben abgezogen wurde, so erging es dem Lessing-Album, wie dem Lessing-Denkmale: Beide geriethen wegen Mangel an Theilnahme in Stocken. Lessing hat nun ein für alle Mal kein Glück, und seine Nachwelt that in dem halben Jahrhundert nach seinem Tode noch immer so viel, wie nichts, um die Schuld seiner


____
II

Mitwelt abzutragen. – Damit wenigstens nicht alle Mühe vergeblich gewesen sei, theilte der Verf. sein Opus im Jahre 1838 der hiesigen literarischen Gesellschaft mit; worauf im folgenden Jahre das erste Heft der Zeitschrift „Brunonia“ einzelne Bruchstücke daraus lieferte, die aber ohne Wissen des Verf. leider gänzlich planlos aus ihrem Zusammenhange herausgerissen waren. So blieb denn das Werkchen viele Jahre ruhen, ohne irgend weiter gefördert zu werden, als durch einzelne Nachträge, wie sie der neue Tag mit sich brachte. Ob aber die Sache wirklich dadurch gewonnen habe, stellt der Verf. selbst in Frage; indem er fürchtet, das hie und da nur auf Kosten des ursprünglichen freien Flusses und Gusses die Anhäufung des Materials erkauft sein dürfte. So eifrig nun auch die zugänglich gewesenen schriftlichen und mündlichen Quellen benutzt worden sind, so muß dennoch auf Vollständigkeit, geschweige auf Erschöpfung des Stoffes, von vorn herein verzichtet werden. Bei der in Braunschweig gegenwärtig fast gänzlich mangelnden literarischen Betriebsamkeit, und bei den für eine Arbeit, wie die vorliegende, sich nur höchst ungenügend darbietenden Hülfsmitteln, wird jeder billige Beurtheiler diese Entschuldigung gelten lassen. Tief fühlt sich Verf. der unermüdlichen Dienstwilligkeit des zeitigen Bibliothekars der wolfenbüttler Bibliothek, Herrn Dr. Schönemann's, zu Dank verpflichtet; doch bot auch selbst der wolfenbüttler



____
III

Bücherschatz, der seit 1666, dem Todesjahre des Gründers, nur höchst unvollständig fortgeführt worden ist, und die empfindlichsten Lücken gerade in der neueren schönen Literatur zeigt, eine noch lange nicht genügende Ausbeute dar. – Die höchste Nachsicht muß besonders für den Anhang in Anspruch genommen werden, weil hier der Verf. ein ihm gänzlich fremdes Gebiet betrat, auf welchem er sich nur hie und da ein Blümchen aneignete, wie sich's gelegentlich und ungesucht ihm in den Weg stellte. Deshalb wird gerade für diesen mehr als skizzirten Entwurf jede noch so unbedeutend scheinende Berichtigung und Ergänzung mit Dank aufgenommen werden.

Innere Veranlassung nun zur Abfassung vorliegenden Werkes war dem Verf. die Wichtigkeit des Gegenstandes selbst. Ist doch Braunschweigs literarische Bedeutsamkeit im vorigen Jahrhundert, und zwar aus dem Gesichtspunkte eines auf bestimmte Tendenzen basirten Verbandes, gänzlich von allen Literarhistorikern bis auf diesen Tag ignorirt worden. Der allgemeine Nationalsinn des Deutschen daher, als auch der Specialpatriotismus eines Braunschweigers mußten gleich dringende Anmuthungen zur Beleuchtung eines, durch seine Verzweigung so wichtigen Abschnittes aus dem Culturleben des deutschen Volkes in sich verspüren. Nur durch helle Schlaglichter, welche Monographieen über bestimmte Literaturabschnitte verbreiten, läßt sich



____
IV

endlich mit der Zeit eine genauere Orientirung auf dem so lange vernachlässigten, und noch immer nicht vollständig durchforschten Literaturgebiete erzielen. Das in diesem Jahre zu feiernde hundertjährige Stiftungsfest des Collegiums Carolinums glaubte nun der Verf. für die Herausgabe seines Werkes nicht unbenutzt lassen zu dürfen; um so weniger, da diese, in ihren Folgen so fruchtreiche Anstalt auch die Veranlassung zu Braunschweigs früherer literarischer Regsamkeit geworden war. Da im Vergleich mit der Vorzeit das literarische Leben Braunschweigs gegenwärtig fast erstorben zu sein scheint, und mindestens nur ein höchst kümmerliches Dasein fortschleppt; da von und über Braunschweig, welches jetzt nicht einmal mehr ein allgemeines Organ für literarische Oeffentlichkeit aufzuweisen hat, ungeachtet Braunschweigs Stimme früher in literarischen Angelegenheiten von großem Gewicht war: so möchte es vielleicht ganz an der Zeit sein, das Buch der Vergangenheit aufzuschlagen, und den Zeitgenossen das Bild einer besseren Zeit, als Vorbild geistiger Regsamkeit vorzuhalten; einer Zeit, welche frei von realistischer Engherzigkeit, den Geist zu schätzen wußte, wenn auch nicht als die unmittelbarste, doch als die ergiebigste und reinste Quelle der Volkswohlfahrt.

Braunschweig. 1843.

Der Verfasser.



____

Erster Abschnitt.


____



____

Einleitung.


Um die Gegenwart begreifen, und ihre Bedeutsamkeit würdigen zu lernen, ist ein Blick auf die Vergangenheit unerläßlich. Die Bekanntschaft mit dem Entwickelungsgange einer großen Begebenheit setzt auch die Folgen derselben in das gehörige Licht. In dieser Beziehung muß es daher nicht sowohl für eine Specialgeschichte der braunschweigischen Literatur, als vielmehr für Deutschland's und Europa's Culturgeschichte von Nutzen sein, die Epoche der ersten Kraftentwickelung in allen ihren Verzweigungen zu verfolgen. Ist denn aber auch wirklich der oben bezeichnete Abschnitt der braunschweigischen Literatur bedeutsam genug, um als eine solche Triebfeder der sich später entwickelnden nationalen Geistesregsamkeit bezeichnet werden zu können? Vor Beantwortung dieser Frage müssen wir mit einem, sei es auch noch so flüchtigen Blicke bis zu jenen Männern zurückgehen, die als Vorboten unserer Epoche zu betrachten sind.

Obgleich Luther durch seine an Kraft und Lebensfeuer noch immer unübertroffene Bibelübersetzung eine tüchtige Grundlage zu der hochdeutschen Schriftsprache gelegt hatte, so wurde doch leider auf diesem Fundamente im Verlaufe der folgenden Jahrhunderte nicht fortgebauet. Die gelehrten Streitigkeiten der Theologen beherrschten das literarische Forum; und die lateinische Sprache, in welcher sie geführt wurden, und die



____
8

Spitzfindigkeiten scholastischer Philosophie, in welche sie sich auflösten, veranlasten sowohl die Entartung, wie auch die allmälige Verdrängung der hochdeutschen Schriftsprache. So nachtheilig nun von einer Seite her das Lateinische einwirkte, eben so unheilbringend erwies sich andererseits die französische Sprache. Durch fränkische Waffen zuerst ins deutsche Land hereingeschleppt, wurde sie zuletzt durch den, dem Deutschen angeborenen Trieb der Nachäffung des ausländischen Geschmackes förmlich in's Vaterland hereingerufen; indem der Glanz des üppigen pariser Hofes, als ein Anziehungspunkt jedes auf feinere Bildung Anspruch machenden Deutschen, die damalige epidemische Reisewuth der Deutschen nach dem Heimathlande der Moden veranlaßte; wodurch mit französischer Literatur Deutschland überschwemmt, und endlich das Französische nicht allein zur Sprache der Höfe, sondern auch zur Sprache der galanten Literatur erhoben wurde. Von großer Bedeutung war es daher, daß zuerst der Director der Universität Halle, Christian Thomasius (geb. 1655), der mit seinen »monatlichen Unterredungen« auch die erste deutsche Zeitschrift in's Leben rief, seine Muttersprache des wissenschaftlichen Vortrages vom akademischen Lehrstuhle herab für würdig erklärte; daß darauf der Vicecanzler derselben Hochschule, Christian Freiherr von Wolf (geb. 1679), dieselbe auch zur streng systematischen Darstellung philosophischer Ideen in seinen Schriften anwandte, wofür sie freilich schon früher Gottfried Wilhelm von Leibnitz (geb. 1646) als höchst geeignet erklärt, doch sich ihrer dafür selbst zu bedienen, nicht Muth gehabt hatte. Endlich versuchte es auch, und zwar mit großem Er folge, der Abt Johann Lorenz von Mosheim, früher zu Helmstädt, später Canzler der Akademie zu Göttingen, (geb. 1694) von dem auch durch die: »Zufälligen Gedanken von einigen Vorurtheilen in der Poesie, besonders in der teutschen«



____
9

(Lübeck 1716), gewissermasen die erste Anregung einer geläuterten Kritik ausging, von heiliger Stätte herab in der selben hochdeutschen Muttersprache mit Wärme und Klarheit zu den Herzen seiner Nation zu reden. Dies waren ungefähr die Haupterscheinungen im Gebiete der deutschen Prosa vor der von uns zu berührenden Literaturepoche; denn die ersten Versuche einer schönwissenschaftlichen Theorie, *), welche Breitinger im J. 1740 mit seiner »Kritik der poetischen Kunst,« und zehn Jahre später Wolf’s Schüler, Alexander Gottlieb Baumgarten (geb. 1714) mit seiner »Aesthetik,« und wiederum dessen Schüler Georg Friedrich Meier (geb. 1718) mit seinen »Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften« machten, fielen ganz unmittelbar vor und in diesen Zeitabschnitt selbst.

Auf dem Felde der Poesie sproßten nicht eben reichere Blüthen. Joh. Fischart (geb. 1511, st. 1581), ein geistreicher Witzling und feiner Menschenbeobachter, ja selbst ein genialer Sprachkünstler, war nur zu unbändig und zu cynisch, um classisch werden zu können. Der kraftvolle Ton des Lutherschen Kirchenliedes hatte nur bei Wenigen (z. B. bei Paul Gerhard, geb. 1606; bei Flemming, geb. 1609 u. s. w.) einen Anklang gefunden; und auch Hans Sachs (geb. 1494), dem es zwar nicht an kernigem Witze, wohl aber an Geschmack und Ausbildung fehlte, konnte nicht verhüten, das seine Genossen und Jünger in der Meistersängerei den Genius der deutschen Dichtkunst zu immer tieferer Erniedrigung verleiteten. Nachdem mit des großen Schlesiers Martin Opitz Tode (geb. 1597, st. 1639) die schmucklose Einfalt der poetischen Muse zu Grabe getragen war, und nachdem noch der
____
*) Wenn man nicht das bereits um 1624 erschienene Werk des Martin Opitz »Prosodia Germanica, von der deutschen Poeterei,« als die erste Grundlage einer deutschen Poetik ansehen will.



____
10

geistvolle, aber auch etwas barocke Andreas Gryphius, (geb. 1616, st. 1664) dieser zwar nicht durch seine Kenntnis der Bühne, wohl aber durch seine Kenntnis des Herzens ausgezeichnete Dichter, das Drama in ehrenvolles Andenken zurück zu rufen sich bemühet hatte: suchten zwei Landsleute der beiden Genannten, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (geb. 1618) und Daniel Caspar von Lohenstein (geb. 1635) durch salbungreich-bombastische Todtenbeschwörung die dahingewelkte Muse wieder in's Leben zu rufen. Tausend Hände nachbetender Schüler waren beschäftigt, die solcher Art Erstandene mit prunkenden Flittern zu verjüngen; bis endlich Johann Christian Günther (geb. 1695, st. 1713) und gar Joh. Christoph Rost (geb. 1717, st. 1765) die Muse des Gesanges zu einer Buhldirne zu erniedrigen wagen durften, die freilich von der unerfahrenen Jugend Zuspruch fand, von der sich jedoch bald Jeder, der auf Geschmack und sittliche Bildung Anspruch machte, mit Ekel abwandte.

Nach einem sich täglich wiederholenden Erfahrungssatze der Reaction, schlug auch diese Ueberschwenglichkeit bald in das Extrem der nüchternsten Zahmheit um. Joh. Christoph Gottsched (geb. 1700, st. als Prof. der Metaphysik zu Leipzig 1766) war der Mann, welcher mit bleiernem Scepter der Emphase Schweigen gebot, und jeden kühnen Gedanken, jede ungewohnte oder gewagte Wendung als Schwulst verketzerte, und dadurch die göttliche Kunst des Gesanges zu einer gedankenleeren Reimkünstelei herabzog. *) Um jedoch das Bild dieses Mannes gehörig zu würdigen, muß man dasselbe nicht aus seiner Zeitumgebung herausnehmen, und man wird dem leipziger Magister, ungeachtet seines farblosen, doch klaren Stiles,
____
*) Hirzel an Gleim, über Sulzer, den Weltweisen. Zürich, 1779, I. pag. 74.



____
11

zugestehen müssen, daß er mit dem Wasser seiner ächt deutschen Weitschweifigkeit segensreich einwirkte, indem er es durch den Augiasstall der deutschen Literatur leitete, und den Unrath fränkischer, welscher und lateinischer Phrasen wegschwemmte. Es dürfte ihm auch, um so höher anzurechnen sein, daß er, obgleich selbst durch französische Muster gebildet, doch eine deutsche Gesinnung bewahrte, und bei aller seiner Verehrung des Französischen, namentlich mit Eifer dem französischen Uebersetzungsunfuge widerstrebte. Allerdings entsprachen dem guten Willen, auf Nationalität hinzuarbeiten, seine Kräfte nicht in gleichem Maße; und der größte Vorwurf, der ihn treffen könnte, möchte der sein, das er selbst nicht Productivität genug besaß, um seine Theorie selbst praktisch zu bethätigen. Aber wenn man gerecht sein will, so wird man seinem rastlosen Streben, so oft sich auch Eitelkeit und Herrschsucht als die Motive davon aufdecken möchten, niemals die Anerkennung versagen können, ungeachtet die ursprünglich von Burcard Mencken 1697 zu Leipzig gestiftete, von Gottsched 1727 erneuerte, deutsche Gesellschaft die erwünschten Früchte nicht trug; und ungeachtet auch seine 1748 erschienene »Grundlegung der teutschen Sprachkunst,« nicht minder wie seine »kritische Dichtkunst« (1729), seine »Redekunst« (1728–36) und seine »Weltweisheit« (1734) von den Schlacken peinlicher Pedanterie strotzte. Dafür aber wird sein Verdienst um Wortkritik ein bleibendes sein; wie er denn auch durch seine »Beiträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit« (Lpz. 1732–1744, 8 Bde.) Anregung und Stoff zum Forschen in vollem Maße gab. Mag es nun auch um seine eigenen Geistesproducte stehen, wie es wolle, so hat er doch wenigstens durch Wort und Schrift und durch viele für seine Ansichten gewonnene Schüler die Liebe zur Muttersprache angefacht, und ihre Befreiung vom Joche des



____
12

Auslandes kräftig angeregt. In dieser Absicht zog er mit gleicher Freimüthigkeit gegen die französische Akademie, wie gegen die lateinische Schulpedanterie zu Felde. Man erstaunet in der That, wenn man den Umfang seiner Wirksamkeit überschauet, und die Masse von Schriften in Anschlag bringt, durch welche er auf seine Pläne hinwirkte. Außer den genannten und unzähligen anderen Werken, edirte er z. B. die Zeitschriften: »die vernünftige Tadlerin 1725;« den »Biedermann 1727;« den »neuen Büchersaal 1745–1750;« das »Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1751 – 1762« u. s. w. Ein unbestreitbares Verdienst hat er namentlich um Begründung des deutschen Theaters, auf welchem er bereits 1728 einer Madame Neuber eine gemessene Haltung beibrachte; wofür ihn die gute Frau undankbarer Weise später, im J. 1741, selbst von der Bühne herab lächerlich machte. Wässerig und steifaufgestutzt wie sein »Cato« (1731) auch war, so muß derselbe doch immer als der erste dramatische Versuch, welcher Aufsehen machte und Nacheiferung erweckte, anerkannt werden. Das Lessing einen Gottsched von der Bühne verdrängte, und ihm in den Literaturbriefen 1759 alles Verdienst absprach, war leider nothwendig, und auch sehr heilsam; weil aus dem unermüdlich thätigen Schutzherrn der Bühne ein ruhmrediger Alleinherrscher geworden war. Jetzt aber, wo persönliche Interessen schweigen, ist es an der Zeit, das rechte Maß wieder herzustellen. Das Gottsched 1737 mit Hülfe der Madame Neuber den Harlekin von der Bühne verbannte, darüber ist ihm selbst noch in neuester Zeit bitterer Tadel geworden. Ob aber mit Recht, das fragt sich; denn auf welcher Stufe würde die Bühne vielleicht noch stehen, ohne diese heilsame Reform! Hätte er mit dem Harlekin nur leider nicht auch den Shakespeare, Tasso, Milton, Klopstock und alles wahre Gefühl austreiben wollen! Daß sich Lessing auch des Harlekins



____
13

eifrig und capriciös gegen Gottsched annahm, hatte seinen Grund darin, daß Lessing nicht ohne Weiteres die ganze Gattung vernichtet wissen wollte, welche zwar für die höhere Bühne, aber nicht für das Volkstheater entbehrlich ist. Wenn Gottsched auch die Oper anfeindete, so hatte er selbst darin gewissermaßen Recht; weil er voraussah, daß sie das reine Drama beeinträchtigen würde, eine Befürchtung, die, wenn wir auf die Unnatur unserer heutigen Bühne blicken, sich auf das Allerbeklagenswertheste bestätigt hat. Leider schadete er sich in den Augen seiner Mitwelt am meisten dadurch, das er das Schlachtfeld räumte, und sich von der Zeit an gänzlich von der Bühne abwandte, als er zum zweiten Male von den Bretern herab lächerlich gemacht worden war, und zwar durch Heinr. Gottfr. Koch, gegen dessen ersten Versuch einer deutschen Oper in Leipzig, einer Uebersetzung des: „The devil to pay,“ wozu auch Weiße einige Nummern componirte, er sich fruchtlos aufgelehnt hatte. Selbst die Fessel, welche Gottsched dem Genius anlegte, war nicht ohne Nutzen, weil es bisher, außer dem längst vergessenen Opitz, Niemandem hatte recht gelingen wollen, den ungebändigten Aufflug zu regeln und zu leiten. Daß er den Leitfaden zu einer Zwangsjacke machte, und dieselbe fester zuschnürte, als er gesollt hätte, ist ihm theuer zu stehen gekommen; indem der bis zu sclavischer Demuth eingeschüchterte Schüler unbarmherzig auf den Magister losschlug, als zu harter Druck die Fessel zersprengt hatte. Man darf ihm allenfalls auch noch das Zugeständnis machen, daß er weniger die Nation, als die Nation ihn verdarb; weil man ihn, eben so, wie gleichzeitig den Bodmer und Gleim, und später den Goethe stabil, und durch das Stagniren bald anrüchig machte. Jedenfalls ist er ein sehr lehrreiches und abschreckendes Beispiel für alle literarischen Charlatane und Despoten. Vielleicht würde er noch heute als ein



____
14

hochgepriesener Beglücker seiner Nation in dankbarem Andenken stehen, wenn er nicht alle seine Verdienste durch Aufgeblasenheit vernichtet, und wenn er statt der Feindschaft, sich die Liebe seiner Zeitgenossen zu erwerben verstanden hätte.

Einen unmittelbaren politischen oder kirchlichen Einfluß auf den Entwickelungsgang der deutschen Literatur vor, oder bis zu der Gottsched'schen Epoche darf man nicht voraus setzen. Die Höfe, welche so oft unter ihrem behaglichen Schutze die Keime der Kunst und Wissenschaft zur Reife brachten, (wenn auch meistentheils nur als Treibhauspflanzen,) wirkten damals höchst störend auf die Literatur ein. Sie standen ja selbst fast alle unter dem Einflusse des absoluten und abgeschmackten Hofes zu Versailles. Man gatterte den ganzen Parnaß in die Avenüen des Hofgartens ein, und erhob die Musensöhne, unter dem Charakter von Hofpoeten, zu arkadischen Schäfern, welche unter Anrufung aller Quellen- und Heckenymphen, den Sternen das Lob ihres brotspendenden Beschirmers zugleich mit dem Lobe ihrer gepuderten Dulcinea verkündeten. Diesem Ungeschmacke, der, wie schon bemerkt, lange vor Gottsched's Zeit herrschend geworden war, suchte auch schon früher Barthold Heinrich Brockes (geb. 1688, st. 1747) entgegen zu arbeiten. Dieser Mann, der Liebling Wieland's und Herder's, sang in wahrhaft gefühlvollen Weisen das Lob der Natur, sich selber fern von dem Glanze und der Bestechungskunst der Höfe haltend. Er machte es dem Deutschen erst fühlbar, wie arm dieser an wahrhaft selbstständigen Kunstproductionen sei; und nachdem der deutsche Genius sich selbst beschämt seine Schwäche hatte eingestehen müssen, hob er sich durch eigene Machtvollkommenheit aus dem Staube der Kriecherei empor, und weckte durch eigene Schöpfungen den schaffenden Trieb unter seiner Nation. Ueberhaupt darf man nicht unbedingt das Zeitalter Gottsched's mit dem



____
15

Stempel der Geistlosigkeit brandmarken. Unmittelbar vor, mit und nach ihm thaten sich hoffnungsvolle Talente auf, welche größeren Einfluß gewonnen haben würden, hätten sie mit den Waffen der Kritik ihre Bestrebungen zu unterstützen vermocht. Außer einem Canitz (geb. 1654) und Christian Wernike (geb. um 1665), welche Beide sich mit ehrenhaftem, aber leider fruchtlosem Eifer der französischen Sprachmengerei widersetzten; außer einem Michael Richey (geb. 1678) und Drollinger (geb. 1688), denen Allen es nur mehr oder minder an wahrer Frische und Originalität fehlte; außer Christ. Ludw. Liscow (geb. 1701), einem vielleicht der größten Satiriker Deutschlands, der leider die gewaltige Geisel seines Spottes an zu unwürdigen Gegenständen übte, stellt sich dem Blicke zunächst Haller dar (geb. 1708, st. 1777), ein treuer Verbündeter der schweizer Kritiker gegen Gottsched, und, als Mitherausgeber der göttinger gelehrten Anzeigen, deren er sich zum Organ für seine Polemik bediente, ein nicht unmächtiger. Haller bewährte sich als ein mit Kraft und Geistesfrische begabter Poet in seiner lehrreichen und ergreifenden Schilderung des Gemüths- und Naturlebens, wenn auch seine Sprache nicht ganz correct, und seine Pinselführung in der Nachahmung Thomson’s befangen ist. Dasselbe gilt von Friedrich von Hagedorn (geb. 1708, st. 1754), der mit weniger Phantasie, als gesundem Verstande begabt, bei geläutertem Geschmacke und zartem Gefühle, durch die Grazie seiner Darstellung dem Volke bei weitem zugänglicher geworden sein würde, hätte er weniger durch die Nachahmung seiner brittischen Vorbilder und durch die schwere Last seiner Gelehrsamkeit seine Originalkraft gebrochen.

Zwei gefährliche Gegner erstanden dem leipziger Dictator in den beiden Kritikern Bodmer (geb. 1698, st. 1782) und Breitinger (1701, st. 1776), ungeachtet diese selbst in



____
16

productiver Hinsicht sich zu keiner besonderen Stufe erheben konnten. Während jener als ein rüstiger Vorkämpfer muthig, wenn auch oft unvorsichtig in den Streit ging, deckte dieser durch das schwere Geschütz seiner Gelehrsamkeit und durch seine achtunggebietende Haltung die Stellung des Freundes. Wir haben bei einem Sänger, wie Bodmer, welchen die Muse erst in seinem fünfzigsten Lebensjahre zum Gesange animirte, nicht besondere Virtuosität oder hinreisendes Feuer der Phantasie zu erwarten. Doch ist um so mehr der Impuls anzuerkennen, den er durch seine scharfe, wenn auch nicht immer gerechte Kritik, *) und durch Hinweisung auf das noch zu erstrebende Ziel dem Deutschen gab. Dennoch kann man in den Hauptpunkten des Streites, den diese Männer mit Gottsched führten, nicht ohne weiteres über Letzteren den Stab brechen, indem er mit derselben Hartnäckigkeit die französische Literatur verfocht, mit der jene die englische anpriesen; indem er den Reim für nothwendig, jene Beiden denselben für entbehrlich hielten; und indem er die Nachahmung der Natur empfahl, während jene die Sittlichkeit als Princip der Kunst aufstellen wollten. Gab auch Gottsched die erste Veranlassung zu dem erbitterten Federkriege dadurch, das er den Milton verachtete, welchen Bodmer übersetzt hatte, und das er Bodmer's Vertheidigungsschrift: »Ueber das Wunderbare« lächerlich machte, so muß man auch andererseits bedenken, wie weit Bodmer in seiner Kritik die Grenzen der Mäßigung und Umsicht überschritt, und wie unbeschreiblich geschmacklos seine
____
*) Discurse der Maler, Ztschr. 1721; die Fortsetzung davon: der Maler der Sitten.
Sammlung der zürcherischen Streitschriften, zur Verbesserung des deutschen Geschmackes wider die Gottsched'sche Schule, 1741–44. Bodmer's und Breitinger's kritische Briefe. Zürich, 1746. Neue kritische Briefe, 1749.
Crito, eine Monatsschr. 1756, 1 Bd.
Archiv der schweizerischen Kritik, 1 Bd., 1765, etc.



____
17


Uebersetzung des Milton genannt werden muß. War Gottsched daher ein geistloser Reimschmied, so war Bodmer ein ungewaschener Schwätzer und prosaischer Sylbenstecher; war jener ein Nachahmer, so war dieser ein geistloser Copist; wenn Bodmer es sich zum Ruhme anrechnete, das Niebelungenlied, die Minnesänger, den Boner und Eschenbach ans Licht gezogen zu haben, so hatte dieser den Reinecke Fuchs, den Renner und andere alte Documente der Nationalliteratur aus dem Staube der Bibliotheken hervorgesucht; wenn jener aber den Witz für eine Krätze des Geistes und die Musik für gänzlich verdammlich erklärte, wenn er mit derselben Schonungslosigkeit über einen Hans Sachs den Stab brach, wie über Gellert und überhaupt die geachtetsten Literaten seiner Zeit, und mit seinen »unäsopischen,« aber auch ungenießbaren Fabeln sich selbst einem Lessing gegenüberstellen wollte, und auf gleich unanständige Weise einen Gerstenberg, Weiße und Andere parodirte, so hatte er ohne Frage eben so sehr Unrecht, wie Gottsched, der den Klopstock gern zu Boden geworfen hätte, und einen dicken Trumpf gegen seine rebellischen Zeitgenossen ausspielend, noch in der Vorrede zu Neukirch's Gedichten zu sagen die Dreistigkeit hatte: »Das güldene Zeitalter unserer Poesie muß in denen Zeiten gesuchet und festgesetzet werden, da Besser und Canitz, Neukirch, Günther und Pietsch gelebet und geschrieben haben.« Muß man nicht erstaunen über die Blödsinnigkeit eines Mannes, dessen Zeitgenossen ein Haller, Rabener, Gellert, Liscow, Kleist, Gleim, Hagedorn, Kästner, Uz, Cramer, und Andere waren? Und wenn wir nun gar auf zwei von den Sternen erster Größe blicken, welche damals im Aufsteigen begriffen waren, auf Lessing und Klopstock (geb. 1724, st. 1803). Auf Lessing werden wir später zurückkommen; deshalb hier nur einige Bemerkungen über Letzteren.



___
18

Erwägt man die ganze Bedeutsamkeit Klopstock's, so begreift man kaum, das er bei aller Anerkennung und gerechten Bewunderung, die er fand, nicht einen nachhaltigeren Einfluß auf die deutsche Literatur gewonnen hat. Zu groß und zu schroff, um sich Anderen anzuschließen, oder das Nahekommen verwandter Geister wünschen zu können, ging er selbstständig seine Bahn, und schuf sich mühsam eine Sprache, mit deren ungewohnten Harmonieen er das Ohr seiner Mitwelt berauschte. Dieser musikalische Ausdruck der Sprache ist seine Hauptstärke, ohne daß er jedoch strenge genommen lyrisch wäre; weil er zu sehr melodramatisch ist. Für das eigentlich Drastische aber mit raschem Entwickelungsgange, hat er bei der Dürftigkeit des Stoffinteresses und bei der Unbestimmtheit seiner Charakterzeichnung weder durch seine Dramen, noch durch seine Messiade Befähigung gezeigt. Auch suche man nicht die Sprache der Natur bei ihm, da seine Künstelei, seine Unklarheit, sein Schwulst die wahre Natur nicht recht aufkommen ließ. Sein burschikoses Geriren, und der bis an's Komische streifende Purismus seiner teutschthümelnden Orthographie schmälert ohnehin den Genuß seiner Lectüre. Auch suche man eher Empfindung, als tiefe und neue Gedanken bei ihm, da das Ueberraschende und Tiefe des Gedankens oft nur auf Sprachkünstelei hinausläuft; wiewohl auch selbst seine Empfindung sich häufig nur in Empfindelei und in Sprachschärfe auflöst. Wer jedoch diese verschränkte Sprache Klopstock's richtig würdigen will, muß sich durch die Räthsel und dunkelen Schönheiten der Skaldenpoesie durchgearbeitet haben. Die deutsche Nation hat das Unglück gehabt, ihrer Nationalreligion, ihrer ursprünglichen Verfassung, ihrer Sitten, Gebräuche, ihrer Geschichte, ja selbst aller alten heimischen Sympathieen beraubt zu sein. Klopstock's ganzes Bemühen war auf Wiedergewinnung einer nationalen Cultur-Basis



____
19

vermittelst deutscher Geschichte und Mythologie gerichtet; und seine Bestrebungen sind auch, freilich erst später, von den segensreichsten Erfolgen durch ein erwachtes Nationalbewußtsein gekrönt worden. Je mehr wir auf diesem Wege fortschreiten, und je mehr wir uns von unserem Eigenthume wieder errungen haben werden, um so mehr wird Klopstock's Streben in seinem hohen Werthe gewürdigt werden. Wie er denn freilich durch den eben auftauchenden Ossian zu dieser Richtung veranlaßt wurde, so ist er trotz der Allgewaltigkeit seines Genius auf allen von ihm betretenen Bahnen im Grunde doch nur als Erweiterer und Nachahmer zu betrachten. In der Ode ahmte er die Classiker nach, aber mit dem Erfolge der Weiterführung; im Kirchenliede hatte er vaterländische Vorbilder, die er bei weitem an Kraft und Schwung übertraf. Leider aber läßt er dabei empfinden, daß er die moralische über die poetische Schönheit setzt. So glänzend er das christliche Epos durch seinen Messias in Deutschland einführte, so darf man doch nicht vergessen, das ihm zu diesem Genre der von ihm freilich weit überflügelte Milton anregte; daß ihm vorhandene Oratorientexte eine gewisse Norm dafür an die Hand gaben, und daß ihm Hendel's Melodieen die Melodie seiner Worte erleichterte. Auch ist zu beklagen, daß er über der Vollendung dieses Werkes mehr als ein viertel Jahrhundert (1748 bis 1773) verstreichen ließ, und dem Gedichte daher nichts fühlbarer fehlt, als ein rascher und ganzer Guß. Findet man bei Klopstock auch nicht das Nationale der Form, so ist er doch als Schöpfer und Meister der Metrik anzuerkennen; gebricht es ihm auch im Kunstfache an Tiefe der Kritik, und für das Leben ihm, der nur in der alten Zeit lebte, an Verständnis seiner Zeit, die ihn deshalb wiederum sehr bald vernachlässigte, so stellt er sich uns um so ehrwürdiger dar durch seinen hohen Freiheitssinn und seine glühende Vaterlandsliebe.



____
20

So beschaffte er überall auf dem Felde nationaler Dichtung das Material des Dichters, und sondirte den Boden des Aufbaues; darum gebührt ihm auch nicht der Lorbeer, der im üppigen classischen Boden wuchert, sondern der Kranz der deutschen Eiche, in deren Schatten er so oft seine Mitwelt zur Begeisterung emporhob.

Fragen wir nun, weshalb trotz dem Vorhandensein so mannigfaltiger Lebenselemente, die deutsche Literatur zu keiner vollen Lebensthätigkeit gelangen konnte, so darf diese betrübende Erscheinung nur dem Umstande zugeschrieben werden, daß es an einem wahrhaft beseelenden Lebensprincipe fehlte. Die Bahnen der Wirksamkeit waren noch nicht abgesteckt, man hatte kein sicheres Ziel, konnte sich über die Regeln und Bedingungen eines gemeinsamen Wettstreites eben so wenig einigen, als verhindern, daß sich die Kräfte auf getrennten Wegen vereinzelten und erschöpften. Den ersten Impuls zur Sammlung der verschiedenen Elemente und deren Richtung auf ein festes Ziel gab Joh. Joachim Schwabe (geb. 1714, st. 1784) als Herausgeber der »Belustigungen des Verstandes und Witzes« (Lpz, 1741 bis 45, 8 Bde.). »Weil aber,« sagt Wachler *) sehr wahr, dieser schriftstellerische Kreis bald zu bunte Mischung annahm, und von Schwabe zu viel Gottsched'sches, selbst Schlechtes in die Belustigungen zugelassen wurde, so sagten sich die besseren Köpfe von diesem Vereine los und legten eine andere Sammlung an, welche nach strengerem Grundsatze geleitet wurde und als eine der geschichtlichen Grundlagen unserer veredelten neueren Nationalliteratur zu betrachten ist. So entstanden die von C. Chr. Gärtner herausgegebenen »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (Bremen
____
*) Wachters Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur, 1818, II. p. 122.



____
21

1744 bis 1748, 6 Bde. – »Mit der Verbreitung dieser Zeitschrift,« bemerkt auch Bouterwek *) sehr richtig, »also mit dem Jahre 1744, fängt das Ansehen der sächsischen Schule, die sich von der Gottsched'schen absonderte, in der deutschen Literatur an.« – Die Kritik, welche durch Lessing's beseelenden Mund einen frischen Lebensgeist erhielt, säuberte in vielem neugegründeten Zeitschriften, von denen der freisinnige Christlob Mylius (geb. 1722) allein fünf ins Leben rief, die durch Aftergeschmack entwürdigten Gebiete der schönen Wissenschaften. Von den Männern, welche die »Neuen Beiträge« unterstützten, mögen außer Gärtner nur noch genannt sein: Mylius, Cramer, Klopstock, J. Ad. Schlegel, J. E. Schlegel, Kleist, Rabener, Giseke. Gleim, Ramler, Ebert, Schmid, Zachariä und Gellert, ohne den Nutzen in Anschlag zu bringen, der aus dem näheren Verhältnisse dieser Männer mit anderen gleichstrebenden Zeitgenossen für den besseren Geschmack erwachsen mußte. In wiefern nun die oben bezeichnete Literaturepoche Braunschweigs wirksam in die allgemeine deutsche Regeneration der Literatur eingriff, muß uns am klarsten einleuchten, wenn wir alle jene in Braunschweig für das große Ganze unermüdlich wirkenden Literaten näher ins Auge gefaßt haben werden; und ein gelegentlicher Blick auf die im Anhange erörterten Verdienste des Regentenhauses Braunschweig um Kunst und Wissenschaft im Allgemeinen, und um den hier vorliegenden Abschnitt ganz insbesondere, wird dieses Verständnis sehr erleichtern. –
____
*) Bouterwek's Geschichte der Poesie und Beredsamkeit. Götting, 1819, XI. p. 161.



___



____


Zweiter Abschnitt.

Braunschweigs literarische Notabilitäten in den Jahren 1745–1800.


____




____


1. Jerusalem.

Vor allen Anderen begegnen wir hier einem Gelehrten, der in Ansehung seines Berufes und Wirkungskreises aus der Reihe der schönen Geister ausgeschlossen sein würde, hätte er sich nicht durch freisinnige Ansichten und durch seine Verdienste um Läuterung des Geschmacks in der schönen Literatur einen der ersten Ehrenplätze unter seinen Zeitgenossen errungen. Dieser Mann ist Jerusalem, der hochverdiente Gründer des Collegiums Carolinums zu Braunschweig, und hiedurch zugleich eine der festesten Stützen der neuen besseren Literaturrichtung. Dieser Ruhm gebührt ihm, ungeachtet sich der friedliebende Mann fern von allen Parteikämpfen hielt, und ungeachtet er auch nicht einmal als Lehrer an gedachtem Institute fungirte. Joh. Friedr. Wilhelm Jerusalem, *) aus einer holländischen Familie abstammend, welche in Antwerpen ansässig
____         
*) Vergl. Jerusalem's Autobiographie, im 2. Thle seiner nachgel. schrn. Brschw., 1793.
Jerusalem's letzte Lebenstage v. J. F. F. Emperius. Lpz., 1790.– - (Ein Auszug daraus in: Wolfrath's Charakteristik edler u. merkw. Menschen, I.)
Ueber J. F. W. Jerusalem, v. J. J: Eschenburg. Berlin, 1791 (Auch in der deutsch. Monatsschrt., 1791, V. p. 97 bis 135.)
Ein biograph. Abriß Jerusalem's, v. Heinr. Döring, in Ersch u. Gruber‘s allgem. Encyklop. d. Wissenschaften u. Künste. 2. Sect. XV. Lpz., 1838, p. 266 bis 273.


____
26

gewesen, aber durch Alba’s wüthende Verfolgung von dort vertrieben worden war, wurde am 22. Nov. 1709 zu Osnabrück geboren. Er war der Sohn des dortigen Superintendenten Theod. Wilh. Jerusalem, eines gelehrten Mannes, der die ausgezeichneten Anlagen seines Sohnes zu früher
____
Lebensgesch. J. F. W. Jerusalem's, von einem seiner Verehrer. Altona, 1790. –
 J. C. S   trodtmanns Gesch. jetztlebender Gelehrten, X. Zelle, 1746, p. 331 bis 345.
J. Möser's verm. Schrn., her. v. Frdr. Nicolai. Berlin, 1798, II. p. 130. –
Allgem. Litrzeit., 1791, II. N. 140, p. 315.
Jörden's Lexikon deutscher Dichter u. Prosaisten, II. p. 506, VI. p. 359. –
Meusel's Lexikon der v. J. 1750 bis 1800 verstorb. deutschen Schriftsteller, VI. p. 259. –
Kirchen- u. Ketzer-Alman. auf d. J. 1781, (v. Bahrdt) p. 85 bis 86.
Horrer's Alman. für Prediger auf d. J. 1791, p. 148 bis 171. –
Joh. Rud. Gottl. Beyer’s allgem. Magazin für Prediger I. 1. St. u. Nachtr. p. 111 bis 114. –
Weddingen‘s neues westphäl. Magaz. 5. Heft, p. 45. –
(Salzmann’s) Denkwürdigkeiten aus dem Leben ausgez. Deutschen, p. 458. –
Baur's Gallerie, histor. Gemälde, III. p. 408 bis 413. –
Baur's neues, histor. biogr. liter. Handwörterb., II. p. 886. –
C. J. S. Bougine's Handb. d. allgem. Litrgesch., IV. Zürich, 1791, p. 347. –
(Küttner's) Charaktere deutscher Dichter u. Prosaisten. Berlin, 1780, II. p. 291 bis 293 –
Pölitz, Hanob. zur Lectüre der deutschen Classiker, I. p. 121.
Eichhorn's Gesch. der Lit., IV. 2. Abthl., p. 1054. –
Bouterwek's Gesch. der Poesie u. Beredsamk, XI. Göttingen, 1819, P. 329. -
Franz Horn's Poesie u. Beredsamk. der Deutschen, III. p. 277. –
Hamb. Ber., 1742, N. 59. –
Ueber Jerusalem's Grabmal: Brschw. Magaz., 1789, St. 47. –
Hamb. Adreß-Comptoirnachrichten, 1789, St. 95. –
Beschreib. des Denkmals für Jerusalem: Allgem. deutsche Biblioth, XC. p. 617. –
Saxii Onomast. lit. VI. p. 277. –
Hirsching’s Handb. –
Denkwürdigkeiten aus dem Leben ausgezeichneter Deutschen des 18. Jahrh., p. 458 bis 461.
Die Kirchengesch. des 18. u. 19. Jahrh., aus dem Standpunkte des evangel. Protestantism. betrachtet, in einer Reihe von Vorlesungen, v. K. R. Hagenbach, Lpz., 1842, I. p. 345 etc.



____
27

Entwickelung brachte; leider aber diesem schon in seinem funfzehnten Lebensjahre entrissen wurde. Nachdem der junge Jerusalem auf einer benachbarten Pensionsanstalt die Elemente der classischen und orientalischen Sprachen erlernt hatte, kam er auf das Gymnasium zu Osnabrück. Um sich dem Studium der Theologie zu widmen, bezog Jerusalem 1724, freilich erst funfzehn Jahre alt, doch vollkommen vorbereitet, die Universität Leipzig; wo er die Vorlesungen der Theologen Börner, Carpzow, Deyling, Klausing und des Mathematikers Hausen frequentirte. Hier wurde er auch durch Gottsched in Wolf's Philosophie eingeweihet, und trat in die deutsche Gesellschaft ein, deren Erneuerer und Senior jener vielverkannte Gottsched war, der äußerst anregend auf junge Talente einzuwirken verstand, die sich ihm gerade nur nicht ganz gefangen dahingaben; und der auch zuerst die in diesem vielversprechenden Jünglinge schlummernde Gabe der Beredsamkeit weckte, und eine von ihm in jener Gesellschaft gehaltene Rede in den »Proben der deutschen Beredsamkeit« abdrucken lies. Nachdem Jerusalem in seinem einundzwanzigsten Jahre zu Wittenberg den Magistergrad erlangt hatte, kehrte er in seine Vaterstadt zurück. Doch sein stets rastloser Drang nach Wissen trieb ihn 1727 wiederum in die Fremde hinaus, und fesselte ihn in Holland auf zwei Jahre, wovon er das erstere ganz dem Aufenthalte in Leyden widmete, wo er sich der Belehrung und des näheren Umganges eines Schultens, Burmann, Muschenbroeck und Gravesande zu erfreuen hatte. Auch besuchte er die bedeutendsten Städte Hollands, und übernahm im Haag sogar auf einige Zeit die Predigten in der deutsch-lutherischen Kirche. Hierauf begleitete er als Hofmeister zwei junge Edelleute auf die neugestiftete Georgia zu Göttingen, und benutzte seinen dortigen dreijährigen Aufenthalt im Umgange mit den tüchtigsten Lehrern dieser Hochschule,



____
28

vorzüglich mit ihrem Stifter, dem hochverdienten Minister von Münchhausen, zur Sammlung aller der herrlichen Ideen, welche ihn später bei Gründung einer ähnlichen Anstalt leiten sollten. Auch England, mit dem Schatze seiner philosophischen Bildung und zugleich als das Heimathland der Beredsamkeit, übte so viel Anziehungskraft auf ihn, daß er demselben drei Jahre einer Studienreise widmete. Um sich im Kanzelvortrage zu üben, ließ er sich zwei Mal in der Königl. Capelle hören. Die persönliche Bekanntschaft der Bischöfe Potter, Sherlock und Thomas, und einiger Gelehrten, von Waterland's, Whiston's, Foster's, Pierre des Maizeaux und des deutschen Arztes Lieberkühn Distinction, mußte auf sein erregbares Wesen von mächtigster Wirkung sein. Endlich kehrte er 1740 nach seinem Vaterlande zurück, fand in Hannover an seinem Hausgenossen, dem Minister von Schwicheldt, einen liebreichen Gönner, und erhielt auch von diesem die Aufforderung, als Gesandschaftssecretair mit nach Berlin zu gehen. Doch seiner Theologie getreu, blieb er in Hannover, und übernahm die Erziehung des einzigen Sohnes des Feldmarschalls von Spörken, in dessen Hause, wie auch in der Familie des Landdrosten von dem Busche, ihm die herzlichste Freundschaft entgegenkam. Dem Wohlwollen des Ministers von Münchhausen verdankte er Anträge nach Göttingen; aber bei der einmal gewonnenen Vorliebe für England, hegte er immer den stillen Vorsatz, im Gefolge des Königs von Großbritannien, der zum Besuche in Hannover eingetroffen war, dorthin zurückzukehren, und auch dort sein Fortkommen zu suchen. Da erhielt er plötzlich vom Herzog Carl von Braunschweig die Aufforderung eines Besuches nach Wolfenbüttel, und wurde durch die höchst huldvolle Weise, mit welcher dieser geistvolle Fürst sein Vertrauen zu gewinnen wußte, dazu vermocht, als Gouverneur des Erbprinzen Carl Wilh. Ferdinand,



____
29

unter dem Charakter eines Hof- und Reisepredigers, braunschweig'sche Dienste zu nehmen. Im J. 1742 am Sonntage Reminiscere hielt er mit höchstem Beifalle zu Wolfenbüttel seine Gastpredigt, trat auch noch in demselben Jahre seine Function an; wurde 1743 zum Propste der Klöster St. Crucis und St. Egidii; 1748 von der Universität Helmstädt zum Doctor der Theologie; 1749 zum Abte von Marienthal; 1752 zum Abte von Riddagshausen; 1771, nachdem er aus Dankbarkeit gegen seinen neuen Landesherrn die ihm im Jahre zuvor von Friedrich dem Großen angetragene Abtei zu Kloster Berge, und bald darauf auch den Ruf als Canzler der Universität Göttingen abgelehnt hatte, zum Oberhofprediger und zum Vicepräsidenten des wolfenbüttler Consistoriums befördert. Ja, später war es sogar die Absicht, ihn, der durch Weltbildung, Umsicht und Energie so würdevoll unter seinen Zeitgenossen dastand, zum Minister zu erheben; allein Jerusalem wandte sich wiederum von der sich ihm nun schon zum zweiten Male eröffnenden diplomatischen Laufbahn zurück, weil er doch noch weit höhere Begriffe von dem Berufe eines Gottesgelehrten hatte. Durch den Grafen von Manteuffel ward er auch zum Mitgliede der Societas Aletophilorum ernannt.– Bald nach seiner Ankunft in Braunschweig hatte er, wie sich der edle Mann in seiner anspruchlosen Autobiographie ausdrückt, »eine sehr vollständige Unterredung mit dem Durchlauchtigsten Herzoge und seinem Minister über die bessere Einrichtung des gelehrten öffentlichen Schulunterrichts. Dieser Unterredung zufolge, entwarf er den Plan von dem noch blühenden Collegio Carolino, führte ihn nach dessen Genehmigung im folgenden Jahre aus, ordnete die ganze kostbare Einrichtung, wählte die Lehrer und Hofmeister, bestimmte die darin zu lehrenden Wissenschaften, die Art der Lectionen.« *) u. s. w.
____
*) Jerusalems nachgelassene Schriften Brschw., 1793, II. p. 24.



____
30

Dieser Entwurf über die Gründung der trefflichen Anstalt *) zeugt von Geschmack, freisinnigem und praktischen Blicke. »Man kommt,« sagt Jerusalem, **) »von den gelehrten Anstalten mit einem Schatze von rohen Edelsteinen zurück, die weder geschliffen noch gefaßt sind, und die mit den unedleren Steinen, womit man sie aufrafft, beständig vermischt bleiben.« Nach seiner Absicht sollten daher, bei einer tüchtigen und praktischen Unterlage der Fachwissenschaften, hauptsächlich die sogenannten schönen Wissenschaften und Humaniora, besonders die Pflege der Muttersprache zur Erweckung eines besseren Geschmackes die allerwichtigsten Gegenstände des Unterrichts werden; indem er sich überzeugt hielt, das nicht das materielle Wissen, sondern der Geist es sei, der lebendig mache, und daß, weil die Schönheit die Krone der materiellen und geistigen Welt, und das Endziel der Wahrheit und Sittlichkeit ist, vorzugsweise durch Belebung des Schönheitsinnes auf eine wahrhaft harmonische Bildung hinzuwirken sei. Um seinem Ziele mit um so größerer Sicherheit nahe zu kommen, veranlaßte Jerusalem, daß Literaten von Auszeichnung und Ruf in's Land gezogen und gerade mit diesen Unterrichtszweigen beauftragt wurden, wodurch Braunschweig zugleich ein Richtpunkt dieser neuen Bahn werden mußte. »Wie nun dieses Collegium,« sagt er selbst, »zur Aufnahme des guten Geschmackes und bon-sens in diesem Lande errichtet wird; so müßte auch hernach die Universität Helmstädt so eingerichtet werden, das beide daselbst noch weiter fortgebildet würden; und, so wie andere Akademien ihr Abzeichen haben, diese eine Akademie du bon-sens mit der Zeit könnte genannt werden.« – Unberechenbar ist der Segen, den das am 5. Juli 1745 eröffnete Carolinum als das erste und einzige
____
*) Entwurf von der Einrichtung des Collegi Carolini zu Braunschweig.
**) Nachgel. Schriften, II. p. 79.



____
31

derzeitige Institut, welches hauptsächlich auf Veredlung des Geschmackes hinarbeitete, durch die vielen in ihm gebildeten Zöglinge über ganz Deutschland verbreitete; und wie bald schon sich der glückliche Erfolg von Jerusalem's Bemühen sehr merklich herausstellte, beweisen die dem würdigen Gründer gemachten Versicherungen eines Gellert, Ernesti, Kästner, Heyne und Anderer, das vor allen ihren Zuhörern sich die Studirenden des Carolinums durch Fleiß und gute Sitten auszeichneten. *) Die Blüthe des Carolinums reichte freilich nicht über Jerusalem's Leben hinaus, weil Niemand im Stande war, die Stelle dieses hellblickenden Mannes zu ersetzen, der, mit seinem Herzen voll aufrichtigster Menschenliebe, Alles mit Liebe zu beherrschen vermochte. Die höchste Blüthe datirt sich auch eigentlich erst von dem Zeitpunkte an, wo ihm durch den Abgang der Mitcuratoren als alleinigem Curator gänzlich freie Hand gelassen wurde. Auf Anrathen des bescheidenen Mannes war nämlich anfänglich die Oberaufsicht dieses Institutes dem allgefeierten Joh. Lorenz von Mosheim anvertrauet worden, der als Professor der Theologie, als Kirchen- und Consistorialrath, zugleich als Abt von Marienthal und Michaelstein und als Generalinspector aller Schulen im Fürstenthum Wolfenbüttel, zu Helmstädt lebte, bis er 1747 als Canzler der Universität nach Göttingen ging. Allein bei der Entfernung von Braunschweig konnte Mosheim außer dem Renommee seines Namens dem Carolinum nicht viel Förderndes zuwenden, und die beiden anderen Mitcuratoren, Hofrath von Erath und Generalsuperintendent Dr. Köcher, waren nicht eben die Leute danach, Jerusalem's Intentionen ganz zu begreifen. – Mit Beschämung müssen wir von der Pedanterie
____
*) Entwurf einer Gesch. des Collegii Carolini in Brschw., von J. J Eschenburg. Berlin u. Stettin, 1812, p. 24.



____
32

so mancher Bildungsanstalten unserer Tage zu dem weisen Stifter des Collegiums zurückblicken, zumal wenn wir erwägen, mit welchen Hindernissen besonders diese Schöpfung zu kämpfen hatte, welche der bornirten Schulpedanterie betagter Scholastik den Gnadenstoß gab. Glaubte doch der hochgelahrte Köcher, früher ein sehr eifriger Gegner der zu gründenden Anstalt, nichts Gottseligeres thun zu können, als eine Gebetformel zu entwerfen, welche bei Morgen- und Abendandachten von den Collegianern pflichtschuldigst abgebetet werden sollte!

Jerusalem hat sich auch durch schriftstellerische Lesungen ein unvergängliches Denkmal bei der Nachwelt gestiftet. Seine Vertheidigung der deutschen Literatur *) gegen Friedrich's II. Angriffe derselben **) flößte dem Ausländer Achtung und dem deutschen Genius den Muth kräftigeren Aufschwunges ein. Wenn Gervinus ***) in Betreff dieses Werkes sich äußert: »Als jene Schrift des Königs erschien, bedurfte es kaum mehr der Widerlegung, die von guten und schlechten Autoren, sogar von Franzosen ausgingen; es that auch gar nichts, daß unter diesen Gegnern Jerusalem die deutsche Literatur so schlecht vertheidigte als die Religion gegen Voltaire, und das sich Tralles mit ihm das Wort gegeben zu haben schien, etwas zum Beweis zu liefern, daß die Deutschen dumme Teufel seien, wie der König wollte; und wenn Gervinus in einer Anmerkung die Auctorität Gleim's für diesen harten Ausspruch anführt, so ist dabei nur zu bemerken, das der preußische Stockpatriotismus noch über den deutschen bei Gleim ging,
____
*) Ueber die deutsche Sprache und Literatur, Berlin, 1781: (Auch in Heinzmann's lit. Chron., 1. p. 29 bis 59. – In Jerusal. nachgel. Schrn, II. N.7. – Auch nachgedr. –In's Franz übers von le Cocq., Berlin, 1781.)
**) Frederic II, roi de Prusse: sur la litérature allemande, 1780.
***) Neuere Gesch. der poet. National-Literatur der Deutschen, von G. G. Gervinus, Lpz., 1840, I. p. 231.



____
33

der es in seinem Herzen doch halb und halb für einen Hochverrath ansehen mußte, daß ein Jerusalem es wagen konnte, dem himmlischen Beherrscher aller Preußen öffentlich zu opponiren. Aber vor allen Dingen hat Gervinus selbst übersehen, das Jerusalem's Landesmutter, Philippine Charlotte von Braunschweig, eine Schwester Friedrich’s II, den trefflichen Jerusalem zu dieser Erwiederung veranlaßte, dem also durch die Würde seiner eigenen Person und durch, die seines Gegners, wie auch durch die Würde des Gegenstandes selbst der Ton seiner Vertheidigung auf das Allerbestimmteste vorgeschrieben war. Daß aber wirklich dieser Ton angemessen und ehrenhaft gewesen sein müsse, beweist der Eindruck, den er auf den König machte, der von diesem Augenblicke an nichts mehr bedauerte, als schon allzusehr in seinen Vorurteilen ergrauet zu sein, um noch umkehren zu können.

Jerusalem's strenge Wahrheitsliebe, seine Beobachtungsgabe und die Natürlichkeit seiner Darstellung geben seinen biographischen Versuchen einen ausgezeichneten Werth. Besonders verdienen hier seine biographischen Abrisse seiner Schüler, der Prinzen Albrecht Heinrich und Wilhelm Adolph, als Muster gemüthlicher Seelengemälde erwähnt zu werden. *)

Als Theolog steht er seines klaren, umsichtigen Blickes, seines ächtchristlichen, duldsamen Charakters, und seines plan- und lichtvollen Ideenganges wegen weit über seinen Zeitgenossen.
____
*) Leben des Prinzen Albrecht Heinrichs von Braunschw. - Lüneb., 1761, – 2. Afl., 1774. (In's Engl. übers. London, 1764. –) Glaubensbekenntnis des Prinzen Leopold. Brschw., 1769. 2. Afl., 1781.
Entwurf von dem Charakter und den vornehmsten Lebensumständen des höchstseligen Prinzen Wilh. Adolph von Br.-Lüneb. Berlin, 1771, Franz.: Ebauche du charactère et des principaux traits de la vie de S. A. le Prince Guillaume Adolphe de Br. et de Lüneb. à Berlin, 1771.



____
34

Er war unter ihnen auf dem Gebiete der Theologie vielleicht der Erste, der sich dem mühevollen Geschäfte unterzog, durch Anregung eines weisen Vernunftgebrauches Licht zu verbreiten, ohne jedoch den Standpunkt eines gläubigen Christen zu verlassen. Daher konnte denn ein so edler Mann seine Widersacher nur in Leuten von des zelotischen Jesuiten Aloys Merz gemeiner Denkungsart finden. Vor seinen anderen, gründlichen, theologischen Schriften *) haben das größte Aufsehen
____
*) Vorbereitung derer, die sich dem Predigtamte widmen. Hamb., 1760.
Im J. 1762 erschien ohne seinen Namen die erste Sammlung von Briefen über die mosaischen Schriften und Philosophie, als deren Fortsetzung und Erweiterung anzusehen sind, seine:
Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Brschw., 1768; fortges. 1772; 2. St. d. Forts. 1773; 2. Thl., 1 B., 1774; 2. Thl., 2 B. oder 4. St., 1779. – Der 4. Abschn. aus d. 4. St. ist bes. erschienen: Lehre von der moralischen Regierung Gottes über die Welt, oder die Gesch. vom Falle. Brschw., 1780. – (In's Franz. übers. Yverdun, 1770. – In's Dän. übers. von Peter Topp Wandall. Kopenh., 1776, 2. Afl, 1780. – In's Holländ. übers. mit Anmerk. v. Balth. Carull. Amst., 1772 bis 81, 3 Thle.; außerdem von A. von Wansdyk zu Delft. Ins Schwed. übers. v. Apel Gabr. Lejonhufnend. Upsala, 1783 bis 86, 3 Thle. – Es erschien auch ein Auszug daraus vom Bischof Serenius.–) (Bruchstücke daraus in: Pölitz Gesammtgebiet der deutschen Sprache. Lpz., 1825, II. p. 103 bis 107.) Nach Jerusalem's Tode gab seine Tochter Friederike Jerusalem heraus:
Fortgesetzte Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion; hinterl. Fragmente von F. W. Jerusalem; auch unter dem Titel: Nachgel. Schrn. von u. s. w., 1. Thl. Brschw., 1792: 2. Thl., 1793. – (Die im 1. Thle. enthaltenen Betracht. übers. Balthas. Carull in’s Holländ. Amsterd., 1795. –)
Vorrede zur Uebersetzung von Addison's Entwurf von der Wahrheit der christl. Religion. Hamb., 1782.
Beantwortung der Frage: Ob die Ehe mit der Schwester Tochter nach den göttlichen Gesetzen zulässig sei? Brschw., 1755. – (Auch von J. F. Gühling herausg. u. mit Anm. erläut. Chemnitz, 1755. – (Diese Schrift, welche anonym erschien, wird auch von Einigen dem Vicepräsidenten Klügel zugeschrieben; obgleich Jerusalem nie gegen die ihm vielseitig zuerkannte Autorschaft protestirt hat.)
Von der Kirchenvereinigung, ein Bedenken. Brschw, 1772. (In's Holländ. übers. Utrecht, 1774.)
Vorrede zu der von J. T. Schulze veranstalt. Uebers. der Predigten Peter Coste's. Jena, 1755.
Briefwechsel zwischen dem Herrn Abt J. F. W. Jerusalem und Joh. Franz Frdr. Amt. Meyer in Neustadt. Koburg, 1789. –



____
35

erregt seine »Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion,« von denen selbst ein Herder sagt: »das letzte Stück von Jerusalem's Betrachtungen, leider das letzte! enthält tiefe Blicke in den Geist der mosaischen Gesetze. Meines Wissens ist Jerusalem der erste Theolog in Deutschland von solchem Reichthum schöner philosophischen Kenntnisse und von dem wirklich politischem Blicke.«  *) – Die Humanität seines Geistes leuchtet besonders aus seiner (1772 wider sein Wissen in Druck gegebenen) Darlegung des Unpraktischen einer Vereinigung der römischen und protestantischen Kirche hervor. Durch seine musterhaften, einfach-edelen, dem scholastischen und mystischen Modekram gleich fernen, Kanzelvorträge  **) erwarb er sich mit Recht den Ruf nach Mosheim, der freilich mehr Schwung und Salbung und bei weitem mehr äußere Gaben
____
Von Jerusalem stehen einige Briefe in: Frdr. von Hagedorn's poet. Werken. Hamb., 1800, V. p. 302.
Ein bis jetzt noch unedirter sehr interessanter Brief Jerusalem's steht als Facsimile abgedruckt in der: »Samml. histor. berühmter Autographen; oder Facsimiles von Handschriften ausgezeichneter Personen alter u. neuer Zeit.« Stuttg., 1845, 1. Heft.
*) Herder‘s sämmtl. Wke. zur Relig. u. Theol., XIII. p. 53.
**) Sammlung einiger Predigten vor den Durchl. Herrschaften zu Brschw.- Lüneb.-Wolfenb. gehalten. Brschw, 1745 bis 1752, 2 Thle, neue Afl, 1756 bis 57, 2 Thle.
Zweite Sammlung, 1753, 1757, 1769. – (Bruchstücke daraus in: Pölitz Gesammtgebiet der deutschen Sprache. Lpz., 1825, IV. p. 148 bis 155.
Neue, mit einigen Predigten u. einer neuen Vorrede verm. Ausg, 1. Slg. Brschw., 1788.
2. Slg. Brschw., 1789. –(In's Holländ. Übers. von Balth. Carull. Amst., 1767, 2 Thle) In's Schwed. Übers.. von Sam. Oedmann; Upsala, 1784 bis 1785. -
Leichenrede auf den Landdrosten von Rhetz. Brschw., 1758. –
Zwei Landtagspredigten. Brschw., 1770. –
Rede bei der Einführung der Frau Aebtissin von Kniestädt (im Journal von u. für Deutschl., 1786, 10. St.)
Recueil de six Discours, prononcés en Allemand par. Mr. J. F. W. Jerusalem, traduits par un Anonyme (Graf von Manteuffel), et précédés d'une préface de Mr. le Baron de Wolf Leipz., 1748. –



____
36

hatte, den er jedoch wieder an philosophischer Gründlichkeit und an Gedankenfülle weit übertraf, der größte deutsche Redner seiner Zeit zu sein. Hierzu kommt nun noch eine tiefe Gelehrsamkeit, auf welche überhaupt Literaten damaliger Zeit ganz besonders hohen Werth zu legen pflegten. Jene Männer concentrirten in ihrer Person die Wissenschaft, welche sich jetzt mehr zu einem Gemeingute des ganzen Volkes zu verflachen anfängt. Jene Männer mußten sich aber auch zu einer solchen Tiefe mühseligen Forschens durcharbeiten, um ihren Nachkommen den Boden und die Bahnen einer erfolgreichen Wirksamkeit zu erringen. – Vor den meisten seiner Zeitgenossen hat Jerusalem die Weihe und Würde eines einfachen und lichtvollen Stiles voraus, und es gereicht diesem grundgelehrten und ernsten Manne gewiß nur zur Ehre, das er im Ringen nach der Anmuth der Darstellung es nicht unter seiner Würde hielt, seine sämmtlichen schriftstellerischen Arbeiten vor deren Herausgabe dem Urtheile einer geist- und gemüthvollen Freundin, der Frau des Hofpredigers Bamberger zu Pots dam, einer geborenen Sack, zu unterwerfen, *) und auch sein Werk über die Wahrheiten der christlichen Religion seinem Freunde Ebert zu strengerer Durchfeilung anzuvertrauen. Fördernd und rathend wirkte er auch wiederum selbst auf nahe und ferne Kreise ein, da er nach und nach mit den ausgezeichnetsten Schriftstellern seiner Zeit in briefliche Verbindung kam. Unter diesen unterhielt z. B. Spalding, das Münter'sche Ehepaar, Thomas Abbt, Frd. von Hagedorn und Justus Möser, dessen Tochter längere Zeit in seinem Hause lebte, eine intime Correspondenz mit ihm. Auch war er, wie für Braunschweig selbst der Mittelpunkt alles geistigen Lebens, so
____
*) Albrecht Thaer, sein Leben und Wirken als Arzt und Landwirth herausgegeb. v. W. Körte, 1839.



____
37

für alle eintreffenden Fremden von Bildung der mächtigste Anziehungspunkt. Und diese achtunggebietende Stellung behauptete er bis an das Ende seines Lebens, weil sein persönlicher Ruf den schriftstellerischen noch übertraf. Würde, und wäre er auch an Geiste tausendfach ersetzt: ein Herz von so beseelender Wärme, ein Charakter von dieser Durchbildung und lautern Gediegenheit dürfte so leicht nicht wieder zu finden sein; wenigstens nicht im Verein mit so viel Geistesgaben, ohne welche solche Herzenseigenschaften nicht in solchem Grade möglich, und wären sie's, doch nicht so werthvoll sein würden. Daher dieses Vertrauen, diese Liebe, diese Verehrung, welche er von nah und fern genoß. Allen, die sich ihm persönlich und brieflich voll Vertrauen näherten, zeigte er sich als wahrer Freund, den Schülern als ein väterlicher, dem Bekümmerten und Nothleidenden als tröstender und helfender, den Freunden und den Seinigen als ein aufopfernder und fördernder, kurz, Allen als ein Freund im höheren Sinne des Wortes. Bei seiner zarten und reizbaren Seelenstimmung würde die Lebhaftigkeit und Wärme seiner Empfindung leicht Gefahr gelaufen sein, in die Gefühlsschwärmerei der sogenannten Anakreontiker zu verfallen, hätte nicht über dieser Herzensgluth das helle Licht seines Verstandes gestrahlt. So aber wohnten in seinem Innern neben dem Gleichmuthe und der Gemüthlichkeit seiner Seele, stille Heiterkeit und harmonische Ruhe, die Gefährten höherer Geister. – Auf die Dankbarkeit braunschweig'scher Vaterlandsfreunde hat sich Jerusalem unauslöschliche Ansprüche erworben, durch die erste Anregung, welche er, der selbst äußerst mildthätig war, durch die mit einer Vorrede und Zuschrift an die Vorsteher milder Stiftungen begleitete Uebersetzung einer »Nachricht von den Armen- und Arbeits- oder Werkhäusern in England« zu den Armenanstalten Braunschweigs gab, welche später in Leisewitz einen aufopfernden



____
38

Beschirmer und Erweiterer fanden. Ein anderer großartiger Plan Jerusalem's: die Gründung einer Actiengesellschaft zur Hebung des Buchhandels kam leider nicht zur Ausführung. Seiner höchst einflußreichen Wirksamkeit an dem mit seiner Abtei zu Riddagshausen verbundenen Predigerseminare haben alle seine Schüler das unbedingteste Lob ertheilt, die gewohnt waren, in ihm mehr den väterlichen Freund, als den Vorgesetzten zu verehren, und ihm das beste Zeugnis der Dankbarkeit durch die von ihm empfangene Bildung gaben. Jerusalem's edles Herz sollte auch am Probsteine des härtesten Mißgeschickes geprüft werden. Er hatte nicht allein den Tod seiner innig geliebten Gattin zu betrauern, welche eine Tochter des Seniors Pfeiffer zu Erfurt, Wittwe des göttinger Professors Albrecht und mit ihm seit dem J. 1742 verbunden war; sondern auch den Verlust seines einzigen Sohnes. Dieser Carl Wilhelm Jerusalem, der als Jurist zu Wetzlar habilitirt, der auch ein fähiger, hoffnungsvoller junger Mann, und ein Freund Lessing's war, von welchem seine nachgelassenen Schriften 1776 edirt wurden, erschoß sich 1772 in einem Anfalle von Schwermuth. Am bedrückendsten aber mußte es für das bekümmerte Vaterherz sein, das Goethe diesen Stoff für die »Leiden des jungen Werthers« ausbeutete, und dieses unheilvolle Ereignis zu einer so uuerwünschten Publicität brachte. Aber bei allem Gram und Kummer, und bei einem durch Sorgen und rastlose Thätigkeit geschwächten Gesundheitszustande trug dieser Fromme und Weise doch sein Geschick mit höchster Ergebung. »Seine öftere Kränklichkeit erregte viele Jahre lang eine allgemeine Theilnahme. Die fürstliche Familie schien nicht ruhig zu werden, so lange dieser Zustand dauerte. Carl Wil helm Ferdinand, damaliger Erbprinz, besuchte den Kränkelnden sehr oft. Endlich wurde sein alter Lehrer wirklich krank, und tödtlich krank. Man verzweifelte an seiner Genesung.



____
39

seine Kinder lagen in einer feierlichen Stunde knieend an seinem Bette. Der Erbprinz will den Sterbenden noch einmal sehen; er schleicht in das Krankenzimmer; er sieht die auf den Knieen liegende Familie seines Erziehers; er neigt sich still und wehmüthig neben dem Bette zur Erde nieder, und bittet mit tiefer Rührung die Vorsehung um das Leben seines Jugendfreundes.« *) Noch ein Mal wurde das theure Leben erhalten; doch warf bereits nach einigen Jahren den Allverehrten ein apoplektischer Anfall auf ein schmerzenreiches Sterbelager, auf welchem der edle Dulder seinem musterhaften Leben das Siegel der Bestätigung geben sollte. **) An Körper und Geist gelähmt, legte dieser Menschenfreund doch noch die innigste Theilnahme für das Wohl und Wehe seiner Mitmenschen an den Tag, und begrüßte namentlich die so glückverheißend beginnende, französische Revolution mit den Segnungen seiner frommen Wünsche. »Ich las ihm auf sein Verlangen,« berichtet sein Freund, Hofrath Emperius, ***) »die Neuigkeiten von Paris aus der Zeitung vor. sie enthielt an diesem Tage die Nachricht von den großmüthigen Opfern, welche der Patriotismus der Stände Frankreichs in der berühmten Sitzung vom 4. Aug. (1789) dem Besten der Nation gebracht hatte. Dieser Wetteifer des Edelmuths, dieser Triumph der Vaterlandsliebe und Weisheit über Selbstsucht und Vorurtheile interessirte den Kranken in einem sehr hohen Grade, und ich war genöthigt, das Vorlesen abzubrechen, weil ich befürchtete, daß es ihn zu sehr angreifen möchte. Mit stammelnder Zunge, aber mit
____
*) Carl Wilh. Ferdin., Herzog zu Braunschw. u. Lüneb.; ein biograph. Gemälde (von C. F. Pockel's.) Tübingen, 1809, p. 95.
**) Predigt am Reformationsfeste 1789, mit beigefügter, öffentlicher Danksagung wegen der seligen Vollendung des Herrn Abts und Vicepräsidenten Jerusalem; von Aug. Chr. Bartels. Brschw., 1789. –
***) Jerusalem‘s letzte Lebenstage, von I. F. F. Emperius. Lpz., 1790, p. 31. (Ein Auszug daraus in: Wolfrath's Charakteristik edler und merkw. Menschen, I.)



_____
40

tiefgerührtem Herzen, dankte der edle Mann der Vorsehung, auf deren Verfügungen sein Blick in seinem ganzen Leben so aufmerksam geheftet war, für die großen Schritte, die ein ganzes Reich zur Vermehrung seiner bürgerlichen Glückseligkeit gethan hatte und noch ferner zu thun im Begriff war. Es war immer seine Lieblingsidee, daß die Vorsehung unaufhörlich an der Veredlung des menschlichen Geschlechts arbeite, und bald durch anscheinende, von bösen Menschen veranlaste Uebel, bald durch schöne und edle Handlungen guter Menschen das Beste des Ganzen zu befördern bemüht sei.« – Zu seinem eigenen Heil  wurde ihm der Kummer der Enttäuschung erspart! Nachdem ihm, der mit den meisten Personen seines Fürstenhauses auf einem Fuße vertraueter Freundschaft gelebt hatte, noch das Glück zu Theil geworden war, vom Erbprinzen Carl, vom Prinzen Friedrich, von der Herzogin Philippine Charlotte, welche Wohlwollen und Theilnahme an sein Sterbelager geführt hatte, persönlich Abschied nehmen zu dürfen; und nachdem er auch seine tiefbekümmerten drei Töchter zu Fassung und Trost für die nahebevorstehende, schmerzliche Trennung ermuthigt hatte, entschlummerte er am 2. Spt. 1789 sanft, und mit den Tröstungen und Hoffnungen der Religion zu einem besseren Dasein. Die allgemeine Trauer bei der Nachricht seines Todes, und die fast beispiellos große Theilnahme bei der Feier seines Leichenbegängnisses zeigte, wie sehr man diesen Verlust zu würdigen wußte; und wie gerecht diese Trauer war, beweist der Umstand, das dieser werthe Mann noch jetzt als ein wahrer Beglücker Braunschweigs in dankbarstem Gedächtnisse steht.

Eben so ehrenvoll wie für Jerusalem, sind für seine fürstlichen Gönner, die ihm von diesen gewidmeten Denkmale in der Kirche zu Riddagshausen (seiner Ruhestätte), und im Lustgarten zu Vechelde. An Speichelleckern, welche mit



____
41

verachtenswerther Lobhudelei hohe Häupter überschütteten, hat es zwar nie und nirgends gefehlt; aber es möchten nur wenige Beispiele einer gleich schmeichelhaften Anerkennung eines Gelehrten von Seiten fürstlicher Personen aufzuweisen sein, wie sie sich an erwähnten beiden Monumenten ausspricht. Die Inschrift zu Riddagshausen lautet: »Dem Andenken des seligen etc. Jerusalem's etc. setzt dies Grabmal Philippine Charlotte, verwittwete Herzogin zu Braunschweig-Lüneburg.«

»Zur Aufklärung legte er den ersten Grund, und durch seine Talente und Rechtschaffenheit erwarb er sich allgemeine Verehrung; seine Verdienste werden unvergeßlich bleiben, sein Andenken wird nie verlöschen, und besonders mir, seiner Freundin beständig werth und schätzbar bleiben. - Von gleich hohen Gesinnungen sprechen die Worte des vecheld'schen Denkmales, welche dem Herzen und Munde des Helden Ferdinand selbst entsprangen: »Ausgebreitete Gelehrsamkeit, Welt- und Herzenskunde, begleitet mit vieler Bescheidenheit und Sanftmuth, waren ein Theil seiner vortrefflichen Eigenschaften und Geistesgaben, wodurch er in einen so hohen Grad die Achtung aller Rechtschaffenen seines Zeitalters weit und breit sich erwarb. Seine Schriften haben hinlängliche Zeugnisse davon gegeben. Er war der allerangenehmste Gesellschafter, sein Duldungsgeist war groß, sein Andenken wird in den entferntesten Zeiten der Welt einem Jedweden der recht denken und wandeln will, theuer und werth bleiben. Mir als dem Widmer dieses Monuments wird er stets in unverändertem Andenken verbleiben, weil ich außer der Bewunderung seiner großen Verdienste um seine Zeitgenossen, besonderen Antheil an seiner Wohlgewogenheit hatte. Alles dieses bezeugt sein großer Verehrer Ferdinand H. z. B. u. L.« –



____

2. Gärtner.

Unter allen den Gelehrten, welche nach der Gründung des Collegiums als Lehrer angestellt wurden, verdient zunächst jedenfalls Gärtner *) der Erwähnung. Carl Christian Gärtner war geboren am 24. Nov. 1712 zu Freiberg im Erzgebirge, wo sein Vater Postmeister und Kaufmann war. Seine Bildung, d. h. eine sehr gründliche, erhielt er auf der Fürstenschule zu Meißen. schon hier knüpfte der strebsame Knabe ein inniges Bündnis an mit seinen Mitschülern Gellert (geb. 1715), Gottlieb Wilhelm Rabener (geb. 1714) u. J. A. Cramer (geb. 1723), von denen der Erstgenannte ihm bei seinem Abgange von der meißener Schule
____
*) Man vergl. den biograph. Abriß in Schlichtegroll’s Nekrolog auf d. J. 1791, I. Gotha, 1792, p. 29 bis 50.
Dieser Aufsatz ist eine Erweiterung des Artikels im: Jahrb. für d. Menschheit, I. 4. St. Apl., 1791.
Jörden's im Lexicon, II. p. 3. –
»Ueber K. A. Schmid's und K. Chr. Gärtner’s Verdienste bes. um die deutsche Lit. v. Th. Roose. Helmst, 1792.« –
Fr. Bouterwek's Gesch. der Poesie und Beredsamk, XI. Göttingen, 1819, p. 192 bis 193. –
 J. Bouginé, Handb. der allgem. Literargesch., 1791, IV. p. 166. Meusel.
Klopstock. Er; und über ihn, v. C. F. Cramer. Hbg., 1780, I. p. 143 bis 144.–


____
43

den üblichen Abschiedsgruß im öffentlichen Schulacte nachrief. *) Wenn schon hier Gärtner, als der Aeltere und Erfahrenere auf die Geschmacksbildung seiner Freunde einen wohlthätigen Einfluß ausübte, so war dies noch in höherem Maße der Fall, als er das frühere Verhältnis mit den eben Genannten auch auf der Akademie Leipzig fortsetzte, und sich ihm nun noch Joh. Adolph Schlegel (geb. 1721), Elias Schlegel (geb. 1718), Spener, Gottlieb Fuchs (geb. 1722), J. C. Schmidt aus Langensalza, Giseke (geb. 1724), Zachariä (geb. 1726), Joh. Arn. Ebert (geb. 1723), Hagedorn (geb. 1708), Kühnert, Olde, Rothe, Straube, Kleist (geb. 1715), Mylius (geb. 1722), Conr. Arnold Schmid (geb. 1716), Eberh. Frdr. von Gemmingen (geb. 1727), Gleim (geb. 1719), Ramler (geb. 1725), und als Stubennachbar, Klopstock (geb. 1724) anschlossen. Dieses Bündnis hatte sich das hohe Ziel einer Geschmacksläuterung der deutschen Literatur gesetzt, und zu diesem Zwecke kamen die geistbegabten Jünglinge wöchentlich zusammen, um ihre dichterischen Erzeugnisse gegenseitig der strengsten und offensten Beurtheilung zu unterwerfen, und die am Probsteine der Kritik bewährten dem Urtheile des Publikums vorzulegen. Wie nun Gärtner, der nebst Ad. Schlegel, Rabener und Cramer die erste Anregung zu diesem Vereine gab, die Seele dieser Versammlungen war, so wurde er auch zum Redacteur des für den Druck bestimmten literarischen Materials erwählt. Obgleich er selbst früher mit Gottsched vielfach in Verbindung gestanden, und bereits 1741, (also in demselben Jahre, in welchem Lessing erst meißner Schüler wurde) zu den Gottsched'schen: »Leipziger Belustigungen des Verstandes und Witzes«
____
*) Erinnerungen an G. E. Lessing, Zögling der Landesschule zu Meißen in den J. 1741 bis 1746, von Ed. Aug. Diller, 1841, p. 69.




____
44

einzelne Gedichte geliefert, und auch an der von Gottsched veranstalteten Uebersetzung der 1744 in 4 Bänden erschienenen Ausgabe des Bayle, und an der des Rollin theilgenommen hatte: so sagte er sich doch sehr bald mit seinem ganzen Anhange von diesem wäßrigen, aber doch sehr gefürchteten Aristarchen los. So traten denn durch die vereinten Bemühungen dieser thatkräftigen Jünglinge, *) die »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Bremen, 1744 bis 1748« an's Licht, eine Schrift, in welcher zuerst ein frischerer Odem deutscher Kraft wehete, und wodurch eine neue, bessere Schule in unserer Literatur begründet wurde. Das man Gottsched mit seiner Sippschaft zum Schweigen verweisen konnte, durch Aufmunterung und Wetteifer die Productionen mehr befähigter Köpfe anregte, vom kritischen Standpunkte aus für die Literatur eine festere Basis gewann, ist ein Resultat, dem die vollste Anerkennung gebührt, und wovon ein Haupttheil des Verdienstes jedenfalls unserem Gärtner zuerkannt werden muß. Zwar ging er bereits im J. 1745 als Führer zweier Grafen von Schönburg-Wechselburg nach Braunschweig, und erhielt am dortigen Collegium Carolinum, im Mai 1748, die Professur der Beredsamkeit und Sittenlehre, (1775 auch noch ein Canonikat am Blasiusstifte und 1780 beim Regierungsantritte Carl Wilh. Ferd., seines früheren Schülers, den Hofrathscharakter); aber dessen ungeachtet war mit dieser Ortsveränderung der leipziger Verein nicht aufgelöst. Vielmehr suchte Gärtner, gleichstrebende Freunde, Ebert, Zachariä, Schmid u. A. durch eine
____
*) Von denen freilich nicht alle als Schriftsteller auftraten (wie Olde, Rothe, Straube), von denen sich auch einige bald absonderten, (Mylius, Kühnert), von denen mehre nicht in Leipzig anwesend waren, (so wirkte z. B. Elias Schlegel von Kopenhagen aus mit) und von deren Genossen einige auch nur als berathende Freunde und Gönner anzusehen waren, (wie Hagedorn und Mosheim.)



____
45

gesicherte, öffentliche Stellung in Braunschweig der guten Sache zu erhalten, so in einem Geiste, und noch dazu in collegialischem Verhältnisse von einem höchst günstigen Standpunkte aus, auf die Literatur einzuwirken, und blieb auch noch fortwährend der Centralpunkt des Ganzen. Von hoher Bedeutung mußten diesem Kreise auch die freundschaftlichen Beziehungen Mosheim's sein, dieses gründlichen Kenners der schönen Literatur, und für alles Schöne glühend begeisterten Mannes, der als Verfechter der Rechte unserer Muttersprache sich eine bedeutende Geltung in der Literatur errungen hatte, und von dem, wie wir schon oben gesehen haben, die erste Anregung einer geläuterten Kritik ausgegangen war. In seiner Stellung als Curator des Collegiums Carolinums war Mosheim's fördernde Theilnahme daher von um so größerem Einflusse.

So war denn der leipziger Kreis in seinem Hauptstamme gewissermaßen nur nach Braunschweig übersiedelt, und edirte auch als ein Lebenszeichen seines Fortbestandes die: »Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremer neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Lpz, 1748 bis 1752, 3 Bde.« Im Jahre 1767 veranstaltete Gärtner unter Zachariä‘s Beihülfe eine neue Auflage der bremischen Beiträge, und 1768 eine verbesserte Ausgabe seines, in diesen Beiträgen zuerst mitgetheilten Schäferspieles: »die geprüfte Treue.« Verläugnet dieses Werk, welches er nach des le Grand: „Le thriomphe du tems passé“ nicht blos übersetzte, sondern vielmehr geistvoll umarbeitete, auch keineswegs den Stempel seiner Zeit, so zeichnet es sich doch von den Weitschweifigkeiten und süßen Empfindsamkeiten derzeitiger Schäferspiele durch feinen Witz und Naturwahrheit vortheilhaft aus; und es wäre nur zu wünschen gewesen, daß der Verfasser gleich dieses ganze Genre über den Haufen geworfen, und denselben Weg betreten haben möchte, den später Lessing


____
46

einschlug, wodurch ihm, wie diesem, eine nachhaltigere Wirksamkeit gesichert worden wäre. Dasselbe, was von diesem Stücke gesagt werden muß, gilt auch von der: »schönen Rosette,« einem Lustspiele, welches er in Dyk's Theater der Franzosen abdrucken ließ. *) Diese jetzt vergessenen Tändeleien haben ihren Hauptwerth in Gärtner's ehrenwerthem Streben, das Interesse für die damals tiefverarmte Bühne Deutschlands überhaupt nur erst anzuregen. Und so verdient auch die in Gemeinschaft mit Zachariä unternommene Uebersetzung von: »Linguet's Beiträgen zum spanischen Theater, aus dem Franz., Brschw., 1770 bis 1771, 3 Thle,« volle Anerkennung. –

Vortheilhaft bekannt machte sich Gärtner auch noch durch die »Sammlung einiger Reden, Brschw., 1761,« bei feierlichen Gelegenheiten vor seinen Collegianern gehalten; worin er aber mehr seinen Lehrerberuf, als seinen Beruf zur Beredsamkeit zu erkennen gab, und die steife Fessel Gottsched'scher Trockenheit nicht ganz von sich zu werfen vermochte. Höchst anerkennenswerth ist die mit einem biographischen Abrisse begleitete Ausgabe der »poetischen Werke Nicol. Dietr. Giseke's,« **) dieses reichbegabten Dichters, seines von ihm tiefbetrauerten Freundes und Schwagers; wie auch die Herausgabe von »C. F. Kirchmanns Schriften zur Beförderung der Religion und Tugend;« ferner die der »Fabeln und Erzählungen, J. Ad. Schlegel's, Brschw., 1769;« des kurzen, biograph. Lebensabrisses Heinr. Jul. Ernst Behm's (im 32. Stücke der gelehrten Beitr. zu d. brschw. Anzeigen, 1768); und endlich die Veröffentlichung seiner eigenen, zerstreueten, lyrischen Gedichte, obgleich diese einen Beigeschmack ihrer englischen Vorbilder voll epischer Breite nicht ganz verläugnen. .
____
*) Die schöne Rosette, ein Lustspiel in 1 Aufz. Lpz, 1782. –
**) Des Hrn. Nicolas Dietrich Giseke poet. Wke., herausg. von Carl Chr. Gärtner. Brschw., 1767.



____
47

Wollte man nun auch alles das, was Gärtner schrieb, nur gering anschlagen, so würde doch stets das, was er that und erwirkte, um so höher zu schätzen sein. Der Impuls des neuen Geistesaufschwunges ging ursprünglich nur von ihm aus, und es gehörte auch ein Mann von seiner Energie dazu, um eine so mächtige Bewegung hervorzubringen. Mit der stillen Würde einer ernsten Heiterkeit, feinen Witz, scharfe Beobachtungsgabe, geläuterten Geschmack, unbestechliche Wahrheitsliebe, Verschwiegenheit und Bescheidenheit verbindend, stand er, so das ächteste Bild eines edlen Deutschen, allen Gleichstrebenden als hohes Vorbild da, und wußte sich eben so gut bei Feind, wie bei Freundin Ansehen zu setzen. Strenger gegen eigene, als gegen fremde Leistungen, legte er selbst bei Kleinigkeiten einen hohen Maßstab an; und stand auf diese Weise ganz in Widerspruch mit allen denen von unseren Zeitgenossen, welche in ihrer Mißachtung des Publikums die unreifsten Erzeugnisse zu Tage fördern, noch ehe sie selbst mit sich zu irgend einem Abschlusse gekommen sind. Ja, Gärtner steigerte diese Strenge der Anforderungen an sich mit jedem Jahre, indem er bei jedesmaliger Durchsicht seiner poetischen Manuscripte ein Auto-da-Fé hielt, bis er kurz vor seinem Tode den letzten handschriftlichen Rest den Flammen opferte. Uebrigens wurde er gerade als ein mehr receptives Talent durch seine seelenvolle Auffassung, durch sein Wort voll Belehrung und Anregung, durch seine strenge und doch humane Kritik, für das Getriebe dieser Entwickelungsperiode der mächtigste Hebel. Und wie er nach außen wirkte, so war er wieder für Braunschweig von der größten Rückwirkung. Dieses fand auch namentlich in Betreff seiner ausgezeichneten Lehrgabe und seines unermüdlichen Lehreifers statt, wodurch er sich die unbegrenzte Liebe seiner Schüler eben so sehr erworben hatte, wie er überhaupt die Werthschätzung aller seiner Mitbürger besaß. Im Kreise



____
48

des Hauses war er bei seiner Genügsamkeit und Gemüthlichkeit ein höchst liebenswürdiger und glücklicher Familienvater. Einen früher vorwaltenden Temperamentsfehler aufwallender Hitze besiegte er mit großer Anstrengung durch steten Gleichmuth, den er selbst im Leiden, und auch in dem schwersten, welches ihn beim Tode seiner innig geliebten Gattin traf, zu behaupten wußte. -

Nachdem Gärtner, der sich einer kräftigen Constitution erfreute, eben seine halbjährigen Vorlesungen beendet hatte, befiel ihn ein hitziges, rheumatisches Fieber, dem unvermuthet eine rasche und sanfte Auflösung folgte, welche seinem thätigen Wirken 1791, am Morgen des 14. Februars 6 Uhr, *) ein Ziel setzte. – Gleich ehrend für den Trauernden, wie für den Betrauerten ist das herrliche Blatt der Erinnerung, welches ihm Klopstock in dem Odenkranze »Wingolf« auf das Grab legte:

»Der du dort wandelst, ernstvoll und heiter doch,
Das Auge voll von weiser Zufriedenheit,
Die Lippe voll von Scherz; (Es horchen
Ihm die Bemerkungen deiner Freunde,
Ihm horcht entzückt die feinere Schäferin).
Wer bist du, Schatten? Ebert! Er neigt sich.
Zu mir, und lächelt. Ja, er ist es!
Siehe der Schatten ist unser Gärtner!
Uns werth, wie Flakkus war sein Quintilius,
Der unverhüllten Wahrheit. Vertraulichster,
Ach kehre, Gärtner, deinen Freunden
Ewig zurück! Doch du fliehest fern weg!
Fleuch nicht, mein Gärtner, fleuch nicht! du floh‘st ja nicht,
Als wir an jenen traurigen Abenden,
um dich voll Wehmuth still versammelt,
da dich umarmten, und Abschied nahmen!
Die letzten Stunden, welche du Abschied nahmst,
Der Abend soll mir festlich, auf immer sein!
Da lernt‘ ich, voll von ihrem Schmerze,
Wie sich die wenigen Edlen liebten!
Viel Mitternächte werden noch einst entfliehen.
Lebt sie nicht einsam, Enkel, und heiligt sie
Der Freundschaft, wie sie eure Väter
Heiligten, und euch Exempel wurden!«
____
*) Nicht am 11. Febr.; wie Eschenburg und andere Literaturhistoriker angeben.



____

3. Zachariä
Justus *) Friedrich Wilhelm Zachariä, **) geboren am 1. Mai 1726 zu Frankenhausen im Fürstenthum Schwarzburg, war der Sohn des Fürstl. Schwarzb. Kammersecretairs, Regierungsadvocaten und Gerichtsdirectors zu Ichstedt und Borrleben Frdr. Siegm. Zachariä, eines offenen Kopfes, der sich auch mit Güt im Gelegenheitsgedichte
____
*) Von den meisten Literarhistorikern wird der Vorname Justus ausgelassen; doch kommt er unserem Zachariä zu, obgleich sich dieser selber in seinen Schriften desselben nur ein einziges Mal bedient hat.
**) Man vergl.:
Eschenburg’s Nachricht von Zachariä‘s. Leben und Schriften in den von E. herausgegeb. Schrn. Zachariä‘s. Brschw., 1781, (Bes. abgedruckt. Brschw., 1788.). Eine Benutzung der Eschenburg'schen Arbeit, doch mit einigen literarhistorischen Erweiterungen ist:
Chr. Heinr. Schmid's Nekrolog, od. Nachrichten von dem Leben u. d. Schrn. der teutschen Dichter. Berlin, 1785, H. p. 656 bis 680.
Schmid's Zusätze und Berichtig zu d. Nekrol. in d. Journ. von und für Deutschl., 1792, 8. St., p. 649.
J. G. Meusel’s Lexikon der vom J. 1750 bis 1800 verstorb. teutschen Schriftsteller. Lpz., 1815, XIV. p. 336 bis 341.
Frd. Bouterwek, Gesch. der Poesie u. Beredsamk., XI. Götting., 1819, p. 275 bis 277.
Saxii Onom. lit. VII. p. 183.
F. v. Blankenburg's lit. Zusätze zu Sulzer's Theorie der schönen Wissenschaften.
Baur's Gallerie der berühmt. Dichter des 18. Jahrh., p. 283 bis 290
J. L. Richter’s biogr. Lexikon der geistl. Liederdichter, p. 455
Jörden‘s Lexikon deutscher Dichter u. Prosaisten, V. p. 575 bis 598.
Gerber's Lexikon der Tonkünstler, II. p. 837.
Gerber's neues Lexikon, IV. p. 624.
(Küttner's) Charaktere deutscher Dichter u. Prosaisten. Berlin, 1781, II. p. 309 bis 312.



____
50

versuchte. Zachariä, der schon als Knabe durch Munterkeit des Geistes und eine lebhafte Phantasie zu Hoffnungen berechtigte, empfing seine erste Ausbildung auf der Stadtschule seines Geburtsortes; worauf er 1743 die Universität Leipzig bezog, um sich der Berufswissenschaft seines Vaters zu widmen. Doch weil auch auf ihn des Vaters dichterische Ader fortgeerbt war, so beschäftigte er sich schon während seiner akademischen Studienzeit vielfach mit schöner Literatur. Genährt wurde diese Neigung zu poetischer Beschäftigung jedenfalls durch den Umgang mit jenen Studiengenossen, von denen die nachherige Erneuerung der deutschen Literatur ausging; vor allen aber auch durch den Beifall Gottsched's, der sein Talent erkannte und pflegte, mit dem er auch gleich seinem Freunde Gärtner, anfänglich verbunden war, und der seinen ersten dichterischen Versuch, das komische Epos »der Renommist,« in die »Belustigungen des Verstandes und Witzes« aufnahm. Allein Zachariä war einer der Ersten, welche sich nach Gärtners Vorgange von Gottsched's wäßrigen Belustigungen lossagten, und zu der ehrenwertheren Fahne befähigterer Geister schwuren. Dagegen wußte Kästner, der auch schon mehr Geist und Feuer besaß, die jungen Brauseköpfe zu fesseln, und bei ihnen seinen Umgang wie seine Collegia gleich gesucht zu machen. Ein Disputatorium, welches Kästner mit einer auserlesenen Zahl der Studenten hielt, zu denen auch Zachariä gehörte, brachte diesen in interessante Berührung mit den Commilitonen Christlob Mylius, Joh. Heinrich und Joh. Adolph Schlegel, auf kurze Zeit auch mit Lessing. Nach vollendeten Studien kehrte Zachariä in seine Vaterstadt zurück, und war um diese Zeit bemühet, seine musikalischen Anlagen unter Anweisung des dortigen Organisten Wagner durch Erlernung des Generalbasses auszubilden. Im J. 1747 privatisirte er in Göttingen, wo er



____
51

einen Gönner an Ckaproth fand, der ihn zum Mitgliede der deutschen Gesellschaft ernennen ließ. Bei den derzeitig auf der Akademie herrschenden englischen Sympathieen wurde er für das ihm später so fruchtbringende Studium der englischen Literatur angeregt; und hier auch durch die Poesie mit innigstem Freundschaftsbande an Eberh. Friedrich von Gemmingen gefesselt. Ob Zachariä so ganz discret handelte, indem er in zu lebhaftem Freundschaftseifer, ohne Gemmingen's Vorwissen, dessen Briefe und poetische Versuche veröffentlichte,  *) und dadurch eine förmliche Protestation  **) des Verfassers veranlaßte, möge dahin gestellt bleiben.

Im J. 1748 wurde Zachariä als öffentlicher Hofmeister an das braunschweiger Carolinum berufen, und nachdem er 1761 zum ordentlichen Professor befördert worden war, trug er die Theorie der schönen Wissenschaften nach Batteur, und Mythologie nach Pomey und Gautrüche vor, und stellte auch mit talentvollen Zöglingen praktische, poetische Uebungen an. Seit 1762 führte er noch mit großer Energie die Oberaufsicht über die Buchhandlung und Druckerei des Waisenhauses, womit die Redaction der gelehrten Beiträge zu diesem Blatte verbunden war. Seit 1768 war er auch Herausgeber der neuen braunschweig'schen (politischen) Zeitung, und als solcher der Verfasser der meisten darin befindlichen Anzeigen und Recensionen, die freilich nicht den höchsten Maßstab kritischer Schärfe, wohl aber Humanität und freisinnige Umsicht verrathen. Beide Redactionen gab er aber 1774 aus Rücksicht auf seine Gesundheit wieder ab, und wurde dafür im folgenden Jahre mit einem Kanonicate am Cyriacusstifte entschädigt.
____
*) Gemmingen's Briefe, nebst anderen poet. u. pros. Stücken. Frkf. u. Lpz., 1753. – Neue Afl: Poet. u, pros. Stücke v. d. Frh. v. G. Brschw., 1769. -
**) Allgem. d. Biblioth, VIII. 2. St.



_____
52

Der Vollendung seines Lebensglückes fehlte nichts, als das Glück der Liebe, welches er in vollstem Maße in der durch seinen Tod so bald wieder getrennten Vereinigung mit seiner Henriette, einer geb. Wegener, fand, die er nach längerer Bekanntschaft am 6. Jan. 1773 heimführte, und in dem äußerst zarten und hochpoetischen Geburtstagsgedichte verewigte, welches Eschenburg den hinterlassenen Schriften Zachariä's hat vordrucken lassen.

Ein hektisches Fieber, welches an seinen Lebenskeimen nagte, nöthigte ihn 1776 zum Gebrauche der Bäder in Pyrmont, und wie es schien, mit gutem Erfolge. Diese Hoffnung und die Ermunterung, welche er durch die höchst huldvolle Aufnahme beim Fürsten von Waldeck fand, veranlasten ihn noch zum Entwurfe eines größeren, epischen Gedichtes »Pyrmont-Elysium,« von welchem er auch die Einleitung, worin er seine eigene Genesung besang, an seinen vertrautesten Freund, den braunschweig'schen Kammerherrn von Kunzsch schickte, zu dem bereits das falsche Gerücht seines Todes gedrungen war. Doch rückte er mit diesem Gedichte eben so wenig weiter, wie mit seiner Genesung. Das Uebel kehrte bald mit verdoppelter Heftigkeit wieder, artete nach einem ausgebrochenen Beinschaden in förmliche Auszehrung aus, zu der sich zuletzt Wassersucht gesellte, und machte seinem Leben am 30. Jan. 1777 ein Ende. Ein Denkmal von blankenburger Marmor bezeichnet seine Ruhestätte auf dem Catharinenkirchhofe zu Braunschweig.

Um wenigstens auch eine Andeutung über sein Aeußeres und seinen Charakter zu geben, sei bemerkt, das Zachariä in beiderlei Hinsicht eine angenehme Erscheinung war. Von großer wohlgestalteter Figur, wußte er durch Anstand und Würde zu imponiren. Doch zeigte er überall Anspruchlosigkeit. Allgemein bekannt war seine hohe Empfänglichkeit für die



_____
53

Freuden der Natur, wie der Geselligkeit, namentlich auch der Tafel, und machte ihn, beim Besitze einer glücklichen Gabe heiterer Laune und des Witzes, sehr gesucht im Umgange. Charakteristisch ist es, daß der Dichter des »Renommisten« selbst nicht ganz frei vom Scheine der Renommage war. Man erzählt, daß, als er einst in seiner reich decorirten Equipage, an deren Schlage der Anfangsbuchstabe seines Namens in Gold und in auffallend großem Maßstabe angebracht war, durch die straßen gefahren, als eben Lessing mit mehren Begleitern, die sich neidischer Bemerkungen nicht hätten enthalten können, vorbeigewandert sei, Lessing bemerkt habe: »So laßt ihn doch nur ruhig fahren, er hat ja deutlich genug sein Z dahingesetzt, damit Jeder gleich sehe, daß nichts weiter dahinter sei!« – Daß Zachariä auch weit über dem bornirten Gesichtskreise des christlichen Pöbels seiner Zeit gestanden haben muß, beweiset der Umstand, daß man aus seinen letzten, im Fieberparorismus ausgestoßenen Worten: »Da fahr' ich hin! Wo fahr' ich hin? Das weiß ich nicht!« folgern zu müssen glaubte, daß er die Unsterblichkeit geläugnet habe, und das daher, zumal sein Haupt im Tode rückwärts gekehrt sein sollte, angenommen wurde, nur der Teufel könne ihm das Genick umgedrehet, und diesen Missethäter geholt haben!

Zachariä wurde als ein Talent von schnellfertigster Productionskraft nicht allein für seine Partei, sondern auch für Braunschweigs literarische Zustände ein Mann von Bedeutung. Unendlich aber ist es zu bedauern, daß er bei seiner lebhaften Phantasie mehr Werth auf Leichtigkeit des Schaffens, als auf Vollendung des Geschaffenen legte. Diese Nonchalance des Arbeitens mochte bei ihm durch seine glückliche Gabe der Gelegenheitsdichterei sehr genährt, und er dadurch gegen den höheren, kritischen Maßstab nach und nach gleichgültig geworden sein. Und so kam es denn, das er mehr



____
54

als billig auf den Ruf eines Gelegenheitspoeten gab, da es ihm sehr schmeichelte, wenn selbst von Schwerin aus, von Seiten der höchsten Herrschaften, ihm die Ansuchen um Gelegenheitspoesieen durch eigene Stafetten zugingen, und er dann etwa in ein paar Tagen ein ganzes Festdrama zusammenreimen konnte. Doch hat er auch Besseres geliefert. Gleich jenes erste Werk, »der Renommist,«  *) verschaffte ihm Bewunderer und Nachahmer. Wenn gleich die späteren Heldengedichte dieses Schriftstellers mehr eine Nachahmung seiner selbst sind, so reicht doch dieses erste Werk vollkommen hin, ihm eine ehrenvolle, dauernde Stellung in unserer Literatur zu erhalten, zumal er mit demselben, wenn auch nicht den ersten überhaupt, doch den ersten glücklichen Versuch machte, das komische Epos in die neuere deutsche Literatur einzuführen. **) Obgleich »der Renommist« seine Abstammung vom »Chorpulte« des Boileau und vom »Lockenraube«  ***) Pope's deutlich vor der Stirn trägt, so ist dieses Gedicht in gewisser Hinsicht dennoch mit vollem Grunde als ein ächt-nationales Original zu bezeichnen. Zachariä verstand es nämlich, den deutschen Charakter in seinen feinsten Nüancirungen, fern von allem Gehässigen, mit liebenswürdiger Laune zu schildern, und durch dieses nationale Charaktergepräge seine Dichtung auch zu nationalisiren. Er stempelte seine Werke, wie sich Goethe †) sehr bezeichnend ausdrückt, »zu schätzbaren Documenten für die Folgezeit,
____
*) Der Renommist, ein scherzhaftes Heldengedicht in 6 Gesängen und gereimten Alexandrinischen Versen. (Zuerst in den Belustigungen des Verstandes und Witzes, 1744)
Bruchstücke daraus in: Pölitz., Gesamtgebiet der teutschen Sprache. Lpz., 1825, I. p. 409 bis 413. -
**) Schon 1741 und 1744 hatte Jacob Frdt. Lamprecht aus Hamburg, zwei komische Epopeen edirt: »die Tänzerin« und »die Nachtigall,« die aber spurlos vorübergingen.
***) Den 1744 Gottsched ins Deutsche übersetzte.
†) Goethe's Wke. Stuttg., 1829, XXV. p. 59.




_____
55

woraus die damalige Lebens- und Sinnesart anschaulich hervortritt.« Im Hinblick auf unsere Zeit, welche ihre poetischen Stoffe und Charaktere nicht allein vom Nord- und Südpole, von Ost- und Westindien bezieht, sondern sich auch in den Himmel und die Hölle, in die Elemente der Luft und des Wassers, in die Gebiete der Heroen, Götter und Götzen, und Gott weiß, in welche Regionen versteigt, für welche sich kein Mensch mehr interessiren kann: muß Zachariä's Verdienst doppelt hoch angeschlagen werden. In dieser Beziehung ist daher der »Renommist« selbst dem einzigen Werke, das ihm den Rang streitig machen kann, dem »Oberon« von Wieland, überlegen; und bis auf unsere Tage herab der großen Theilnahme werth, die seine Auffrischung noch nach hundert Jahren unter den Deutschen gefunden hat. *) Ist doch auch, wie Vanhagen von Ense **) sehr richtig bemerkt, »dieser Gegenstand, der deutsche Student in seiner Eigenheit, jugendlichen Keckheit und Selbstständigkeit, der wenigst ausgestorbene, ja, trotz des Wechsels der äußeren Erscheinung, der im Wesen fast unverändert gebliebene.« – Wie viel mehr mußte nun Zachariä durch die Naturtreue seiner Schilderung seine Zeitgenossen entzücken, wie man aus Herder, ***) der das Element des geselligen Lebens so treu in ihm abgespiegelt findet, wie man auch aus Goethe, †) der ihn in einem seiner schlechtesten Gedichte ansang, und aus vielen Anderen ersehen kann. Was vom »Renommisten« gesagt worden ist, gilt zum Theil auch von seinen übrigen Dichtungen, deren meiste in viele fremde
____
*) Der Renommist v. J. F. W. Zachariä; mit einleitendem Vorworte von Justus Zachariä. Berlin, 1840
**) Denkwürdigkeiten u. verm. Schrn. von K. A. Varnhagen von Ense. Neue Folge, II. 1842, p. 353.
***) Herder’s Abhandlungen u. Briefe über die schöne Lit. und Kunst. Stuttg., 1829, II. p. 158.
†) Goethe's Wke., II. p. 154.



____
56

Sprachen übersetzt wurden, und von denen wir nur nennen wollen den »Phaeton«, nach jenem sein vorzüglichstes Werk; »die Tageszeiten;« »die vier Stufen des weiblichen Alters;« *) "Lagosiade, oder die Jagd ohne Jagd;« »der Murner in der Hölle;« »Cortes, ein Heldengedicht;« »Tayti, oder die glücklichen Inseln« u. s. w. **) Zachariä nahm jedoch in seinen
____
*) Zu diesem Gedichte gab vielleicht der züricher Poet Wartmüller die Anregung durch sein Epos, welches Oltrotschi unter dem Titel: „Quatuor humanae vitae aetates.“ Zürich, 1754, in's Lateinische übersetzte.
**) Verwandlungen; 4 Bücher, in gereimten Alexandr. Versen. (Zuerst in den Brem. Beiträgen. In’s Franz. übers. Paris, 1764).
Scherzh. epische Poesieen; nebst einigen Oden und Liedern. Brschw. u. Hildesh., 1754. – Neue Afl-, 2 Bde., ebend, 1761.
Der Phaëton; ein scherzh. Heldenged., 5 Gesänge in Heramet. (Franz. in Prosa, im Journal étranger. – In Versen v. la Grange Paris, 1765; – v. Fallet: le Phaeton, poeme heroi-comique en 6 chants, imité de l'Allemand de Mr. Z. à Paris, 1775; – und: Mes Bagatelles, ou le Torts de ma jeunesse, contenant Phaeton, Poeme heroi-comique, imité de l'Allemand de Mr. Z. Par l'Auteur des Avantures de Charée et de Callirhoé, revue et corrigée, suivi du Boccage. à Londres et à Paris, 1776. – Lateinisch in Hexametern: Phaetonis libri V., e Germanico Fr. G. Zachariae Latino carmine expressi ab Henr. Godofr. Reichardo. Lps., 1780).
Die Tageszeiten, ein Gedicht in 4 Büchern. Rostock, 1755, 2. Afl., ebend, 1757. (Franz in Prosa von Capitaine. Paris, 1768. – Amsterd., 1769. – In Versen von einem Ungen. 1773. – Italien. v. Bertola, 1766; und in dessen: Idea della Poesia Allemanna, 1784 –).
Der Tempel des Friedens, ein allegor., episches Gedicht in 4 Gesängen. Brschw., 1756. –
Lagosiade, oder die Jagd ohne Jagd; ein scherzh. Heldenged. in 4 Gesängen, in Prosa. Lpz., 1757. (Zuerst ohne des Verf. Namen in den vermischten Schrn. v. d. Verff. d. Brem. Beiträge, 1757, III. 6. St.)
Murner in der Hölle, ein scherzh. Heldenged. in 5 Ges. Rostock, 1757; ebend., 1767. In der Miniatur-Bibliothek der deutschen Classiker. Hildburghausen und New-York, 1832. – (Latein. in Heramet.: Aelurias, epos Iccosum, in Latinum vertit Ben. Chr. Avenarius. Brunsv., 1771. – Franz.: Raton aux Ensers, imitation libre et en vers du Murner in der Hölle de Mr. Z.; suivie de la Traduction litterale de ce Poéme Allemand par Mr. . à Paris, 1774. – Engl.: in Prosa von N. E. Raspe: Tabby in Elysium. London, 1782).
Die vier Stufen des weibl. Alters, ein malerisches Gedicht in 4 Ges. Rostock, 1757; ebend, 1767. (Franz. v. Mich. Huber, in dessen:



_____
57

beschreibenden Gedichten, für welche er ein vorzügliches Talent besaß, den Thomson zum Vorbilde; in seinen episch-religiösen Sachen, (z. B. Cortes) ahmte er den Klopstock nach, dem er aber wegen großer Unbeholfenheit im Rhythmus keineswegs nahe kam. Dessenungeachtet erhielt er doch von der, der Messiade abholden Partei der Gottschedianer tüchtige Nackenschläge, weil er sich in seinen späteren Epopeen, z. B. im »Phaeton,« in der »Schöpfung der Hölle« u. s. w. nach Klopstock's Vorgange, des Hexameters bedient hatte, und deshalb mit einem seichten Pasquille abgestraft wurde. *) – Für die deutsche Bühne wirkte er nicht ganz ohne Glück. Er unternahm nämlich in Gemeinschaft mit Gärtner die schon oben erwähnte Uebersetzung von »Linguet's Beiträgen zum spanischen Theater; Brschw., 1770 bis 71, 3 Thle.;« welches Werk freilich als nur eine Uebersetzung einer Uebersetzung wenig Werth hatte; doch in so fern für die deutsche Bühne wichtig wurde,
____
Choix des Poesies Allemandes. – Auch von einem ungen: 1780. –
Italien. v. J. Gottlob Glück, Altenb., 1768– u. v. Bello, 1774). Die Schöpfung der Hölle; nebst einigen anderen Gedichten. Altenb., 1760 ebend., 1767. –
Poet. Schrn, 9 Bde. Brschw. 1763 bis 1765. (Davon ein Nachdruck) Neue rechtm. Afl., 2 Thle. Brschw., 1772; neuer Abdr. Ders. ebend., 1777.
Das Schnupftuch, scherzh. Heldenged. in 5 Gesängen; wurde aus dem 2. Bde. dieser Slg. v. Huber in der: Choix des Poesies Allemandes in's Franz. Übers. –  
Cortes, ein Heldenged., 1 Bd. Brschw., 1766. –
Zwei neue, schöne Mährlein, als: 1, von der schönen Melusine, einer Meerfey; 2, von einer untreuen Braut, die der Teufel holen sollen; der lieben Jugend und dem ehrsamen Frauenzimmer zu beliebiger Kurzweil in Reime verfaßt. Lpz, 1772 (Nach alten Volksmährchen von Zachariä auf den Wunsch einer Freundin zu einem Romanzen-Kranze umgearbeitet).
Tayti, od. die glückliche Insel. Brschw., 1777. –
Hinterl. Schrn. v. F. W. Z. Ein Anhang zu der neuesten rechtmäßigen Afl. seiner poet. Wke. Herausg. und mit einer Nachricht von des Verf. Leben u. Schrn. begleitet v. J. J. Eschenburg. Brschw., 1781. –
*) Der Sieg des Mischmasches, ein episches Gedicht; von dem Verf. des Gnissels. Trosberg, bei Heidegger und Compagnie, 1755. –



_____
58

als Ackermann mehre Stücke daraus zur Aufführung brachte, und auf diese Weise auch Deutschland auf die spanische Literatur hingewiesen wurde. – Ein selbstständiger, dramatischer Versuch Zachariä's, ein kleines Nachspiel: »der Adel des Herzens, oder die ausgeschlagene Erbschaft, Hbg., 1770,« wurde nicht ohne Beifall von der Bühne herab aufgenommen. Auch lieferte er noch: »die Pilgrimme auf Golgatha, ein musikal. Drama. Brschw., 1756.« –

In der Kunst, mit gefälliger Leichtigkeit in einer edeln, wenn auch nicht ganz correcter Sprache sich fließend auszudrücken, wurde er von wenigen seiner Zeitgenossen übertroffen; mehrfach aber an Kraft des Gedankens. Daher gerieth ihm denn nie die höhere Ode, zumal er auch gar zu oft aus dem Tone fiel. Seine Werke zeugen weniger von Erfindungsgabe, wie dies aus der Schwäche seiner sämmtlichen, epischen Stoffe ersichtlich ist, als sie den Mann von vielseitiger Bildung und Belesenheit, von zarter Empfindung, und namentlich von einem unangekünstelten Sinne für Naturschönheit verrathen. An nachhaltigem Feuer der Begeisterung gebrach es ihm indessen. Die moralische Langweiligkeit seiner unpoetischen Zeit that allerdings auch dem ästhetischen Gehalte seiner Muse Abbruch; aber gerade dieses Vorwalten der moralischen Tendenz machte ihn andererseits geschickt für das kirchliche Lied, wovon das braunschweiger Gesangbuch Proben enthält, die allerdings zu den besten ihrer Art und Zeit gehören. – Ohne hier auf seine anderweitigen Uebertragungen aus fremden Sprachen *) näher einzugehen, sei nur bemerkt, daß er mit seiner, durch
____
*) Die fliegenden Menschen, od. wunderb. Begebenheiten Peter Wilkens. Brschw., 1767. (Mehr eine Umarbeitung, als eine Uebersehung aus d. Engl.)
2. Neuere Gesch. der Chineser, Japaner, Indianer u. s. w. Aus d. Franz. übers. und mit einigen Anmerk. versehen, 1 Theil. Berlin, 1755. –



____
59

Anmerkungen bereicherten, unglücklicher Weise aber in sehr holprigen Hexametern verfaßten Uebersetzung des »verlorenen Paradieses« *) unserer, damals an Uebersetzungen armen Literatur ein erfreuliches Geschenk machte, und dadurch viel zur Belebung des Geschmackes für beschreibende Gedichte beitrug. Wesentlich schadete er aber auch durch diese Uebertragung dem Einflusse Gottsched's, der als ein Antipode Bodmer's, welcher schon früher den Milton übersetzt hatte, den guten Engländer in die Classe der Lohensteine hinabgestoßen, und sich mit Leib und Leben der Einführung dieses Dichters widersetzt hatte. **) Wahrscheinlich würde sich Gottsched haben zufrieden geben müssen, wenn es dem Zachariä geglückt wäre, seinen unmittelbaren Vorgänger Bodmer etwas weiter hinter sich zurück zu lassen, als dieser seinen Vorgänger Ernst Gottlieb von Berge, von dem schon seit 1682 eine schlechte Verdeutschung des »verlorenen Paradieses« vorhanden war. Interessant bleibt es wenigstens für die Geschichte der Literatur, daß sich durch die von Zachariä seinem Milton beigefügten Uebersetzungsproben aus Homer der Meister der Uebersetzungskunst, Joh. Heinr. Vos, zu seinem ersten Uebersetzungsversuche, einiger hundert Verse aus des Hesiodus Theogonie, anregen ließ. –

Eine der verdienstlichsten Unternehmungen Zachariä's war die Sammlung: »Auserlesener Stücke der besten deutschen Dichter von M. Opitz bis auf gegenwärtige Zeiten; mit historischen Nachrichten und kritischen Anmerkungen versehen; 1. u. 2, Bd. Brschw., 1766 bis 1771;« wozu Lessing für den zweiten Band den von ihm aufgefundenen Scultetus
____
*) Das verlorene Paradies, aus dem Engl. Joh. Milton‘s in reimfreie Verse übers. und mit eigenen sowohl, als anderer Anmerkungen begleitet, 2 Thle. Altona, 1760. – 2. Afl., ebend, 1762. –
**) Fr. J. Riedel über das Publikum. Jena, 1768, p. 161. –



____
560

seinem Freunde überließ. Eschenburg lieferte nach Zachariä"s Tode noch den dritten Band 1778. Ganz dem heiligen Ernste gemäß, womit sich jene Vorboten einer besseren Epoche das Werk der Reformirung angelegen sein ließen, suchte auch Zachariä durch Hinweisung auf die älteren, geschichtlichen Ueberreste für unsere Literatur eine feste nationale, historische Basis zu gewinnen. Unter diesen Gesichtspunkt, und nicht den, der bloßen Nachäffung, müssen daher auch seine »Fabeln in Burkard Waldis Manier« gestellt werden. *) Ueberhaupt wurde er seiner schalkhaften Laune wegen auf dem Gebiete der Fabel gern gesehen, und manche seiner Fabeln z. B. »die Spinne und das Podagra,« »der Bischof und der Bettelbube,« »der Knabe und der Stieglitz,« »der Pfau und das welsche Huhn« u. s. w., leben so ungeschwächt im Munde des Volkes fort, daß man sie noch jetzt als unübertroffene Muster in ihrer Art gelten lassen kann. -  

Seiner übrigen Leistungen, **) namentlich seiner Verdienste um Herausgabe fremder Geisteserzeugnisse, ***) und
____
*) Fabeln und Erzählungen in Burkard Waldis Manier. Brschw., 1771. (Ohne Namen des Verf.) Neue Afl. mit einem Anhange von ausgew. Originalfabeln des Waldis, herausg. v. Eschenburg. Brschw., 1777. – (Mehre von Zachariä's Fabeln sind aufgenommen in die Miniatur-Biblioth. deutscher Classiker, 165. Liefer. Hildburgh. u. New-York, 1832, p. 55 bis 94).
**) Gedicht, dem Gedächtnisse des Herrn von Hagedorn gewidmet. Brschw., 1754. –
***) Olint und Sophronia; ein Gedicht in 3 Gesängen; nebst einem Anhange einiger anderen Gedichte von Gottlob Sebast. von Lucke. Brschw., 1767. (Der Verf. war ein Schüler Zachariä’s, und starb als Zögling des Carolinums in seinem 17. Lebensjahre.)
Zachariä redigirte eine neue Afl. der »Brem. Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, 2 Bde. Brschw., 1768;« worin er das aufnahm, was nicht in den Werken der Verff. der bremer Beiträge enthalten war. –
Vorrede zur 2. Afl. von seines Freundes: »Meinhard' s Versuchen über den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter. Brschw., 1774.« –



____
61

seiner Mitwirkung an verschiedenen Zeitschriften *) kann hier nur im Vorübergehen gedacht werden; will man aber einmal von der vielseitigen Tüchtigkeit Zachariä's reden, so darf auch sein musikalisches Talent nicht ganz unberührt bleiben. Er legte davon nicht allein in dem von ihm veranstalteten Clavierauszuge nach »Herrosee's Gedor, oder Erwachen zu einem besseren Leben,« Proben ab; sondern auch durch seine »Sammlung musikalischer Versuche« (2 Bde., 1760 bis 1768), worin er als Componist seiner eigenen Gedichte auftrat. **) Der verliebte Jüngling Goethe sang einst diese Lieder mit Behagen seinem Aennchen am Claviere vor. Dieses musikalische Talent, welches Zachariä in Braunschweig unter seines Freundes, Frdr. Gottlob Fleischer, Leitung ausbildete,
____
*) Betrachtungen bei dem Anfange des 1761. Jahres. (s. Gelehrte Beiträge zu den brschw. Anzeigen, 1761, 1. St.) Gebet um Frieden; ein Gedicht, (ebend., 2. St.) Von der polit. Parteisucht, (ebendas., 2. st.) Empfindungen christl. Dankbarkeit, ein Gedicht, (ebendas., 11. St.) Von der Eitelkeit, (ebend., 20. St.) Der Tod des Erlösers, als der kräftigste Bewegsgrund zu einem gottsel. Leben, (ebend, 23. St.) Von der wenigen Uebereinstimmung unseres Lebens mit den Vorschriften unserer Religion, (ebend, 29. bis 30. St.) Vom Frühling, (ebend., 37. St.) Gedicht auf die Vermählung des Königs von Dänem. im J. 1766; Schilderung der arkad. Thales; Gedicht auf ein Clavier. (Götting. Musenalman., 1772.) Gedicht an meine Henriette, (ebend., 1776.) Gedicht an die Markgräfin von Baireuth, als sie die Druckerei des brschw. Waisenhauses besuchte, (in C. H. Schmid's Alman. der teutschen Musen, 1773.) Poet. Episteln an Hrn. Ebert, 1. bei Uebersend. eines Topfes mit Honig, 2. als Hr. Ebert Kanonicus ward; und eine »neue Erzählung in Burkard Waldis Manier,« (ebend, 1774.) Eins seiner nachgel. Gedichte, (ebend, 1778.). Er lieferte auch Beiträge zum leipz. Musenalman., 1771 bis 1778. Auser in den brem. Beiträgen, stehen auch Gedichte von ihm in der Slg. verm. Schrn. von den Verff. der brem. Beiträge, 1750; in Ramler's lyr. Blumenlese; und in Frdr. Matthisson’s lyr. Anthologie. Zürich, 1803 bis 1807, IV. p. 123 bis 128, XIX. p. 280 bis 281. –
**) Ueber musikalischen Diebstahl enthalten von Zachariä einen launigen Brief: Marpurg’s Beiträge zur Aufnahme der Musik, III. p. 71. –



____
62

war für ihn in seiner Stellung von um so größerem Werthe, als zur Verbreitung humaner Bildung unter den Studirenden des Collegiums bis zum J. 1768 wöchentlich unter des Hofmusicus Weinholz Direction größere musikalische Unterhaltungen veranstaltet wurden, mit denen auch die sogenannten Conversationen verbunden waren.




_____

4. Ebert.

Joh. Arnold Ebert, *) der Dritte aus der Reihe der literarischen Celebritäten, welche man im J. 1748 zu Hofmeistern an das Collegium berief war geb. am 8. Febr. 1723
____
*) Man vergl. den biograph. Abriß Ebert’s von Eschenburg, vor dem 2. Thle. von Ebert's nachgel. Gedichten. (Mit einigen Abkürzungen wieder abgedruckt, im Braunschw. Magazin, 1795, 46. Stück) und in d. Hamb. Adreß-Comptoir-Nachrichten, 1795 –).
Ueber Ebert’s Tod; im Braunschw. Magazin, 1795, 14. Stück, p. 222 bis 224.
Nekrolog auf d. J. 1795, von F. Schlichtegroll, VI. 1. Gotha, 1797, p. 285 bis 349. (Eine Benutzung der Eschenburg'schen Arbeit)
Wenig Neues enthält der von Heinr. Döring verfaßte biograph. Abriß Ebert's in: Ersch u. Gruber's allgem. Encyklopädie, - I. Section, XXIX. Lpz, 1837, p. 270 bis 272. –
Ueber Ebert's Schriften ist zu vergl.:
Joh. Geo. Meusel‘s Lexikon, der vom J. 1750 bis 1800 verstorb. teutschen Schriftst., III. p. 15.
Einzelne Notizen enthalten:
Manso 's Nachträge zu Sulzer's Allgem. Theorie der schönen Künste, VIII. 2 St., p. 210.
Thies, Hamb. Gelehrtenlexikon, I. p. 135.
Baur's Gallerie histor. Gemälde aus dem 18. Jahrh., I. p. 447.
Baur's Gallerie der berühmtesten Dichter des 18. Jahrh., p. 235.
Jördens Lexikon teutscher Dichter und Prosaisten, I. p. 231.
Frdr. Bouterwek's Gesch. der Poesie und Beredsamk. Göttingen, 1819, XI. p. 277 bis 278.
Franz Horn's Poesie und Beredsamk. der Deutschen, III. p. 81. Raßmann's literar. Handwörterb. der verstorb. Dichter, p. 110.
C. J. Bouginé, Handb. der Literargesch. Zürich, 1791, IV. p. 103.
(Küttner‘s) Charaktere teutscher Dichter u. Prosaisten. Berlin, 1781, II. p. 339. -



_____
64

zu Hamburg, wo sein Vater Stadtsoldat war. Er besuchte das dortige Johanneum, auf welchem Giseke und Basedow seine Mitschüler waren, mit denen sich ein inniges Freundschaftsverhältnis entspann. Der etwas pedantische, aber gründliche Subconrector Hake erwarb sich das Verdienst, in ihm die Neigung für das Sprachstudium zuerst zu wecken, welches in Prima unter der Leitung des durch seine Uebersetzung des Tacitus bekannten Joh. Sam. Müller's, der des Jünglings Fähigkeiten erkannte, ihn durch Aufmunterung auszeichnete und in seinen Umgang zog, fortgepflegt wurde. Hierauf besuchte Ebert auch das vom Johanneum getrennte Gymnasium, und hatte schon um diese Zeit Zutritt zu dem alten würdigen Hagedorn, dem gründlichen Sprachkenner und geschmackvollen Aesthetiker, der wohlthätig auf ihn einzuwirken verstand, ihn zu seinen ersten poetischen Versuchen aufmunterte, ihn mit der englischen Literatur bekannt machte, und die ersten Proben seines Uebersetzungstalentes (mit der Abhandlung von la Nauze) veranlaßte. Die glückliche Gelegenheit, welche sich für Ebert darin darbot, daß er Herren und Damen aus höheren Ständen zu unterrichten hatte, übte den vortheilhaftesten Einfluß auf seine eigene, gesellige Ausbildung, und war für ihn die beste Schule, in welcher er schon früh seine angeborenen, trefflichen Lehrgaben entwickeln konnte. Ebert war noch hamburger Gymnasiast, als er bereits auch schon als Schriftsteller *) auftrat, und zwar mit Gelegenheitsgedichten und geistlichen Cantaten, welche der Kapellmeister Telemann in Musik setzte. Im J. 1743 ging Ebert als Studiosus der Theologie nach Leipzig. Hier wurde er nun durch ein sehr günstiges Mißgeschick von der Theologie abgezogen, und
____
*) J. A. Ebert's christl. Gedanken über das Leiden und Sterben des Erlösers, von einem Freunde der Wahrheit nebst einer Vorrede zum Druck befördert. Hbg., 1742. –



____
65

auf seinen wahrsten Beruf, das Studium der Sprachen und schönen Wissenschaften, gelenkt. Er hatte nämlich noch als Scholar ein harmloses Hochzeitsgedicht vom Stapel laufen lassen, welches vom Musikdirector Görner zu Hamburg componirt, und später unter dem Titel: »das Vergnügen« in einem dortigen öffentlichen Concerte im »Drillhause« zur Aufführung gebracht worden war. Die Wächter Zions im hamburger geistlichen Ministerium, welche ein bedenkliches Vorherrschen des sinnlichen Elementes in diesem Gedichte entdecken wollten, und deshalb den poetischen Candidaten für ein der christlichen Kirche und jeder Unterstützung unwürdiges Subject erklärten, verlangten förmlichen Widerruf. Liest man dieses unschuldige, eigentlich unbedeutende Fabrikat, welches Eschenburg im zweiten Theile des von ihm herausgegebenen, poetischen Nachlasses Ebert's hat abdrucken lassen, so kann man nicht genug über das enge Gewissen jener starkgläubigen Gottesmänner erstaunen, welche aus solch einem Carmen ein Crimen machen konnten! Genug, Ebert wandte sich von nun an gänzlich der schönen Literatur zu, schloß sich unter Gärtner den Mitarbeitern an den bremer Beiträgen an, und nahm 1747 auch Theil an der von seinen Freunden Giseke und Cramer redigirten Wochenschrift: »der Jüngling.« Im J. 1748 berief man ihn, wie schon bemerkt, auf Jerusalem's Empfehlung, als öffentlichen Hofmeister an das Carolinum nach Braunschweig, wo sich aus dem leipziger Klubb ein Genosse nach dem andern um Gärtner wieder versammelte. Wäre doch selbst Ebert‘s Busenfreund, Nicolaus Dietrich Giseke, hierher zu rechnen, welcher 1748 nach vollendeter Studienzeit abwechselnd in Hannover und Braunschweig privatisirte, in letzterem Orte als Erzieher des einzigen Sohnes vom Abt Jerusalem; bis er 1753 durch Jerusalem's Vermittelung die Pfarrstelle im braunschweig'schen Dorfe Trautenstein



_____
66

erhielt, von wo er an Cramer's Stelle nach Quedlinburg, und endlich vom Fürsten Christian Günther zu Schwarzburg-Sondershausen, der ein Zögling des braunschweiger Carolinums war, nach Sondershausen gerufen wurde. Läßt doch auch selbst Gellert in seiner ängstlich-hypochondrischen Weise den Wunsch laut werden, nach Braunschweig versetzt werden zu mögen, wenn er 1750 schreibt: »Sind sie denn nunmehr bei Ihrem Prinzen? Lieber Ebert, werden sie doch mein Patron, und machen sie mich zu was. Das ist das beste Mittel, wenn sie sich verewigen wollen. Sie können sich darauf verlassen, daß ich noch nichts bin, und ich wüßte beinahe auch nicht, was ich Narr werden sollte.« Auch Lichtwehr, 1760 den Kriegsunruhen aus dem Wege gehend, privatisirte einige Zeit in Braunschweig. –

Im J. 1753 wurde Ebert als Professor der englischen Literatur am Carolinum angestellt, und hielt zugleich auch Vorlesungen über Gelehrtengeschichte, welches Fach ihm jedoch auf seinen Wunsch später Eschenburg abnahm, wofür Ebert den Vortrag des Griechischen an die Stelle treten ließ. Als Lehrer war er unschätzbar, da er bei ebenso gründlicher Gelehrsamkeit, wie feinem Geschmack, die seltene Kunst besaß, schlummernde Talente anzuregen. Einer gleich hohen und dankbaren Verehrung, wie er sie von seinen Schülern genoß, hat sich überhaupt selten nur ein Lehrer zu erfreuen gehabt, und gerade der dankbarste seiner Schüler, Herzog Carl Wilh. Ferd., sollte dazu ausersehen sein, die letzten Lebensjahre des würdigen Mannes zu erheitern. Noch im J. 1773 faßte Ebert, der nachgerade schon ein alter Knabe war, den kühnen Entschluß, sich zu verehelichen. Er hatte lange um eine Geliebte getrauert, welche ihm 1750 durch den Tod entrissen worden war; als er noch spät in seiner Louise, der Tochter des braunschweig'schen Kammerraths Gräfe, der auch als



_____
 67

Componist literarisch bekannt ist, einen vollen Ersatz für seinen Verlust fand, und sich, wie er sich selbst ausdrückt, mit den Rosen, welche das Antlitz dieser Angebeteten schmückten, die Falten seiner eigenen Stirn verdecken ließ. Ein wie glücklicher und zärtlicher Ehemann er war, beweist der von ihm alljährlich angesungene 18. Mai, der Geburtstag seiner Gattin, und zugleich sein Hochzeitstag. – Sein Fürst verlieh ihm 1775 ein Kanonicat am Cyriacusstifte, und 1780 wurde ihm auch der Charakter eines Hofraths erteilt und ihm noch obenein eine freie Wohnung angewiesen.

Wir kommen jetzt auf Ebert, den Schriftsteller. Obgleich seine eigenen, dichterischen Versuche, *) zum Theil Briefe in vierfüßigen Jamben, in einer fast tadellos richtigen Sprache geschrieben sind, so kann man doch ihrer ungebührlichen Breite und Redseligkeit wenig Geschmack abgewinnen. Ebert studirte mehr, als er schrieb, weil er überhaupt mehr Gelehrter als Dichter war. Daher hatte er sich denn auch eine gewisse Weitschweifigkeit angewöhnt, die er niemals, selbst nicht in seinen Briefen verläugnen konnte, welche, wie Eschenburg bemerkt, sogar häufig kleine Abhandlungen wurden. Charakteristisch ist, was er in dieser Beziehung von sich selbst in einer Epistel an Gärtner sagt:
____
*) »Joh. Arn. Ebert's Episteln und vermischte Gedichte. Hambg., 1789, 2ter Thl., nach des Verf. Tode, mit einem Grundrisse seines Lebens und Charakters, herausg. v. Eschenburg. Hbg., 1795.« –
»Epistel an Herrn Konrad Arn. Schmid. Brschw., 1772.«
»Der 18. Mai 1774, seiner geliebten Ehegattin gewidmet.« –
Auf Sr. Hochf. Durchl. Carl W. F. höchsterfreuliche Zurückkunft. Brschw., 1794.
Mehre seiner Lieder erschienen in Telemann’s Samml. v. Oden u. Liedern mit Melodieen, 1742; in den bremer Beiträgen, wovon einige in Ramler's, »Lieder der Deutschen,« in die »lyrische Blumenlese« und später in Matthisson's »lyrische Anthologie« aufgenommen wurden; III. p. 145 bis 153; XIX. p. 183 bis 186. –
Gedicht auf den Grafen von Manteuffel (in Gottsched's Ehrenmahl desselben, 1759.)


_____
68

»Kurz, der, der von sich selbst den Abriß hier gemacht,
Leicht länger hätte machen wollen,
Und kürzer hätte machen sollen etc.

Wenn er daher in seiner Anmerksucht selbst seine lyrischen Ergüsse mit gehäuften Anmerkungen nicht verschont, die oft sogar nur auf Grammatikalien *) hinausgehen, so sieht das einer pedantischen Schulmeisterlichkeit gar zu ähnlich; und der gute Professor begegnet einem hierüber etwa zu äußernden Tadel doch nur auf halbem Wege, wenn er in der Vor rede seiner vermischten Gedichte sagt: »Die häufigen Anmerkungen, welche den Text begleiten, können einem leichtfertigen Spötter auch zu der Anmerkung Gelegenheit geben, daß der redselige Commentator über den Young doch immer commentiren müsse, und wenn er auch über keinen andern und bessern Poeten commentiren könne, als – sich selbst. Ungeachtet aber unseres Ebert's zahmer Pegasus einen sehr gleichmäßig ruhigen Schritt geht, so ist doch, trotz Mangel an Schwung und Originalität, eine gewisse, leichte Grazie und liebenswürdige Launigkeit in seinen, scherzhaften Wendungen und Einfällen nicht zu verkennen. Besonders in seinen feineren Gedichten, worin er den leichten Liederton der halberstädter Anakreontiker auffaßte. Seine größte Stärke zeigte er in Gelegenheitsgedichten, die freilich seinen Ruf im Auslande und für die Nachwelt am wenigsten begründen konnten. **)
____
*) Ebert, der übrigens ein sehr tüchtiger Sprachforscher war, hinterließ eine kleine Samml. von Sprachbemerkungen: (S. Beiträge zur weiteren Ausbild. der deutschen Sprache, 3. St. p. 25 bis 31. Brschw., 1795)
**) Wenn Gervinus (p. 102) unter den Mitarbeitern an den bremer Beiträgen auch den J. Arnold Ebert als Fabulisten aufführt, so findet hier eine Personenverwechselung statt; indem unser Ebert keine Fabeln schrieb; jener Fabulist Joh. Jacob Ebert aber, ungeachtet ihn Ersch in der Literatur der schönen Künste irrthümlicher Weise statt Arnold Ebert's zu den Mitarbeitern rechnet, nicht bei den bremer Beiträgen betheiligt war, und seine Fabelsammlung erst 50 Jahre nach dem Erscheinen jener Zeitschrift herausgab.



____
69

Verdient machte sich Ebert auch durch die Uebersetzung der aus dem neunten Bande der Histoire de l'Academie des lnseriptions et belles Lettres von la Nauze entnommenen Abhandlung »über die Lieder der Griechen,« eine treffliche Arbeit, welche Hagedorn 1747 der ersten Ausgabe seiner Oden und Lieder einverleibte. *) Aber Alles dieses will nichts bedeuten gegen das Verdienst und den Ruhm, welchen sich Ebert durch seine »Uebersetzungen einiger poetischen und prosaischen Werke der besten englischen Schriftsteller, Brschw., 1754 bis 1756, 2 Thle,« erwarb. In diesem Werke machte er den ersten Versuch der Uebertragung des Young, den er bald darauf vollständig unter dem Titel herausgab: »Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit, übers. und mit erläuternden Anmerkungen begleitet, Brschw., 1760 bis 1769, 4 Bde.« **) So ganz von Geschmack und
____
Auch nur durch jene Namensverwechselung mag dem Arnold Ebert von Ersch und Anderen, die ihm nachgeschrieben haben, z. B. von H. Döring im Leben Herder‘s, p. 127) die Uebersetzung von Elisabeth Rowe‘s Werken untergeschoben sein, welche von Jacob Ebert herrührt. –
*) Auch durch Bearbeitung von Glover's Leonidas; nach der 3. Ausg., aus d. Engl. Übers. Hamb, 1749 (diese Uebersetzung erschien zuerst in der Samml. der vermischten Schrn. von d. Verff. der brem. Beitr.; wurde 1766 in Zürich nachgedruckt; und von Ebert nach der 5. Afl. des Originals umgearbeitet, und zu Hamburg 1778 herausgegeben); durch seine Uebertragung der vier Predigten des h. Chrysostomus über das Evangelium vom reichen Manne, aus dem Griechischen, (in J. A Cramer's Ausgabe dieses Schriftstellers, 1749); durch seine Uebersetzung von des Lords Halifar Neujahrsgeschenk an seine Tochter« (im 3. St. des 2. Bds. der Samml. der vermischt. Schrn. Von den Verff. Der brem. Beiträge) und der Abhandlung »über die Wahrheit der christl. Religion von Dr. Joh. Jortin, Hamb, 1769.« – An dieser Stelle ist auch gleich die Rede auf das Geburtsfest des Herzogs Carl von Braunschweig zu erwähnen, welche er im 5. Stücke des 3. Bds. der Samml. der verm. Schriften von den Verff. d.brem. Beiträge abdrucken ließ, –
**) (Verb. Afl. Lpz., 1790 bis 1795, 5 Bde.)
Die Gelassenheit im Leiden, ein Gedicht von Young, aus d. Engl. Brschw., 1766. – 3. Afl., 1776. – (steht auch in der neuen Ausg. des Young, ohne Comment, in 3 Bänden)



_____
70

kritischem Geiste durchwehet, durch den Fleiß einer unermüdlich feilenden Hand zu einer Treue und Eleganz ausgebildet, welche alles Vorhandene weit hinter sich ließ, berührte diese Uebersetzung eine Saite, welche in Deutschland tausendfachen Anklang fand. Die Periode schwärmerischer Trauer- und Thränenseligkeit wurde eigentlich durch dieses Werk hervorgerufen, welches dem guten »Werther« einen freundlichen Willkommen vorbereitete. Auf der anderen Seite aber bewirkte der tiefsinnige Young gegen das tändelnde Genre der deutschen Lyra eine heilsame Reaction. Man erwäge nur, wie Young's Sprache selbst auf Klopstock influirte, und wie auch noch Friedrich von Schiller's Ausdrucksweise die unverkennbarsten Einflüsse dieses Britten verräth. Aber auch abgesehen von der blendenden Schönheit der Young'schen Sprache, so ist doch ihr höchster Vorzug, daß sie die Sprache der höchsten Natürlichkeit ist; und wenn diesen Schriftsteller auch temporär verbildete Nachäffer dem gebildeten Publikum förmlich verleiden konnten, so wird er doch stets seinen Werth behaupten, denn wen diese Natursprache tiefgefühlten Schmerzes nicht rührte, der würde zeigen, das er sowohl für Schönheit der Poesie, wie auch für die Sprache des Herzens gänzlich unempfänglich wäre.  

So theilte sich denn, wie Gervinus sehr treffend bemerkt, Ebert mit seinem Freunde Zachariä in die beiden Hauptrichtungen der Zeit; und es wäre gewiß ungerecht, wollte man ihm seinen Verdienstesantheil an den Wirkungen des
____
Young's Satyren u. s. w., als 5. Bd. zu dessen Nachtgedanken, aus d. Engl., mit Anmerk. Brschw., 1771. –
Einige Werke des Dr. Ed. Young. Brschw., 1777, 3 Thle. Verbessert und vermehrt unter dem neuen Titel erschienen: Dr. Ed. Young's Klagen und Nachtgedanken, nebst einigen anderen seiner Werke. Aus dem Engl. in's Deutsche übers. Lpz., 1791 bis 1805, 3 Theile. –




____
71

Young absprechen. Vielmehr hat man es ihm Dank zu wissen, daß er, als ein Meister in diesem Fache, es sehr weislich vor zog, mit Originalität zu übersetzen, als ohne Beruf selbst zu schaffen. Fast sollte man wünschen, daß er mit mehr Verläugnung seiner Gelehrsamkeit, die oft an die Pedanterie seiner Zeit erinnernde Verschwendung an Noten und Parallelstellen gemäßigt hätte; wie denn auch schon mit Recht die Klotzesche Bibliothek ihr Mißfallen über einen so weitläufigen Commentar zu erkennen gab. Sein Schüler und würdigster Nachfolger Mart. Heinr. Aug. Schmidt sagt in der Vorrede seiner, an poetischem Geiste die Benzel-Sternau'sche Uebersetzung bei weitem übertreffenden Arbeit: »Viel zwar und fast mehr als seine Zeit erwarten ließ, hat der verstorbene Hofrath Ebert in Braunschweig geleistet. Seine Uebersetzung giebt den Sinn fast in jeder Stelle richtig wieder, und ist dabei edel und verständlich, kurz eines so gründlichen Sprachforschers vollkommen würdig. Auch entfalten seine Bemerkungen uns einen reichen Schatz von Gelehrsamkeit. Aber er hat leider in Prosa übersetzt, und dies einzige macht, daß man doch eine andere Uebersetzung wünschen muß; denn es fehlt zu dem herrlichen Gedanken der Rhythmus; man hört eine treffliche Musik, die sich aber in keinem Takte bewegt.« *)

Genug, Ebert machte sich nicht allein durch die Wahl des Schriftstellers, sondern auch durch die Art und Weise dieser Uebersetzung, welche im eigentlichsten Sinne eine Uebertragung des edeln Britten auf deutschen Boden zu nennen ist, seiner Mitwelt nützlich; ja, Herder, der sonst eben nicht gut auf Young zu sprechen ist, läßt ihm doch wenigstens wegen
____
*) »Klagen und Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit von Dr. Ed. Young; übers. von Mart. Heinr. Aug. Schmidt. Dresden, 1825, I. p. IV.« Leider ist von dieser musterhaften Uebersetzung nur der erste Theil in's Publikum gekommen.



____
72

der Ebertschen Uebersetzung noch einigermaßen Gnade wiederfahren, und nennt sie »eine Uebersetzung, die nicht nur alles Verdienst eines Originals hat, sondern auch die Uebertreibungen ihres englischen Originals durch den Bau einer harmonischen Prose und durch die reichen moralischen Anmerkungen aus anderen Nationen gleichsam zurecht füget und mildert.« *) – Höchst einflußreich wurde Ebert aber auch durch seine literarische Stellung, z. B. durch sein Verhältnis zu einem Klopstock, seinem Busenfreunde, in dessen Arme zu eilen, es ihn oft nach Hamburg zog, und der ihn auch in schwärmerischen Odenergüssen verewigte; **) zu Hagedorn, dem Führer seiner Jugend, in dessen poetische Werke (Hbg., 1800, V. p. 125, 232) mehre von Ebert's Briefen aufgenommen wurden; zu Giseke und Basedow, seinen Mitschülern; zu der Familie Stolberg, besonders zu den beiden Dichtern, um deren Entwickelung er zu große Verdienste hatte; zu Gärtner und Gellert, seinen Schülern in der englischen Sprache; zu Lessing, mit dem er zugleich eine interessante, briefliche Verbindung unterhielt, (s. Lessing's Schrn, XXVII. 1794); zu Schmid, Oeder, Zachariä, Stuve, Eschenburg, Klamor Schmidt, J. A. Cramer, Schlegel, Gleim, Spalding, bei dem er oft in Berlin vorsprach, Koppe, Meiners, Chladni, Baggesen, von Salis, Matthisson, Brückmann, Rautenberg, Bartels, Jerusalem, zu Gotter, Voß und manchen Anderen. Dieser Einfluß gründete sich auch zum Theil auf seine Mitwirkung bei den verschiedensten Zeitschriften, z. B. bei den Bremer Beiträgen,« dem
____
*) J. G. v. Herder's Abhandlungen und Briefe über schöne Lit. und Kunst, in dessen sämmtl. Werken zur schönen Lit. und Kunst, XVI. Stuttg., 1829, p. 173.
**) Die Ode »Wingolf« Klopstock's Wke., I. p. 6. »Erinnerung an Ebert,« ebend.; II. p. 234.



____
73

»Hamburger Bewunderer (1742),« den »Belustigungen des Verstandes und Witzes 1743,« der von ihm selbst mit redigirten Wochenschrift: »der Jüngling,« (1747 bis 48) beim »teutschen Merkur;« »beim teutschen Museum (Mai, 1780);« bei der »teutschen Monatsschrift (V. 3 bis 7);« bei den »Vossischen Musenalmanachen.« –

Ebert, der als Mensch sehr geachtet war, war auch als Gesellschafter gesucht. Zu den meisten Mitgliedern des fürstlichen Hauses hatte er höchst vertrauliche Beziehungen, so z. B. zur regierenden Herzogin Philippine Charlotte; zu ihren Kindern, dem Herzoge Carl Wilh. Ferdin.; der Herzogin Anna Amalia, die er von Zeit zu Zeit auf dringende Einladung in Weimar besuchte; zur Markgräfin von Baireuth; zur Herzogin Auguste, Aebtissin von Gandersheim; zu den Prinzen Wilhelm und Friedrich, und zum Helden Ferdinand. Manche äußere Sonderlichkeit ließ sein redlicher Charakter, und seine mit Witz gepaarte stete rosige Laune gänzlich übersehen. Vorzüglich war er seines vortrefflichen Vorlesens wegen in höheren Cirkeln gesucht, und spielte auch keine üble Figur in solcher Sphären, weil er gleich regsam, wie anregend, und bei aller Mittheilsamkeit doch stets schonend im Urtheile war. Als ein eigentlich durchweg sinnlicher Mensch, verstand es Ebert dennoch, alle derartigen Genüsse zu vergeistigen, wie er z. B. als ein lebhafter Verehrer der Tafelfreuden, diese erst durch die Freuden geselliger Heiterkeit wahrhaft zu würzen pflegte, und dabei für die Genüsse, welche ihm Künste und die Natur darboten, sich gleich empfänglich zeigte. Obglich dieser kleine freundliche Mann in seinen weißen, oder eigentlich gelben seidenen Strümpfen gegen jeden Temperaturwechsel und zu jeder Jahrszeit gleichmäßig armirt war, und zwar mit einer steiffrisirten Stutzperrücke, mit einem Chapeaubas, mit einem stocke, einem großen



____
74

Regenschirme und einem noch größeren Muffe, so hatte er doch das Unglück, sich beim Begräbnisse eines Freundes eine hartnäckige Erkältung zuzuziehen, welche in hitzige Brustkrankheit ausartete, in Folge deren er 1795 in der Nacht vom 18. auf den 19. März gegen 1 Uhr zu allgemeinem Bedauern starb. – Der braunschweigsche Münzgraveur Merker fertigte eine mit Ebert's Bildnis versehene Denkmünze an, deren Rückseite ein offenes Buch und eine Leier von Rosen und Lorbeeren umschlungen zeigt, mit der Umschrift: seltenen Wissens, Frohsinns und Mitgefühls *). –
____
*) Von Gedichten auf seinen Tod sind zu erwähnen:
Grabschrift von H. M. (im göttinger Musenalmanach).
Elegie auf Ebert‘s Tod, von Spalding. (Berliner Monatsschr, 1795, Mai, p. 387),  
Grabschrift von Klamor Schmidt. (Nekrolog auf 1795, VI. 1. p. 349.)


____

5. Schmid.

Lessing sagte von einem Freunde, »daß dieser selbst nicht wisse, wie viel er wisse;« dieser gelehrte und liebenswürdige Freund war Konrad Arnold Schmid. Geboren am 23. Febr. 1716 zu Lüneburg, war er der Sohn des dortigen - Rectors der Johannisschule, eines gelehrten Mannes, der schon früh in diesem Kinde die Neigung für classische Studien weckte. Um sich der Theologie zu widmen, besuchte er die Akademieen zu Kiel, Göttingen und Leipzig. Zu Göttingen trat er zuerst als Schriftsteller auf mit einer lateinischen Heroide *); und in Leipzig, wo er als Doctor der Philosophie längere Zeit privatisirte, gesellte er sich gleich anfangs jenem Kreise strebender Köpfe bei, welche unter Gärtner's Redaction die bekannten Bremer-Beiträge, dieses erste Fundament der bessern Geschmacksbildung, herausgaben.

Nach dem Tode seines Vaters wurde Schmid im J. 1746 zum Nachfolger in dessen Amte erwählt, in welchem er sich durch Kenntnisse und Pflichttreue gleich rühmlich auszeichnete. In dieser Periode gab er mehre interessante kleine Schriften **) heraus, welche das Gebiet der Geschichte, Aesthetik
____
*) Encomiasticon acad. Georg. Aug. carmen heroicum. Lüneb 1736.–
**) De officiis, quae debemus clarorum virorum memoriae, 1747 Lüneburg.
De historiarum monumentis a scriptoribus annalium patriae conservandis, 1750. Lüneb. -


____
76

und Moral berühren, und welche nur leider darum nicht in der Muttersprache geschrieben worden sind, weil es ihre Bestimmung, als Gymnasial- Einladungsschriften so mit sich brachte. Mit seinen »Erklärungen der Gemüthsbewegungen nach den Sätzen der stoischen Weisen, aus dem Griechischen eines unbekannten Verfassers, Lüneb. 1751,« gab er ein Muster einer gründlichen Uebertragung, und zugleich eine höchst gelungene Probe von der Bildsamkeit der deutschen Sprache, seine ganze Gediegenheit bewährte er in der zuerst 1710 von seinem gelehrten Schwiegervater, dem Superintendenten Georg Raphel, veranstalteten und nun von ihm vielfach verbesserten, mit den Eklogen des Photius und den beigefügten Summarien bereicherten Uebersetzung des Arrian, de expeditione Alexandri M. 1757. Diese treffliche Arbeit erneuerte er später 1764 in Braunschweig mit Hinzufügung der unentbehrlichsten Noten und der Uebersetzung von Dodwell‘s Prüfung der Seereise des Nearch, und Bougainville‘s Abhandlung von der Seereise des Hanno. *)

Wichtiger noch für den Gesichtspunkt unter welchem wir gerade hier Schmid ins Auge fassen, muß die
____
De eo, quod semper delectat in comicorum fabulis. Lüneb., 1748. -
De scienta, prima virtutum in tabula Cebetis Socratis. Lüneb., 1752.  
De clarorum virorum imaginibus in historicorum scriptis. Lüneb, 1754. –
Apospasmatia quaedam scriptorum antiquorum et medil aevi cum codd. Coll. Lüneb. 1756. -
Progr. ad natalem XIV. Sereniss. Waliae Principis Georgil Guil. Friderici. Lüneb., 1751.
Daß der Tod der Frommen die Zufriedenheit eines Christen mehr befördere, als störe. Lüneb., 1758.
**) Arrian‘s indische Merkwürdigkeiten, und Hannon's Seereisen. Nebst Dodwell's Prüfung der Seereise des Nearch, und Herrn von Bougainville Abhandlung von der Seereise des Hanno, und den karthaginensischen Handelsplätzen, die er an den Küsten von Afrika angelegt hat. Mit Landcharten, und einem geograph. u. histor. Register über den Arrian. Brschw. u. Wolfenb., 1764.


____
77

veranstaltete Herausgabe seiner, während seines lüneburger Rectorates, für besondere kirchliche Gelegenheiten verfaßten Weihnachts-Cantilenen gelten, die unter dem Titel: »Lieder auf die Geburt des Erlösers« Lüneb. 1760 erschienen. Wie er sich denn nun überhaupt in seinen Dichtungen als ein feiner Beobachter, und als ein heller Kopf voll attischen Witzes und geläuterten Geschmackes beurkundet, so zeichnen sich auch namentlich diese Poesieen durch Correctheit des Ausdruckes, wie durch Wahrheit und Innigkeit der Empfindung gleich sehr aus, worin er Klopstock als Vorbild genommen hatte.

Im J. 1760 folgte er dem Rufe an das Collegium Carolinum zu Braunschweig, und zwar als Professor der Theologie und lateinischen Literatur, bekam 1777 auch ein Kanonicat am Stifte Cyriaci, 1786 den Charakter eines Consistorialraths und wurde Mitglied der deutschen Gesellschaft zu Helmstedt. Hier in Braunschweig nun, wo Schmid die leipziger Verbindung fortgesetzt sahe, wurde er durch seinen literarischen Ruf, durch den leicht zugänglichen unerschöpflichen Schatz seiner Gelehrsamkeit, durch seinen Fleiß und seine Dienstwilligkeit, als Herausgeber und Ergänzer vieler gediegener Werke, als Mitarbeiter an den gelesensten Zeitschriften *), als Uebersetzer, Commentator, Sammler, als Rathgeber
____
*) Er war Mitarbeiter an den »Beiträgen zu den Belustigungen des Verstandes und Witzes;« an den »Beiträgen zur krit. Historie der deutschen Sprache;« an den »bremischen Beiträgen;« und am »deutschen Museum.«
Epistel an Herrn geh. Rath K. und seine Friederika am Tage nach ihrer Vermählung, (deutsches Mus., 1779, Oct., p. 363 bis 367.) An die Freunde, (ebend., 178, Jul., p. 20.). Der Fuchs u. d. Eule, (ebend., 1782, Juni, p. 513 bis 515.) Nachbargespräch, (ebend., p. 541.)
Zwei Fragmente eines altteutschen Gedichts von d. h. Jungfrau Maria,
mit einer hochdeutsch. Uebers. u. Erläuterungen von Kinderling (ebend., 1788, Jan, p. 61 bis 83, Febr., p. 112 bis 125.)
Proben von Schmid's Gedichten stehen in E. H. Schmid's Anthologie der Deutschen, B. II. p. 139 bis 163; und in Matthisson's lyr. Anthologie, II. p. 107 bis 127.



____
78

bei den Productionen seiner Freunde, vorzüglich aber auch durch seine trefflichen Lehrgaben ein vorzügliches Bindungsmittel des neuen literarischen Aufbaues. Außer der schon erwähnten neuen Ausgabe des Arrian, edirte Schmid zunächst (Brschw. 1769) in einer trefflichen Uebersetzung den »Aetna« des, leider noch immer nicht nach Verdienst genug gewürdigten Cornelius Severus. Wichtig für die theologische Literatur wurde die von ihm auf der wolfenbüttler Bibliothek gemachte Entdeckung einer Handschrift vom Briefe Adelmanns an Berengar *); wodurch wiederum Lessing, wie er dies selbst gesteht **), auf die Spur des von ihm entdeckten Manuscriptes vom Berengarius Turonensis geführt und dabei mehrfach von Schmid berichtigt wurde ***). Das ehrendste Zeugnis darüber, wie fördernd Schmid, der Gelehrte und Dienstfertige, Männern der Wissenschaft, und selbst einem Lessing, bei ihren Forschungen wurde, hat er sich selbst in dem mit Lessing †) geführten Briefwechsel ausgestellt. » O pfui, mein lieber Schmid,« schreibt einmal Lessing an ihn, »daß ich Ihnen schon jetzt danken muß! – Sie sind ja ein rechter Gourmand mit arbeiten. Ich muß Ihnen nur den Brotkorb höher hängen und Ihnen nichts mehr geben. Was bleibt denn auf morgen übrig, wenn heute alles fertig wird? Die Ihrigen
____
*) Adelmanni, Brixiae Episcopi, de veritate corporis ac sanguinis Domini ad Berengarium epistola, nunc primum e codice Guelpherbytano emendata et ultra tertiam partem suppleta.
Cum epistola Berengarii ad Adelmannum et variis scriptis ad Adelmannum pertinentibus, ed. C. A. Schmid Brun., 1770.
**) Die Vorrede zum Berengarius Turonensis, herausg. v. G. E. Lessing Brschw., 1770.
***) Berichtigungen einiger Stellen in Lessing’s Ankündigung des Berengarius Turonensis, (in dem 5. Beitrage zur Gesch. u. Lit., aus den Schätzen der Biblioth. zu Wolfenb., p. 255 bis 261.)
†) Lessing's Werke. Berlin, 1827, B. 27.



____
79

haben Recht, ungehalten auf mich zu werden, wenn sie glauben, daß ich sie treibe. – Indes nochmals Dank!« worauf Schmid eben so liebenswürdig antwortet: »Wenn sie, mein liebster Lessing, mir Freßwolfe den Brotkorb so hoch hängen, daß ich von Ihnen nichts mehr erhalten kann, so mause ich nebenher.«

Schmid's vorzüglichstes, von einer reichen Phantasie zeugendes Werk ist: »des heiligen Blasius Jugendgeschichte und Visionen.«  *) Bouterwek nennt dieses Gedicht »ein Meisterwerk voll Witz und Laune, von einer wahrhaft romantischen Erfindung. Wenn auch Bouterwek nicht zu viel gesagt hat, darf man sich doch nicht verhehlen, daß Wieland's Muse den Ton dieses herrlichen Gesanges angab.

Alles übrigens, was sich noch von Schmids persönlichem Charakter Rühmliches sagen ließe, würde weit zu gering sein, um seinem Werthe vollkommen zu entsprechen. Seine Biederkeit, seine Sanftmuth, Offenheit, seine heitere Laune, seine unermüdliche Gefälligkeit, seine treffliche Lehrgabe, die ihn seinen Schülern nur als väterlichen Freund erscheinen ließ, alles dieses machte ihn Allen theuer, die ihn kannten; und allen diesen Tugenden setzte er noch die Krone auf durch seine anmuthige Bescheidenheit. Als einst in traulichem Kreise von ausgebreitetem Schriftstellerruhme die Rede war, rühmte er sich in scherzhafter Naivität, daß sein Ruhm selbst bis Lüneburg ginge. **)
____
*) Zuerst war dieses treffliche, komische Epos in gereimten Jamben gedruckt im deutschen Museum 1784, St. 8.; worauf der Verfasser dasselbe in verbesserter Ausgabe besonders erscheinen ließ: Berlin und Stettin, 1786. –
**) Man vergleiche die treffliche Schrift: Ueber Konrad Arnold Schmid's und Carl Christian Gärtner’s Verdienste, besonders um die deutsche Literatur von Theodor Roose. Helmstedt, 1792, p. 41.
Fr. Bouterwek, Gesch. der Poesie und Beredsamk., XI. Göttingen, 1819, p. 278.
Rambach's Anthologie, IV. p. 479. –



____
80

Nach einem langwierigen Krankenlager endete ein sanfter Tod das Leben dieses, an Entkräftung dahinschwindenden, allgemein geliebten Mannes, der am 16. Nov. *) 1789, also schon nach wenigen Wochen, seinem in die Ewigkeit ihm vorangegangenen Freunde Jerusalem folgte, welcher noch auf seinem eigenen Schmerzenslager mit inniger Theilnahme dieses Leidensgenossen gedacht hatte. –
____
Wiedeburg’s philol. Pädag. Magazin, II. lte St., p. 3. bis 26. Saxii Onomast. Lit. VIII. p. 20. –
Richter’s biograph. Lexikon der geistl. Liederdichter, p. 343. –
J. J. Eschenburg‘s Entw. einer Gesch. des Collegii Carolini zu Braunschw. Berlin, 1812. –
*) Dieses Datum erhellt, wenigstens aus den braunschweig'schen Anzeigen (1789, p. 1534), der muthmaßlich authentischten Quelle; und nicht der 11. Nov, wie Roose, oder d. 17., wie Andere angeben. –




____

6. Eschenburg. *)

Wir begegnen jetzt einem Gelehrten, der als Muster eines geistigen Haushalters eine sichere Bilance zwischen geistiger Einnahme und Ausgabe zu halten verstand, einem Sammler und Ordner, deren sich die deutsche Literatur nicht vieler zu rühmen hat. Während in der Regel Männer von umfassender
____
*) Eschenburg’s biograph. Abriß von Heinr. Döring, in Ersch u. Gruber's allgem. Encyklop. d. Wissensch. u. Künste, 1. sect. 37. Thl. Lpz., 1843, p. 52 bis 54.
H. Dörings Gallerie deutscher Dichter u. Pros., I. p. 247.
Meusel's Gelehrt. Teutschl, II. p. 239, und die Nachträge in den folg. Bdn.
Raßmann’s literar. Handwörterb. verstorb. teutscher Dichter etc., p. 165 bis 443.
Jörden’s Lexikon teutscher Dichter u. Prosaisten, VI. p. 768. - - (Carl Aug. Küttner's) Charaktere teutscher Dichter u. Prosaisten. Berlin, 1781, II. p. 500.  
Almanach der Belletristen u. Belletristinnen auf d. J. 1782, p. 43.
Almanach für Dichter u. schöne Geister auf d. J. 1785, p. 30.
Richter’s Lexikon geistl. Liederdichter, p. 63.
Heerwagen's Literaturgesch. d. evangel. Kirchenlieder, I. p. 300.
Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Lpz., 1790, p.96.
Fr. Bouterwek's Gesch. der Poesie u. Beredsamk., XI. Göttingen, 1819, p. 522.  
Franz Horn's Poesie u. Beredsamk. der Deutschen, III. p. 335.
Carl Jos. Bouginé’s Handbuch der Literargesch., 1791, IV. p. 118 bis 119.
J. J. Eschenburg’s Entwurf einer Geschichte des Collegii Carol. Berlin, 1812.
Geistl. Liederschatz. Berlin, 1832, p. 888. –



_____
82

Gelehrsamkeit zu üppig in's Kraut wachsen, trieb Joh. Joachim Eschenburg, Schmid’s würdiger Eidam, den Blüthenbaum seines Geistes zu den reichsten Früchten. Dieser liebenswürdige, wahrhaft humane Mann, der Sohn eines hamburger Kaufmannes, war geboren am 7. Dec. 1743 zu Hamburg. Auf dem Johanneum durch Joh. Sam. Müller, und auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt seit 1762 durch Reimarus und Büsch vorbereitet, bezog er 1764 die Akademie zu Leipzig, wo ein Clodius, Ernesti, Gellert, Morus und Winkler seine Lehrer; ein Ebeling, Engel, Garve, Michaelis, Weise und Zollikofer seine Freunde und Gönner wurden; wo auch Dan. Schiebeler sich ihm anschloß, und sich als Mitarbeiter an den von Eschenburg edirten »Hamburger Unterhaltungen« betheiligte, und wo er auch die Bekanntschaft Goethe's machte, der sich dieses schönen jungen Mannes noch in späteren Jahren mit Vergnügen erinnerte. Nachdem er nun noch seit 1767 seine Studien in Göttingen fortgesetzt hatte, kam er in demselben Jahre, auf Veranlassung Jerusalem's, dessen Sohn sein Studiengenosse war, als öffentlicher Hofmeister an das braunschweiger Collegium Carolinum. Auf den Wunsch des Hofraths Ebert nahm er diesem im J. 1770 den öffentlichen Vortrag über Literaturgeschichte ab; worauf er im J. 1773 eine außerordentliche Professur an diesem Institute erhielt. Schon 1777 rückte er in Zachariä's Stelle als ordentlicher Professor der schönen Literatur und Philosophie ein, als welchem ihm, neben philosophischen Vorlesungen, der Vortrag der Geschichte der schönen Literatur, der der Philosophie und der Kunst oblag. Zur Belohnung seiner Verdienste wurde er 1786 mit dem Charakter eines Hofrathes begnadigt; ihm auch außerdem die Oberaufsicht über die Censur, daneben die Redaction des braunschweiger Gelehrten-Magazines übertragen; und ihm 1795



_____
83

ein Kanonicat am Cyriacusstifte, dessen Senior er später wurde, conferirt. Nachdem er 1817 ein halbes Jahrhundert hindurch mit vollem Ruhme in braunschweig'schen Staatsdiensten gestanden hatte, wurde, bei der hohen Verehrung, welche er als Mensch und Gelehrter von allen Seiten genoß, der Tag, an welchem er vor 50 Jahren in seine neue Heimath eingezogen war, der 15. Nov. als ein Fest des Jubels begangen. Bei dieser Gelegenheit wurde er von den Akademieen zu Göttingen und Marburg mit Ehren-Doctordiplomen beschenkt, vom Könige von Großbritannien zum Ritter des Guelphenordens, und zugleich zum Geheimen-Justizrathe ernannt. Außerdem war er auch Ehrenmitglied der Akademieen zu Livorno, Leyden und Amsterdam. Mit dem Bewußtsein des segensreichsten Wirkens entschlummerte er am 29. Febr. 1820.

Um Eschenburg’s Verdienste gehörig zu würdigen, muß man die Epoche einer noch in den Windeln liegenden Literatur in Erwägung ziehen. Im Gebiete der Theorie sah es wüst und unsicher aus, und die sich täglich selbstständiger entwickelnde, junge Literatur schweifte so in's Ungemessene, daß Eschenburg, der zu sichten, und alles den Theorieen seiner Lehrbücher unterzuordnen wußte, einem tiefgefühlten Bedürfnisse seiner Zeit abhalf. Als ein solcher Archivar und Ordner hat sich Eschenburg, der mit den ausgezeichnetsten Zeitgenossen in Verbindung stand, und durch tüchtige Mitwirkung die besten Zeitschriften *) unterstützte, bei seiner ausgebreiteten
____
*) Der Biograph, V. VI., 1806, ff.
Gräter's Bragur.
Neuer lit. Anzeiger, 1806.
Deutsche Monatsschr.
Berlin. Monatsschr.
Hamb. Unterhaltungen I bis IV. (von 1766 bis 1767 Redacteur.)
Teutsches Museum, 1776.
Allgem. deutsche Biblioth.
Gelehrtes Beibl. zu d. braunschw. Anzeigen (1807 führte er die Redaction.)



____
84

Gelehrsamkeit, und bei seinem unermüdlichen Fleiße großes Verdienst erworben. seine Lehrbücher, *) wenn auch, wie es für ihre Entstehungszeit nicht anders zu erwarten war, noch von Bodmer's und Sulzer's Geiste befangen, zeichnen sich doch durch Uebersichtlichkeit und durch Vermeidung des dem damaligen Geschmacke zusagenden, pedantischen Schwulstes aus. Das meiste Glück machte seine »Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften.« Der hohe Werth dieses nützlichen Lehrbuches wird nicht allein daraus ersichtlich, daß es für das beste seiner Zeit erkannt wurde, und deshalb die gleichzeitig erscheinenden Lehrbücher von Eberhard und Engel verdrängte; sondern daß man dasselbe noch nach 56 Jahren einer neuen Auflage für würdig erachten konnte, und das sich dieses, wie auch Eschenburg's übrige Lehrbücher, noch jetzt zum Theil in gelehrten Anstalten zu behaupten vermochte. Zwar hätte man vom Verfasser in den neueren Auflagen allerdings eine strengere, philosophische Anordnung und eine dem
____
Wieland's deutscher Merkur.
Britt. Museum für die Deutschen, 6 Bde., (redig. v. Eschenburg v. 1777 bis 80.)
Die Fortsetzung davon: Annalen der britt. Liter.
*) Handb. der class. Literat, Alterthumskunde u. Mythologie. Berlin, 1783, 7. Afl., 1827. (Ist eigentlich eine Erweiterung und völlige Umgestaltung der zum Grunde gelegten »Anleit. zu den vornehmsten Wissenschaften von Hederich, 2 Thle.«) In’s Franz. übers.: Manuel de Litérature Classique Ancienne, Traduit de l'Allemand de Mr. Eschenburg, avec des additions par C. F. Cramer. Paris, 1802. – In's Dän.: Handbog in den Classike Literatur. Efter den fierde tydske Udgave, paa Dansk besörget ved M. Börge Thorlacius. Kjöbenhaven, 1806 bis 1807. Twe Deelen. -
Grundr. der röm. Fabelgesch., 1783, 4. Afl., 1822. (Nach dem Handb. der class. Lit. 1801 bes. abgedr.)
Entwurf einer Theorie u. Literat. der schönen Wissenschaften. Berlin u. Stettin, 1783, 3. Afl, ebend, 1805, unter d. Titel: Entw. einer Theorie und Literat. der schönen Redekünste, 4. Afl., ebend, 1817. Neueste Asgb. v. M. Pinder. Berlin, 1836. –
Lehrb. der Wissenschaftskunde, ein Grundr. encyklopädischer Vorlesungen. Berl. u. Stett., 1792, 7. Afl., 1825. (Eigentl. eine Erweiter. des Handbuches der class. Literat.)



____
85

späteren Aufschwunge der Wissenschaften angemessenere Sichtung erwarten können: wenn nicht die Verbreitung dieser Bücher in öffentlichen Lehranstalten einer solchen Reform hinderlich gewesen wäre.

Eschenburg beklagte mit vielem Grunde die gänzliche Vernachlässigung des literar-historischen Studiums in Deutschland; und um diesem Uebel erfolgreich abzuhelfen, legte er selber Hand an, die verborgenen und verkannten Schätze der Vorzeit, und mit ihnen zugleich das Studium der altdeutschen Poesie aufzufrischen. *) In diesem Gebiete hat denn auch
____
*) Nachrichten von deutschen Poeten der vorigen Jahrhunderte (im teutsch Museum)
Zachariä's Fabeln und Erzählungen in B. Waldis Manier; mit einem Anhange von ausgewählten Originalfabeln des Waldis und dazu nöthigen Spracherklärungen, v. E. Brschw., 1777.
Zachariä s auserles. Stücke der besten deutschen Dichter von Opitz bis auf gegenwärt. Zeiten. Brschw., 1773. – Nach des Herausg. Tode, 3. Bd., v. Eschenburg. Brschw., 1778. –
Denkmäler altdeutscher Dichtkunst. Beschrieben und erläut. v. Eschenburg. Bremen, 1799. Einige liter. Nachträge zu meinen im J. 1799 herausgegeb. Denkmälern altdeutscher Dichtkunst. (Neuer liter. Anzeiger, 1806, N. 7, p. 97 bis 100.)
Boner's Edelstein in 100 Fabeln, mit Varianten uud Worterklärung herausg. Berlin, 1810.
Eschenburg’s Beiträge zu Gräter's: »Bragur« und zu dessen Fortsetzung: »Hermode.« Fabeln aus dem Renner (Bragur II. 1792) Noch einige Priameln aus dem 15. Jahrh. (ebend.) Ueber Boner's Fabeln und über Scherzen's »Gnomologus« (ebend.) Ueber Filidor, den Dorferer (ebend.) Auszug des Inhalts und Proben des handschriftl., altdeutschen Gedichtes vom König Salomon und Markolphus (ebend. III. 1794.) Nachricht von dem altdeutschen Gedichte: »Hemynk de Han.« (ebend.)
Beiträge zur alten, teutschen Lit. (Teutsch. Mus., Febr. u. Mai 1776.) Ueber eine handschriftl., metrische Umarbeit. des Theuerdank. (Neuer lit. Anzeig. N. 8, p. 113 bis 118.) Nachtrag zur Notiz einer von Eschenburg zu Anfang des 2. St. der von Brun’s herausg. Beiträge zur krit. Bearbeit. unbenutzter Handschrn. u. s. w. mitgetheilten, altdeutschen Erzählung (ebend. N. 9, p. 129 bis 131)
Ueber die Fabel vom Müller, seinem Sohne u. ihrem Esel (ebend. N. 29, p. 449 bis 452.)
Ueber Heinr. Bebel’s Nachahm. eines altdeutschen Volksliedes (ebend. N. 36, p. 561 bis 565.)
Nachträge zu der Adelung'schen Nachricht von einem altdeutschen Gedicht über das Schauspiel. (s. Wieland's Merkur, 1805, Febr., p. 111 bis 123.)



_____
86

Eschenburg ohne Frage seine Hauptstärke entwickelt; indem er mit kritischer Umsicht seinen Gegenstand angreift, ihn unverfälscht zu erhalten, ihn durch ansprechende Erläuterungen zugänglich zu machen sich angelegen sein läßt; und indem er zugleich mit »feinem Geschmacke« das Schönste zu wählen versteht, wie dies namentlich Herder *) von ihm rühmt. Mit seiner »Beispielsammlung,« **) welche durch seine schätzbaren, literarischen Nachweisungen großen Werth erhielt, wollten freilich unter seinen Zeitgenossen manche Poeten, selbst die Xenienschreiber nicht zufrieden sein; weil sie sich nicht immer in anständiger Gesellschaft aufgeführt, oder weil sich auch wohl Andere nicht genug herausgestrichen glaubten. Man erwäge jedoch, daß Eschenburg hier nicht als Kunstrichter, sondern als Fachordner auftrat, dem es zunächst um Beispiele für die von ihm aufgestellten Abtheilungen zu thun war. Gewisse, neuere Literarhistoriker geben in ihrer naiven Dreistigkeit diesem Werke das beste Zeugnis dadurch, das sie dasselbe mit sehr unwesentlichen Veränderungen (denn die wesentlichste ist jedenfalls die Namensveränderung des Herausgebers) wieder abdrucken lassen.

Eschenburg, der sich, wenn auch nur gelegentlich durch einzelne, kleinere Proben, auch als gründlicher Sprachforscher bewährte, ***) machte sich bei seiner Regsamkeit besonders noch
____
*) Herder's sämmtl. Wke. zur schönen Liter. und Kunst, XX. 1830, p. 233 u. 387. **) Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Berlin u. Stettin 1788 bis 95) 8 Bde.
Der siebente Bd. erschien auch besonders, unter dem Titel: »Eschenburg‘s dram. Biblioth., oder Nachrichten, Charaktere und Beispiele der vornehmsten, älteren und neueren Schauspieldichter mehrer Nationen, 1793.
***) An Prof. Trapp über seinen Aufsatz, eine Stelle in Horazen's Epistel an die Pisonen betreffend, im 1. St. des Braunschw. Journ. (Brschw. Journ., 1789, IV. p. 409 bis 425.)
Ueber die Stelle beim Horaz Sat. I. 3, v. 111 bis 118; in Bezieh.



____
87

als Herausgeber und Biograph vielfach nützlich. *) Ganz besonders ist sein Verdienst um Sichtung und Herausgabe des Lessing'schen Nachlasses anzuerkennen; weil er gerade bei seiner übrigen Befähigung, namentlich bei seiner taktvollen
____
auf die im diesj. Aug. des brschw. Journ, p. 479, davon gegeb. Erklär. (ebend, 1791, IX. p. 80 bis 87.
Von der Abstammung des Wortes Truchseß. (Brschw. Magaz., 1793, XX. p 311.)
Anmerkungen und Berichtigungen zu Campen‘s Nachtrag zum ausübenden Theile seiner Preisschr. über die Reinig. und Bereicher. der deutschen Sprache. Brschw., 1794.
*) Dan. Schiebeler’s auserles. Gedichte, mit Nachrichten v. Schiebeler’s Leben. Hbg., 1773. –
Zachariä's hinterl. Schrn. nebst Nachrichten von des Verf. Leben. Brschw., 1781. Eine bes. Ausg. der Biographie erschien unter d. T.: Eschenburg’s Leben F. W. Zachariä‘s. Brschw., 1781.« –
Denkwürdigkeiten aus dem Leben Herzogs Leopold v. Brschw. (Berlin Monatsschr., 1788, V. p. 504 bis 513.)
Fr. Rambach: Theseus auf Kreta, ein lyr. Drama; mit einer Vorrede v. E. Lpz., 1791.
Ueber Joh. Frdr. Wilh. Jerusalem. (Teutsche Monatsschr., 1791, VI. p. 97 bis 135.) Ist auch bes. erschienen. Berlin, 1791.
Charakter Gottfr. Chaucer’s. (Nachträge zu Sulzer's Theorie d. schön. Künste, II. 1, p. 113 bis 139. – 1793.
J. Arn. Ebert's Episteln u. vermischte Gedichte, 2 Thle. Nach des Verf. Tode mit einem Grundrisse seines Lebens und Charakters herausg. v. E. Hbg., 1795.
»Leonore,« Ballade von Bürger, in drei englischen Uebersetzungen (v. J. T. Stanley, Spencer und Pye.) Göttingen, 1797.
F. R. Ricklep's neues, vollst. Taschenwörterb. d. engl. u. deutschen Sprache; mit einer Vorrede v. E. Bremen, 1799 bis 1800, 2 Thle.
Fr. v. Hagedorn's poet. Wke. Neueste Asg., mit d. Lebensbeschreib. des Dichters und mit Auszügen seines Briefwechsels begleit. Brschw., 1800, 5 Bde. –
Eschenburg ergänzte den von Lessing unvollendet hinterlassenen fünften Beitrag: »Zur Gesch. u. Lit.; aus den Schätzen der Wolfb. Biblioth. Brschw., 1781.
Lessing’s handschr. Anmerk. zu Winckelmann’s Gesch. d. Kunst, herausg. v. E. (Berl. Monatsschr., 1788, VI. p. 592 bis 616.)
G. E. Lessing's Leben des Sophokles, herausg. v. E. Berlin, 1790.
Kolleklaneen zur Literat., herausg. v. E. 2 Thle. Berlin, 1790.
Redaction der antiquar. Briefe Lessing's, mit Zusätzen. Berlin, 1793, (im 11. u. 12. Bde. von Lessing' s Schrn.)
Briefwechsel mit Lessing; (in Lessing’s Schrn, 1794, XXVII.)




____
88

Discretion, zu diesem so höchst schwierigen Unternehmen auch als Lessing's Freund und Genosse seiner Studien (wovon der mit diesem Gelehrten geführte, inhaltschwere Briefwechsel - Zeugnis giebt,) vorzugsweise geeignet war. An dieser Stelle wäre auch noch des sehr planen und sachgemäßen Abrisses der Geschichte des Collegiums Carolinums *) zu gedenken, den er im J. 1812 herausgab, als er dasselbe zu höchstem Kummer vom französischen Usurpator in eine Kriegsschule verwandelt sehen mußte. Mit diesem historischen Ueberblicke einer besseren, leider entschwundenen Zeit wollte Eschenburg dieser Anstalt, zu deren Blüthe er selbst so viel beigetragen hatte, wenigstens noch ein Denkmal der Erinnerung gründen, welches der fleißige Mann aber mit seiner linken Hand aufs Papier zu werfen gezwungen war, weil die gelähmte, rechte Hand den Dienst versagte.

Unbeschadet seines Werthes kann man zugestehen, das Eschenburg in eigenen, dichterischen Productionen nicht besonders glücklich war. **) Ohne Feuer der Phantasie, ohne
____
*) J. J. Eschenburg’s Entwurf einer Gesch. des Collegii Carolini in Braunschweig. Berlin, 1812. (Dieser Entwurf ist eine Erweiterung eines Aufsatzes aus dem brschw. Magaz. v. J. 1791, 1. bis 4. St.) An dieser Stelle möge auch gleich einiger anderer histor. Versuche gedacht werden:
Beitrag zur älteren Gesch. des Armenwesens der Stadt Braunschweig. (Brschw. Magaz., 1796, XXI.)
Bemerkungen über die im 7. St. des neuen lit. Anz. v. J. 1806, p. 109 befindliche Anfrage, den Csiv-Janus betreffend. (Neuer lit. Anzeig., 1807, N. 4, p. 59 bis 62.)
Ueber die Gesta Romanorum u. ihren Verf. (ebend., 1807, N. 3, p. 39 bis 45)  
Diplomat. Berichtigungen der Rechtmeyerischen Nachrichten von der päpstl. Bestätigung des Cyriaksstiftes in Braunschw. (Brschw. Magazin, 1807, 44. St.)
**) Theodorus an seinen Vater Clemens, eine Heroide. Lpz., 1766. –
Comala, ein dramat. Gedicht. Brschw., 1769. (Bearbeitet nach einer Episode aus Ossian's »Fingal.«).
Die Wahl des Herkules, ein dramat. Gedicht. Brschw., 1773. –
Hoffnung und Erfüllung, zwei Gedichte. (Teutsche Monatsschr., 1794, 4. St., p. 285 bis 287.)



____
89

Bewältigung der Form, konnte er seinen, sich nur in verbrauchten Ideen bewegenden Nachahmungen nie den beseelenden Geist origineller Frische einhauchen. Von allen seinen lyrischen, musikalischen, epischen und dramatischen Versuchen möchten seine elegischen und religiösen Poesieen noch am ersten Stich halten, obgleich der ganze letztgenannte Zweig, bei der bisher nur höchst kümmerlich geübten Pflege, kaum als ein gesunder Spros ächter Dichtkunst anzuerkennen ist. Trotz alle dem, und ungeachtet Eschenburg auch in seinen 15 Kirchenliedern in der von Cramer angestimmten Weise fortsang, erfreueten sich dieselben doch einer großen Popularität; und wie einst der Gesang: »Ich will dich noch im Tod erheben,« einem Weisen, dem edlen Jerusalem, den letzten wehmüthigen Abschied von den Seinigen und von den Freuden dieser Erde versüßte: so schöpfte 1809 das Heldenherz Friedrich Wilhelm's von Braunschweig vor der Schlacht bei Oelper sein Gottvertrauen aus dem, auf der Wahlstatt mit seinen Kriegern angestimmten, erhebenden Liede Eschenburg's:

»Dir trau' ich, Gott, und wanke nicht,
»Wenn gleich von meiner Hoffnung Licht
»Der letzte Funken schwindet!«
____
Einzelne Gedichte sind zu finden in »Matthisson's lyr. Anthologie,« 7. Thl., p. 157 bis 182; in »Haug und Weiße's epigrammat. Anthologie,« 4. Thl., p. 297; in den »Unterhaltungen;« im »deutschen Museum;« im »Almanach der teutschen Musen;« in mehren Musenalmanachen und anderen periodischen Werken. Auch erschienen einzeln mehre Gelegenheitsgedichte, z. B. »Klagelied auf das Absterben der Gräfin Sophie Charl. v. d. Schulenburg-Wolfsb., geb. Gräfin Veltheim-Harbke;« »Elogie an dem Sarge seiner früh vollendeten Tochter.« –
Von seinen kirchlichen Liedern findet man mehre in Zollikofer‘s Gesangb. Lpz., 1766; im braunschw. Gesangb.; wie auch in anderen Gesangbüchern; in J. P. Uz‘ lyr. Gedichten relig. Inhalts mit Mel. v. J. A. P. Schulz. Hbg., 1784. (Mehre davon wurden in's Dän. übers.: »Hellege Sangen, forfattede of de Tydske Dichtere Uz, Eschenburg, Kleist, Cronegk og Schmid, ved Capelm. Schulze’s Melodien. Paa Dansk utgiven of Ed. Strom.« Kphg., 1785.)


____
90

Auch durch die große Anzahl seiner gründlichen Uebertragungen aus fremden Sprachen *) hat sich Eschenburg gerechte Ansprüche auf Anerkennung erworben, namentlich durch seine Uebertragung des Shakespeare. Nachdem zuerst
____
*) Mme. Le Prince de Beaumont: Briefe der Emerentia und Lucia. Aus d. Franz Lpz., 1766. –
Lucas und Hannchen, eine Operette; nach d. Franz der Mme. Favart und Marmontel's. Brschw., 1768. (Diese Operette steht auch in den von Eschenburg 1766 in 10 Bdn. herausg Hamb. Unterhaltungen, IV. 4, p. 827.)
J. Brown’s Betracht. über die Poesie u. Musik. Aus dem Engl. mit Anm. und 2 Anhängen. Lpz, 1769. –
Dn. Webb’s Betracht. über die Verwandtsch. der Poesie u. Musik. Aus d. Engl. Lpz., 1771. –
Hurd ’s Comment. über die Horazischen Episteln an die Pisonen u. an den August; mit Anmerk. v. E. Lpz., 1772, 2 Bde.
Racine's Esther, in Versen übers. (Hamb. Unterh. III.)
Der Deserteur; eine Operette, aus d. Franz des Sedaine. Mannh., 1772. (Componirt v. Monsigny.)
Voltaire's Zaire, ein Trauersp. Aus dem Franz. Lpz., 1776. –
Robert und Kalliste, od. Triumph der Treue; eine Operette, aus dem Ital. der: „Sposa fidele“ des Guglielmi. Bresl. u. Lpz., 1776, Neue Afl. Berl., 1778. –
A. F. Ursinu’s Balladen und Lieder, altengl. u. altschott. Dichtungsart. Aus d. Engl. Berlin, 1777. –
Ernst u. Lucinde, eine Oper nach Marmontel, 1777. –
Joh. Priestley's Vorles. über Redek. und Kritik. Aus dem Engl. Lpz., 1779. –
Carl Burney’s Abhandl. über die Musik der Alten. Aus d. Engl., mit einigen Anmerk. Lpz, 1781. –
Wilh. Hay: Relig. der Philosophen, od. Erläuter. der Grundsätze der Sittenlehre und des Christenth., aus Betracht. der Welt. Aus dem Engl. Brschw., 1782. –
Dr. Carl Burney’s Nachr. von G. F. Händel's Lebensumst. u. der ihm zu London im Mai u. Juni 1784 angest. Gedächtnisfeier. Aus d. Engl. mit Kupf. Berl. und Stettin, 1785. –
E. Gibbon's Verf. über das Studium der Literat. Hbg., 1792. –
Alx Pope's Essay on Criticism. with notes, (mit Eschenburg's Uebersetzung.) Wien, 1799. –
Alex. Pope: Eloise to Abelard, nach Eschenburg's u. Bürger’s deutsch. Uebers. Wien, 1799. –
Ueber Hamburg's Armenwesen. Aus d. Engl. (des Etatsraths Voght.) Brschw. und Hbg., 1799.
H. Füsli's Vorles. über die Malerei. Aus d. Engl. Brschw., 1803. –
Mehre Abhandl. aus Warton's Gesch. d. engl. Dichtk., (in E. britt. Museum f. d. Deutschen, 1. bis 6. Bd., 1777 bis 1780.)
Richard Savage v. Dr. Sam. Johnson (in der Zeitschrift der Biograph., VI. 2. St., p. 203 bis 242, 3. St., 1807.)




____
91

Barthold Feind (geb. 1678, st. 1723) des »berühmten englischen Tragicus Shakespeare« lobend gedacht hatte; nachdem 1741 der erste schwache Versuch einer Uebersetzungsprobe eines Shakespear'schen Drama's gewagt worden war; nachdem mit großem Nachdrucke Lessing im J. 1759 in den Literaturbriefen auf die gesunde Nahrung Shakesspear'scher Lectüre aufmerksam gemacht, nachdem hierauf Wieland 1762 bis 1766 mit dem Uebelbehagen eines, durch verfeinerte Genüsse überreizten Magens nur hier und da von der kernigen Speise genascht hatte, bereitete Eschenburg bei unverdrossenem Fleiße seiner Nation einen vollständigeren Genus. *) Daß er die Form nicht überall ergründete, ist aus dem Mangel an Vorarbeiten zu erklären. Erst in späterer Zeit hat man sich über die Grundsätze in Ansehung der Form verständigt, indem man sich für möglichst treue Anschließung an Rhythmus und Genius des Originals entschied. Aus diesem Grunde sind auch die meisten Uebersetzungen früherer Zeit eigentlich mehr als Umarbeitungen zu bezeichnen. Eschenburg’s Aufwand an literar-historischem Material zur Kritik seines Autors gränzt an das Erstaunenswerthe; und um wenigstens eine Andeutung seines Fleißes und seiner Gründlichkeit zu geben, sei beiläufig bemerkt, daß, ungeachtet er zu seinen Forschungen noch weit und breit die auserlesensten Bibliotheken benutzte, seine eigene, reiche Büchersammlung allein über 400 Bände
____
*) Shakespeare's theatral. Wke. Übers. Zürich, 1775 bis 1777, 12 Bde., 13. Bd. Zürich, 1782. (Ein Nachdruck davon, Mannh., 1778 bis 80, 20 Bde.), 2. Afl., 1798 bis 1806, 12 Bde.
Versuch über Shakespeare's Genie und Schrn. Aus dem Engl. Lpz., 1771. –
Shakespeare, wider neue Voltairesche Schmähungen vertheidigt. (Deutsches Museum, Jan. 1776)
Ueber W. Shakespeare’s Leben und Schriften. Zürich, 1787. (Mit nur verändertem Titel neu herausg. Zürich, 1806.) Ueber den vorgeblichen Fund Shakespear'scher Handschrift. Lpz., 1797.



____
92

enthielt, welche die Shakespeare-Literatur betrafen. Diese Gediegenheit des Wissens leuchtet denn auch aus allen seinen kritischen Versuchen über Shakespeare hervor, besonders aus jener vortrefflichen Schrift: »Ueber W. Shakespeare, Zürich, 1787;« worin Eschenburg plan- und lichtvoll auf unbestochener Schale die Vorzüge und Mängel des unsterblichen Britten abzuwägen versteht. Man würde daher sehr Unrecht thun, auch nur den kleinsten Theil von dem Unheile, welches die blinde Vergötterungswuth fader Enthusiasten für den Genius deutscher Poesie herbeigeführt hat, auf Eschenburg's Seite zu legen. so unverkennbar auch der Nutzen ist, welchen das Studium Shakespeares auf die deutsche Dramatik ausgeübt hat, so kann man doch mit vollem Grunde behaupten, daß noch nie ein Dichter so sehr den deutschen Interpreten und Dichterlingen den Kopf verdrehet habe, als dieser Britte, mit dessen übertriebener Verehrung die Shakespeareomanisten noch immer den deutschen Genius im Schach zu halten bemühet sind. Wenn ein Franz Horn unserem Eschenburg nie verzeihen konnte, daß dieser an Shakespeare etwas zu tadeln fand, so ist das eben so erklärlich, als das vornehme Ignoriren der Eschenburg'schen Kritik von Seiten A. W. Schlegel's, der, wenn wir die Treue in der Uebertragung und die Gründlichkeit kritischer Bemerkungen, besonders in der zweiten Ausgabe, bei Eschenburg genau betrachten, nur vergessen zu haben scheint, auf eines wie rastlosen Vorkämpfers Schultern er steht!



____


7. Lessing.

Nachdem wir das Verdienst der eben genannten Literatur aus dem Gesichtspunkte einer werdenden Literatur gewürdigt haben, treffen wir jetzt auf einen Namen, der für alle Zeiten zu den Sternen erster Größe am literarischen Horizonte gezählt werden wird, auf Gotthold Ephraim Lessing. Ich weiß es, geschätzter Leser, was deine fragenden Blicke hier bedeuten sollen, ich weiß es so gut wie du, daß Lessing im J. 1770 als Bibliothekar nicht nach Braunschweig, sodern nach Wolfenbüttel kam, wo auf Veranlassung seines Gönners, des edlen Erbprinzen Carl Wilhelm Ferdinand, erst sein Vorgänger Hugo versetzt werden mußte, um für ihn überhaupt nur einen Platz zu gewinnen; ich will auch zugestehen, daß Lessing bis an seinen Tod in dieser Stellung geblieben ist. Zwar könnte ich den Umstand hervorheben, daß er doch in Braunschweig starb, und hier begraben wurde; allein warum sollte ich auf eine Zufälligkeit Gewicht legen, da Lessing eben so gut an jedem andern Orte gestorben sein könnte, und doch als ein Wolfenbüttler angesehen werden müßte. Nein, ich fasse Lessing's Wirksamkeit aus einem ganz andern Gesichtspunkte auf, und behaupte, das niemand so sehr an seinem Platze sei, als Lessing hier an dieser Stelle. Daß Lessing in Wolfenbüttel



____
94

wohnte, ist bei der Nachbarschaft Braunschweigs, und dem geistigen Verkehr, den er mit dieser Stadt hatte, eigentlich etwas Indifferentes. »Lessing traf,« wie sein Bruder sagt, *) »in Wolfenbüttel gar keine Freunde an, ob er sich gleich nachher einige erwarb. Der Ort ist an und für sich stille, und hat alle die herrlichen Dinge nicht, die Lessingen zuweilen zerstreuen konnten. Die Bibliothek war das Einzige, was ihn beschäftigte und vergnügte.« Und doch spricht sich unser Lessing über seine Stellung zur Bibliothek nicht gar günstig aus. Er sagt selbst: »daß er die Einsamkeit, in der er zu Wolfenbüttel nothwendig leben müsse, und den gänzlichen Mangel des Umganges, wie er ihn an anderen Orten gewohnt gewesen sei, auf mehre Jahre schwerlich würde ertragen können. Er würde, sich gänzlich selbst überlassen, an Geist und Körper krank; immer unter Büchern vergraben zu sein, dünke ihn wenig besser, als im eigentlichen Verstande begraben zu sein.« **) Daher kam es denn, daß Lessing hauptsächlich nur mit Braunschweig verkehrte. Hier traf er einen Kreis der gebildetsten Freunde, welche ihm durch geistigen Austausch Anregung und Belehrung für seine umfassenden Forschungen gaben. Jerusalem, Schmid, Zachariä, vor Allen Ebert und Eschenburg, Brückmann, Sommer, Graf Marschall, General von Warnstädt, Cammerherr von Kuntsch, Professor de Gasc, Leisewitz und Andere ersetzten ihm durch das beseelende Wort tausendfach den todten Schatz jener Büchersammlung, die er mehr für ein Mittel zu seiner eigenen Belehrung ansah, als er sich durch sie verpflichtet glaubte, ihr selbst nützlich zu werden. ***)

*) G. E. Lessing's Leben, herausg. v. K. G. Lessing. Berlin, 1793, I. p. 312.
**) Ebendas. I. p. 323.
***) Wie bedeutsam aber trotzdem Lessing als Bibliothekar war, bezeugt



_____
95

Deshalb hatte er sich aber auch in Braunschweig förmlich eingemietet, woselbst er nicht selten ganze Wochen lang zubrachte, um mit den Freunden seines Herzens in Berührung zu sein. Aus diesem Grunde sind auch alle die erhabenen Werke, welche er während seiner wolfenbüttler Stellung zu Stande brachte, die Herausgabe des »Berengar« und der »Fragmente «; seine »Emilia Galotti«, sein »Anti-Göeze«, »Nathan der Weise«, »Ernst und Falk« und seine »Erziehung des Menschengeschlechtes«, eigentlich als Erzeugnisse zu betrachten, welche dem braunschweigschen Boden entwachsen sind, obgleich ihre Ausarbeitung jedesmal in die wolfenbüttler Einsamkeit verlegt wurde, weil sich Lessing während der Arbeit selbst strenge von aller Zerstreuung des Umganges abzuschließen pflegte. Aber die Hauptsache bleibt für uns doch immer der Umstand, daß Lessing durch seinen europäischen Ruf, als Vorbote eines neuen Reiches, dessen Messias noch immer erwartet wird, durch seine Geistesüberlegenheit über alle seine Zeitgenossen, durch seine ausgebreiteten Kenntnisse, und durch sein unmittelbares, unermüdliches Hinwirken auf Geschmacksbildung, der Glanz- und Mittelpunkt für Braunschweigs Literaten wurde, deren Einfluß und Wirksamkeit erhob und leitete. Ich bin weit entfernt, hier abermals eine Biographie oder Charakteristik Lessing’s geben zu wollen, den man auf tausendfache Weise zerlegt, bekrittelt, vergöttert und beschimpft hat. *)
____
einer seiner Nachfolger, Frdr. Adolph Ebert: »Daß der Auffinder und der Herausgeber des Berengarius und der Herausgeber der Beiträge zur Geschichte und Literatur auch als Bibliothekar keine Apologie bedürfe, liegt am Tage. Und wie vieles Andere würde nicht geschehen sein, wenn er einen brauchbareren Gehülfen bei der Bibliothek gehabt hätte, als es der fast aberwitzige Cichin (früher ein Capuciner-Mönch) war.« –
Ebert’s Ueberlieferungen zur Gesch., Lit. und Kunst der Vor- und Mitwelt. Dresden, 1826, I. 1, p. 20.
*) Das Beste, was meines Wissens über Lessing geschrieben worden ist, sind die Kritiken von Herder, (s. dessen sämmtl. Wke. zur Philos.



____
96

Hier nur einige bezügliche Andeutungen und aphoristische Be merkungen.

Gotthold Ephraim Lessing, geb. am 22. Jan. 1729 zu Camenz, gest. am 15. Febr. 1781 zu Braunschweig, war zwar nicht ein Genosse des Gärtner'schen, literarischen Klubb's, weil Lessing überhaupt dergleichen abschließende und beschränkende Gesellschaften nicht liebte; und war daher auch nicht Mitarbeiter an den oben berührten »Bremer Beiträgen;« aber durch freundschaftliche Beziehung zu den meisten Theilnehmern, und durch die, der neueren Schule verwandte Richtung seines Geistes, namentlich auch durch seine entschiedene Abneigung gegen Gottsched, jenem Unternehmen zugethan. Lessing stand vom ersten Beginn seiner Laufbahn an viel zu hoch und selbstständig da, um sich zu einem Parteimanne erniedrigen zu können. Daher kam es denn auch, daß bei keinem Literaten Deutschlands so gänzlich falsche Maßstäbe der Beurtheilung angewandt wurden, als gerade bei ihm. Dem rechtgläubigen Gottesgelahrten ist er ein Stein des Anstoßes, dem splitterichterlichen Schöngeiste ungenügend an Stoff und Feuer, und gar dem Philosophen ein unsystematischer Kopf. Kurz, er war zu wenig dogmatisch, um nicht dem ganzen Stabilitätssysteme gefährlich zu werden, und war zu sehr den Kinderschuhen seiner Zeitgenossen entwachsen, um sich noch geduldig einschulen lassen zu können. Es ist erstaunenswerth, wie eifrig sich dieser Geist angelegen sein ließ, das öde Feld der deutschen Literatur zu bebauen. Von kärglich besoldeten Uebersetzungen *) und
____
u. Gesch. XV. p. 137 bis 165) und von Gervinus, (s. dessen neuere Gesch der poet. Nation. Lit. der Deutschen. Lpz., 1840, I. p. 318 bis 413.)
*) Die Gefangenen des Plautus 1750. –
Drei Abhandlungen von Corneille vom Nutzen und den Theilen des dramat. Gedichts; vom Trauerspiel; über die Einheiten 1750. –



____
97

Zeitungsartikeln, *) ging er zu den Recensionen, kritischen Forschungen, zu der Herausgabe der Tagesblätter, **) Theaterberichte, der Werke älterer ***) und neuerer Zeit,  †) bis zu den Meisterwerken seiner dramatischen Muse und seines
____
Hierher gehören auch alle seine Uebersetzungen, die in seiner »theatral. Bibliothek« enthalten sind. –
Augier de Marigny, Gesch. der Araber unter der Regier. der Califen. Aus d. Franz Berlin, 1752, 1. Thl. –
Huart, (Examen de los ingenios para la scientias.) Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Wittenb., 1752. –
König Friedrich II. drei Schreiben an das Publikum, die Begierde nach geh. Nachrichten betreffend. Aus d. Franz. Berlin, 1753. –
Friedrich II., Schr. über den Streit zwischen England u. Preußen Aus dem Franz. Berlin, 1753. –
Franz Hutcheson's Sittenlehre der Vernunft. Aus dem Engl. Lpz., 1756, 2 Bde. –
Hannibal, ein Trauersp. nach Marivaux (in den Ermunter, p. 63)
Richardson's Sittenl. für die Jugend in den auserlesensten Aesopischen Fabeln, 1759. –
Warton's Versuch über Pope. »Theater des Herrn Diderot.« Berlin, 1760 bis 61. –
*) Während seines Aufenthaltes von 1753 bis 1755 in Berlin, schrieb er an Myliu’s Stelle in der Vossischen Zeitung die gelehrten Artikel.
**) 1747 bis 1748 arbeitete er mit an der von Agrikola edirten Ztschr: »Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths. Lpz.;« – von 1747 bis 48 war er Mitarbeiter an der von Mylius edirten Ztschr.: »der Naturforscher;« 1750 bis 51 gab er mit Mylius die »Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters« heraus, doch trat er schon mit der vierten Nummer ab; – von 1754 bis 55 war er alleiniger Herausg. der »theatral. Bibliothek;« 1757 gründete er mit Mendelssohn und Nicolai die »Bibliothek der schönen Wissenschaften, 4 Bde.,« zu der er freilich nur einen einzigen Aufsatz lieferte; – 1759 gab er mit den beiden Genannten die »Briefe, die neueste Liter. betreffend, Berlin,« heraus. Sinngedichte von ihm stehen im Götting. Musenalm. für 1770 u. 1772; – im Vossischen Musenalman. für 1780. Sinngedichte, ein Epilog u. Lieder; – noch 2 Sinngedichte in dsb. Alman. f. 1783. –
***) 1759 zog er den Logau, 1771 den Scultetus wieder ans Licht; 1770 edirte er den Berengar; 1773 bis 77 »zur Gesch. u. Lit. aus den Schätzen der herzogl. Biblioth. zu Wolfenb.; worin die Zugabe zu den Fabeln der Minnesänger enthalten war.
†) so edirte er z. B. die Werke eines Brawe; – Carl Wilh. Jerusalem's »philos. Aufsätze.« Brschw., 1776; – die Schriften Christlob Mylius. Berlin, 1754; – schrieb 1756 die Vorrede zu einer Uebers. von Thomson"s sämmtl. Trauerspielen; – 1758 zu Gleim's Kriegsliedern. –



_____
98

kritischen Verstandes fort. *) Man darf nicht übersehen, daß Lessing, dem schon als meißener Schüler das Zeugnis ausgestellt wurde: »ein guter Knabe, aber etwas moquant,« **) durchweg kritischer Natur war. Um gleich auf doppelte Weise nützlich zu sein, fügte er denn auch den meisten seiner poetischen Productionen seine Theorie bei, und stellte, so doppelt gerüstet, der Alltäglichkeit und Gemeinheit seiner Zeit seine eigenen, durch Kraft des Willens und Schärfe des Verstandes zu Tage gebrachten Kunstschöpfungen, gleichsam als Bollwerke und Vernichtungswerkzeuge entgegen, an deren kunst-, geist- und geschmackvollem Bau die Kräfte seiner Gegner zerschellten. Mögen immer seine dramatischen Werke, auf welche die Vorbilder eines Plautus, Moliere, später Diderot und endlich Shakespeare nicht ohne Einwirkung blieben, weniger durch die Gewalt poetischer Begeisterung, als durch ein feines Gefühl für das Schöne hervorgerufen sein, so klingt es trotzdem mehr als lächerlich, wenn man ihm noch immer den wahren Dichterberuf absprechen will, dabei fußend auf sein eigenes Zugeständnis. Allein dieses in einem Anfalle von Laune, Bescheidenheit und Paradorie ausgestellte Zeugnis seiner Unfähigkeit muß man, soll es richtig gewürdigt werden, auch in seinem ganzen Zusammenhange auffassen, und man wird hinter jenem Ausspruche, mit welchem er den französischen Dramatikern einen Streich versetzen wollte, weit mehr den listigen Schalk, als den sich seiner Schwäche bewußten Poeten wittern. Könnten denn aber auch Lessing’s Dramen, wenn uns der Dichter wirklich das Triebwerk seiner Schöpferkraft aufgedeckt hätte,
____
*) ueber Lessing‘s Schrn. ist zu vergl.: Joh. Geo. Meusel's Lexikon der von J. 1750 bis 1800 verstorbenen teutsch. Schriftst. Lpz., 1808, VIII. p. 186 bis 198. –
**) Erinnerungen an G. E. Lessing, Zögling der Landesschule zu Meißen in den Jahren 1741 bis 1746, v. Ed. Aug. Diller. Meißen 1841, p. 69. –



_____
99

dadurch an Werth verloren haben? Man sollte meinen, wer solche Dichtungen schaffen könnte, der müßte sicherlich ein Dichter sein, und noch dazu ein sehr genialer. Freilich konnte sich Lessing, dessen linke Hand die boshaften Anfälle seiner Gegner abwehren mußte, während seine rechte an dem Aufbaue seiner wunderbaren Schöpfungen thätig war, unter dem Geräusche des Kampfplatzes, auf dem er sein ganzes Leben zubrachte, nie der traulichen Stille, in welcher der schüchterne Genius seine Eingebungen zuzuflüstern pflegt, erfreuen. Und doch hat er mit den meisten seiner Werke eine neue Aera in unserer Literatur begonnen. Man blicke nur einmal hin auf vier seiner vielen dramatischen Arbeiten, auf »Sara Sampson 1755;« »Minna von Barnhelm 1767;« »Emilia Galotti 1772« und »Nathan 1779.« Wenn man nun erwägt, daß vor Lessing’s Auftreten nur das Gottsched'sche Ehepaar und Consorten die deutsche Bühne innehatten; wie schwer es ihm werden mußte, sich Bahn zu brechen, weil er überall auf verjährte Vorurtheile stieß; wie er hier mit deutscher Geschmacklosigkeit, und dort mit französischer Unnatur zu kämpfen hatte; wie er nach allen Seiten hin fruchtlos nach einem Vorbilde umschauete, und dieses Vorbild nur in sich selber finden sollte; und wie durch dasselbe das ganze Zeitalter umgestaltet wurde, und die deutsche Nation erst eine wahrhaft nationale Bühne bekam: so muß man seine Wirksamkeit, weil sie weder Grund noch Stoff fand, worauf und womit weitergeschaffen werden konnte, eine wahrhaft schöpferische nennen. Aber wie fing er es auch an! In seiner »Sara Sampson« setzte er sich einmal recht absichtlich über die vorgeschriebene Einheit des Ortes hinweg; zu den handelnden Personen wählte er nicht nach hergebrachter Weise aus der alten Mythen- und Heldenzeit, sondern aus dem Bürgerstande, und noch dazu aus der Gegenwart; gab ihnen ächt menschliche Leidenschaften, und ließ sie,



_____
100

um sie der Natur noch näher zu bringen, in der natürlichen Sprache einer edlen, reinen Prosa reden. Nun bringe man noch bei diesem Stücke, wie es sich in allen seinen anderen Dramen wieder findet, die Spannung im Faden des Syjets, seine hohe Gabe einer feinen Menschenbeobachtung, daher die Originalität seiner Charaktere, die Schärfe ihrer Zeichnung, und den gesunden Kern derselben, die Natürlichkeit und gefeilte Vollendung des Dialogs in Anschlag: und man wird die Bewegung natürlich finden, welche ein solches Meisterwerk hervorrufen mußte. Daher galt es denn nicht allein für das erste bürgerliche Trauerspiel Deutschlands, sondern auch für das erste wahrhaft gute. Ja, der große Meister, der ohne Gnade die französischen Götzen aus dem deutschen Musentempel zu vertreiben den Muth hatte, genoß den Triumph, daß von allen deutschen Dramen dieses das erste war, welches in einer Uebersetzung auf die Bühne jener Franzosen kam, welche nur immer mit dem Stolze der Gecken auf den deutschen Genius herabzublicken gewohnt waren. Später wurden sie noch gefügiger, und eigneten sich die meisten der Lessing'schen Dramen durch Uebersetzungen an. – In der »Minna von Barnhelm,« worin er zuerst ächtdeutsche Sitten und deutsche Charaktere in der Sprache der Natur zu schildern, im hinreißendsten Dialoge Rührung und Scherz auf's gemüthlichste zu verschmelzen, und eine wahrhaft komische Sprache erst zu bilden verstand, und noch entschiedener dem französischen Aftergeschmacke entgegentrat, lieferte er, wie in der »Sara« das erste Trauerspiel, so in diesem das erste nationale Lustspiel, und vielleicht ein auch bis jetzt noch nicht übertroffenes. *) Bis
____
*) Ramler's Mittheilung gegen Knebel bezeugt das Aufsehen, das jenes Meisterwerk unter Lessing's Zeitgenossen erregte. Unter dem 3. Aug. 1771 schreibt er: »Morgen wird die berühmte Minna aufgeführt werden. Lessing kann sich nicht beschweren, daß wir



_____
101

zur Stufe der höchsten Meisterschaft aber stieg Lessing noch in seinen letzten beiden Trauerspielen, in der »Emilia Galotti,« worin er auf eine bis dahin unerhörte Weise die Gluth der Leidenschaft spielen ließ, und noch dazu einen Fürsten zwang, sich in der natürlichen Sprache der Prosa auszudrücken; und im »Nathan,« diesem ewig classischen Werke, welches trotz aller Ruhe im Gange der Handlung, dennoch wegen der Klarheit und Hoheit seines Hauptcharakters als einzig in der Literatur dasteht. Wenn daher A. W. v. Schlegel *) behauptet, » Lessing verkannte die Rechte der poetischen Nachahmung, und wollte im Dialog wie in allem eine baare Copie der Natur, als ob diese in der schönen Kunst überhaupt zulässig oder auch nur möglich wäre, so beweist dieser Romantiker, dessen schwache Seite von jeher Natur gewesen ist, weiter nichts damit, als daß er vom Verständnis dieses großen Mannes noch weit entfernt sei. – Einzig und unübertroffen ist auch noch immer Lessing's »hamburger Dramaturgie 1767,« womit er erst eine Basis des besseren dramatischen Geschmackes gründete. Was später Engel und Ramler für die Bühne in Berlin, Dalberg in Mannheim, Goethe für die in Weimar, Gotter in Gotha, Klingemann in Braunschweig, Tieck in Dresden und Berlin, Immermann in Düsseldorf thaten, das war nur die Nachwirkung jener großartigen Anregung, die einst Lessing für das gesammte Bühnenwesen durch das hamburger Theater ausübte. Die
____
undankbar gegen seine Muse sind. Wir haben sie hier zwanzig Mal hinter einander gespielt; wir haben sie in Kupfer stechen und in die Kalender setzen lassen; wir haben diese Minna sogar auf die Punschnäpfe malen lassen. Nur hat sie ihm nichts eingebracht, das ist Alles, worüber er sich beklagen kann.« –
Knebel's lit. Nachl. u. Briefwechsel, herausg. v. Varnh. v. Ense u. Th. Mundt. Lpz., 1840, II. p. 33.
*) Ueber dramat. Kunst u. Lit., 2. Afl. III. Heidelb., 1817, p. 389.



____
102

sicherste Unterlage gab er der Dramaturgik durch Erweckung des historischen Studiums; welches er aber nicht allein auf die Dramaturgie angewandt wissen wollte, sondern auch auf die Theologie und Philosophie, und auf diese Weise den Kirchenhistorikern Spittler und Planck mittelbar eben so energisch ihre Bahnen vorzeichnete, wie er einen Herder für die Kritik der Philosophie, Geschichte und Archäologie anregte, und wie er selbst eine solche Anregung für historische Anschauungsweise im artistischen Fache durch Winckelmann erhalten hatte, besonders durch dessen 1755 erschienene Abhandlung »über die Nachahmung der Alten.« Sicherlich sind aber auch, außer Winckelmann's kunsthistorischen Schriften, niemals andere so unmittelbar in Blut und Leben unserer Nation übergegangen, wie die Lessing’s, z. B. sein »Leben des Sophokles 1760;« sein »Laokoon 1766;« seine »antiquarischen Briefe 1768;« die Abhandlung, »wie die Alten den Tod gebildet 1769,« und sein »Theophilus Presbyter 1774.« Wie könnte man wohl den Werth seiner philosophischen und theologischen Erörterungen und Anregungen schmälern wollen? da doch gewiß niemals ein Laie in diesen Gebieten einen so mächtigen Um- und Aufschwung bewirkt hat, wie der freisinnige und der zugleich höchst scharfsinnige Lessing. Gab er nicht der ganzen Theologie ihre jetzige Richtung dadurch, daß er das historische Gebiet von dem dogmatischen streng sonderte, und die Nichtigkeit einer Folgerung vom Historischen auf das Dogmatische schonungslos aufdeckte? Nicht minder anregend wirkte er auf die Philosophie, ungeachtet er, der par excellence speculative Kopf, weit entfernt davon war, seine Ideen förmlich in ein System zu verspintisiren. Für ihn hatte die Wahrheit nur Werth im Ringen danach und durch den Kampf um sie. Deshalb war er auch der



____
103

geisttödtenden Selbstgenügsamkeit abhold, und keinen Stillstand gestattend, ein abgesagter Feind alles blinden Auctoritätswesens; aber der glühendste Vertheidiger alles dessen, was leichtsinnig in den Staub getreten wurde, ungeachtet es durch Alter geheiligt und bewährt, zu einer historischen Unterlage wichtig schien. So war er denn bei seinem rastlosen Ringen nach Erkenntnis in steter Entwickelung begriffen; und er, der selbst die erste Idee zum »Faust« gab, war selbst jener Goethesche Faust, der nur im unbefriedigten Genusse Befriedigung fand. Nur war er in seinem Streben sich selbstbewußter, geistiger und daher auch minder materiell abschließend, wie jener Faust Goethe's. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, gewinnen denn auch seine Leistungen im Fache der Philosophie und Theologie doppelten Reiz, so sein angeregtes Interesse für Spinoza; seine Schrift über Pope als Metaphysiker 1755; seine »Erziehung des Menschengeschlechts 1777;« *) sein »Ernst
____
*) Welchen Antheil Lessing oder Thaer (vergl.: »Albrecht Thaer, sein Leben und Wirken als Arzt und Landwirth,« herausg. von W. Körte, 1839,) an dem Werke »Erziehung des Menschengeschlechtes« habe, läßt sich für den Augenblick, mit Sicherheit wenigstens, noch nicht entscheiden; weil die Acten über diese höchst interessante Streitfrage noch keineswegs als geschlossen betrachtet werden dürfen. Wollte man auch wirklich einiges Gewicht darauf legen, daß Lessing, der überhaupt nicht der Mann danach war, der nur hätte für nöthig befinden sollen, seine Autorschaft zu verläugnen, selbst gegen seinen Bruder, gegen den er am wenigsten Hehl damit gehabt haben würde, das Geständnis ablegt: »Die Erziehung des Menschengeschlechtes ist von einem guten Freunde, der sich gerne allerlei Hypothesen und Systeme macht, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen;« und wollte man auch zugestehen, daß es der eigentlichen Sinnesart eines Lessing gar nicht unähnlich sehe, das Thema eines Anderen aufzufassen und weiter auszuspinnen, ohne den ungenannten Verfasser der Autorschaft zu berauben; weil sich dem Herausgeber auf diese Weise die vortheilhafte Gelegenheit darbot, manches für seine theologischen Streitigkeiten Sach- und Zeitgemäße einweben zu können: so darf man doch andererseits nicht verhehlen, daß der eigentliche Beweis für die präsumirte Autorschaft Thaer’s höchst unzureichend sei. Die ganze Hypothese gründet sich am Ende doch nur auf die höchst dunkle Mittheilung, welche jener deutsche »Woll-Thaer,« wie man ihn einmal scherzhaft nannte, seiner Braut macht: »Ich erschuf



____
104

und Falk 1778, die Herausgabe der »wolfenbüttler Fragmente 1776, 1777, 1779, und alle seine unschätzbaren Zugaben polemisch-theologischen Inhalts. Wegen der Herausgabe des »Berengarius Turonensis 1770« stellte ihn sogar Ernesti in Leipzig vor allen seinen Studenten als des Doctorgrades der Gottesgelahrtheit für würdig, und als ein »leibhaftes Exempel dar, daß, wer Humaniora gründlich verstehe, alles in der Welt mit Ehren behandeln könne.« Wahrhaft heilbringend wurde aber auch seine Wirksamkeit vorzüglich dadurch, daß alle seine Bestrebungen nur von dem heiligsten Ernste geleitet wurden, der Wahrheit und Schönheit den Weg zu bahnen, wie denn von der innigen Verwandtschaft des Wahren, Schönen und Guten niemand lebhafter überzeugt sein konnte, als er. Es bleibt daher mehr, als unerklärlich, welche Schriften Lessing's der Däne Grundtvig im Auge gehabt haben mag, von denen er in seiner Weltchronik sagt: »so wenden wir uns als Geschichtsschreiber nun von dem Herausgeber und Besiegler der Fragmente zu dem Verfasser der vielen witzigen und verständigen, aber auch, und dies ist die Mehrzahl, mittelmäßigen
____
mir ein neues system und brachte es flüchtig zu Papier. Es ward wider meinen Willen abgeschrieben, fiel in die Hände eines großen Mannes, der den Styl etwas umänderte und einen Theil davon, als Fragment eines unbekannten Verfassers, herausgab. Nachher ist auch der zweite Theil herausgekommen, aber mit Zusätzen, woran ich keinen Antheil habe. Bis jetzt wissen es nur drei lebende Menschen, daß ich der Urheber bin, doch giebt es Mehre, die es vermuthen und gegen die ich es streng läugne. Ich kann mich auf Ihre (der Braut) Verschwiegenheit verlassen. In meiner und der Dinge jetziger Lage möchte ich um Alles nicht, daß es bekannt würde. Wegen des Namens des Herausgebers und der zu großen Abkürzung der Sätze ist es ganz widersinnig von allen Parteien mißverstanden worden, und es ist doch so klar für Jeden der es unbefangen in die Hand nimmt.« – Hierbei fragt sich's nur, ob »das flüchtig zu Papiere gebrachte System« nichts anderes, als »die Erziehung des Menschengeschlechts,« und ob »der große Mann, der den Styl etwas verändert,« kein anderer, als Lessing sein könne? Mag man nun von den sehr bedeutenden Zweifeln, die hiergegen in der Schrift: »Lessing’s Erziehung des Menschengeschlechts kritisch und philos. erörtert. Eine Beleuchtung der



____
105

und nichtssagenden Blätter.« *) In der That, hat jemals ein Sterblicher das Schicksal des Midas gehabt, alles von seinen Händen Berührte zu Gold erstarren zu sehen, so war es Lessing, der bei dieser verhängnisvollen Göttergabe verkümmerte. Dies erstreckt sich bis auf seine Verdienste herab um das »Sinngedicht 1751,« **) um das »scherzhafte Lied 1751« und die »Fabel 1759.« Im Epigramme spitzte er freilich den abgestumpften Pfeil der Satire etwas scharf zu, und verwundete deshalb auch oft so scharf, daß die getroffenen Narren laut aufschrieen; aber war es denn seine Schuld, daß diese Narren am Endziele des Lächerlichen standen, wohin er sein Geschoß richtete? Gegen sein Lied wußten die guten Orthodoxen nichts einzuwenden, als daß es nur Wein und Liebe athme, und deshalb unchristlich und sündhaft sei. Lessing, der bessere Begriffe von Christenthum und Kunst hatte, brauchte vor solch einem Maßstabe nicht zu zittern. Wie er sich mit seiner Fabel den besten Fabulisten unserer Nation zur Seite stellt, so hat er mit seiner Abhandlung über die Fabel, wie Herder sagt, »gewiß die philosophischste Theorie geliefert, die seit Aristotele's Zeiten über eine Dichtungsart gemacht ist.« Daß Lessing durch den Tod verhindert wurde, seine unschätzbar wichtige Ausbeute aus dem Gebiete deutscher Sprachforschung
____
Bekenntnisse in W. Körte’s Albrecht Thaer; v. Dr. G. G. Guhrauer Berlin, 1841,« erhoben werden, halten was man will, immer wird man zugestehen müssen, daß der Hauptwerth jenes Werkes, die unnachahmliche Fassung des Gedankens und die meisterhafte, dialogische Form unzweifelhaft als alleiniges Eigenthum Lessing's zu betrachten sei. –
*) Grundtvig’s Uebersicht der Welt-Chronik. Aus d. Dän. v. Dr. Volkmann, mit Anmerk. v. Dr. Rudelbach. Nürnberg, 1837, pag. 352.
**) Den von Haug in einem Aufsatze »Kordus und Lessing.« (Neuer deutscher Merkur, 1793, III. p. 275), ausgesprochene Vorwurf, daß Lessing als Epigrammatiker ein Plagiarius sei, hat Mohnike (Lessingiana v. Dr. Gottl. Mohnike. Lpz., 1843, p. 48 bis 73) in seiner ganzen Nichtigkeit schlagend und gründlich zurückgewiesen.



____
106

wohlverarbeitet an's Licht zu fördern, ist für die Wissenschaft ein nie zu verschmerzendes Mißgeschick. Was er davon als Bruchstücke hinterlassen, und was Eschenburg und Georg Gustav Fülleborn davon zusammengestellt haben, berechtigt zu um so höheren Erwartungen, als Lessing den Kritiker und Dichter in einer Person vereinigte, wie ihm auch Wissen und Geschmack in gleich erstaunenswerthem Grade zueigen war. Was würde wohl aus einem Adelung'schen Wörterbuche unter der Hand eines Lessing geworden sein, der diese philosophische Distinctionsschärfe mit der Eleganz classischer Darstellung verband!

Ja, wollte man wirklich minder gerecht, in Hinblick auf den heutigen Zustand unserer Literatur, auf alle diese Leistungen nicht den hohen Werth legen, den sie verdienen, so würde Lessing dennoch immer in manchen Punkten als unübertroffen dastehen. Dieses will um so mehr sagen, als bereits ein halbes Jahrhundert mit allen seinen wechselnden Erscheinungen über Lessing's Grab dahingestreift ist. Unerreicht steht er da in Ansehung seiner Form, die allen seinen Kunstwerken eigenthümlich ist. »Lessing's Stücke,« sagt Herder, *) »vom Epigramm und Liede bis zu seiner Minna und Emilia, Philotas und Nathan, jede Fabel und Parabel, ja, ich möchte sagen, jedes Urtheil und Fragment dieses scharfsinnigen Weisen hat Form und ist Form, auch wo er vielleicht irret, auch wo er nur lernte.« – Eben so unerreicht ist der künstliche Bau seines unnachahmlich klaren Stiles. Niemand hat wohl diesen Punkt genialer zu würdigen gewußt, als Herder. »Lessing's Schreibart, sagt er, **) »ist der stil eines Poeten, d. i. eines Schriftstellers, nicht der gemacht hat,
____
*) J. G. v. Herder's Abhandlungen und Briefe über schöne Lit. und Kunst Stuttg., 1829, II. p. 155.
**) Herder's krit. Wälder, I. Stuttg., 1829, p. 29.



_____
107

sondern der da machet, nicht der gedacht haben will, sondern uns vordenket; wir sehen sein Werk werdend, wie das Schild Achilles bei Homer. Er scheint uns die Veranlassung jeder Reflexion gleichsam vor Augen zu führen, stückweise zu zerlegen, zusammen zu setzen; nun springt die Triebfeder, das Rad läuft, ein Gedanke, ein Schluß giebt den andern, der Folgesatz kommt näher, da ist das Product der Betrachtung. Jeder Abschnitt ein Ausgedachtes, das τεταγμενον eines vollendeten Gedanken; sein Buch ein fortlaufendes Poem, mit Einsprüngen und Episoden; aber immer unstät, immer in Arbeit, im Fortschritt, im Werden.» – Dieses bezeichnende Urtheil wird man um so mehr bestätigt finden, wenn man Lessing's Stil mit dem der besten deutschen Prosaisten zusammenstellt. Sturz ist anspruchloser und einfacher; aber auch deshalb weniger fesselnd, weniger überwältigend; klar, doch kalt an uns vorübergleitend. Wieland's Stil ist glatt wie ein Aal, einschmeichelnder; aber er verlängert seinen Weg durch die vielen, wenn auch noch so ergötzlichen Wendungen. Er schlüpft uns in seinem klaren Elemente zwischen den Händen hindurch, und da er nur schlüpfen, nicht aber aus festen Fuße einhertreten kann, so hinterläßt er in seinem elastischen, schnell verschwimmenden Elemente keine dauernde Spuren seiner Bahn. Goethe's Stil ist ein krystallenklarer Wasserspiegel, in welchem sich Himmel und Erde, mit allen Schönheiten der Natur und plastischen Kunst abspiegeln; leider aber geht die Illusion an manchen Stellen verloren, an denen sich statt der klaren Spiegelung, durch zu breite Verflachung, die Untiefen des Grundes zeigen. In späterer Zeit, als Goethe Canzleistil und Grazie mit Modernität verschmolz, wurde er der Begründer des stilistischen Rococos; doch muß man bemerken, daß während er in dieser Manier noch immer anmuthig und originell war, seine Nachäffer in ihrer gespreizten Nonchalançe gänzlich


____
108

lächerlich wurden. Ganz anders Lessing's Stil, der klar und tief, kurz und überraschend, seinen höchsten Werth dem kunstvollen Baue des einfachsten Ideenganges verdankt. Daher sagt Herder mit Recht: »so lange Deutsch geschrieben ist, hat niemand, wie Lessing, Deutsch geschrieben,« und man dürfte vielleicht die Gültigkeit dieses Satzes bis auf den heutigen Tag ausdehnen. Lessing wurde, wie Gervinus sehr richtig bemerkt, *) der Begründer einer Prosa, und hauptsächlich dadurch, daß er auch seine Schauspiele in Prosa schrieb; aber es ist rührend, zu sehen, auf welchem mühevollen Pfade sich dieser erhabene Geist zu diesem Ziele emporrang. »Er gab sich,« sagt von ihm sein Bruder, **) bei jeder Gelegenheit die äußerste Mühe, alles was er schrieb und redete, so stark und eindringlich als möglich einzukleiden, sich keine Nachlässigkeit zu erlauben und keinen schielenden oder unbestimmten Ausdruck stehen zu lassen. Ja, je älter er wurde, desto strenger und sorgfältiger wurde seine Schreibart. In Wolfenbüttel hat er von allen Briefen, die er schrieb, Concepte gemacht; sogar finden sich dergleichen Briefe an seine Geschwister. Je mehr sein schriftstellerischer Ruhm wuchs, desto saurer machte er sich jede Zeile. Er hatte nicht den lächerlichen Stolz, lauter bewunderungswürdige Sachen herauszugeben, sondern immer etwas Besseres als sein letztes war.« – Welch einen Spiegel der Wahrheit hält Lessing, der offenherzig eingestand, daß das Schöne und Edle überall Mühe und Kampf koste, allen denen vor die Seele, die so tief von seiner Höhe abstehen, gerade weil sie nicht in der Kunstfertigkeit, sondern in der Schnellfertigkeit geistigen Producirens ihren Ruhm suchen, und in geistloser Nachäffung der Manieren
____
*) Gervinus IV. p. 347.
**) Lessing's Leben etc. v. K. G. Lessing, II. p. 13.



____
109

(denn der Geist läst sich nicht nachäffen) eines J. P. F. Richter, Hegel und Goethe, welche in neuester Zeit am entschiedensten auf den Stil eingewirkt haben, alles für abgethan erachten. Lessing, der weniger Manier hatte, hat daher auch weniger Nachäffer gefunden. Am schwersten möchte dies auch gewesen sein in Betreff seines meisterhaften Dialoges. Hier bauet sich alles bis zu der im epigrammatischen Brennpunkt concentrirten Pointe fort. »Aeltere französische und englische Kritiker vorzüglich,« sagt Friedrich Schlegel *) »haben ihren Scharfsinn an verkehrte Spitzfindigkeiten häufig verschwendet, und ich weiß nicht, ob sich in Lessing nicht noch hie und da Erinnerungen an jene Manier finden sollten.« In gewissem Sinne allerdings; aber gerade durch diese Eigenthümlichkeit wird ein großes Verdienst Lessing's bedingt. Er war, (wie schon bemerkt,) durchweg kritischer Natur, und in allen seinen Bestrebungen waltete polemische Tendenz vor. Die überraschende Gewandtheit in seinen Bewegungen, diese Kunst zu zerschneiden und in nichts zu zerlegen, machte ihn allen seinen Gegnern furchtbar. Sein Ideengang war immer eine Schlacht. Mit einem leichten Vortreffen weiß er seinen Gegner von allen Seiten zu beschäftigen. Langsam, aber in furchtbare Spannung setzend, rückt er mit seinem wohlgeordneten Heere heran. Noch ehe der Feind gehörig zur Besinnung kommt, ist sein Mittelpunkt durchbrochen, sind seine Flanken überflügelt und alle seine Streitkräfte der Vernichtung preisgegeben. Oft macht sich Lessing den Spaß, durch scheinbare Zugeständnisse den Gegner entschlüpfen zu lassen. Kaum aber, daß der Unglückliche neuen Halt und neuen Athem gewonnen hat, und nun von seinem Standpunkte Lessing's Streitmacht bestreichen zu können hofft, als der
____
*) Frdr. Schlegel: die Griechen und Römer, I. p. 192.



____
110

Unseliggetäuschte mit Mann und Maus in die Luft fliegt. Diese Kunst der Taktik machte alle Streitigkeiten Lessing's zu interessanten Meisterzügen des Genies. Seine Fehden mit dem Hauptpastor Goeze, dessen orthodoxen Nimbus er durch Aufstellung des »Anti-Goeze« tief in Schatten stellte; mit dem hämischen und arroganten Geheimerath Klotz, den er mit den inhaltschweren »antiquarischen Briefen« zu Boden schmetterte; mit dem eitlen und witzigen Kammerherrn von Voltaire, den er mit sehr spitzigen Epigrammen stachelte und in gepfefferten dramaturgischen Bemerkungen nun auch einmal dem Gelächter preisgab; mit dem Pastor Lange, diesem empfindsamen, ignoranten Uebersetzer des Horaz, welchem er ein »Vademecum für Herrn Pastor Lange in Taschenformat, Berlin 1754,« zu bitterer Erinnerung in die Tasche steckte; mit jenen beiden Aristarchen auf dem Parnasse, jenem verknöcherten Splitterrichter Bodmer, der sich durch die Bosheit seiner auf Lessing's »äsopische Fabeln« parodirten unäsopischen Fabeln« versündigt hatte, und mit dem Großprahler Gottsched, welche Herren er beiläufig in seiner »Dramaturgie« und in den »Briefen über die neueste Litteratur« tüchtig in die Schule nahm, Letzterem auch noch in der Vossischen Zeitung als Recensent der Gottschedschen »Aesthetik in einer Nuß« eine bittere und harte Nuß zu knacken gab; und so auch mit einem Lieberkühn, Riedel, Schumann, Dusch und Anderen; seine Angriffe gegen die Auctorität eines Corneille, Racine und Anderer, werden, abgesehen von allem stoffartigen Interesse, bleibenden Werth in formeller Hinsicht behalten. Wenn man nun noch bedenkt, daß ein Lessing, dieser schonungslos Freimüthige, alle Schwachköpfe unter seinen Zeitgenossen gleichsam als ein gegen ihn verbündetes Heer geschworener Feinde betrachten mußte, so stellt auch sein Muth, mit dem er Allen die Stirn zu bieten wagte, seinen



____
111

Menschenwerth außerordentlich hoch. »In Ihrer Stelle möchte ich auch nicht sein,« schreibt ihm im J. 1778 sein Freund Schmid. »Möchten nur nicht gewisse Herren, wie sie immer thun, wenn sie in Noth sind, sich zusammenklemmen, sie in die Mitte nehmen, und wie einen Eierkuchen zusammendrücken! Dies besorge ich; sie müssen es nicht besorgen, sonst säßen sie längst mit mir in einem Mauseloche, und verzehrten ihre Käserinde in aller Stille.« Lessing besorgte das nicht, und zeigt sich als Polemiker auch noch von einer andern Seite im schönsten Lichte. Obgleich er, wenn er sich überhaupt in den Kampf einließ, auch zu siegen verstand, und daher nie das Schlachtfeld zu räumen genöthigt war, so wußte er dabei doch stets die Person von der Sache zu trennen; trat achtungswerthen Gegnern, wie einem Winckelmann, Herder und Anderen mit Achtung im Kampfe entgegen, und hielt es selbst als Sieger nicht unter seiner Würde, Zugeständnisse seiner eigenen Schwäche offen an den Tag zu legen. Ein Zeugnis seiner ehrenhaften Gesinnung in dieser Beziehung legt über ihn Boie in einem Briefe an Merck ab, wo es von Lessing (der in der Streitschrift: »wie die Alten den Tod gebildet,« behauptet hatte, »daß die alten Artisten den Tod nie als ein Skelet vorgestellt hätten,«) heißt: »Lippert und er haben sich gesprochen und sind als Freunde von einander geschieden. Er trägt seit der Zeit die Paste vom Todtengeripp' und Schmetterling, die ihm Lippert geschenkt, am Finger.« – *)

Es ist unläugbar, daß Lessing, der in allen von ihm eingeschlagenen Bahnen Nachfolger, und zum großen Theil Erweiterer und Vervollständiger seiner Unternehmungen fand, noch immer in der Kritik unübertroffen dasteht. Die Vereinigung so großer und mannigfacher Gaben ist allerdings
____
*) Joh. Heinr. Merck's Briefe, herausg. von Carl Wagner, 1835, p. 63.



_____
112

ein sparsam vertheiltes Geschenk der Natur. Und fände sich auch, wie bei ihm, eine gleiche Unterlage der profunden Gelehrsamkeit, gepaart mit einer gleichen Klarheit des Gedankens und Ausdrucks, gepaart mit einem gleichen Scharfsinn und Geschmack, mit einem gleichen Sinn für das Gerechte und Große: wo und wie oft findet sich bei solchen Gaben noch ein Blick, der ohne Scheu das vollste Licht zu ertragen, und den von der Starrgläubigkeit seiner Zeitgenossen als die Endlinie des Forschens abgesteckten Horizont in's Unbegränzte zu erweitern vermag! So lange sich noch der bornirte Egoismus für berechtigt halten darf, den Glauben für den Maßstab des moralischen Werthes gelten zu lassen, so lange auch noch immer der engherzige Grundsatz, daß alles Forschen im Glauben endigen müsse, aller Forschung Thür und Thor  verschließt, weil weder der aufrichtige Forscher die sicherere Basis des Wissens für die des Glaubens preisgeben, noch auch aus Furcht auf halbem Wege stehen bleiben darf: so lange wird auch weder von wahrer Gewissensfreiheit, noch von ergiebiger Ausbeute des Forschens, noch von würdiger Nachfolge Lessings die Rede sein können. *)

Lessing's Leben bietet auch das seltene und erhabene Bild eines Forschers, der in seinen Bestrebungen stets zum Höheren hinaufstieg, bis er mit dem Höchsten, mit »Nathan dem Weisen« und der »Erziehung des Menschengeschlechts schloß. Selten ist wohl das Abendroth eines heißen Tagewerkes so sehr zum Glorienscheine der Verklärung geworden, als bei Lessing, dem Vollendeten! –
____
*) So anerkennend sich auch Gelzer im allgemeinen über Lessing, besonders über sein Verdienst um Kritik ausläßt, so weit ist er doch davon entfernt, diesen universellen Geist in seiner wahren Größe zu begreifen, weil er ihn einseitig nach dem christlichen Maßstabe abschätzt. »Die deutsche, poet. Lit. seit Klopstock und Lessing. Nach ihren ethischen u. religiösen Gesichtspunkten, v. Heinr. Gelzer. Lpz., 1841.



_____


8. Leisewitz.

Fünf Jahre nach Lessings Berufung zog Leisewig nach Braunschweig. Joh. Anton Leisewitz, *) der Sohn eines Weinhändlers zu Celle, wurde am 9. Mai 1752 zu Hannover geboren. Mit dem Michaelis-Semester 1770 bezog
____
*) J. A. Leisewitz Leben, in dessen sämmtl. Schrn. Brschw., 1838, p. IX bis XXXIX. (Was gründliche Benutzung der vorh. schriftl. Quellen und deren zweckm. Zusammenst. betrifft, so hat Hr. Dr. Schweigger, dem diese treffl. Ausgb. nebst beigefügter Lebensskizze zu danken ist, jedem späteren Biographen unsers Leisewitz wenig zu thun übrig gelassen.)
Allgem. Lit. Ztg., 1806 Intellig-Bl., N. 150, p. 1198 bis 1200.–
(Benutzt in: Jörden’s Lexikon deutsch. Dichter und Pros., III. p. 231 bis 234 und in Leisewitz' ges. Schrn. Wien, 1816, p. I bis XVI.)
Augsb. allgem. Ztg., 1806, N. 291, p. 1164 (von Böttiger.)
Hierzu Nachträge in: Wieland's neuem teutsch. Merkur, 1806, III. p. 294 bis 298. (Diese Nachträge stehen auch in: Böttiger's handschr. Nachl. Lpz., 1838, II. p. 89 bis 90.)
Nekrolog nebst einigen Briefen von Leisewitz in: Wieland's Merkur, 1806, III. p. 281 bis 294.
J. H: Voß' Briefe. Halberst, 1829, I.
Klingemann's Kunst und Natur. Brschw., 1819 bis 28, 3 Bde. –
Der Biograph. Halle, 1807, VI. p. 522. –
Rotermund's Forts. v. Jöcher’s gelehrt. Lexik., III. p. 1548 b. 49.–
F. Bouterwek's Gesch. der Poesie und Beredsk., XI. Götting, 1819, p. 408 bis 410.
Convers-Lexik. Lpz., 1815, V. p. 657 bis 658. –
Samml. histor. berühmter Autographen oder Facsimiles v. Handschriften ausgezeichn. Personen alter u. neuer Zeit. Stuttg., 1845, 1. Heft. –



_____
114

er als Studiosus der Rechte die göttinger Akademie, deren Zögling er bis Ostern 1774 blieb, worauf er noch ein halbes Jahr zu Göttingen privatisirte. Hier schloß er auch ein inniges Freundschaftsband mit Thaer und mit Hölty, welcher Letztere ihn mit mehren Mitgliedern des damals gegründeten Hainbundes bekannt machte, und auch seine Aufnahme in den Verein an Klopstocks Geburtsfeste, d. 2. Juli 1774 veranlaßte. Hiedurch kam Leisewitz nun in literarisch bedeutsame Verbindung mit einem Klopstock, Bürger, Boie, Wehrs, E. F. Cramer, den beiden Miller, den Brüdern Stolberg, Brückner, Hahn, Joh. Heinrich Voß und Anderen. Bei der kurzen Dauer seiner Bundesmitgliedschaft, konnte seine Thätigkeit darin nur eine sehr beschränkte sein. Außer den beiden kleinen Dialogen die »Pfandung« und »der Besuch um Mitternacht,« *) ist nichts von seinen schriftstellerischen Productionen aus dieser Epoche aufbewahrt worden; doch beschäftigten ihn schon damals die Vorarbeiten zu einer Geschichte des dreißigjährigen Krieges, und der Plan zu seinem »Julius von Tarent.« Nachdem er noch das Glück der persönlichen Bekanntschaft Klopstock's, der besuchsweise bei den göttinger Freunden vorsprach, genossen hatte, verließ er zu Anfang Octobers Göttingen, und gewiß mit schwerem Herzen, weil er sich ganz in der Stille davon machte, um sich und den Freunden den Schmerz des Abschieds zu ersparen. seinen äußerst zarten und reizbaren Nerven schienen überhaupt dergleichen gemüthserschütternde Scenen unerträglich, weshalb er sich denn später wieder auf eine gleiche Weise von der ihm innigst befreundeten Familie des Predigers
____
*) Zuerst anonym bekannt gemacht im götting. Musenalmanache auf d. J. 1775, p. 65 bis 68 und p. 226 bis 229; dann unter des Verf. Namen in: Eschenburg’s Beispielsamml., VI. Berlin, 1791, p. 172 bis 176; zuletzt einverleibt den sämmtl. Schrn, von J. A. Leisewitz. Brschw., 1838, p. 3 bis 8. –


_____
115

Wichmann zu Celle entfernte. Noch im Oct. desselben Jahres 1774 machte er sein Advokaten-Examen vor dem Oberappellationsgerichte zu Celle, und habilitirte sich hierauf als Sachverwalter zu Hannover. Um diese Zeit hatte er auch die schwere Pflicht treuer Freundschaft zu üben an dem unrettbar dahinwelkenden Hölty, der zur Consultation des Ritters Zimmermann nach Hannover kam. Die Anhänglichkeit an seinen Studiengenossen Albrecht Thaer, der sich als praktischer Arzt in Celle niedergelassen hatte, und an den Freund Wichmann zog ihn jedoch wiederholt zu längeren Besuchen nach dieser Stadt, bis er sich entschloß, Braunschweig zu seinem Domicil zu wählen, woselbst er gegen Ende Novembers 1775 eintraf. Hier war seine einzige Schwester Mariane Louise an den, in großem Glanze lebenden Kaufmann Winkelmann verheirathet, dessen gastliches Haus Einheimische und Fremde für einen Sammelplatz der gebildeten Welt ansehen durften. Vor allen Dingen mochten ihn aber auch Braunschweigs weitberühmte literarische Zustände anlocken, zumal er die Aussicht hatte, hier mit den ausgezeichnetsten Notabilitäten des Schriftstellerthums in Berührung zu kommen. Bei seiner einnehmenden Persönlichkeit glückte ihm dies auch im vollstem Maße, und wie er überall willkommen hieß, so schloß er sich doch zu näherem Verhältnisse vorzugsweise einem Ebert, Eschenburg, Heusinger, Wagner, Hörstel und Jerusalem an. Obgleich Leisewitz anfänglich in Braunschweig ohne Staatsanstellung, nur als Sachwalter auftrat, und überhaupt zu keiner Zeit in Beziehung zu dem Carolinum stand, so war er doch wegen seiner literarischen Verbindungen, namentlich auch als einer der ersten Jünger der neueren Schule, wie für die Literatur überhaupt, so besonders für Braunschweig ein Mann von Bedeutung. In diesen Musensitz führte er sich selbst auf das vortheilhafteste



____
116

ein durch seinen »Julius von Tarent,« dessen Vollendung der von Sophie Charlotte Ackermann und Frdr. Ludw. Schröder zu Hamburg im Febr. 1775 ausgeschriebenen Preisaufgabe für das beste Trauerspiel zu danken war. Daß gerade Schröder unsern Dichter durch den ihm nicht zuerkannten Preis in seiner dramatischen Laufbahn hemmte, ist keine sehr befremdende Erscheinung, und kann auch für Leisewitz nicht zu besonderm Nachtheil ausgelegt werden. Schröder war ein guter Mensch und Schauspieler; aber ein mittelmäßiger Dichter, und dabei war er Regisseur. Regisseure aber fühlen sich ja in der Regel genöthigt, dichterische Erzeugnisse zunächst nach ihrem Cassenwerthe abzuwägen, Obgleich dem guten Leisewitz also jenes Trauerspiel von Klinger »die Zwillinge« die ausgesetzten 20 Louisd'or streitig machte, so genoß er doch die Genugthuung, daß die öffentliche Stimme zu seinen Gunsten entschieden von der, jener Preisrichter abwich. Zum Glück hatte es nämlich ein Freund riskirt, wider Willen und Wissen des schüchternen Verfassers, dieses Meisterstück 1776 zu Leipzig, doch anonym dem öffentlichen Urtheile preiszugeben. Daß ihn dieses Werk durch Eschenburg’s Vermittlung Lessingen bekannt machte, der die hohe Achtung bis zu herzlicher Freundschaft steigerte, war für ihn nicht der kleinste Lohn. Durch Lessing an dessen Bruder Carl empfohlen, hatte Leisewitz auch das Glück, in Berlin, wohin er in Gesellschaft Thaer's 1776 reiste, und dort fast ein viertel Jahr lang verweilte, nicht allein die Bekanntschaft des Ministers von Zedlitz, eines Spalding's Mendelsohn's, Nicolai’s u. s. w. zu machen, sondern auch sein Drama auf die Bühne gebracht zu sehen, über welche es in kurzer Zeit vier Mal bei vollem Hause ging. –

Daß Leisewitz ein eminentes dramatisches Talent war, hat er durch dieses Erstlingserzeugnis vollgiltiger beurkundet,


____
117

als tausend Andere durch bändereiche Hinterlassenschaft. Man hat mehrfach geglaubt, ihm seinen Dichterberuf mit der schalen Bemerkung absprechen zu dürfen, daß sich der wahre Genius durch alle Hindernisse hindurch Bahn breche. Allein gerade diese Beweglichkeit und Reizbarkeit des Gemüths, diese Bescheidenheit bei einem so leicht zu verletzenden Ehrgefühle, diese Consequenz in der Durchführung seines gerechten Unwillens bei einer gleich großen und zarten Discretion tragen unverkennbar das Gepräge eines Dichtercharakters, wenn sie auch nicht auf entschiedene Selbstbestimmung schließen lassen. Franz Horn *) will freilich diese Empfindlichkeit unsers Leisewitz über jene Unbill in Abrede stellen; allein Horn, der nie ein großes kritisches Licht gewesen ist, hat weder durch Thatsachen, noch durch Gründe innerer Wahrscheinlichkeit seine Behauptung zu unterstützen vermocht.

Lessing, gewiß der befähigtste Kunstrichter, schrieb den »Julius von Tarent« im ersten Augenblicke Goethen zu, und freute sich nach entdecktem Irrthume, daß es außer Goethe noch Ein Genie gebe, das so etwas zu Stande bringen könne. **) Friedrich Schiller wußte den »Julius von Tarent« in seiner Jugend fast auswendig. Wenige Dramen, zumal Erstlinge, haben gleich bei ihrem Erscheinen ein solches Aufsehen erregt, welches selbst über Deutschlands Gränzen hinausging; weshalb dieses Meisterwerk auch alsbald ins Französische übertragen wurde. Wenige Dramen haben sich aber auch so dauernd in der Gunst des Volkes erhalten; denn auf den Repertoiren besserer Bühnen weiß sich der »Julius von Tarent« zur Ehre des bessern Geschmackes noch jetzt zu behaupten. Die Charaktere dieses Stückes, welches fern von Schwulst

*) »Mai und September.« v. F. Horn, II. Iserlohn, 1833, p. 74.
**) Lessing's Leben von K. G. Lessing, I. p. 423.


____
118

und Theatereffect ist, werden weniger durch Glut dramatischer Leidenschaft, als durch Wärme und Kraft des Gemüths in Bewegung gesetzt. Die Handlung tritt weniger in den äußere Erscheinung, weil sie mehr auf den schwierigeren und edlern Motiven des Gemüths- und Seelenlebens beruht. Der Dialog hat bei tiefem Gehalte kunstvolle Leichtigkeit; aber durch zu viele Kunst wird hie und da die Natur der Charaktere verdeckt, welche alle unter der durchgängig vorherrschenden Reflexion an Schärfe des Gepräges und an Freiheit der Bewegung verloren haben. Unverkennbar ist der Einfluß, den Lessing auf Leisewitz ausgeübt hat, besonders durch »Emilia Galotti.«

In demselben Jahre, in welchem der »Julius von Tarent« erschien, gab Leisewitz auch noch seine »Rede eines Gelehrten an eine Gesellschaft Gelehrter« *) heraus, ein Meisterwerk der Satire und Persiflage, für welche Leisewitz ein großes Talent besaß. Schon diese Probe läßt bedauern, daß er nicht Mehres in diesem Genre schuf, um sich darin aus der Lichtenbergschen Manier zur Originalität emporzuschwingen. – Auch einer Uebersetzung von »Glas Geschichte der Entdeckung und Eroberung der Kanarischen Inseln« **) ist hier zu gedenken, welche er im folgenden Jahre auf Schlözer’s Antrieb bearbeitet hatte; doch welche er in seiner bescheidenen Weise herausgab, ohne sich zu nennen. –
____
*) Zuerst abgedruckt im: deutschen Museum, Dec. 1776, p. 1053 bis 1061; dann in (Heinzmann’s) liter. Chronik. Bern, 1788, III. p. 112 bis 124; endlich in Fülleborn's Rhetorik. Bresl., 1802, p. 91 bis 100; zuletzt in Leisewitz' sämmtl. Schrn. Brschw., 1838, p. 99 bis 112. Ein Bruchstück daraus steht in: Pölitz Gesammtgebiet der teutschen Sprache. Lpz., 1825, IV. p. 331 bis 334. –
**) Gesch. der Entdeckung und Eroberung der Kanar. Inseln. Aus einer in der Insel Palma gefundenen spanischen Handschr. übers. Nebst einer Beschreib. der Kanar. Ins., v. George Glas. Aus d. Engl. Lpz., 1777. –



____
119

Mit dem J. 1778 wurde Leisewitz das Amt eines Secretairs der Landschaft übertragen, welches ihm Muße genug zu seiner stillen literarischen Thätigkeit übrig ließ, besonders zu den Vorarbeiten für die Geschichte des dreißigjährigen Krieges, woran er rastlos fortsammelte. Eine Vergnügungsreise, welche ihn im Herbste des Jahres 1780 in das heitere Thüringen führte, bot ihm als höchsten Reiz die persönliche Bekanntschaft eines Wieland, Herder, Goethe, Böttiger, Matthisson, Gotter; das Wiedersehn seines Bode; und gewährte ihm auch die ehrenvollste Aufnahme an den Höfen zu Gotha und Meinigen. Im J. darauf führte er eine Cousine, die wegen ihrer Schönheit großes Aufsehn erregende Sophie Seyler, die Tochter eines hamburger Kaufmanns, deren Bekanntschaft er schon früher bei seinem Onkel, dem Hofapotheker Andreä in Hannover gemacht hatte, als Gattin heim, und verlebte mit ihr in stiller Zurückgezogenheit eine stets heitere, nur leider kinderlose Ehe. –

Im J. 1781 hatte er seinen Lessing zu betrauern, dessen Tod er dem Freunde Lichtenberg mit den Worten anzeigte: »die Nachricht von Lessing’s Tode ist nur zu wahr. Der Mann, dem für seine mannigfaltigen Talente, auch ein rein ausgelebtes Menschenalter noch immer zu kurz gewesen wäre, starb am 15. Febr. im 53. Jahre. Doch ich muß Betrachtungen der Art abbrechen, wenn ich fortschreiben will, und sie verlangen ja auch nur eine authentische Nachricht von seinem Tode.« – Glücklicher Weise veröffentlichte Lichtenberg diesen ganzen, höchst interessanten Brief in seinem Magazine. *) Ebenso machte es auch von Selchow, der,
____
*) Götting. Magazin der Wissensch. u. d. Literat., herausg. v. G. Chr. Lichtenberg und Georg Forster. Jahrg. II. 1781, 1. St., p. 146 bis 150. – Aufgenommen in Leisewitz Schrn., 1838. p. 113 bis 119. –




____
120

ohne lange um Erlaubnis zu fragen, seines Freundes treffliche Abhandlung über den Ursprung des Wechsels im J. 1782 in seine juristische Bibliothek einrücken ließ. *)

Ob übrigens die literarische Thätigkeit unsers Leisewitz ihrem ganzen Umfange nach, besonders was Uebersetzungen betrifft, bekannt geworden sei, läßt sich bei der großen Bescheidenheit dieses Mannes, der literarisch nie genannt zu sein wünschte, noch in Frage stellen. Zu diesem Zweifel veranlaßt er wenigstens durch einen, zuerst 1845 edirten Brief, **), worin er sich unter dem 21. Juli 1788 gegen seinen Verleger also ausspricht: »Uebrigens danke ich Ihnen auf das verpflichtetste für die sehr verbindliche Art, mit der sie meinen Antrag einer Uebersetzung des Guardians ***) annehmen. Ich habe bereits den Anfang mit dieser Arbeit gemacht, und sie können spätestens zu Anfang des Dec. den Anfang des Msptes auf die Weise erhalten, daß mit dem Drucke ununterbrochen fortgefahren werden kann. Jeder Theil des Guardians beträgt in dem ziemlich kleinen und enggedruckten Originale etwa 28 Bogen, wovon aber wenigstens 1/3 abgehen wird. Uebrigens bleibt es wegen des Honorarii u. s. w. bei der ehemals unter uns getroffenen Abrede, wobei ich jedoch auf Veranlassung einer Stelle Ihres gütigen Briefes eines Punktes ausdrücklich gedenken muß. Wir sind ehemals darüber überein gekommen, daß mein Name der Uebersetzung nicht vorgesetzt werden sollte und ich muß auch dieses mal dieselbe Bedingung wiederholen. Unter manchen Gründen, werde ich hiezu hauptsächlich dadurch bestimmt, daß wie sie wissen, das Publikum
____
*) v. Selchow‘s jurist. Biblioth. Götting, 1782, V. p. 730 bis 741. Aufgen. in Leisew. Schrn., p. 121 bis 132.
**) Dieser Brief steht als Facsimile abgedruckt in der »Samml. Histor. berühmter Autographen« oder Facsimiles von Handschriften ausgezeichneter Personen alter und neuer Zeit. Stuttg., 1845, 1. Heft. –
***) Die Zeitschrift: »The Guardian. London, 1745,« 2 Bde. -



____
121

meine Geschichte *) erwartet, und ich mich außer Stand sehe, öffentlich die Ursachen anzugeben, die mich an der Vollendung jener Arbeit hindern. Ich werde unterdessen den größten Fleis anwenden, dem Buche allen den Werth zu geben, den es durch einen berühmten Namen erhalten könnte, und durch den meinigen schwerlich erhalten würde.« –

Endlich kam nun auch die Zeit, in welcher der Staat Leisewitz ausgezeichnete Fähigkeiten in angemessenerer Weise nutzte und ehrte. Er ward 1790 unter dem Charakter eines Hofraths zum Informator des Erbprinzen ernannt, und zwar für das Fach der Geschichte und Landesverfassung; und wurde, bei der hohen Gewogenheit, denen er sich von Seiten des regierenden Herzogs Carl Wilh. Ferdin. zu erfreuen hatte, auch mit dem Unterrichte im deutschen Staatsrechte bei den in Braunschweig studirenden beiden Prinzen von Oranien, wovon der ältere der nachherige König der Niederlande war, beauftragt. Auch die Schwester dieser Prinzen, die nachherige Erbprinzessin von Braunschweig hatte er in der neueren Geschichte zu unterweisen. Der Herzog belohnte die ausgezeichneten Dienstleistungen des würdigen Mannes durch seine Beförderung zum Secretair der geheimen Canzlei; und 1801 zum Geheimen-Justizrathe und Referenten mit Sitz und berathender Stimme im Geheimeraths-Collegium. Leisewitz Diensteifer ist allgemein bekannt, und er ließ sich bis zu seinen letzten Lebensjahren, in denen er fortwährend kränkelte, weil es ihm anders unmöglich war, hinzukommen, doch auf einem Tragsessel in die Sessionen führen. Seiner anderwe tigen Amtsverdienste hier ganz zu geschweigen, sei wenigstens darauf hingewiesen, daß er, der stilistische Meister, sich als Mitglied des Geheimeraths-Collegiums um geschmackvollere
____
*) Gesch des dreißigjähr. Krieges.



____
122

Abfassung der öffentlichen Verordnungen, mit zweckmäßiger Beseitigung des Canzleistil-Unsinnes, ein wesentliches Verdienst erwarb. Das wesentlichste aber durch die gänzliche Reorganisation der braunschweigischen Armenanstalten, welche 1805 in's Leben trat, und worüber er zwei, von Umsicht zeugende Berichte veröffentlichte. *) Den besten Beweis seiner mildthätigen Gesinnung gab dieser Menschenfreund, der sich selber im ärmlichsten Stadttheile, mitten unter den Nothleidenden häuslich niedergelassen hatte, und an dessen Thür niemals ein Hilfsbedürftiger vergebens anklopfte, dadurch, daß er die ihm vom Herzoge verliehene Kanonicats-Präbende am Blasius-Stifte zu 4000 Thaler verkaufte, um damit die Schulden zu bezahlen, die seine übergroße Mildthätigkeit veranlaßt hatte.

Im J. 1805 wurde er neben seinen anderen Functionen auch noch zum Präsidenten des Obersanitäts-Collegiums ernannt, eine Ehre, die er nicht lange genoß, indem sein hinfälliger Körper eine hitzige Brustwassersucht nicht zu besiegen vermochte, welche diesem theuren Leben am 10. Septbr. 1806 Morgens 6 Uhr ein Ende machte. Die Nachricht seines Dahinscheidens verbreitete die allgemeinste Trauer unter seinen Mitbürgern; und obgleich der anspruchlose Mann für den Fall seines Todes die Bestimmung hinterlassen hatte, (wie es
____
*) Ueber die bei Einrichtung öffentl. Armenanstalten zu befolgenden Grundsätze überh. und die Einricht. der Armenanstalt in Brschw. insbes. Brschw., 1802. –
Bericht des Geh. Justizraths Leisewitz, des Kaufmanns Stähler und des Kaufm. Spehr an die Unterstützungs-Deputation des Armencollegii in Brschw. von ihren Bemühungen, den Betrag des jetzigen unentbehrlichen Bedürfnisses einzelner Menschen und Familien in Brschw. auszumitteln, und darnach die den Armen zu verwilligende Unterstützung zu bestimmen. (Im ersten St. der das Armenwesen der Stadt Brsch. betreffenden Nachr. Dec. 1803. –
Beide Abhandlungen im Auszuge mitgetheilt in Leisewitz sämmtl. Schrn., 1838, p. 133 bis 216.)



_____
123

auch Mauvillon und Campe gehalten haben wollten,) daß er ohne allen Prunk, wie der ärmste Tagelöhner, in einem platten weißen Sarge bestattet werde, so zeigte doch sein glänzender Leichenzug, zu dem Alle vom Palaste bis zur Hütte herab unaufgefordert aus frommstem Herzensantriebe herzugeströmt waren, und so zeigten auch die Thränen, unter denen er bei feierlichem Gesange und dem Dankesnachrufe *) eines Freundes in die Gruft gesenkt wurde, daß er in seiner Selbstschätzung weit unter seinem Verdienste zurückgeblieben war. Leisewitz ruhet auf dem Martinikirchhofe, an der seite seines treuen Freundes, des als physiologischen Schriftstellers rühmlich bekannten Aug. Winkelmann; und ein kleiner flacher Stein, der als einzigen und schönsten Schmuck nur Leisewitz Namen enthält, bezeichnet diese denkwürdige Stelle. – Beim jährlichen Stiftungsfeste der Armenanstalt wird jedesmal sein Bild im Versammlungslokale aufgestellt, und in dem Becher, den er als Vermächtnis den Armenpflegern hinterlassen hat, die Spende für die Nothleidenden eingesammelt.

Was Leisewitz Persönlichkeit betrifft, so ist wohl selten die äußere Hülle ein so treues Abbild des innern Menschen gewesen, wie bei ihm. Er war ein wirklich schöner Mann, schlank von Statur; sein Antlitz, zart an Formen, ja selbst zart an Farbe, mit tiefdunkeln, seelenvollen Augen, zeigte, männliche Festigkeit gepaart mit stiller Bescheidenheit, die fast an jungfräuliche Schüchternheit gränzte, Geist und Wissen strahlte aus diesem herrlichen Seelenspiegel, und das unverkennbare Gepräge des reinsten Wohlwollens, der Sanftmuth, Treue und Biederkeit, der kindlichsten Einfalt und der harmonischsten Ruhe gaben dieser edeln Erscheinung die höchste
____
*) Rede und Gesang erschienen in Druck; später wieder abgedruckt im Liederbuche des 13. Febr., des Stiftungsfestes der Armenanstalt zu Brschw., 1814. –



____
124

Anziehungskraft, zumal dieser Grundzug sich durch die ganze äußere Ers†cheinung fortzog, und sich sogar bis auf den sanften melodischen Ton seiner Stimme erstreckte. Doch hielt es sehr schwer, zumal in späteren Jahren, als durch tiefe Hypochondrie seine angeborene Schüchternheit in förmliche Menschenscheu ausartete, mit diesem verehrungswürdigen Manne in nahe Berührung zu kommen. Zuletzt schloß er sich sogar von allem Umgange ab, wie dies auch merkwürdigerweise seine, ihn lange Jahre überlebende Frau that.

Bei dem großartigen Geistesfond, den Leisewitz besaß, ist es tief zu beklagen, daß seine wenigen Schriften ihn noch lange nicht als den zeigen, der er eigentlich war. Unersetzlich ist daher der Verlust, den die deutsche Literatur durch die, laut testamentarischer Bestimmung vorgenommene Vernichtung seines gesammten handschriftlichen Nachlasses erlitten hat. Mit allen seinen Manuscripten, worunter auch wahrscheinlich das eines Lustspieles »die Weiber von Weinsberg« war, wovon Klingemann berichtet, *) wurde nicht allein seine ganze Correspondenz, worunter sich die Zuschriften der ausgezeichnetsten Literaten befanden, sondern auch das kostbare Manuscript seiner »Geschichte des dreißigjährigen Krieges« den Flammen geopfert. Nach dem, was schon die Mitglieder des Hainbundes, namentlich J. H. Voß, **) von diesem Werke erwarteten, was Jerusalem ***) und Selchow †) darüber verhießen, was Klingemann ††) und Böttiger †††) darüber nur gelegentlich mittheilen, was über Geist und
____
*) Klingemann's Kunst und Natur, III. p. 56. –
**) J. H. Voß' Briefe, I. p. 169. –
**) Jerusalem, über die deutsche Sprache und Lit., 1781, p. 16. –
†) v. Selchow's jurist. Biblioth., 1782, V. p. 730. –
††) Kunst und Natur, III. p. 55. –
†††) Böttiger's handschr. Nachl. Lpz., 1838, II. p. 90.



_____
125

Umfang des Quellenstudiums aus Leisewitz eigenen Briefen *) an seinen Freund, den Bibliothekar Langer, hervorgeht, ist der Verlust dieser kostbaren, in einzelnen Theilen schon vollständig ausgearbeiteten Handschrift, die eine Frucht mehr, als dreißigjähriger mühevoller Forschung war, kaum zu verschmerzen. Um so weniger aber, wenn man erwägt, welch eines Denkmales für die späteste Nachwelt sich durch Vernichtung dieser Papiere Leisewitz selbst beraubt hat, der bei der Hoheit seines Charakters, bei der Schärfe seiner Beobachtungsgabe, bei der Gründlichkeit seiner Kenntnisse und seines Forschungseifers, bei seinem geläuterten Geschmacke und bei der Natürlichkeit und Grazie seiner Darstellung, unzweifelhaft seinen eigensten Beruf als Geschichtsforscher erfüllt haben würde! –
____
*) Leisewitz sämmt. Schrn, 1838, p. 225 bis 290. – .

____


9. Pockels.

Wir treffen hier zuerst auch auf einen Anhänger der, um diese Zeit bereits herrschenden philantropischen Ansichten, auf Carl Friedrich Pockels. *) Dieser, am 15. Novbr. 1757 zu Wörmlitz bei Halle geboren, der Sohn eines Frachters, widmete sich dem Studium der Theologie und Philosophie auf der Universität Halle. Hier lernte er Aug. Herm. Niemeyer kennen, dessen Erscheinung ihn mächtig anzog. In diesem Gelehrten, der die Kunst in hohem Maße besaß, die Wissenschaft populär zu machen, der große Welt- und Menschenkenntnis mit Humanität verband, und dessen philosophische Tendenzen sich nach der reinpraktischen Seite hin neigten, auf Moralphilosophie, Psychologie und Philanthropismus, sehen wir nicht allein einen Repräsentanten des scharfausgeprägten Charakterzuges jener Zeit, sondern auch ein unmittelbares Vorbild unsers Pockels. Nicht minder starke Anziehungskraft übte auf ihn der dortige Philosoph
____
*) Braunschw. Magazin, 1814, 88. St., p. 3148. –
Hall. Lit. Zeitg., 1814, N. 252, p. 471. –
Becker's Nationalzeit. der Deutschen, 1814, N. 50. –
Meusel's gelehrtes Deutschl., III. 12. Nachtr. Lemgo, 1811, p. 57; und XIX. Lemgo, 1823, p. 156. –



____
127

Joh. Aug. Eberhard aus, der in ganz verwandtem Streben, außer einem äußerst scharfsinnigen Menschenheobachter, zugleich ein sehr scharfsinniger Sprachkritiker war. In dieser Schule gebildet, hatte Pockels das Glück, an dem um das preußische Landschulwesen hochverdienten, und durch seinen »Kinderfreund« literarisch bekannten Friedr. Eberh. von Rochow auf Rekahn einen fördernden Gönner zu finden. Dieser empfahl den kaum fünfundzwanzigjährigen Jüngling dem Herzoge Carl Wilh. Ferdin. von Braunschweig zum Erzieher für dessen zwei jüngste Söhne, die Prinzen August und Friedr. Wilhelm. In diesem Verhältnisse blieb Pockels bis dem ältern seiner Zöglinge, dem Prinzen August, nachdem derselbe hannöversche Militairdienste genommen hatte, Nordheim zum Aufenthaltsorte angewiesen wurde. Dorthin begleitete er den Prinzen in der Eigenschaft eines Gesellschafters. Er erhielt nun den Charakter eines Königl. Grosbrit. Rathes, und verheirathete sich mit der Tochter des hannöverschen Generals Niemeyer. Im J. 1800 wurde ihm auch der Titel eines Herzogl. Braunschw. Hofrathes beigelegt. Als jedoch die Kriegsunruhen auch das braunschweigsche Land berührten, wurde er vom Prinzen August getrennt, der sich mit seiner Familie zur Flucht genöthigt sah, worauf Pockels nach Braunschweig zurückkehrte. Vor der Katastrophe bei Jena wurde er zu einer wichtigen politischen Mission ausersehen. Der Erbprinz von Braunschweig war nämlich um diese Zeit plötzlich ohne Hinterlassung männlicher Erben gestorben. Da nun die Regierung, dem Rechte der Erbfolge gemßs, zunächst an den Prinzen Georg, und nach diesem an Prinz August hätte gelangen müssen, der Erstere aber in einer, völliger Imbecillität nahen Geistesverfassung, der Zweite schon damals der sehr ernstlichen Befürchtung gänzlicher Erblindung ausgesetzt war; so wünschte Herzog Carl



____
128

Wilh. Ferdin. die Nachfolge seinem jüngsten Sohne Frdr. Wilhelm zuzuwenden. Pockels wurde mit dem mißlichen Auftrage an den Prinzen August gesandt, diesen zur Entsagung zu vermögen. Nachdem dieses Geschäft vom günstigsten Erfolge gekrönt worden war, wurde Pockels mit einem Kanonicate am Blasiusstifte belohnt. Unter der französischen Occupationsherrschaft trug ihm Johannes von Müller westphälische Dienste an; die aber mit seinen patriotischen Gesinnungen eben so unverträglich waren, wie überhaupt Fesseln des Dienstzwanges mit seiner Vorliebe für freie Muse. Nach der Rückkehr des braunschweigischen Fürstenstammes erfreuete er sich der ganz besondern Gunst seiner früheren beiden Zöglinge; wurde vom regierenden Herzoge Friedr. Wilhelm mit der Oberaufsicht über die Presse beauftragt, und war fast der tägliche Gast des, trotz seiner Erblindung sich heiterster Geselligkeit hingebenden Herzogs August. Pockels dieser kräftige, lebensfrische und lebenslustige Mann, von mittelgroßer, aber sehr starker und gedrungener Statur, mit diesem vollen, rothbäckigen Gesichte, welches Gutmüthigkeit und Freundlichkeit Jedem entgegentrug, mit seiner Weltbildung, Bescheidenheit, Gelehrsamkeit und steten heitern Laune, war aber auch eben so geeignet zum Gesellschafter, wie er als solcher gesucht, und den Freuden der Tafel in höherem Maße ergeben war, als er in Rücksicht auf seine Gesundheit es hätte sein sollen. So endete denn in der Nacht vom 28. auf den 29. Octbr. 1814 ein Schlagfluß sein, unter den angenehmsten Verhältnissen geführtes Leben.

Als Schriftsteller hat sich Pockels in zwei heterogenen Gebieten versucht, in der Poesie und Philosophie. Indessen trug die Letztere den Sieg der Herrschaft davon, und sicherlich wegen seiner höheren Befähigung zu ihr. Es sind mehre seiner poetischen Versuche, hie und da zerstreut, ins Publikum



____
129

gekommen; *) und er gab auch ein »Taschenbuch, dem Edlen und Schönen, der frohen Laune und der Philosophie des Lebens gewidmet« (Hannover 1803-1804) heraus. Allein bei seiner philosophischen Anschauungsweise wollte das Vorherrschen der Reflexion in seinen Poesieen die reinlyrische Stimmung nicht recht aufkommen lassen. Seinen Ruf verdankt er daher mehr seinen philosopischen Werken, welche bei klarer und anmuthiger Darstellung den reichsten Schatz feiner Menschenbeobachtung enthalten. Unter vielen anderen hieher gehörenden Schriften *) möge nur seine berühmteste genannt
____
*) In den gelehrt. Beiträgen der braunschw. Anzeigen von 1784 u. 1785 stehen mehre seiner Fabeln:
**) Pockel’s edirte mit K. Ph. Moritz den 5. bis 7. Bd. des »Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.« Berlin, 1787 bis 1789. –
K. F. Pockel’s Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntnis. - Berlin, 1788 bis 89, 2 Hefte. –
Fragmente zur Kenntniß und Belehr. des menschl. Herzens, Hannov., - 1788 bis 94, 3 Samml. –
Ubald Cassina‘s analyt. Versuch über das Mitleiden, mit Anmerk. v. J. Bt. Gualengo; aus d. Ital. v. Pockels. Hannover, 1790.
Denkwürdigkeiten zur Bereicher. der Erfahrungsseelenlehre und Charakterkunde. Halle, 1794. –-
Neue Beiträge zur Bereicher. der Menschenkunde überh. und der Erfahrungsseelenkunde insbes. Hbg., 1798. –
Aphorismen über das schöne Geschlecht. (Anonym in den gel. Beitr. zu den braunschw. Anzeigen, 1785, 55. bis 60. St.)
Ueber die böse Laune. (Anon. ebend, 1786, 4. bis 7. St.)
Ueber den bürgerl. Zustand der Juden. Aus d. Franz des Lamourette Brschw., 1806. –
Rhapsod. Blätter. (Brschw. Magaz., 1807, 6. St.)
Ueber die Abhängigk. des Weibes vom Manne, (ebend., 17. bis 18. St.)
Ansicht der edlern Galanterie nach den Ritterzeiten, (ebend, 37. St.)
Gewalt eines Jugendeindruckes bei einem Selbstmörder; zur Seelenheilkunde. (Zeitg. für die eleg. Welt, 1809, N. 112.)
Meine Wanderungen an der Ostsee 1809, (ebend., 1810, N. 81 bis 82.
Die Griechinnen der Vorzeit, ein Fragm. (Morgenbl., 1809, N. 36.)
Noten zur Anthropologie. (Morgenbl., 1811, N. 7.)
Tag und Nacht des Lebens, (ebend., N. 50.)
Noten zur Menschenkunde. (Ztg. f. d. eleg. Welt, 1809, N. 99 u. 163.)
Noten zur Menschenkunde. (Morgenbl., 1812, N. 224, 227, 229.)
Ueber Gesellsch. Geselligk. und Umgang, 2 Bde. Hannov., 1813; 3. Bd., 1816. (Der letzte Bd. auch unter d. Titel: »Ueber die Kleinigkeiten im Umgange.« S. Charakter- und Umgangsgemälde, aus Pockel's Schrn. gezogen. Pesth, 1817. –)


____
130

werden: Versuche einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts;« (Hannover 1797–1802. 5 Bde; neue Aufl. 1ster Bd. 1806.) welchem Werke er die »Contraste zu dem Gemälde der Weiber, nebst einer Apologie derselben gegen die Befehdung im goldnen Kalbe« (Hannov. 1804), als Anhang zur Charakteristik des weiblichen Geschlechts hinzufügte; und dieselbe mit dem Werke abschloß: »der Mann, ein anthropologisches Charaktergemälde seines Geschlechts, ein Gegenstück zu der Charakteristik des weiblichen Geschlechts« (Hannover 1805 –1808 4 Bde.). In diesen Werken bewies Pockels große Umsicht; indem er ohne Frage die beste Mitte zu treffen verstand zwischen den Panegyrikern der Frauen, dem witzigen Hippel, dem paradoxen Mauvillon, und dem Verächter des Weibes Brandes.

Gewiß nur zur höchsten Ehre gereicht es einem Manne von Pockels Sprachkenntnis und Stilgewandtheit, daß er die Früchte jahrelangen Fleißes, eine Uebersetzung von »Mich. Montaigne’s Gedanken und Meinungen« augenblicklich unterdrückte, als er erfuhr, daß der als Uebersetzer rühmlichst bekannte Joh. Joach. Christoph Bode mit der gleichen Arbeit beschäftigt sei. – Pockels »biographisches Gemälde des Herzogs Carl Wilh. Ferdin. von Braunschweig-Lüneburg« (Tübingen 1809, ohne Namen des Verf.), welches eine Erweiterung der »Fragmente zur Geschichte der letzten Lebenstage des verstorbenen Herzogs von Braunschweig« war (s. Zeitg für die eleg. Welt. 1808. Nr. 22–25.), giebt, wie auch jeder seiner biographischen Entwürfe, *) ein Zeugnis dafür ab,
____
*) Anekdoten zu dem Leben und der Charakteristik des unsterbl. J. H. Lambert. (Zeitg. f. d. eleg. Welt, 1807, N. 162.)
Christina von Schweden und Monaldeschi, ein histor. Bruchstück jener Zeit. (Zeitg. f. d. eleg. Welt, 1809, N. 23 bis 25)
Bruchstücke aus der Biographie des Landschaftsmalers Weitsch zu Brschw.; bes. in Hinsicht auf die Entwickel. seines Kunsttalents. (Morgenbl., 1810, N. 1 bis 4)



____
131

daß er ein offnes Auge für charakteristische Züge hatte, und eine leichte, gefällige Feder besaß, sie zu skizziren.

Obgleich seine Forschungen wegen des reichen Schatzes psychologischer Bemerkungen häufig in das Gebiet der Pädagogik hinüberspielen, so hat er sich doch auch im speciellen Fache der Pädagogik mehrfach thätig bewiesen. So noch in einem seiner letzten Werke »über den Umgang mit Kindern«, *) einem, seiner Zeit sehr geschätzten, und auch noch für unsere Zeit höchst nützlichem Buche. Doch geht aus allen seinen Schriften hervor, daß er ein mehr heller, als systematischer Kopf war; daß er die angenehme, einer streng philosophischen Darstellung vorzog; aber sie geben auch den Beleg dafür, daß er ein zwar gründlich, selbst classisch gebildeter Gelehrter, doch ein praktischer, und daher kein Bücherwurm und Stubenhocker sei; und daß er, wenn auch nicht durch Aufstellung neuer transscendentaler Hirngespinste, doch wegen seines, in den verschiedensten Lebensverhältnissen geübten scharfen Blickes für Lebensbeobachtungen, den Namen eines Philosophen im wahrsten Sinne des Wortes verdiene, den eines Lebensweisen.
____
Nachgel. noch ungedruckte Papiere der unsterbl. Karschin. (Zeitg. f. d. eleg. Welt, 1810, N. 253; 1811, N. 15, 55; 1812, N. 121 b. 123.)
Rückerinnerungen an Fdr. Eberh. von Rochow. (Morgenbl, 1811, N. 2 bis 3.)
*) Ueber den Umgang mit Kindern. Erfahrungen, Maximen und Winke für Eltern, Erzieher und Jugendfreunde in der gebild. Welt. Hannov., 1811. (Bruchstücke daraus im brschw. Magaz., 1811, N. 7 bis 8.)
Bemerkungen über die Sprache der Kinder. (Brschw. Magaz, 1805, 30. Stück)
Für Jünglinge, welche in die größere Welt treten wollen; nach den Maximen des de la Chetardye umgearbeitet. (Brschw. Magaz., 1808, 4. St.)



_____


10. Mauvillon.

Im J. 1785 ward auch Mauvillon nach Braunschweig berufen, ein unruhiger Geist, der schon in den sechziger und siebenziger Jahren in die Literaturbewegung Deutschlands kräftig eingegriffen hatte, und hier von um so größerem Interesse ist; weil er ein Zögling des braunschweiger Collegiums war. Mauvillon's Einfluß ist aus verschiedenen Gesichtspunkten interessant, da er sich als ungebundener Freigeist, als Propagandist republikanischer Ideen, als Vertreter der italienischen Literatur in Deutschland, als Blutsverwandter der Kraftgenies aus der Sturm- und Drangperiode im Fache der literarhistorischen Kritik, als Lehrer der Kriegswissenschaften, als Geschichtsforscher und als sarkastischer Kopf bekannt gemacht hat.

Jacob Mauvillon *) wurde am 8. März 1743 zu
____
*) Fr. Schlichtegroll's Nekrolog auf das J. 1794, 5. Jahrg, I. Gotha, 1796, p. 163 bis 245. –
C. J. Bouginé, Handb. der allgem. Literargesch., IV. Zürich, 1791, p. 470. –
Strieder's hess. gel. Gesch, IX. p. 417; X. p. 397. –
Eck’s gel. Tagebuch auf d. J. 1794, p. 105 bis 108. –
Baur's Gallerie histor. Gemälde, V. p. 465 bis 470. –
Gervinus V., 8 pp. und 265 pp. –
Conversat.-Lexikon. Lpz., 1815, VI. p. 191 bis 194.
Meusel.


____
133

Leipzig geboren, wo sein Vater, ein französischer Auswanderer, sowohl an einem von ihm selbst gegründeten Erziehungsinstitute, wie auch an der dortigen Akademie als Lehrer der französischen Sprache mit Erfolg wirkte. Da dieser tüchtige Mann, der sich in seinem Fache auch als Schriftsteller bekannt machte, bereits 1756 einem Rufe folgte als Lehrer der französischen Sprache am Carolinum zu Braunschweig, so wurde seinem hofnungsvollen Sohne das Glück zu Theil, von seinem dreizehnten Jahre an, bis dahin er Zögling der leipziger Thomasschule gewesen war, den Unterricht aller literarischen Celebritäten des braunschweiger Carolinums genießen zu können. Der Vater bestimmte den Sohn für das Studium der Theologie, wofür aber dieser nicht die mindeste Neigung bezeigte, und für dieselbe später zwar immer ein gewisses Interesse, aber nur ein feindseliges bewahrte, indem er sie in seinen Schriften fortwährend zum Gegenstande der erbittertsten Angriffe machte. Von Jugend auf schwächlich, und durch einen unglücklichen Sturz noch obenein zu einer Aesopischen Gestalt gekommen, mochte hierin wohl die nächste Veranlassung seiner Abneigung gegen das ihm aufgedrungene Brotstudium liegen. Sein Vater, der nach der Weise jener Zeit, deren starre Erziehungsmethode der Philanthropismus noch nicht gemildert hatte, ein sehr strenges Hausregiment führte, glaubte den Sohn zwingen zu können, sich nun den Rechtswissenschaften zu widmen; allein auch diesen wollte der trotzig widerstrebende Jüngling keinen Geschmack abgewinnen, der sich nur für Sprachforschung, Zeichnen und Mathematik empfänglich zeigte. Seiner kleinen, ungebührlich buckligen Figur ungeachtet, bot er sich beim Ausbruch des siebenjährigen Krieges als Ingenieur dem hannöverschen General von Walmoden an, der ihn erklärlicher Weise erst abwies; bis er durch die kecke Erwiederung des jungen Mannes: »Nehmen sie mich nur



____
134

immerhin, sie sollen einmal sehen, wie nützlich ich Ihnen werden will!« bewogen wurde, wenigstens die Probe mit ihm zu machen. So zufrieden auch der Vorgesetzte mit dem Untergebenen war, und so verpflichtet sich dieser jenem fühlte, dem er die Grundlage seiner militairischen Kenntnisse verdankte, so dachte doch Mauvillon mit der Zeit selbst daran, eine andere Laufbahn zu versuchen. Da er sich nämlich auf Avancement keine große Hoffnung machen zu dürfen glaubte, zumal nach Beendigung des Krieges, so gab er endlich den Bitten des Vaters nach, sich der Jurisprudenz zu widmen, und verfügte sich auf die Akademie zu Leipzig. Das unrechtmäßige Verfahren aber eines dortigen Juristen, der sich eine Schuldforderung doppelt zahlen ließ, wurde von unserm Mauvillon als Veranlassung aufgegriffen, sein kaum begonnenes Brotstudium wieder an den Haken zu hängen. Er warf sich nun auf die belles lettres, übersetzte die »Briefe der Frau von Sévigné,« *) und schickte ein Jahr darauf die bekannten »Briefe über die Kochische Schauspielergesellschaft,« **) in die Welt. Durch dieses Werk erwarb er sich zuerst literarische Bekanntschaft und Feindschaft in reichem Maße, weil er, zwar mehrentheils in gutem Rechte, doch mit gleicher schonungslosigkeit Sache und Person vor dem öffentlichen Forum beleuchtete. Noch in demselben Jahre bekam er eine Collaboratur am Pädagogium zu Ilefeld, und fing auch noch an, mit dem Rector Pätz das Lateinische und Griechische zu treiben. Schon von Ilefeld aus schloß sich jene ominöse Verbindung mit den Gebrüdern Unzer in Wernigerode, die in ihrer Vorliebe für die italienische Literatur und
____
*) Versuch einer Uebers. der Briefe der Marquisin von Sevigné, mit histor. und krit. Erläuter. Brschw. u. Hildesh, 1765, 1. Theil. –
**) Freundschaftl. Erinner. an die Kochische Schauspielergesellsch. in Leipzig. Hamb., 1766. –



____
135

in freigeisterischer Richtung vollste Sympathie bei ihm fanden. Nachdem bereits die »Paradoxes litteraires« (à Amsterd. 1768) erschienen waren, gab er mit Ludw. Aug. Unzer, dem jüngern der beiden Brüder, jene famösen Briefe »Ueber den Werth einiger teutschen Dichter, und über andere Gegenstände, den Geschmack und die schöne Literatur betreffend,« (Lemgo 1771–1772. 2 St.) heraus. Hier übten die beiden starken Geister als wahre Höllenrichter ihr Amt, so daß sich die ganze gebildete Welt bekreuzigte vor einer mit so wenig Pietät vorgenommenen Berüttelung aller literarischen Größen. Daß sie die Franzosen über den Haufen warfen, hätte man ihnen noch verziehen; aber sie griffen auch die Engländer an, besonders den ungehobelten Shakespeare, und den weinerlichen Schwächling Young, an deren Stelle sie den kräftigen Ariost setzten, wodurch auch Mauvillon's würdiger Lehrer Ebert indirect einen tüchtigen Schlag erhielt. Mit den Moralisten und Didaktikern verwiesen sie auch alle Satiriker vom Parnasse, erkannten das religiöse Element für ein der Poesie ungünstiges an, und ließen, außer einem Klopstock, Wieland, Ramler, Gesner, Gleim, eben niemandem besondere Gnade wiederfahren. Der entnervende Stümper Gellert bekam sein Theil so gut, wie der fade Rabener und der phantasielose Lessing, und alles wurde gestriegelt, was nur gute und schöne, nicht aber starke Menschenkinder, oder wie es hies »Catone,« erzielen wollte. Kurz, diese Briefe, welche Wahres und Falsches in leidenschaftlicher Hast durch einander wühlten, welche in taktloser Ungerechtigkeit alles auf die Spitze trieben, und wo sie Schwierigkeiten fanden, das Kind gleich mit dem Bade ausschütteten, hatten wenigstens aus höherem Gesichtspunkte betrachtet das Gute, daß sie der damals grassirenden sentimentalen Weinerlichkeit einen heilsamen Stos versetzten, und daß sie, wenn auch nicht durch


____
136

Anregung, wozu es ihren Verfassern selbst an Schöpferkraft und harmonischer Ausbildung fehlte, doch wenigstens durch Aufregung wohlthätig einwirkten.

Bereits im J. 1771 wurde Mauvillon, der auch als Mitglied in die »Gesellschaft des Ackerbaues und der freien Künste« aufgenommen worden war, als Weg- und Brücken-Ingenieur und als Lehrer der Kriegsbaukunst am Carolinum in Cassel angestellt. Schon im Jahre darauf faßte er den muthigen Entschluß, sich mit einem Fräulein Scipio aus Arolsen zu verheirathen, einer Dame, deren ansehnliche Aussteuer doch nur in Geistesschätzen bestand. Da nun der Eheherr selbst nur einen Gehalt von 400 Thalern hatte, und sein Vater sich durchaus zu keinen Zuschüssen verstehen wollte, so lag denn die Nothwendigkeit auf der Hand, in schriftstellerischer Thätigkeit eine Erwerbsquelle zu suchen. Peinlich wie dies war, so wurde um diese Zeit doch Mauvillon's bürgerliche Stellung noch auf eine unangenehmere Weise berührt, durch seinen Freund, den Professor Rud. Erich Raspe, den Aufseher des casseler Antiquitäten- und Münzcabinets. Schon längst hatte man argwöhnische Blicke auf die Gewissenhaftigkeit dieses Mannes geworfen, den Mauvillon, rechtschaffen und arglos, wie er war, mit leidenschaftlichem Freundschaftseifer vertreten hatte, als sich der Unredliche wegen begangenen Unterschleifes bei Nacht und Nebel nach England davon machte.

Durch den Druck zu gehäufter Geschäfte sah sich Mauvillon 1775 veranlaßt, sein Ingenieuramt wieder aufzugeben, doch mit Beibehaltung seiner Lehrerstelle. Immer darauf bedacht, seine Lage zu verbessern, war er, der Republikaner, sogar stark gesonnen, 1777 mit General Heister gegen die nordamerikanischen Freiheitsmänner zu Felde zu ziehen; ein Vorhaben, welches nur durch die schmeichelhafte Versagung



____
137

des Urlaubs vereitelt wurde, indem ihm der Landgraf erwiederte, daß er ihn nicht entbehren könne. Die 1778 an ihn erlassene Aufforderung Bahrdt's, dem pädagogischen Institute zu Heidesheim als Mitarbeiter beizutreten, lehnte Mauvillon entschieden ab; dagegen bewahrte er ein lebhaftes Interesse für das Philanthropin zu Dessau, welches er selbst mit Geldbeiträgen unterstützte. Der Beifall, der seiner ausgezeichneten Lehrgabe gezollt wurde, verschaffte ihm Gelegenheit zu sehr einträglichem Privatunterricht, selbst bei höheren Militairpersonen, z. B. beim Prinzen Carl von Hessen Philippsthal u. A. Endlich wurde er 1779 zum Hauptmann bei dem eben errichteten Cadettencorps befördert; doch mit der für ihn sehr bedrückenden Verpflichtung, alle Sonntage mit seinen Cadetten in die Kirche zu gehen, was freilich unterblieb. Im J. 1780 zeigte ihm die casseler Gesellschaft der Alterthümer seine Aufnahme an. Einen Act der Grosmuth übte Mauvillon gegen seine Stiefmutter, zu der er freilich in keinem besonders freundschaftlichem Verhältnisse stand; aber doch zu ihren Gunsten bei dem 1780 erfolgtem Tode seines Vaters auf die ganze Erbschaft Verzicht leistete, ungeachtet seine eigene Lage keinesweges sorgenfrei war. Mit aufopfernder Thätigkeit nahm er sich auch um diese Zeit der in Verfall gerathenen Freimaurerloge zu Cassel an. Seine gehäuften Geschäfte mochten ihn indessen zu dem Versuche veranlassen, in die Dienste Friedrich's II. zu kommen, der ihm auch wirklich die Stelle eines Ingenieur-Capitains mit 600 Thaler Gehalt antrug. Waren diese Propositionen ohnehin wenig verlockend, so trug doch wohl Mauvillon's Frau mit ihrer Antipathie gegen Preußen das Meiste dazu bei, daß Friedrich's Anerbieten abgelehnt wurde.

In dieser Zeit war Mauvillon's literarische Thätigkeit in ihrer höchsten Blüthe. Er war Mitarbeiter an mehren



____
138

Journalen, und machte sich in allen diesen Blättern durch seine scharfen Kritiken nicht wenig gefürchtet. Außerdem gab er Raynal's »philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beiden Indien, aus dem Französischen, mit einigen Verbesserungen und Anmerkungen« (Hannov. 1774 –1778. 4 Thle.) heraus; desgleichen die Uebersetzung einiger Schriften des Physiokraten Türgot, die »Untersuchung über die Natur und den Ursprung der Reichthümer und ihrer Vertheilung unter den verschiedenen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft« (Lemgo 1775.); debütirte 1775 in dem deutschen Museum mit einer Abhandlung: »über den Genius des Sokrates,« worin er nach seiner Weise gegen den Wunderglauben kräftig zu Felde zog; edirte seine eigene »Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte« (Lpz. 1776 – 1777. 2 Thle.), ein etwas flüchtig zusammengestoppeltes, zum Theil aus Uebersetzungen bestehendes Opus, welches er seinem Busenfreunde Dohm zueignete; band auch 1777 über den Tod des züricher Predigers Waser mit dem Professor Meiners an, dem Verfasser der Briefe über die Schweiz; und schrieb seine vielangefochtenen »physiokratischen Briefe an den Herrn Prof. Dohm, oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren staatswissenschaftlichen Gesetze, die unter dem Namen des physiokratischen Systems bekannt sind,« (Braunschw. 1780). Außerdem trat er hervor mit dem „Essai sur l'influence de la poudre à canon dans l'ars de guerre moderne.“ (à Dessau 1782), einer Schrift, welche noch immer unter den diesen Gegenstand berührenden als die beste gilt, und auch in's Englische übersetzt wurde. Bald darauf erschien die »Einleitung in die militairischen Wissenschaften, für junge Leute, die bestimmt sind, als Officiers bei der Infanterie und Cavallerie zu dienen; in



____
139

drei Jahrgängen abgethan,« (Brschw. 1783), ein Werk, welches als der erste Versuch einer systematischen Begründung der Taktik wichtig, und seines Werthes wegen noch jetzt in Gebrauch ist. *) Im Jahre darauf ließ er folgenden „Essai hist. sur l'art de la guerre pendant la guerre de 30 ans. (à Cassel 1784; 2. Aufl. 1789); **) und endlich, was hier zu unserm Zwecke schon nähere Beziehung hat: »dramatische Sprichwörter, ein Beitrag zum gesellschaftlichen Vergnügen in Deutschland, von einem Freunde der Freude,« (Lpz. 1785). ***)

Noch nach einer Seite hin verbreitete sich in dieser Zeit, und zwar am erfolgreichsten, Mauvillon’s Wirksamkeit. Durch Benzler und die Unzer mit dem halberstädter Kreise, namentlich mit Gleim und Clamer Schmidt in Verbindung gesetzt, fand er hier durch Wieland's Anregung die entschiedensten Sympathieen für die italienische Literatur. Schon die 1763 erschienene Schrift J. N. Meinhard's über die italienischen Dichter hatte sein Auge auf Welschland gerichtet; weshalb er denn auch bereits in dem oben berührten Briefwechsel mit Unzer den Engländern und Franzosen keck seinen Ariost entgegen setzte. Hatten Englands und Frankreichs Schriftsteller mächtig auf die deutsche Literatur influirt,
____
*) Aus dieser Epoche sind noch folg. Wke. anzuführen:
Seine franz. Uebers. v. Großmann’s Lustsp.: »nicht mehr als sechs Schüsseln, 1781.« –
Discours pour la celebration du jour anniversaire de la maissance de S. A. S. le Landgrave regnant de IIesse, prononcé Ie 14. Aout dans la loge Fredéric de l'Amitie par le Fr. Mauvillon, Orateur de la dite Loge. à Cassel, 1782. –
Zoologie géographique. Premier Article, l'Homme, par Mr. E. A. G. Zimmermann. à Cassel, 1784 –
**) Erschien früher deutsch im histor. Portefeuille, 1783, 4. St., p. 425 bis 462; 5. St., p. 616 bis 642; 6. St., p. 774 bis 785. Wurde auch in's Engl. übers.
***) später wurde dieses Wk. unter seinem Namen nochmals herausg. v. J. G. Dyck: »Gesellschaftstheater.« Lemgo, 1790. –



_____
140

so versprach er sich von den bis dahin noch fast gänzlich unbekannten Italienern keine geringeren Erfolge. Er lieferte also die erste Uebersetzung von Ariost’s »wüthendem Roland« (Lemgo 1777–1778. 4 Thle). So weit die dem deutschen Genius ferner, als die brittische liegende italienische Literatur überhaupt Anklang finden konnte, geschah es denn auch. Namentlich war der Gewinn für die Musik der Sprache und die Glätte des Versbaues nicht unerheblich. Am unmittelbarsten zeigte sich die Nachwirkung von Mauvillon's Anregung bei Heinse, der selbst von einer südlichen Gluth der Phantasie erfüllt, von Gleim noch angefeuert, mit Leidenschaft sich den Italienern in die Arme warf, 1781 den Tasso, und 1782 Ariost's »Roland« von neuem übersetzte, und es sich zur Aufgabe machte, in seinen, hinsichtlich des Wohllautes und der Plastik musterhaften Romanen die sinnliche Gluth seiner Vorbilder noch zu überbieten.

Eine neue, nicht minder interessante Epoche im Leben Mauvillon's beginnt mit seiner Versetzung nach Braunschweig, wohin er auf des braunschweig'schen Hofraths Zimmermann Vermittelung 1785 als Major beim Ingenieurcorps und beim Collegium Carolinum als Lehrer der Kriegswissenschaften kam, bis er endlich zum Obristlieutenant avancirte. Zugleich genoß er das Vertrauen, das man ihn in den mathematischen und Kriegswissenschaften nicht allein zum Lehrer für die Prinzen des Hauses ausersah, sondern auch für mehre hier studirende, fürstliche Personen, z. B. für den Erbprinzen von Oranien, den Prinzen von Nassau-Weilburg u. s. w. Ein höchst wichtiges Ereignis war für ihn die Freundschaft des Grafen Mirabeau, welcher durch seinen Nebenbuhler, den Minister Calonne, aus Frankreich entfernt, und in einem sehr mißlichen Auftrage 1786 mehr nach Preußen verwiesen, als gesandt wurde, bei dieser Gelegenheit Braunschweig



____
141

berührte, und Mauvillon aufsuchte. Es entspann sich zwischen Beiden ein vertrauliches Verhältnis, dessen Band Mirabeau's Plan einer philosophisch-politischen Schilderung der preußischen Monarchie war, welches Vorhaben Mauvillon mit Lebhaftigkeit auffaßte, und den Freund mit Quellen unterstützte. Zur Ausführung dieses Planes kam Mirabeau im J. 1787 sogar auf einige Monate nach Braunschweig, und die beiden Freunde waren so eifrig über dem großen Werke aus, daß sie die Debatten selbst bei der täglich zu ihrer Erholung unternommenen l'Hombre-Partie fortsetzten, und dieses stets zum innigsten Vergnügen des dritten Mitspielers, dessen Börse die Fettfedern davon zog, während sich die beiden großen Geister über das Wohl der Menschheit echauffirten. Außerdem, daß nun Mauvillon die Vollendung des Buches besorgte, erwarb er sich auch um Ausführung des Einzelnen und um Darstellung des Ganzen ein ausschließliches Verdienst. Nachdem sich Mirabeau wegen dieses Werkes, worin mit großer Freimüthigkeit die Schwächen, aber auch die Feinheiten des preußischen Staatsgewebes, freilich mit Einschleichung bedeutender Irrthümer, geschildert waren, durch Friedrich Wilhelm II. aus Preußen verwiesen sah, gab er dasselbe zu Paris, und zwar unter seinem Namen heraus: „De la monarchie Prussienne sous Fréderic le Grand,“ (1786, 4 Bde.). Mauvillon veranstaltete nun von dieser Schrift eine Uebersetzung,  *) worin er sein
____
*) Von der preuß. Monarchie unter Friedrich d. Gr. Unter der Leitung des Grafen v. Mirabeau abgefaßt, und nun in einer sehr verbesserten und vermehrt. deutschen Uebers. herausg. Brschw. u. Lpz, 1793 bis 95, 4 Bde. – Das 7. Buch dss. Wks. erschien bes. unter d. Titel: »I. Mauvillon's Gesch. und Darstell. des brandenb. und preuß. Soldatenwesens bis zur Regier. Frdr. Wilh. II.; aus der franz. Handschr. nach dem Tode des Verf. Übers. und mit Anmerk. begleitet v. Frdr. v. Blankenburg. Lpz., 1796.« –
Die dem Wke. Mirabeau's angehängte Taktik Mauvillons: »Principes de la Tactique actuelle de l'infanterie des troupes


____
142

Anrecht an die Mitautorschaft kundthat; aber über der Vollendung hinwegstarb, weshalb Friedrich von Blankenburg die Uebertragung des vierten Bandes übernahm, der auch Mauvillon's »Geschichte des preußischen Soldatenwesens« nach des Verfassers Tode edirte; doch mit Milderung und Ausmerzung einiger allzubitterer Ausfälle. Außerdem, daß Mauvillon seinen Freund Mirabeau noch mit mehren kleineren Arbeiten unterstützte, z. B. mit einem Commentar »über den Entwurf des preußischen Gesetzbuches,« einer Abhandlung »über die Auflagen,« und einer »über Guibert's Werke,« beabsichtigte er auch noch, mit dem Grafen ein Werk über England zu schreiben, welches Vorhaben jedoch 1791 Mirabeau's Tod vereitelte. Durch diesen Tod wurde ein sehr inniger Freundschaftsbund aufgelöst, wie es jener Briefwechsel ausweist, den Mauvillon nun in Druck gab. *) Man hat es befremdend gefunden, daß Mirabeau gegen das Ende seines Lebens diese zärtliche Correspondenz abbrach; allein wenn man den eigentlichen Nerv dieser Freundschaft näher in's Auge fast, so muß es einleuchten, daß etwas Zurückhaltung eintreten mußte, nachdem sich der Graf von der ehrenwerthen Gesinnung abgewandt, und durch das Königthum hatte bestechen lassen. Indessen betrauerte der Zurückgebliebene den Dahingeschiedenen auf's innigste; und gerade weil er seinen Schmerz zu verhehlen und zu bewältigen suchte, war dieser um so ergreifender. Seiner Frau, welche sich über die von ihm im Kreise der Seinigen erzwungene, höchst peinliche Ruhe
____
les plus perfectionnées, avec des considerations sur les particularités de la Tactique de la cavallerie.« erschien auch deutsch von J. G. Malherbe. Meißen, 1791. –
*) Lettres du Comte de Mirabeau à un de ses amis en Allemagne, ecrites durant les années 1786–1790, à Brunsv., 1792. Deutsch, unter dem Titel: Briefe des Grafen v. M. an einen Freund in Deutschl., geschrieben in den J. 1786 bis 90. Brschw., 1792. –



____
143

verwunderte, erwiederte er: »ich gehe mit meinem Schmerz um, wie ein Hofmann mit seinem Fürsten, dem er immer ein freundliches Gesicht zeigt, und sich durch seine Launen darin nicht irre machen läst.« – Auch wirkte Mirabeau's geistiger Einfluß auf die Richtung seines Freundes bis zu dessen Tode nachhaltig fort. Mauvillon war zwar ohnehin schon durch Abstammung, Erziehung und Temperament mehr Franzose als Deutscher, aber was noch irgend deutsches Element in ihm war, wurde durch französische Berührungen völlig französirt. Durch Mirabeau, der im Anfange seiner Laufbahn selbst den Liberalen spielte, waren im deutschen Freunde die revolutionären, propagandistischen Ideen geweckt; und durch die Encyklopädisten, die in Deutschland eine große Schaar der Libertins als Schüler zählten, war auch der ungebundene Ton, den sich ein Mauvillon und Genossen erlaubten, gleichsam autorisirt. Mauvillon galt aber für eine gewisse Sphäre der Freigeisterei, bis zu welcher sich nicht Alle zu versteigen wagten, als eine Art von Zielpunkt, zu welchem auch ein Graf von Schmettau, ein Diez, Stamford, Joh. Christoph Unzer, Ludw. Aug. Unzer und viele Andere hinstrebten. Merkwürdig, daß eine solche Regung nur in Wernigerode aufkommen konnte, wo bis auf unsere Tage herab sich ein fast an Quietismus streifender religiöser Sinn bewahrt hat. Mauvillon, der sich mit dem jüngeren Unzer, dessen freigeisterische Bitterkeit aus einem durch Leidenschaft und Kränklichkeit zerrütteten Körper und Gemüthe entsprang, in Libertinage fast selbst überboten, und schon früher in einem, durch Banquerott der Schrauderschen Buchhandlung zu Amsterdam verloren gegangenen Werke über die »Trugschlüsse der christlichen Religion,« dem Christenthume einen Hieb versetzt hatte, griff jetzt dieses Thema von neuem wieder auf. Den ersten stoß hatte nämlich sein Unsterblichkeitsglaube



____
144

durch den Tod seiner Mutter bekommen, wodurch der bekümmerte Sohn in so schwärmerischen Tiefsinn versenkt wurde, das er sich stets mit der Hoffnung trug, den Geist seiner Mutter erscheinen zu sehen. Nun mochte in ihm vielleicht auch noch immer ein gewisser Groll im Stillen fortgewirkt haben über den Zwang, mit welchem einst sein Vater ihm die Theologie hatte aufdringen wollen, und dieser üblen Stimmung mochte zu allem Ueberfluß durch Unzer stets neue Nahrung zugeführt worden sein. Mit diesem hatte er den Vertrag geschlossen, daß wer von ihnen zuerst sterben würde, dem Zurückbleibenden im Tode erscheinen solle, zum Beweise, daß der abgeschiedene Geist auf die Erde fortzuwirken fähig sei. Da nun Unzer, ohne seinem Freunde wiederzuerscheinen, gestorben war, zog dieser nach seiner Logik den Schluß daraus, daß überhaupt der Geist nach dem Tode nicht fortdauern könne, und schickte ein Opus über: »das zum Theil einzige wahre System der christlichen Religion« (Berlin 1787) in die Welt, worin er dann den, mit derselben Ungerechtigkeit auch in neuerer Zeit wieder aufgewärmten Satz zu Tage brachte, daß man wünschen müßte, es sei das Christenthum niemals zum Vorschein gekommen! Zum Glück dachte die braunschweigsche Regierung human genug, Thorheiten dieser Art nicht durch, ohnehin vergeblichen, Zwang zu unterdrücken, um dadurch ein leicht erkennbares, äußeres Uebel nicht in ein weit gefährlicheres, im Verborgenen wüthendes zu verwandeln. Wie die That bewiesen hat, sprach denn auch das Christenthum für sich selbst weit wirksamer, als die sonst treffliche, durch diese Veranlassung hervorgerufene Apologie desselben vom würdigen Abt und Vicepräsidenten des wolfenbüttler Consistoriums Aug. Chr. Bartels, und die Erwiederung einiger Recensenten  *) es vermochte. Das aber gerade Leß
____
*) Z. B. Allgem. Lit. Ztg., 1788, II. p. 353. –



____
145

schwieg, auf den es doch hauptsächlich gemünzt war, mochte Mauvillon, der Aufsehen zu erregen wünschte, am empfindlichsten sein.

Mit dieser Opposition gegen die herrschende Religion stand auch bei ihm die, gegen die bestehende Staatsform in nahem Verhältnisse. Nur gefährdete er sich durch die, leider mit blinder Leidenschaft ausgesprochene Vorliebe für republikanische Tendenzen seine bürgerliche Stellung gänzlich, so daß der wegen seines Sarkasmus ohnehin vielfach gefürchtete Mann fast von allen Bekannten gemieden wurde, wegen gegründeter Besorgniß, durch seine politische Rücksichtslosigkeit compromittirt werden zu können. Indessen nicht mit Unehre trat er aus einer Fehde, die auch vor das öffentliche Forum kam. Man hatte zu Cassel zwei seiner Briefe eröffnet an den nassauischen Regierungsrath von Knoblauch und an den casseler Bibliothekar Cuhn, als an zwei der Regierung verdächtige Personen gerichtet. Zu eignem Schimpfe vertheidigte der wiener Professor Aloysius Hofmann im 1sten Stücke seiner wiener Zeitschrift vom J. 1792 dieses Verfahren der Regierung; worauf dann Mauvillon im schleswigschen Journale (1792. III. p. 336) den guten Wiener mit der Krafthand eines deutschen Kernmanns die Geißel satirischer Züchtigung fühlen ließ. Mit Recht trat die öffentliche Meinung auf Mauvillon's Seite, und er selbst zählte stets diese Entgegnung zu seinen gelungeneren Arbeiten. – Obgleich es ihm an Streitigkeiten ohnehin nicht fehlte, so brach er auch wohl die Gelegenheit vom Zaune, um sich auf dem Kampfplatze umhertummeln zu können. Im J. 1787 hatte der Hagestolz Ernst Brandes, auch von Seiten der Politik Mauvillon's Widerpart, in seinen »Betrachtungen über das weibliche Geschlecht« nach Mauvillon’s Ansicht die Rechte des Weibes gekränkt. Mauvillon nämlich, der seine Mutter,  



___
146

diese sanfte, liebreiche, stille Dulderin, fast abgöttisch verehrt hatte, der auch seiner Frau mit fortwährend gleicher Zärtlichkeit und Verehrung anhing, und der noch dazu, trotz seiner Faunengestalt, von allen gebildeten Damen mit großer Auszeichnung behandelt wurde, hatte weit vortheilhaftere Begriffe vom Weibe. Er fühlte sich daher genöthigt, mit seinem polemischen Opus: »Mann und Weib, nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert; ein Gegenstück zu der Schrift des Geh.-Canzleisecret. Brandes über die Weiber,« (Leipz. 1791), als Champion des schönen Geschlechtes in's Feld zu rücken. Aber zu des Verfassers höchstem Ingrimm verpufften alle seine Salven spurlos ins Blaue; und er sollte die Celebrität, welche er hier erwartet hatte, bald sehr unerwünschter Weise in einer ganz andern Veranlassung finden. Jenes anonyme Pasquill: » Bahrdt mit der eisernen Stirn,« hatte auch den guten Mauvillon stark mit Pfeffer und Salz eingerieben, so daß dieser im ersten Aerger den Verdacht der Autorschaft auf Joh. Georg Zimmermann in Hannover wälzte. Darüber von der hannöverschen Kanzlei zur Rechenschaft gezogen, schickte er: »des Obristlieutenants Mauvillon gründliche Vermuthungen und gesammelte Data, nach welchen er fest überzeugt ist, daß der Verfasser der Schrift, Bahrdt mit der eisernen Stirn, kein anderer sei, als der Herr Ritter von Zimmermann,« zu seiner gerichtlichen Vertheidigung nach Hannover ein, womit er sich aber vor dem ganzen Publikum *) nicht wenig prostituirte, weil Zimmermann sich durch einen Eid, dessen Formel er auf einzelne Blätter drucken, und an alle Freunde vertheilen ließ, von jener
____
*) Dieser Scandal kam auch vor's Publikum durch die Schrift: »des braunsch. Obristlieuten. Mauvillon gerichtliche Verhöre und Aussagen, den Verf, der Schr.: Bahrdt mit der eisernen Stirn, betreffend.« Brschw., 1791. –



____
147

Beschuldigung reinigte, weil auch Kotzebue als der wahre Verfasser jenes unwürdigen Libells bekannt wurde, und der Herr Obristlieutenant für seine zwar »gründlichen,« aber sehr ungegründeten Vermuthungen Arrest bekam. Unverzeihlich bleibt nur, daß Mauvillon auch nach entdecktem Irrthume ganz ohne Grund noch immer die Ansicht geltend machen wollte, daß Zimmermann wenigstens um die Schrift gewußt habe.

Es ist wirklich erstaunenswerth, wie dieser schwächliche und mit Geschäften überladene Mann bis zum letzten Augenblicke seines Lebens sich immer wieder zu neuer literarischer Thätigkeit abzumüßigen vermochte. Nachdem er des Rittmeisters von Kaltenborn zu Cassel »militairischen Sophron« *) mit mehrfachen Verbesserungen herausgegeben; die »Geschichte des Feldzugs in den Niederlanden, vom J. 1745 an,« wenigstens in Handschrift vollendet; den ersten Theil von Tempelhofs mehr durch taktische, als historische Begründung sich auszeichnenden Geschichtswerke über den siebenjährigen Krieg in's Französische übertragen; »Malouet's Briefe über die franz. Revolution« in's Deutsche übersetzt; **) für den historischen Kalender auf das J. 1794 (Göschen in Leipz.) noch die »Geschichte des spanischen Erbfolgekrieges« angefertigt hatte, vollendete er noch das beste seiner historischen Werke, die in Ansehung der Darstellung sehr ausgezeichnete und gründliche »Geschichte Ferdinand's, Herzogs von Braunschweig (Leipz. 1794. 2 Bde. – ***)
____
*) Der milit. Sophron an seine jungen Kameraden, oder: Klugheitslehren für angehende junge Officier's, von dem alten preuß. Officier, dem Verf. der Briefe über Friedr. d. Gr. Lpz., 1792. –
Gesch. des Herrn v. L., eines Vetters des preuß. Officiers u. s. w., 2 Bde. Hohenzollern, 1793. –
**) Malouet's Briefe über die franz. Revolut.; aus d. Franz. übers. Nebst einer Vorlesung über die Frage: Welches sind die Kennzeichen der Freiheit? Lpz., 1793. –
***) Mauvillon hatte auch Antheil an der: lemgoer Bibliothek der Lit.;



____
148

Aus persönlichen Rücksichten und zu literarischen Zwecken hatte sich Mauvillon 1793 mit einem halbjährigen Urlaube nach Leipzig zurückgezogen. Vor seiner Heimkehr hatte er auch noch einen Abstecher über Hamburg gemacht, sich unter Weges eine Erkältung zugezogen, welche eine Brustwassersucht zur Folge hatte. Seiner Gattin suchte er aus Schonung diesen bedenklichen Zustand zu verschweigen; doch nachdem diese dennoch durch Freunde davon unterrichtet worden war, eilte sie nach Hamburg, um den Leidenden nach der Heimath abzuholen. Mauvillon führte bis zum letzten Hauche seines Lebens die Rolle eines Stoikers consequent durch; denn seine Standhaftigkeit verließ ihn auch bei den qualvollsten Leiden nicht. Als man ihm am Abend vor seinem Tode aus
____
am casseler Zuschauer, (1772); an der allgem. deutschen Bibliothek; an der allgem. Lit. Ztg., (1788 bis 1790); an dem von Dacheröder redigirten Magazin der Landhaushaltung und Regierungskunst, (1. u. 2. st. »von der Unterhalt. zahlr. Truppen und den daraus entspringenden Folgen, bes. in Rücks. auf die Fürsten des deutschen Reichs,«); am deutschen Museum, (1777, 6. St., p. 481 bis 510: »vom Genius des Sokrates, eine philos. Unters.«; ebend, 8. St., p. 146 bis 153: »Brief an die Herausgeber des deutschen Museums, über eine milit. Erfindung;« ebend., 1778, 2. St, p. 155 bis 161; 3. St., p. 254, 11. St., p. 395 bis 419: »über das Ich, in Briefen an Hrn. Prof. Tiedemann«); am Journ. von und für Deutschland, (1784, 1. St., p. 29 bis 36: »Nachrichten von den hessischen Hospitalien, besonders dem Kloster Merrhausen;« ebend., 10. St., p. 225 bis 227: »Nachricht von einem predigenden Korbmacher zu Bohlen bei Waldeck«); an der milit. Monatsschrift, (2. St., 1786: Bemerkungen über eine Recension des Essai historique sur l'Art de la Guerre von Mauvillon;« ebend, 6. St., 1786: »über die Art, Truppen so zu bilden, daß sie sogleich im Felde brauchbar sind«); an der berliner Monatsschr., (1788, 11. St, p. 459 bis 465: »wie denkt Graf Mirabeau über die franz. Parlamente?«); am schlesw. Journal, (1792, 3. St., p. 336 bis 363: »Schreiben an Hrn. Prof. Hofmann zu Wien, über dessen Aufsatz im 1. St. der wiener Zeitschr., p. 97 bis 100, betitelt: über das Recht und Unrecht, Briefe zu erbrechen und zu unterschlagen,«); an Klügel's Encyklopädie, (2. Afl., 1794, IV. p. 137 bis 238; Artikel: »Kriegswissenschaften«); an den gelehrten Beiträgen der braunschw. Anzeigen (zu Ende der achtziger Jahre: »über die Unsitte der Verschwendung bei Begräbnissen«).



____
149

den Zeitungen die Siegesberichte der Franzosen vorgelesen hatte, sagte er: »auf so gute Nachricht wird es sich gut schlafen lassen.« Diese Prophezeihung brachte ein apoplektischer Anfall in Erfüllung, an welchem er am 11. Jan. 1794 zu Braunschweig verschied.

Im Betreff seines persönlichen Charakters, hat man ihm stets das Zeugnis gegeben, daß er im Berufe ein pflichttreuer, und von Gesinnung ein streng redlicher Mann war. Sein Wort galt allgemein als unverbrüchlich. Ohne Menschenfurcht sprach er seine Ansichten stets entschieden, leider auch häufig leidenschaftlich, und fast immer ganz rücksichtslos aus. Bei aller seiner Wahrheitsliebe war er aber zu hartnäckig rechthaberisch, um ganz gerecht sein zu können; wie denn auch häufig seine Herzensgüte mit seinem SSarkasmus in Collision kam. Ueberhaupt muß man seinem Kopfe mehr Witz, als Gründlichkeit, mehr Geistesreichthum, als Gelehrsamkeit, mehr Paradorie, als Umsicht zugestehen. In allen Verhältnissen des Lebens zeigte er gleiche Leidenschaft in seinem Hasse, wie in seiner Liebe. Man denke hiebei nur an die schwärmerische Trauer beim Tode seiner Mutter und seines Freundes Unzer; an seine übertriebene Verehrung Mirabeau's; an seinen Haß gegen Zimmermann, und an seinen Ingrimm auf Brandes. Als Dohm 1780 sich von ihm trennte, um in preußische Dienste zu treten, beweinte er ihn wie einen ihm durch den Tod Entrissenen. Treuer wie er, konnte niemand seinen Freunden anhängen; das mußte ihm ein Campe, von Dietz, Unzer, von Kaltenborn, von Schliefen, Tidemann, Georg Forster, Johannes von Müller, von Stein, von Sömmering, Runde, Feddersen und mancher Andere bezeugen. Auch war er sehr gesellig und gastfrei, selbst unter großen Aufopferungen. Wenn man will, so stand er eigentlich, seiner geistreichen, durch witzige Laune gewürzten



___
150

Unterhaltung wegen, als Gesellschafter am glänzendsten da. Im Kreise des Hauses wird er als ein wahrhaft liebenswürdiger Mann geschildert. Seiner zärtlichen Gattenliebe haben wir bereits gedacht, und es sei wenigstens noch erwähnt, daß ihm seine Frau das Zeugnis ausstellte, daß sie ihn in den einundzwanzig Jahren ihrer ehelichen Verbindung niemals unmuthig gesehen habe. Er hinterließ zwei Söhne und eine Tochter, welche die ganze Freude seines Lebens waren. Doch verzärtelte er sie keinesweges durch blinde Affenliebe, und freuete sich im Geiste schon lange auf den Zeitpunkt, wo sie, von ihm entfernt, in der bürgerlichen Gesellschaft ehrenvoll ihren Posten ausfüllen würden. Die Söhne gingen beide als Artilleristen nach Batavia, und Friedr. Wilh., der bis 1813 als Obrist in preußischen Diensten stand, hat sich auch durch seine »militairischen Blätter« (1820–26), und durch seine »Anleitung zur Erlernung des Schachspieles« (1827) wie auch durch Herausgabe des nachgelassenen Briefwechsels seines Vaters, *) als Schriftsteller bekannt gemacht.

Daß es um Mauvillon's Orthodorie etwas mißlich aussah, davon haben wir uns schon früher überzeugt; und wir wollen nur noch zum Schluß auf seine in Betreff seines Begräbnisses getroffenen, originellen Bestimmungen hindeuten. Nachdem er sich bereits gegen Ende der achtziger Jahre in den Gelehrten-Beiträgen zu den braunschweigschen Anzeigen über die Unsitte der Verschwendung bei Begräbnissen ausgesprochen hatte, war von ihm auch consequenter Weise befohlen worden, daß man ihn wie einen gewöhnlichen Tagelöhner begrabe. sollte Jemand zur Folge gebeten werden, so möchte
____
*) J. Mauvillon's Briefwechsel, od. Briefe von verschied. Gelehrten an den in herzogl. braunschw. Diensten verstorb. Obristl. Mauvillon, gesamm. und herausg. von seinem Sohne F. Mauvillon. Deutschland, 1801. –



____
151

man diejenigen wählen, wovon man glauben würde, daß sie sich über seinen Tod freueten; weil er gern, so lange er könnte, Vergnügen machen wollte.« Der Witzbold schloß noch mit dem eigenthümlichen Nachsatze, daß er alle diejenigen, die gegen diese Vorschriften handeln würden, zur Rechenschaft ziehen werde, wenn wirklich ein Wiedersehen stattfinden sollte. Ob nun nach seinem Tode diese Verordnung, wie man vorgab, wirklich verloren gegangen war, oder ob sich die Hinterbliebenen über die angedrohete Rechenschaft hinwegsetzten, genug, der Selige wurde dennoch mit den seinem Range gebührenden Ehren bestattet. –



____


11. Stuve.

Es könnte zwar hier die Reihe der Männer geschlossen werden, welche als Vorboten der bessern Geschmacksrichtung für die deutsche Literatur bedeutsam wurden; jedoch ist noch einiger Schriftsteller Erwähnung zu geschehen, welche gleichsam schon als einzelne Lichtblicke des, auf das vielverheißende Morgenroth folgenden Tages anzusehen sind. Der erste dieser Literaten, Stuve, gehört eigentlich nicht in die Classe der Schöngeister, sondern mehr in die, der praktischen Philosophen, und auch hier nimmt er nicht gerade einen der ersten Plätze ein. Allein wie der Odem des Frühlings nicht einzelne Blumen nur, sondern die ganze Pflanzenwelt aus dem Winterschlummer erweckt, wie daher nicht eine Blume den Frühling, und eine Schwalbe den Sommer macht: so verbreitet sich auch der Frühlingshauch einer neubelebten Geistesregsamkeit über alle Gebiete des Wissens; und so ist auch jeder einzelne Zweig von dem großen Baume der Erkenntnis wichtig als Zeugnis für die neuerwachte Lebensthätigkeit. Die Principien der neuen Schule wurden bereits in den siebenziger Jahren vom Volke in's Leben geführt. In allen Fächern des Wissens, in allen Verhältnissen des staatlichen, kirchlichen und bürgerlichen Lebens bewirkten sie heilsame



____
153

Umwälzungen. In dieser Beziehung verdienen auch einer ehrenvollen Erwähnung die Bemühungen Johann Stuve's, *) der im Aug. 1751 zu Hamm in Westphalen geboren wurde. Er besuchte das Gymnasium zu Lippstadt, hierauf die Universität Halle, wo er sich an Löffler, seinen ihm lebenslang treu ergebenen Freund anschloß, und auch den Freundschaftsbund mit Phil. Jul. Lieberkühn knüpfte, ein inniges Verhältnis, auf gleichen Neigungen und Studien beruhend, und später durch gleiche Berufspflichten befestigt. Mit dem letzgenannten Freunde, welcher wie er, neben der Theologie zu seinem Lieblingsfache die Pädagogik erwählt hatte, kam er im J. 1776 als Hauslehrer nach Neu-Ruppin, und wurde auch mit ihm und durch seine Vermittlung schon im folgenden Jahre an der dortigen Schule als öffentlicher Lehrer angestellt, und zur Vergütung für einen ausgeschlagenen Ruf als Conrector nach Prenzlau, gemeinschaftlich mit seinem Lieberkühn mit der Direction der neu-ruppiner Schule, und mit der Reorganisation dieser Anstalt beauftragt. Von welch einem günstigen Erfolge die Bemühungen der beiden Männer gekrönt gewesen sein müssen, geht aus der Blüthe dieser Schule, und aus der ihren Wiederbegründern zu Theil gewordenen allgemeinen Anerkennung hervor. Besonders genoß Stuve einen ausgebreiteten Ruf; und er verdiente auch das ihm geschenkte große Vertrauen, wegen der Behutsamkeit und Umsicht, mit welcher er seine Reformen in's Leben rief. Er gehörte nicht zu jenen philanthropischen Schwärmern, die durch das unerprobte Neue das bewährte Alte über den Haufen
____
*) Supplement-Band des Nekrologs für d. J. 1790 bis 1793, rückständige Biographieen, Zusätze und Register enthaltend, von Fr. Schlichtegroll. Gotha, 1798, p. 34 bis 57.
Denkwürdigkeiten aus dem Leben ausgez. Deutschen des 18. Jahrh., pag. 340.
Ueber seine Schrn.: Meusel.



____
154

warfen, sondern zu den vorsichtigen Praktikern. Namentlich wußte er die Strenge alter classischer Schulstudien sehr glücklich mit Geschmacksbildung zu vereinigen. Sein Princip war: harmonische Ausbildung des ganzen Menschen. Er, der in der Jugend körperlich so sehr Verwahrloste, der also aus Erfahrung sprach, drang deshalb auch als Schulmann so eifrig auf eine gleichmäßige Pflege seiner Zöglinge in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht. Natürlicher Weise machen Neuerungen, wären sie auch noch so vorsichtig ins Werk gerichtet, den Männern des alten Herkommens immer viel zu schaffen; weshalb unserm Stuve in Braunschweig mit großem Mißtrauen begegnet wurde. Stuve war nämlich mit Campe bekannt geworden, und zwar durch die von diesem an ihn ergangene Aufforderung, am »Revisioswerke« Theil zu nehmen. Ein in Circulation gesetzter, handschriftlicher Aufsatz Campe's, den Stuve durch schlagende Gründe freimüthig und doch schonend anfocht, flößte Campen ein so inniges Vertrauen zu dem Charakter seines Widersachers ein, daß sich daraus eine, beide Männer gleich ehrende herzinnige Zuneigung entspann. Campe besuchte nun seinen Freund, und veranlaßte ihn höchstem Auftrage gemäß im J. 1786, noch ehe er selbst in Braunschweig eine feste Stellung eingenommen hatte, sein ehrenvolles und äußerst angenehmes Verhältnis zu der neu-ruppiner Schule, von welcher auch schon 1784 Lieberkühn nach Breslau abberufen war, gegen den Charakter eines braunschweigschen Directors der Catharinen-Schule, und eines Mitgliedes des neuzustiftenden Ober-Schulcollegiums zu vertauschen. Geschäftige Leute wußten es aber dahin zu bringen, daß weder das Ober-Schulcollegium zu Stande kam, noch sonst etwas aus Stuve's braunschweiger Anstellung wurde. Was selten der Fall ist, hier trifft man einmal einen redlichen Mann, der sich schämte, sein Brot mit



____
155

Sünden zu essen. Stuve gab aus freiem Antriebe, aber mit gramerfülltem Herzen, Vorlesungen am Carolinum über Logik, Anthropologie und Erdbeschreibung. Einen unendlich harten Schlag erlitt er durch den Tod seines geliebten Lieberkühn. Der Gram nagte so heftig an seinem Innern, daß er sich endlich auf's Krankenbett geworfen sah. Die treue Pflege, welche ihm in dieser Lage durch die Tochter seines Hauswirths zu Theil ward, rührte den Genesenden so sehr, daß er die höchst gutherzige, aber aller höheren Geistesbildung ermangelnde Person zur Gattin wählte. Solche Ehen unter ungleich Gebildeten, im Augenblicke eines überwallenden Gefühles der Dankbarkeit geknüpft, sind in der Regel, so bald die nüchterne Besonnenheit wieder in ihr Recht tritt, eine Quelle vielfacher Qualen; aber um so größerer, wenn, wie bei Stuve, die Rücksicht der Schonung so weit getrieben wird, daß man sich selbst über seine Enttäuschung zu täuschen sucht. Auch das Glück der Vaterfreude sollte ihm nicht ungestört vergönnt sein, denn sein immer bedrohlicher um sich greifendes Siechthum nöthigte ihn, Frau und Töchterchen zu verlassen, um die mildere Luft Hesperiens zu schöpfen. Er brachte daher einen ganzen Winter in Neapel zu; aber ohne den gewünschten Erfolg auf seine Gesundheit. So mußte er sich denn zur Rückkehr entschließen, wählte den Weg zur See, und hatte bis er in Holland ankam, eine sehr langwierige und für seinen Zustand beschwerliche Fahrt zu bestehen. Ein hektisches Fieber hatte seine Frau auf das Krankenlager geworfen, ein Leiden, welches den Gatten um so mehr überraschte, als er sie gesund verlassen, und ihn unter Weges kein, ihn auf die Trauerkunde vorbereitender Brief erreicht hatte. Unter zögernden Qualen mußte er nun das Licht ihres Lebens allmälig schwinden, und endlich erlöschen sehen. Er selbst fühlte sein Leben nun gänzlich verödet, und sein einziger



____
156

Gefährte, der Gram, zog ihn mit mächtigen Schritten dem Grabe zu. Ein durch Erkältung im Bade herbeigeführter Schlagfluß verkürzte zu seinem Heil die Tage seiner Leiden, aber erhöhete auch die Qualen seines Todeskampfes. Er selbst fragte deshalb ungeduldig seinen Arzt, ob es noch nicht bald aus mit ihm sei? Als dieser ihm erwiederte: »Wenn es nun noch ein paar Stunden dauerte, würden sie da ungeduldig werden?« versetzte er: »nein;« dankte noch der Gattin seines Freundes Campe, welche ihm die letzten Dienstleistungen der Freundschaft erwies, empfahl ihr die Erziehung seiner Tochter Minna; rief mit schon gebrochener Stimme seine letzten Worte: »Wacht über Minna's Unschuld!« und verschied so in den Armen seiner Freunde Trapp und Campe am 12. Juli 1793. Ein Verknörpelung der Lunge war die Ursache seines mehrjährigen Kränkelns und seines Todes. Campe wies dem dahingeschiedenen Freunde den ehrenvollen Platz in Lessing’s nächster Nachbarschaft auf dem Todtenacker der Magnikirche zu Braunschweig an; und gewiß war dieser Ehre im vollsten Mase würdig Stuve, der Freisinnige, der Wahrheitsliebende, der an den Menschenberuf die höchsten Anforderungen stellende, der in der Freundschaft treu Bewährte, und von Allen der »Ehrliche« Genannte. Fassen wir noch ein Mal den ganzen Ueberblick seines Lebens zusammen, und sehen, wie sein Geist schon von Jugend auf durch Siechthum des Körpers gehemmt wurde, wie eine daraus erklärliche hypochondrische Grille seinen Lebensmuth niederdrückte, wie dieser schwächliche Mann durch seine Reformplane den wechselseitigsten Kämpfen ausgesetzt wurde, durch die vereitelten Plane seiner Lebenshoffnungen und seiner Wirksamkeit, worin dieser an Thätigkeit gewöhnte Mann keinen Unterschied machte, aller Lebensfreude beraubt, und noch obenein durch tausendfache häusliche Sorgen und Leiden



____
157

niedergedrückt, an Kraft des Geistes und Körpers gebrochen wurde: so bietet uns Stuve das Bild eines, gewissermaßen dem Lose irdischen Duldens Verfallenen, einer Lebensblüthe, an welcher der Wurm der Zerstörung nagte, die dahinwelkte, ehe die Frucht zeitigen konnte.

Weil Stuve in Braunschweig ohne eigentliche Amtswirksamkeit lebte, so ist seine Hauptthätigkeit auf dem literarischen Gebiete zu suchen. selbstständig, höchst nützlich und auch anerkannt stehen unter seinen schriftstellerischen Leistungen vorzugsweise die das pädagogische Fach berührenden da; und Freunde, die seinen Werth zu würdigen vermochten, wie Löffler, Teller, Dohm, Lieberkühn, Trapp, Campe und Andere förderten seine Plane nach Kräften. Nicht ohne Einfluß war das mit den beiden Letztgenannten und mit Konr. Heusinger herausgegebene »braunschweigsche Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts« (Brschw. 1788–1789); und es ist nicht allein des Antheils zu gedenken, den Stuve an dem von Campe edirten großen Werke: »allgem. Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens« hatte, sondern auch seiner Betheiligung bei vielen gelehrten Journalen. *) Mannigfaltige nützliche
____
*) Allgemeinste Grundsätze der Erzieh. hergeleitet aus einer richtigen Kenntn. des Menschen. (Allgem. Revis. des Schul- u. Erziehungsw., 1. 1785.) Ueber die Garnisonschule zu Potsdam. (Berl. Monatsschr., 1783, 9. St., p. 254 bis 264.)
Wider das Lateinschreiben, (ebend., Oct. 1783, 10. St., p. 338 bis 357.)
Nachricht von der ruppinischen Garnisonschule, (ebend, 1784, 5. St., p. 422 bis 430.)
Nachr v. der frankfurtischen Garnisonschule, nebst Vorschlägen über die Soldatenehen, (ebend., 1785, 3. St., p. 213 bis 225)
Ein Vorschlag zur Verbreit. wahrer Aufklär. unter allen Ständen, (ebend, 11. St., p. 472 bis 477.)
Ueber die Rochow'sche Schule zu Rekahn, (ebend, 1787, 10. Stück, p. 325 bis 341.)
Ueber die Unterst. der Nothleidenden und Unglücklichen außerhalb Landes, ebend., 1788, 8. St, p. 183 bis 188)



____
158

Erörterungen über das Erziehungswesen finden sich in der nach seinem Tode von Campe herausgegebenen Sammlung seiner »kleinen Schriften.« **)
____
Ueber den Gebrauch der Bilder beim jugendl. Unterrichte. (Brschw. gelehrte Beiträge, 1782, 33. bis 34. u 44. St.)
Ueber das gr. Waisenh. in Braunschw. (Brschw. Journ., philos, philol. und pädag. Inhalts, 1788, 1. St., p. 91 bis 103); 3. Stück, p. 325 bis 337.)
Auszug aus Kaspar Dornav's Ulysses Scholasticus, (ebend., 2. St., p. 191 bis 205; 10. St., p. 187; 11. St., p. 273 bis 288)
Schreiben an Hrn. Prof. Trapp über die Mittel, das Latein durch Sprechen zu lehren, und über die Einführ. dieser Methode in die öffentlichen Schulen, (ebend., 1789, 1. St, p. 73 bis 87; 2. St., p. 129 bis 154.)
Ueber eine Stelle in Hrn. Geh. Canzleisecr. Rehberg’s Aufsatze im Aprilstücke der berl. Monatsschr., 1789, (ebend, 6. St., p. 139 b. 153.)
Ueber ein wesentl. Hindernis der zweckm. Einricht. öffentl. Stadtschulen, (ebend, 7. St., p. 291 bis 318.)
Einige Bemerkg. über Hrn. Hofr. Meiner’s Schilder. von Appenzell außer Rhoden, (ebend., 1791, 12. St., p. 385 bis 423; aufgen. in d. Slg. klr. Schrn, II. p. 333.)
Ueber die Schr. des Hrn. Geh. Canzleisecr. Rehberg: Prüfung der Erziehungskunst, (ebend. oder schlesw. Journ., 1792, 11. Stück, p. 275 bis 347.)
Beurtheil. der ersten Samml. v. Herders Briefen zur Beförder. der Humanit. (Allgem. Lit. Ztg., 1793, N. 197 bis 198.)
**) Ueber die Erzieh., nebst einer Nachr. v. der neu-ruppin. Schule. Berl. und Lpz., 1779. –
Fortges. Nachr. v. dem gegenwärt. Zustande der neu-ruppin. Schule. Berlin, 1779. –
Ueber körperl. Erzieh. Züllichau, 1781. –
Ueber das Schulwesen. Züllich, 1783. –
Nachr. v. der neu-ruppin. Schule. Züllich, 1783. –
Vorstellungen an Eltern, die ihre Kinder in öffentl. Schulen schicken. Berlin, 1785. –
Ueber die Wichtigk. des Unterrichts in der Lehre vom Menschen auf öffentl. Schulen; nebst einer Nachr. von der ruppin. Schule, 1786. –
Ueber die Nothwendigk., Kindern frühzeit. zu anschauender und lebendiger Erkenntn. zu verhelfen; und über die Art, wie man das anzufangen habe. Brschw., 1788. – (Aus der Revis. des ges. Schulw. bes. abgedruckt.)
Lehrb. d. Kenntn. des Menschen, 1. Thl, welcher die Lehre vom menschl. Körper und die Diätetik enthält. Zur allgem. Schulencyklopädie. Berlin, 1790.
Kleine Schriften, gemeinnützigen Inhalts, nach dem Willen des Verstorbenen gesamm. und herausg. v. seinem trauernden Freunde J. H. Campe, 2 Thle. Brschw., 1794. (Mit Stuve’s Bildn.)
Ueber die Nothwendigk. der Anlegung öffentlicher Töchterschulen für alle



____
159

Man könnte erwarten, daß hier an diesem Orte ein besonderes Gewicht auf Stuve's »Briefe über den Laokoon« *) gelegt würde; allein obgleich diese Arbeit, zu der er durch seinen italienischen Aufenthalt angeregt wurde, von einem unbefangenen Blicke zeugt, und mit Freimuth, oft sogar auch mit Grund, die Ansichten eines Winckelmann, Lessing und Heyne bestreitet, so war doch Stuve hier nicht in seinem Fache. Ueberhaupt war er kein Mann von umfassender - und tiefer Gelehrsamkeit; sein Sinn für das Praktische machte ihn bedeutend. Er ist auch keinesweges ein Genie zu nennen, besaß wenig Phantasie; desto mehr Empfindung aber. Bei einem langsamen Ideengange ist sein Stil zwar rein und bestimmt; aber nicht eben anmuthig. Sein eigentlicher Werth muß in seinen Tendenzen gesucht werden, die er im Leben geltend zu machen wußte. Wegen seiner hohen Gerechtigkeitsliebe und der glücklichen Gabe, in Anderer Ideen einzugehen und sie selbstständig wiederum in sich zu gestalten, ist er als Kritiker nicht ohne Verdienst, und hat in einzelnen Recensionen, wie in der über Herder's Humanitätsbriefe, sogar hohen Anforderungen genügt. Sein Werk: »Ueber Aufruhr und aufrührerische Schriften, Braunschw. 1793,« worin er nicht allein als Verheidiger der Menschenrechte im allgemeinen, sondern auch, wenigstens indirect, als Vermittler für seinen, wegen der bekannten Briefe über die französische Revolution heftiger Verfolgung ausgesetzten Freund Campe in die Schranken trat, würde hier übergangen werden können, wenn sich nicht wenigstens für uns die interessante Wahrnehmung  
____
Stände. Eine Beilage zu: Campe's zweitem Fragmente über »einige verkannte Mittel zur Beförderung der Industrie.« Wolfenb., 1786. –
*) Zwei Briefe über den Laokoon, an den Hofrath Schütz, s. kl. Schrn, II. p. 458. –



____
160

daraus ergäbe, das meistentheils Umwälzungen in den Sphären der Wissenschaften mit denen auf politischen Gebieten in Wechselwirkung zu stehen pflegen. So fanden denn auch die politischen Reformen bei den Reformmännern der Wissenschaft in Braunschweig um diese Zeit sehr lebhafte Verfechter. –



____


12. Campe. *)

Joachim Heinrich Campe, geb. 29. Juni 1746 zu Deensen im Braunschweigschen, war der Sohn eines bemittelten Kaufmanns. Nachdem er auf dem Gymnasium zu Holzminden von dem hochverdienten Gründer desselben, Friedr. Wilh. Richter, tüchtig zu seinem einflußreichen
____
*) Leider sind bereits im ersten Hefte der »Brunonia« 1839 einige Bruchstücke aus diesem Artikel abgedruckt worden, welche nicht nach des Verfassers eigener Bestimmung ausgewählt waren, und des nöthigen Zusammenharges entbehrend, dort durchaus am ungehörigen Orte standen.
Ueber Campe ist zu vergleichen:
Beilage zur allgem. Zeitung, 1818, N. 145 bis 148. –
Auch der Artikel: »Campe« in Ersch u. Gruber's allgem. Encyklopädie, von Aug. Herm. Niemeyer, der aber wenig Neues und Selbstständiges bietet. –
(Becker's) Nationalzeitung, 1818, N. 46. –
Conversat.-Lexikon, 5. Afl., II. p. 253 bis 255. –
 (Küttner‘s) Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. Berlin, 1781, p. 539 bis 542. –
Jörden‘s Lexikon teutscher Dichter und Prosaisten, I. p. 279 bis 293 IX. p. 804 bis 818. –
Carl Jos. Bouginé, Handb. der allgem. Literargesch. nach Heum ann’s Grundr., 1791, IV. p. 5 bis 6. –
Gieseke's Handb. für Dichter und Literatoren, I. p. 328 bis 333. –
Meusel, I., IX., XI., XIII., XVII., XXII.
Andr. Gottfr. Schmidt's anhalt'sches Schriftstellerlexikon. Bernb., - 1803. (Enthält meines Wissens das vollständigste Verzeichnis von Campe's Schriften; doch ist auch dieses noch einzelner Ergänzungen, und Berichtigungen bedürftig)
G. P. von Bülow, Rückblicke auf mein Leben. Helmst., 1844, p. 53.-



____
162

Wirkungskreise vorbereitet worden war, ging er auf die Universität Helmstedt, um sich dem Studium der Theologie zu widmen. Die schulbestäubte Orthodoxie des alten Joh. Bened. Carzow scheuchte aber den jungen Sprudelkopf bald wieder von dort fort, und er wanderte nun nach Halle, wo er bei dem lichtvollen Semler mehr Befriedigung fand. Nach beendigtem Triennium wandte er sich als Privaterzieher nach Berlin, welcheSstadt als derzeitiger Sitz religiöser Aufklärung für ihn besondere Anziehungskraft hatte wegen eines Teller, Spalding, Sack und Nicolai. Der stärkste Magnet war für ihn in Berlin jedoch jedenfalls eine liebenswürdige und hochgebildete Dame, Dorothea Maria Hiller, welche er denn auch zu seiner heißgeliebten und treuen Lebensgefährtin erkor. Mit dem J. 1773 wurde er in Potsdam bei dem Regimente des Prinzen von Preußen, nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm II., als Feldprediger angestellt. Er blieb hier bis 1776, wo er vom Fürsten Franz von Dessau an das dessauer Philanthropin berufen, und im Jahre darauf zum Educationsrathe ernannt wurde. Campe erwarb sich den Ruhm, dieser Anstalt, welche der unruhige Basedow zwar zu gründen, aber nicht in blühendem Zustande zu erhalten vermacht hatte, eine kräftige Anregung gegeben zu haben. Doch mußte ein Mann von Campe's Feuereifer mit seinen Reformen gar bald auf Hindernisse stoßen, wie sich solche für ihn als unerträglich in der Hartnäckigkeit und Eifersucht seiner Collegen darboten. Er verließ daher Dessau wieder, und noch dazu in großer Hast auf einem Schimmel davonjagend, der durch diese Flucht eine gewisse literarische Celebrität erlangte. Um nun ganz ungehindert seine Ideen in's Leben führen zu können, errichtete Campe selbst 1777 vor den Thoren des freien Hamburgs ein Privaterziehungs-Institut, bei welchem er sich zur Norm machte, die Zahl der Zöglinge nicht



____
163

über 12 auszudehnen, um sich durch diese Beschränkung mehr dem Familienverhältnisse in der Erziehung anzunähern. Durch Leiden des Unterleibs und der Augen sah er sich jedoch genöthigt, mit dem J. 1783 die Pflege dieser Anstalt den Händen seines Freundes Trapp anzuvertrauen, sich als Landwirth auf ein erkauftes Freigut Trittow zurückzuziehen, und sich lediglich auf schriftstellerische Thätigkeit zu beschränken. Hier entwarf er denn den Plan zu der »allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens « zu welchem Werke er sich der Mitwirkung eines Resewitz, Moritz, mit welchem er jedoch wieder zerfiel, weil dieser ihm seine aufopfernde Freundschaft mit Undank lohnte, eines Stuve, Trapp, Gedicke, Ehlers und Funk zu erfreuen hatte. Die glänzendsten Aussichten eröffneten sich 1787 für Campe, in der ihm gewordenen ehrenvollen Berufung nach Braunschweig. Ohne eigentliche Amtsgeschäfte, bekam er, neben einem ansehnlichen Gehalte und einem einträglichen Kanonicate am Cyriacusstifte, den Charakter eines Schulraths, welche Titulatur mit Campe erst in Deutschland aufkam. Seine Vocation verdankte er eigentlich dem großartigen Plane des Herzogs Carl Wilh. Ferdinand, einer gänzlichen Reform des Schulwesens in den braunschweigschen Landen. Um bei diesem schwierigen Unternehmen freie Hand zu behalten, gründete dieser thatkräftige Regent ein unabhängiges oberstes Landes-Schulcollegium, welches, außer Campe, noch einen Stuve und Trapp, die man ebenfalls zu diesem Zwecke vom Auslande herberufen hatte, wie auch den Generalsuperintendenten Richter und den Professor Conrad Heusinger zu Mitgliedern, den Rath Mahner als weltlichen Beisitzer zählte, und dessen oberste Leitung dem braunschweigschen Geheimerath, nachherigen preußischen Staatscanzler, Fürsten Hardenberg, anvertrauet war. Die Landstände jedoch glaubten



____
164

ein derartiges Verfahren ihres Landesherrn als einen Eingriff in ihre Rechte ansehen zu müssen; und nachdem jene Schulcommission nur kurze Zeit bestanden hatte, zerschlug sich die ganze Sache unter den heftigsten Debatten. Richter starb bald darauf; Hardenberg folgte einem Rufe in's Ausland; Stuve wurde als Professor am Collegium, Heusinger als Director des Catharineums placirt; Trapp mit einer Pension von 400 Thalern abgefunden, welche er in Wolfenbüttel verzehrte, wo er, aus Mangel geistiger Anregung, in späteren Lebensjahren in tiefe Schwermuth verfiel; Campe endlich wurde durch anderweitige Entschädigung zufriedengestellt. Das Feuer der Zwietracht hatten bei diesen Streitigkeiten hauptsächlich die Theologen angeblasen, und sich mit ihren Klagen hinter die Landstände gesteckt; weil sie sich von Schulmännern, die doch außer ihrer Kaste standen, übergangen, aus dem gewohnten ruhigen Gleise gebracht, und in manchen Vorrechten beeinträchtigt sahen. Der Vorkämpfer dieser unehrenhaften Partei war Abt Velthusen in Helmstedt, mit dem auch Campe in literarischer Fehde heftig anzubinden, später eine Gelegenheit vom Zaune brach. Bei der holzmindner Schule, mit deren Reorganisirung die Schulcommission den Anfang gemacht hatte, scheiterte der Plan freilich gänzlich; doch hatte die Sache das Gute, daß Heusinger wenigstens am Catharineum zu Braunschweig die beabsichtigten Reformen mit großer Energie realisirte, und daß das gesammte Schulwesen Deutschlands von Braunschweig aus eine heilsame Anregung erhielt. Traten auf solche Weise Campe's Plane auch nur verstümmelt in's Leben, so geht doch schon aus ihnen sein Einfluß auf braunschweigsche Zustände zur Genüge hervor. –

Sehr weise war mit jenem Schulplane auch die Errichtung einer Schulbuchhandlung in Verbindung gebracht, deren



____
165

Zweck darin bestand, dem Lehrer passende, nach besseren Grundsätzen ausgearbeitete Lehrbücher zu verabreichen, den reinen jährlichen Ueberschus der Handlung zur Gehaltsvermehrung schlecht besoldeter, oder zu Gratificationen pflichtgetreuer Lehrer zu verwenden. Campe erklärte sich bereit, dieses wahrhaft edle Unternehmen aus eigenen Mitteln zu bestreiten; eine, den Bedürfnissen angemessene Anzahl von Freieremplaren (etwa 200–2000) den unbemittelten Kindern; und überhaupt allen Landesschulen die nöthigen, von der obersten Schulbehörde verfaßten Schulbücher für den billigsten Preis zu liefern; sich, zur Hebung inländischer Betriebsamkeit, obenein nur inländischen Materiales und braunschweigscher Officinen zu bedienen; vor sachkundigen Commissarien von drei zu drei Jahren Rechnung abzulegen; und für sich, außer der Wiedererstattung baarer Auslagen, keine sonstige Einnahme zu notiren. *) Auf der andern Seite fehlte es aber auch nicht an der freigebigsten Unterstützung des fürstlichen Gönners, der Campen die Zimmer der verwittweten Herzogin im wolfenbüttler Schlosse für die Sessionen der Schulcommission einräumte; der auch einen Theil des Lustschlosses Salzdahlum zur Wohnung für dessen Familie einrichten; Campen sehr häufig zu vertraulichen Unterredungen in seinem Hofwagen holen ließ; ihm zur Erbauung eines großen Buchhandlungsgebäudes das Opernhaus vor der Burg schenkte, und den Bau selbst durch die liberalste Unterstützung förderte; der endlich auch noch 1805 Campe's Kanonicat in das ertragreichere Dekanat verwandelte. Diese ausdauernde Gewogenheit macht dem Herzoge um so mehr Ehre, weil schon lange vorher, nicht allein durch den Neid Anderer, sondern auch durch Campe selbst, vielfache Veranlassung gegeben war, die ihm
____
*) An meine Freunde v. J. H. Campe. Wolfenb., 1787, p. 76. –



____
166

zugewandte Gunst wankend zu machen. Mit Zustimmung seines Landesherrn war nämlich Campe beim Ausbruch der französischen Revolution nach Paris gereist, und hatte dort 1789 die, erst im braunschweiger Journale abgedruckten, später gesammelten, von republikanischem Geiste durchweheten Briefe *) geschrieben, welche ihm 1792 von der Republik ein Ehrendiplom als französischer Bürger einbrachten, wie ein solches auch die Freiheitsmänner Klopstock, Pestalozzi und Frdr. Schiller empfingen. Nun aber wurde Campe von der blinden Menge geradezu für einen Jacobiner erklärt, und die Wuth des Pöbels ging so weit, daß man sogar in öffentlich angeschlagenen Pasquillen sein Leben bedrohete. »Ihr infamen Kerls,« heißt es in einem solcher Schandblätter, »ich meine die hiesigen Französisch-Gesinnten! Wo man euch von Obrigkeitswegen eure verdammte Zunge nicht bindet, und euer Schreiben und Drucken nicht hindert, das Verkaufen derselben mit Macht nicht abschaffen wird: so sollt ihr Schurken bei Abendzeit keinen sichern Schritt auf der Straße mehr thun können. Ja ihr seid in Gefahr! Campe und Mauvillon hüte dich!« – Während der Spötter Mauvillon über diesen Wisch herzlich lachte, und sich die Genugthuung verschaffen wollte, dieses Document elender Gesinnung durch den Druck verbreiten zu lassen, nahm Campe die Sache ernsthafter; wollte einer solchen Schmähschrift nicht noch eine größere Publicität geben; und hielt es sogar der Mühe werth, seine Ansichten und seinen Charakter auf acht Quartblättern, betitelt: »an meine Mitbürger. Brschw. 1793,« welche er mit den braunschweigschen Anzeigen vertheilen ließ, zu rechtfertigen.
____
*) Briefe aus Paris, zur Zeit der Revolution geschrieben. Aus dem braunschweig. Journ. abgedruckt. Brschw., 1790. (Es erschienen 3 Afl. – Auch in's Holländ. übers. Amsterd., 1790, 2. Afl., 1792.)



___
167

Aber das Schlimmste war, daß auch von Berlin aus, wohin der Herzog als preußischer Feldherr oft gerufen wurde, gehässige Insinuationen gegen Campe, als religiösen und politischen Freigeist, eingefädelt wurden. Dazu kam, daß selbst dieser und jener ehrenwerthe Mann, wie der Berghauptmann von Veltheim auf Harbke, ein als Mineralog und Archäolog gleich rühmlich bekannter Literat, der aber die Vorurtheile adliger Geburt nicht zu verläugnen vermochte, gegen den Bekämpfer der Adelsvorrechte öffentlich zu Felde zog. Der Herzog stellte also seinem Schulrath, nach vorhergegangener commissorischer Berathung, persönlich den Antrag, auf die ihm zugestandene, unbedingte Preßfreiheit freiwillig zu verzichten. Campe aber, der sich im Rechte glaubte, erwiederte in einer ausführlichen Vertheidigungsschrift freimüthig, daß Schriftsteller einer obrigkeitlichen Bevormundung nicht bedürften; daß Gewissens- und Denkfreiheit ein unveräusserliches Recht sei; daß in Beschränkungsfällen der Obrigkeit geradezu der Gehorsam verweigert werden dürfe; und daß er in einer solchen Lage seine Buchhandlung verkaufen, und sich nach Hamburg übersiedeln würde. Es blieb aber, nach einer ihm gewordenen, sehr milden Resolution, »er möge nach Gewissen handeln,« Alles beim Alten. Da bereits schon um diese Zeit seine Gesundheit bedeutend zu wanken anfing, unternahm er 1802 zu seiner Erholung eine Vergnügungsreise nach England und Frankreich, deren Ausbeute er bald darauf in einer sehr ansprechenden Beschreibung mittheilte.

Leider sollte Campe in seinen letzten Lebensjahren noch eine sehr schwere Prüfung bestehen, die er, nach dem Urtheile der braunschweiger Patrioten, nicht eben glücklich löste, und deshalb vielfachen Kränkungen ausgesetzt war. Man machte es ihm nämlich zum bittersten Vorwurfe, daß er, der 1790 bei Gelegenheit der Vermählungsfeier des Erbprinzen: »das Denkmal



____
168

der Liebe eines guten Volks zu seinem guten Fürsten, oder die Beschreibung des allgemeinen Volksfestes, welches die Ankunft des Hrn. Erbprinzen und der Frau Erbprinzessin von Braunschw. Veranlaßte,« verfaßt; der unmittelbar darauf jene republikanischen Briefe geschrieben hatte; ungeachtet er von seinem Landesherrn mit Wohlthaten fast überschüttet worden war, wie er dies selbst öffentlich anerkannt hatte, *) im J. 1807 unberufener Weise vor den Thoren Braunschweigs den, seinen rechtmäßigen Landesvater verdrängenden, als Mensch und Regent gleich verabscheuungswerthen Jerome Buonaparte in einem enthusiastischen Festergusse bewillkommente. Wenn er auch augenblicklich eine gewisse Befriedigung in der Ehre fand, daß man ihn 1808 als Deputirten des westphälischen Reichsrathes nach Kassel berief; und daß ihm, dem jetzt höchsten Orts so gut Angeschriebenen, im J. darauf die theologische Facultät zu Helmstedt, welche ihn früher als einen Heterodoxen verfolgt hatte, mit dem Diplome eines Doctors der Gottesgelahrtheit beehrte: so mußte er diese Auszeichnungen doch sehr theuer büßen, als sich mit der Vertreibung des fränkischen Usurpators die politischen Verhältnisse wieder änderten; und er nun für einen, der vaterländischen Gesinnung Abgefallenen galt; und sogar für die Gunst verantwortlich sein sollte, die Jerome dem Buchhändler Vieweg, Campe's Schwiegersohne, geschenkt hatte, der höchstem Befehle gemäß, aber zu allgemeinem Aergernisse, zum Abbruche des prachtvollen Lustschlosses Salzdahlum hatte die Hand bieten müssen. Von dieser Zeit an lebte Campe, vorzugsweise mit Erziehung einiger Pflegbefohlenen beschäftigt, abgeschlossen von dem Treiben der Welt, und sich nur auf wenige intimere Freunde beschränkend, z. B. Pastor Junker,
____
*) An meine Freunde p. 68.–



____
169

Oberbaurath Peter Joseph Krahe, Trapp u. s. w. auf seinem Garten vor Braunschweig, den er selbst aus einer Wüste in ein Paradies umgeschaffen, und durch unendlich viele, an passenden Punkten angebrachte Denksteine und Inschriften zu einem allegorischen Lebenspfade zugeschnitten hatte, eine dem Kindesgemüthe äußerst zusagende Spielerei, die aber von A. H. Niemeyer in seinem Reiseberichte mit spöttischen Blicken angesehen wurde. Glücklich, wer sich, wie Campe, aus dem von Leidenschaft erregten Gewirre des bürgerlichen Lebens mit Zufriedenheit auf sein Haus beschränken kann! Ueber dieses Haus, dessen gesellige Genüsse stets durch Geist gewürzt wurden, und welches früher gastlich jedem Einheimischen geöffnet war, der ein geistiges Gastgeschenk mitzubringen vermochte; und welches auch noch später, nach des Wirthes Isolirung gegen die nähere Umgebung, stets ein Anziehungspunkt gleicher Interessen für alle Fremden von Bildung blieb, hören wir einen glaubwürdigen, und nichts weniger als phantastischen Augenzeugen, den in der juristischen Literatur bekannten G. P. von Bülow. »Wegen der engen freundschaftlichen Verbindung zwischen Trapp und dem Schulrathe Campe, ward ich,« sagt Bülow in den Rückblicken auf sein Leben, »zugleich mit diesem bekannt, und gewann Gelegenheit, in seiner Gemahlin eine der liebenswürdigsten und achtbarsten Frauen näher kennen zu lernen, die mir in meinem langen Leben je begegnet sind. Der Ton in diesen beiden Häusern hat mir einen Eindruck hinterlassen, der sich noch jetzt, von keiner spätern Erfahrung verdunkelt, erhält. Ein solcher Einklang und ein ähnliches Gleichgewicht der geselligen Tugenden werden selten angetroffen, und vorzüglich war die Milde in der Beurtheilung der Träger entgegengesetzter Ansichten hier um so mehr anzuerkennen, als eben Campe wie Trapp wegen ihrer neuen und lieberalen Ansichten manche Unannehmlichkeit



____
170

zu erfahren gehabt hatten, und vielfältig verketzert worden waren.«

Durch übermäßige Geistesanstrengung fühlte sich Campe endlich so sehr abgespannt, das er selber mit dem Abschlusse des letzten Druckbogens für sein großes Wörterbuch den letzten Rest seiner Geisteskraft für erschöpft erklärte. Er setzte nur noch seine Hoffnung auf eine Zerstreuungsreise, die er gegen den Herbst des Jahres 1814, in Begleitung seiner treuen Gattin, nach Kopenhagen zu theuern Freunden unternahm; allein mit ungünstigen Erfolgen für seine Gesundheit, auf welche die Seefahrt sehr nachtheilig eingewirkt hatte. Bald darauf thürmte sich die Wolke des entsetzlichsten Mißgeschickes am Horizonte herauf, welche den letzten Lebensabend des edeln Campe trüben sollte. Dieser helle Geist, der seine höchsten Freuden stets in der Sphäre der unschuldigen Kinderwelt gefunden hatte, sank leider in den bemitleidenswerthen Zustand kindischer Bewußtlosigkeit. Wie herzzerschneidend dieser Anblick für seine Umgebung gewesen sein müsse, ist mir am einleuchtendsten, da ich mich selbst desselben als eines meiner frühesten, aber unauslöschlichsten Jugendeindrücke erinnere. An der Hand einer Freundin des Hauses hüpfte ich als ein munterer Bube vergnüglich durch Campe's anmuthigen Garten; als ich schon aus der Ferne auf einen mit Gäten und Harken beschäftigten Mann aufmerksam gemacht wurde, den man mir als den Gründer und Besitzer dieses Parkes, als einen hochberühmten Schriftsteller, namentlich als den Verfasser »Robinsons, den ich bis dahin nur noch aus Berichten anderer Kinder kannte, bezeichnete. Mit gespanntester Erwartung schritt ich näher; als der ehrwürdige, und so viel ich mich erinnere, kräftig aussehende Greis unserer gewahr wurde; mit der Arbeit innehielt; unter unaufhörlichem Kopfnicken die Mütze zog; mir mit wahnsinnigem Lächeln die Hand reichte;



____
171

und mir bei einem unartikulirten Lallen, welches der Sprache des Thieres ähnlicher war, als der des Menschen, liebkoste; so daß ich todtbleich zurückbebte; und nun ein danebenstehender Gärtner mit barrschem Tone den Greis zur Fortsetzung seiner Arbeit antrieb. Die Folgsamkeit, mit welcher der Kranke diesem Machtspruche nachkam, schnürte mir vollends die Brust zu; und ich mußte nur forteilen, um mich von diesem Anblicke zu erholen, vor dem mir noch in der Erinnerung schaudert. Am 22. Oct. 1818 machte der Tod den unsäglichen Qualen Campe's ein Ende. Er selbst hatte sich und den Seinigen in seinem anmuthigen Garten eine freundliche Ruhestätte vorgerichtet, an welcher, seiner Bestimmung gemäß, die theuern Ueberreste in einem flachen, weißen Sarge prunklos beigesetzt wurden. Zweihundert Thaler, als die veranschlagten Kosten einer feierlichen Leichenbestattung, sollten dafür an die Armen, und durch seinen Schwiegersohn eine starke Auflage des Robinson und Theophron an die unbemittelte Jugend vertheilt werden. Ein einfacher Hügel, mit Immergrün bepflanzt, bezeichnet das Grab dieses, durch seine schriftstellerischen Verdienste der ganzen gebildeten Welt, und wegen seines edeln Charakters, namentlich wegen seiner aufopfernden Liebe, allen Seinigen und seinen Freunden unvergeßlichen Mannes.

Campe's literarische Wirksamkeit ist so ausgedehnt, und die Zahl seiner Schriften so groß, daß hier nur andeutungsweise eine Berührung möglich ist. Er war ein heller Kopf, aber Enthusiast; deshalb sind fast alle seine Bestrebungen angefochten und verkannt worden, obgleich keine ohne Nachwirkung geblieben ist. Das Feld seiner ehrenvollsten Wirksamkeit war die Pädagogik, und um ihn hier gehörig zu würdigen, muß man die Zeit seines Auftretens in Betracht ziehen. Seitdem im 15. und 16. Jahrh. das Studium der classischen Literatur einen neuen Aufschwung erhalten hatte, wurde auch die classische



____
172

Literatur als die Hauptbasis aller humanen Bildung betrachtet. Die Erziehung der Jugend kam deshalb in die Hände der Philologen; und es war nichts mehr zu bedauern, als daß diese Herren nur auf eine geisttödtende Stockgelehrsamkeit und Pedanterie hinarbeiteten, und daß daher dieser sogenannten Schule des Humanismus nichts von Humanität zu eigen war, als der leere Name. Mildernd in mancher Beziehung legten sich nun vom Anfange bis zur Mitte des 18. Jahrh. Spener und Franke in‘s Mittel; allein im Grunde war doch noch immer wenig damit gewonnen; weil nun den Philologen die orthodoxen Theologen das Schulscepter entwanden, und ein gemüthbedrückender Pietismus herrschend wurde. Da zündeten Locke und Rousseau, vorzüglich durch den »Emil,« eine neue Fackel an, welche auch über Deutschland ihr Licht verbreitete. so wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der Philanthropismus angeregt, dessen Feldgeschrei »Natur« war, und der »Menschenliebe« als vorzüglichstes Erziehungsmittel betrachtete. Hatte man früher unter klösterlicher Zucht nur auf eine gelehrte Ausbildung hingearbeitet: so war jetzt den Pädagogen die neue Aufgabe gestellt, die Jugend für die Welt und für das praktische Leben brauchbar zu machen. Die Verkündiger dieser neuen Lehre waren, außer unserem Campe, vorzugsweise Basedow, der den Hauptimpuls gab, von Rochow, Salzmann, Pestalozzi, alle durch Gründung philanthropischer Musteranstalten bekannt, Weiße, Zacharias Becker, Wolke, Iselin, Trapp, Stuve und mehre Andere. Es wehete allerdings ein gewisses Genielüftchen in dieser Schule; allein wie denn die Hirten selbst, dem puren Realismus ergeben, in ihrem stürmischen Auflehnen gegen die Schwerfälligkeit der classischen Studien, und gegen die Hartnäckigkeit der Kirchensatzungen, den Vorwurf einer gewissen Seichtigkeit und Arroganz auf



____
173

sich luden, so machte sich auch bei der plötzlich dem Drucke enthobenen, und nur durch unbändigen Ehrgeiz stimulirten jungen Heerde ein sehr naseweiser und altkluger Ton bemerkbar. Die Vertreter des Philanthropismus fanden leider auch für ihr im Ganzen genommen anerkennenswerthes Streben nicht überall von oben herab die nöthige Förderung, weil man bei ihnen, die sich nun einmal die Aufgabe gestellt hatten, des verlassenen Volkes sich anzunehmen, manche zu jener Zeit höchst gefährliche, demokratische Elemente verspüren wollte. Weil nun aber auch von seiten der Wissenschaft gegen die etwas voreiligen Reformen des Philanthropismus sich vielfacher Widerspruch vernehmen ließ, so bildete sich bald eine neue pädagogische Schule der Eklektiker. Der geistreiche Herder arbeitete auf einen philanthropischen Humanismus hin, der, mit Benutzung classischer Hülfsmittel, eine harmonische Ausbildung bezweckte; Pestalozzi, der sich vorzugsweise um die Unterrichtsmethode verdient machte, stellte sich, wenn auch ebenfalls einer realistischen Tendenz ergeben, doch selbstständig den Philanthropen gegenüber, indem er mit dem materiellen Wissen auf eine formelle Geistesbildung hinzuarbeiten, und den Menschen durch Selbstthätigkeit aus sich selbst zu entwickeln bemühet war; Niemeyer und Andere, denen hauptsächlich psychologische Erörterungen zu danken sind, schwankten zwischen verschiedenen Systemen und Methoden, aus denen sie sich das Beste herauszufischen, und dasselbe, unbekümmert um den Schulstreit, unmittelbar in ihrer Praxis anzuwenden suchten.

So sehen wir denn unsern Campe aus der dichtgedrängten Masse seiner literarischen Zeitgenossen mit dem entschiedensten Gepräge der Originalität hervortreten. Allein man muß keinesweges glauben, daß man ihn im gewöhnlichen Sinne des Wortes mit dem Ehrentitel eines originellen Menschen abfinden dürfe. Der Philanthropismus mit seiner



____
174

excentrischen Ausschweifung ist längst zu Grabe getragen; und doch giebt sich erst gerade jetzt der wahre Segen jener Reaction gegen die barbarische Stocktheorie früherer Jahrhunderte in unserm Erziehungswesen kund. Nachdem sich der Streit der Ertreme ausgeglichen hat, ist doch eine bessere Lehrmethode in's Leben getreten, und hat sich auch eine humanere Ansicht geltend gemacht. Campe eiferte unter heftigem Angriffe und Hohne seiner Gegner gegen das Vorwalten der classischen Studien auf unseren Schulen; und jetzt hat man schon viel von dem classischen Schutte aufgeräumt, der Muttersprache etwas mehr von ihrem Rechte zugestanden, und vor allen Dingen zweckmäßigere Volks- und Realschulen gegründet. Redete er auch hin und wieder allzuwillfährig dem crassen Realismus des Broterwerbes das Wort, wie es in seinen Fragmenten über die Industrie geschah, von denen weiter unten die Rede sein wird, so wurde er auch wieder um häufig mißverstanden, und das nicht selten absichtlich. Zum Glück lenkte der vorsichtige Mann bei Zeiten wieder ein, und suchte nach Kräften seine Gegner zu besänftigen, zu denen vorzugsweise auch die Philologen gehörten.

Blicken wir nun auf seine Schriften selbst, so zeigen sie uns, wie sein rascher Geist und seine noch raschere Feder der neuen Erziehungsmethode zu wesentlichstem Vortheil gereichten. Wären aus der Masse derselben gegenwärtig auch manche in Nacht der Vergessenheit begraben, so muß man nur erwägen, das der Maßstab der Beurtheilung ihrer und unserer Zeit ein durchaus verschiedener ist. Ein geringschätziges Ignoriren wäre daher hier sehr ungehörig angebracht, und beträfe es auch nur seine »kleine Bilderfibel mit dem beigefügten Buchstaben- und Silbenspiele,« oder sein »geographisches Kartenspiel mit 300 kleinen Karten.« Neben der Unmethode zu Campe's Zeit muß man dabei zugleich die Ehre



____
175

in Anschlag bringen, daß er zuerst diese geistreiche, später so oft ausgebeutete Idee der Begriffsversinnlichung angab. Um hier seiner übrigen, äußerst zweckmäßigen Elementarbücher *) zu geschweigen, muß wenigstens des sehr nützlichen Unternehmens gedacht werden, daß er im Vereine mit tüchtigen Philologen, wie Köppen, Böttiger, Döring, Schulze, Lenz, Wezel und Anderen, eine Encyklopädie der lateinischen Classiker in 25 Bänden veranstaltete, und dazu selber (Brschw. 1791; oder Encyklop. II. 2.) die »ausgesuchten Fabeln des Phädrus, zum Gebrauch auf Schulen ausgewählt von Campe, herausgegeben von J. H. A. Schulze,« lieferte. Leider wollten die Herren vom Schulfache niemals diesem Werke allgemeine Verbreitung gestatten. Eine bereits begonnene Encyklopädie der deutschen Classiker gerieth gleich im Entstehen in's Stocken, weil die erste Probe davon, ein Auszug der Messiade Klopstock's, den Beifall des Verfassers nicht fand. Unter allen seinen vielen Schriften, durch welche sich Campe unmittelbar als theoretischer Pädagog den ehrenvollsten Ruf erwarb, verdient, außer seinen »pädagogischen Unterhaltungen,« und dem »braunschweigschen Journale philos. philolog. und pädagog. Inhalts, vor allen seine »allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens« **) in Erinnerung
____
*) Neue Methode, Kinder auf eine leichte und angenehme Weise lesen zu lehren, nebst einem dazu gehörigen Buchstaben- und Silbenspiele in 26 Karten. Altona, 1778. –
Neues ABC- und Lesebuch, mit 4 Kupfern. Brschw., 1806. (Ist eine Umarbeit. der »neuen Methode, Kinder auf eine leichte und angen. Weise lesen zu lehren.«)
Biblia sacra, ex Seb. Castellionis interpretatione in usum juventutis breviata. Spec I. Hamb., 1779. –
Vorrede zu dem ABC instructif pour apprendre aux enfans les élemens de la langue française. à Brunsv., 1789. –
Versuch eines Leitfadens beim christl. Religionsunterrichte für die sorgfältiger gebild. Jugend; künftig für die allgem. Schulencyklop., jetzt zur Prüf- und Verbesser. vorgelegt. Brschw., 1791. (7. Afl., 1809; in’s Holländ übers. Amsterd., 1793.)
**) Pädagog. Unterhaltungen (gemeinschaftl. mit Basedow) von dem



____
176

gebracht zu werden. Mit diesem Werke, welches höchste Erwartung erregte, jede billige gewiß auch erfüllte, und durch
____
dessauischen Erzieh. Instit, herausg., 1777 bis 1784, 5. Jahrg. –
Allgem. Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, von einer Gesellschaft prakt. Erzieher. Hbg., 1785 bis 1792, 16 Bde. (Von Campe sind folg: Artikel:
Von den Erfordernissen einer guten Erziehung von Seiten der Eltern vor und nach der Erzieh. des Kindes; I. –Abhandl. über die früheste Bildung der Kinderseelen; II. – Von der Sorge für die Erhalt. des Gleichgewichts unter den menschl. Kräften, bes. Warnung vor dem Modefehler, die Empfindsamk. zu überspannen; III. – (ist eine Erweiterung seiner Schrift: »über Empfindsamk. und Empfindelei.«)
Ueber die gr. Schädlichk, einer allzufrühen Ausbild. der Kinder, V. –
(Im Auszuge: Würzb., 1800 bis 1803, 3 Bde.; holländ.: Amsterd, 1785; dänisch: von Werfel. Kopenh., 18 Thle.)
Braunschw. Journal, philos, philol. und pädag. Inhalts, (gemeinschaftl. mit Trapp, Stuve und K. Heusinger herausg.) Brschw., 1788 bis 89, 2. Jahrg. (Den 3. Jahrg. 1790 besorgte Trapp allein.) (Von Campe sind darin folg. Beiträge:
Beantwort. des im 1. St. dieses Journ. befindl. Einwurfs wider die Nützlichk. period. Schrn. vom Prof. Grave, I. 1788, 1. stück p. 19 bis 44. – Soll man die Kinder mitleidig zu machen suchen? 2. St., p. 150 bis 190. – soll man die Kinder Comödien spielen lassen? Ebend., p. 206 bis 219. – Nachr. v. dem Fortg. der Realisir. des Planes zu einer allgem. Schulencyklopädie. 3. St., p. 257 bis 269. – Beantwort. einiger Einwürfe, welche in den schles. Provinzialblättern gegen eine von Campe ausgest. Preisfrage über die einer jeden bes. Menschenclasse zu wünschende Art der Ausbild. und der Aufklär. gemacht worden sind. ebend., p. 338 bis 373. – Statist. Nachrichten von den Progressen der Deutschen im Versemachen, mit einer pädag. Anwendung. ebend, p. 373 bis 384. – Giebt es eine Glaubenspflicht? 4. St., p. 407 bis 428. – Hauptideen und Grundsätze zur Verfertig. der wissenschaftl. Theile der allgem. Schulencyklopädie. ebend, p. 475 bis 492. – Väterl. Rath für meine Tochter, ein Gegenstück zum Theophron, der erwachs., weibl. Jugend gewidmet. 5. St., p. 44 bis 68; 6. St., p. 188 bis 231; 7. St., p. 310 bis 337; 8. St., p. 404 bis 435; 9. St., p. 25 bis 65. – Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den  Schlaf des Hrn. Dr. Hildebrandt, pädagog. benutzt. 6. St., p. 141 bis 188. – Noch ein Wort über Glaubenspflicht, Freih. u. Nothwendigk. 9. St., p. 65 bis 81. – Hauptsätze der sogen. neuen Erziehungstheorie, das Sprachstud. überh. u. d. latein. Spr. insonderh. betreffend, behauptet und vertheidigt v. Leibnitz, Locke, Tschirnhausen, Facciolati, Zambaldi, Morhof, Montagne, Gentil, Clenard, Tanaq. Faber, Matth. Gesner, Schaz, Reimarus, Mendelssohn, auch indirecte von Scioppius, Melanchthon, Ludw. Vives, Erasmus, Corderius, Joach. Lange u. A. ebend., p. 82 bis 110; 10 St, p. 200. – Anzeige u. Beurtheil einiger durch d. preuß. Religionsedict



____
177

die Mitwirkung anerkannter Praktiker, wie Ehlers, Funk, Resewitz, Stuve u. s. w. im Publikum an Vertrauen gewann,
____
vom 9. Juli 1788 veranlasten Schrn. 10. St., p. 129 bis 152. – Einige Bemerkungen zu J. F. Abegg merkw. Beobachtungen in diesem Stücke. ebend., p. 178 bis 187. – Ueber die Hauptsünden der sogen. neuern Pädagogik, nebst einer Anwend. auf den Aufsatz des Hrn. Kammerh. Freih. von Knigge, in Hrn. Benecken’s Jahrb. für die Menschh. 2. Bd., 3. St., –II. 1789, 2. St, p. 193 bis 213; 3. St, p. 339 bis 359. – Vorschlag zur Beförder. der sittl. Ausbild., Industrie und Glückseligk. unserer Künstler und Handwerker, nebst einer sich darauf beziehenden Preisfrage. 2. St., p. 214 bis 236. – Nachr. v. dem Erfolge der aufgeworf. Preisfrage, die einer jeden Menschenclasse zu wünschende Ausbild. betreffend. 5. St., p. 92 bis 94. – Antwort auf das Schreiben des Fräuleins von . . . – 8. St., p. 392 bis 400. – Briefe aus Paris. 10. St., p. 227 bis 254; 2. Brief, 11. St., p. 257 bis 319; 3. u. 4. Br., 12. St., p. 385 bis 461; 5. u. 6. Br., Jahrg. 1790, 1. St, p. 1 bis 64; Vorrede zu diesen Brfn., p. 65 bis 71; 7. u. 8. Br., 2. St., p. 129 bis 259. – Ueber die ersten Gründe des Gesellschaftssystems, angewandt auf die gegenwärtige Staatsumwälzung; zur Probe des Ganzen, aus d. Franz. übers. und mit einigen Anmerk begl. 7. St, p. 257 bis 303. – An Basedow's Grabe 8. St, p. 501. – Proben einiger Versuche von deutscher Sprachbereicher. 11. St, p. 257 bis 296. – Anmerkungen zu dem Aufsatze: über Hrn. v. Winterfeld’s beide Aufsätze, das Latein. betreffend. 4. Jahrg, 1791, 4. St, p. 486 bis 493. – Antwort eines Ungen. aus Paderborn an den Schulr. Campe in N. 35 des jenaisch. Intelligenzblattes. 5. St., p. 58 bis 85. – Bekanntmachung des Junker'schen Sonnenmikroskop. 10. St, p. 179 bis 191. – Ueber Köppen’s Tod, nebst einer Nachr., die allgem. Schulencykl. betreffend. 12. St., p. 484 bis 490.)
Samml. einiger Erziehungsschrn., II. Lpz., 1778. –
Ueber Empfindsamk. und Empfindelei, in pädag. Hinsicht. Hbg., 1779. (Umgearbeit. und verb. im 3. Thle. der allgem. Revis.)
J. F. Oest: höchstnöth. Belehr. und Warnung für Jüngl. u. Knaben; eine gekrönte Preisschr.; aus dem 6. Thle. der Revis. Bes. herausg. v. Campe, 1. bis 4. Afl., 1787 bis 1809. –
J. F. Oest: höchstnöth. Belehr. und Warn. für junge Mädchen zur frühen Bewahr. ihrer Unschuld; eine gekrönte Preisschr.; aus dem 6. Thle. der Revis. bes. herausg. v. Campe, 1. bis 4. Afl., 1787 bis 1809. –
Campe: über Belohn. und Strafen in pädag. Rücks.; aus der Revis. bes. abgedr. Brschw., 1788. –
F. A. Crome: über die Erzieh. durch Hauslehrer; aus der Revis. herausg. v. Campe. Brschw., 1788. –
B. Cp. Faust: wie der Geschlechtstrieb des Menschen in Ordnung zu bringen; mit einer Vorr. v. Campe. Brschw., 1791. –
An diesem Orte wäre auch gleich der Mitwirk. Campe's an verschied.



____
178

machte Campe selbst das 1774 von Basedow edirte »Elementarwerk« vergessen. –

Den heftigsten Widerspruch fand Campe als deutscher
____
Ztschrn. zu gedenken, weil sich dieselbe doch größtentheils auf pädag. Zwecke erstreckt:
Beiträge zum deutschen Museum.
(An Hrn. Prof. Feder: Beantwort. dessen Schreibens über die Frage: »ob es raths. sei, die Ehrbegierde zu einer moral. Triebfeder bei der Erzieh. zu machen,« 1778, 4. St., p. 326 bis 349. – Gesch. meiner Augenkrankh., 7. St., p. 67 bis 83. – Proben einer kl. Seelenl. für Kinder, 1779, 10. St., p. 353 bis 363. – Versuch eines neuen Beweises für die Unsterblichk. unserer Seele; 1780, 9. St., p. 195 bis 213. – Kabinetsgespr. zw. dem gr. Mogul und einem seiner Nabobs; 1781, 1. St., p. 69. – Antwort auf die Einwürfe eines Ungen. gegen Campe's Versuch eines neuen Beweises für die Unsterblichk. unserer Seele; 5. St, p. 393 bis 408. – Auf Lessing's Tod; p. 464. – Schreiben über die Einwürfe noch eines Ungenannten gegen den neuen Beweis für die Unsterblichk. uns. Seele; 1782, I. Jan., p. 73 bis 81. – An Joseph den Einzigen; 1784, I. Febr., p. 101 bis 104. – Preis-Aufgabe, wie kann man Kinder und junge Leute vor dem Leib und Seele verwüstenden Laster der Unzucht überh. und der Onanie insonderh. verwahren, od. sie, wenn sie schon davon angesteckt sind, davon heilen? II. Nov., p. 471 bis 480. – Fernere Nachricht von dem Fortgange einer allgem. Revis. des gesammt. Erziehungswesens, von einer Gesellsch. prakt. Erzieher; Dec., p. 481 bis 498. –)
Beiträge zu Voß' Musenalmanach, (1776 pp.) –
Beiträge zur Samml. der besten und neuesten Reisebeschreibungen. –
Beiträge zur berliner Monatsschr.:
(Plan zu einer allgem. Revis. des gesammt. Erziehungswesens von einer Gesellsch. prakt. Erzieher; 1783, Aug., p. 162 bis 181. – Versuch einer Classificirung der Ideen nach den Graden der Lebhaftigk.; Oct., p. 375 bis 378. – Ueber die früheste Bildung junger Kinderseelen, ein Bruchstück; 1784, März, p. 218 bis 228. – Zu Hrn. Joh. Paul Richter's Vorlesung über Campe's Sprachreinigk. in dessen Vorschule der Aesthetik; 1805, Febr., p. 81 bis 121 –).
Beitrag zum schlesw. Journal:
(Mein erstes und letztes Wort über den Ritter von Zimmermann, eine neuesten Verläumdungen betreffend; 1792, 8. St., p. 209 bis 512 –).
Beitrag zu Wieland's deutschem Merkur:
(Fröhliche Botsch. für die Süchtlinge od. Hypochondristen; 1803, Juli, p. 185 bis 202 –).
Beitrag zum Reichsanzeiger:
(Vorschlag zu einem Denkmal für Luther; 1805, N. 319 –).
Beitrag zum braunschw. Magazin: (Ueber ein verkanntes Erziehungsmittel bei der Kartoffelzucht; 1809, Nro. 12 –).



____
179

Sprachforscher. *) In dem sehr löblichen Bestreben, die Würde der Muttersprache durch Verbannung fremden Flitters zu heben, vereinigte er sich mit einem Cludius, von Anton, Eschenburg, Gedike, Kinderling, Heynatz, Löwe, Mackensen, Petersen, von Winterfeld u. s. w. zur Herausgabe der »Beiträge für die Ausbildung der deutschen
____
*) Proben einiger Versuche von deutscher Sprachbereicher. Brschw., 1791. (steht auch im brschw. Journ., 1790, 11. SSt.)
Zweiter Vers. der deutschen Sprachbereicher. od. neue stark vermehrte Ausg. der ersten. Brschw., 1792. –
Dritter Versuch über die Reinig. und Bereicher. d. deutschen Sprache, welcher den von dem königl preuß. Gelehrtenvereine zu Berlin ausgesetzten Preis erhalten hat. Verb. Afl. Brschw., 1794. –
Beiträge zur Beförder der fortschreitenden Ausbild der deutschen Sprache, von einer Gesellsch. von Sprachfreunden, 1795 bis 97, 9. St. in 3 Bänden.
(Von Campe sind folg. Beiträge darin:
Gelegentl. Sprachbericht neuer deutscher Wörter; 1. St., p. 88 bis 106. – Was ist hochdeutsch? und in wiefern und von wem darf u. muß es weiter ausgebildet werden? p. 145 bis 184; 2. St, p. 99 bis 126. – Ein Paar Bemerkungen zum 1. St. dieser Beiträge; 1. St, p. 183 bis 186. – Sprachbericht zur neuen Biblioth. der schönen Wissensch, 54. Bd, 1. St.; – 2. St, p. 59 bis 81. –
Sprachbericht zur berlin. Monatsschr., Oct, 1794; p. 82 bis 94. –
Bemerkungen zum 98. St. der Annalen der Philosophie und des philos. Geistes, 1795; 3. St., p. 32 bis 36. – Ueber den Titel der Beiträge; p. 136 bis 149. – Bemerkungen zu Adelung’s Magazin, 1. Jahrg, 2. St., p. 23; – 4. St., p. 44. – Schutzwort zu Gunsten eines Verbannten; p. 114 bis 120. – Kann etwas möglicher als möglich, oder gar am möglichsten sein? p. 172 bis 174. – Ueber ein Paar Mißverständnisse in einer Beurtheilung dieser Beiträge; p. 175 bis 180. – Vermischte Sprachbemerkungen bei verschied: Veranlassungen; 5. St., p. 26 bis 33. – Ein Paar Berichtigungen zu einer, 4. St. der Zeitschr. Deutschland befindl. Beurtheil. der Beiträge; p. 178. – Vermischte Bemerkungen; 6. St, p. 45 bis 51. – Ueber wann und wenn; p. 82 bis 103. – Einige Bemerkungen über Goethes Bemühungen, unsere Sprache reinigen und bereichern zu helfen; 7. St., p. 168 bis 178. – Gegengeschenk für die Verff. der Xenien in Siller's Musenalmanach; p. 179 bis 182. – Ueber Kant's Schr.: »zum ewigen Frieden;« 9. St., p. 109. bis 118 –).
Wörterb. zur Erklär. u Verdeutsch. der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke; ein Ergänzungsbuch zu Adelung's Wörterb. Brschw., 1801, 2 Bde., 2. Afl., 1813. –
Versuch einer genauen Bestimmung und Verdeutschung der für unsere Spr. gehör. Kunstwörter. Brschw., 1803. –



____
180

Sprache.« Allein die kecke Miene, welche man der Auctorität der Herren Poeten gegenüber annahm, entflammte den ganzen Parnaß zum Zorn gegen die »braunschweiger Waschfrau.« *) Klopstock, obgleich selbst ein Deutschthümler, furchte die Stirn; Wieland schalt, aber merzte doch in aller Stille einige hundert Fremdlinge bei der letzten Revision seiner Werke aus; Friedr. Schulz schrieb in Campeschen Ausdrücken einen Spottartikel, den Merkel später im Freimüthigen mittheilte, der aber schon gegenwärtig den größten Theil seines piquanten Interesses verloren haben möchte, weil bereits die meisten der damals befremdenden Ausdrücke in das Volk übergegangen sind. Selbst Goethe und Schiller hechelten den Sprachreiniger in den Xenien durch; und so hatte er es mit einem Richter und noch unzähligen Anderen des gereizten Poetenvölkchens zu thun. Die meisten davon wurden aber auch gleich in den »Beiträgen« oder bei anderen Gelegenheiten tüchtig wieder bedient. Man mag die Sache nun nehmen wie man will, so hat doch die Anregung des Puristen Campe die heilsamsten Folgen gehabt. Zur tieferen Würdigung des Genius und Reichthumes unserer Sprache hat sie entschieden beigetragen, und würde sich schon aus dem Gesichtspunkte eines Gegengewichtes gegen die bedrohlichen, fränkischen Einflüsse als nützlich erweisen. Auch wollte er die Fremdwörter keineswegs mit seinen neuen unbedingt verdrängen; sondern vielmehr, wie er dies selbst anmerkt, nur womöglich zur Erschöpfung eines Begriffes Wörter verschiedener Nüançen an die Hand geben. Wollte man freilich ihm selbst einmal auf die Finger klopfen, so brauchte man nur seine eigenen früheren Werke durchzumustern, in denen er (z. B. in den »Fragmenten«) mit Fremdlingen, wie: Lüre, Stupidität, Indüstrie, realisiren,
____
*) Goethe's und Schiller’s Xenien.



____
181

Abstractionen, populär, speculativ, Subtilität, disseriren, disputiren, intricat, affectiren, dispensiren, Constituent, französisches Caquet u. s. w. um sich wirft. Später übte er indessen eine um so unerbittlichere Censur gegen die Ausländer. – Dafür erhielt er auch die Genugthuung, daß seine Abhandlung »über die Reinigung und Bereicherung der deutschen Sprache« von der berliner Akademie der Wissenschaften mit dem, vom Minister von Herzberg ausgesetzten Preise gekrönt wurde. Sein puristischer Eifer erstreckte sich sogar bis auf die Vertheidigung der deutschen Typen, *) welche damals durch mehre Buchdrucker in Gefahr kamen, mit lateinischen vertauscht zu werden. Campe's verdienstlichstes Werk aber bleibt das unter Theod. Bernd's Beihülfe ausgearbeitete »Wörterbuch der deutschen Sprache,« welches in fünf Quartbänden zu Braunschweig 1807 bis 1811 erschien. Machten Campe's Widersacher ihm wiederholt den Vorwurf, daß häufig zu seinen schriftstellerischen Productionen mehr der Erwerbstrieb, als der Wissenstrieb die Triebfeder gewesen sei, so macht doch dieses großartige Unternehmen, wegen der hohen Uneigennützigkeit, mit der es zu Stande gebracht wurde, jeden Tadel verstummen. Er opferte nämlich dabei, wie auch leider bei dem früheren »Verdeutschungswörterbuche,« einen nicht unbedeutenden Theil seines Vermögens auf, weil dieses Werk auf eigenes Risiko ging, und die Herausgabe gerade in die unselige Kriegsepoche fiel. Auch wird es seines innern Werthes wegen des Verfassers Namen in dauernder Ehre erhalten; so vielfacher Berichtigungen es auch bedürfen möchte, und so streng auch der Maßstab war, den ein Joh. Heinr. Voß daranlegte. Während Adelung noch ganz vom Gottsched'schen Geschmacke
____
*) Der Einsiedler von Warkworth, eine northumberländ. Ballade, aus dem Engl. von Campe. Zur Probe einer Druckschr. neuer Art. Brschw., 1790. –



___
182

befangen war, ging Campe nach freieren Grundsätzen zu Werke. Bei dem Aufdecken des von Adelung verkannten Reichthumes unserer Sprache bot sich Campen ein mehr, als dreifacher Schatz der Ausbeute dar; indessen er, was Etymologie und Begriffsentwickelung betrifft, seinen Vorgänger, der ihm mit riesenmäßiger Anstrengung den Weg gebahnt hatte, nicht erreichte; ungeachtet er oft seine Schnellfertigkeit für Ueberholung ansah. Man darf jedoch Campen, der nicht eigentlich für den Sprachforscher von Fach schrieb, bei einem so umfangreichen Werke diesen Mangel nicht zu hoch anrechnen.  

Auch im Poetischen, namentlich in der Satire, hat sich Campe versucht. *) Allein auf diesem Gebiete, ungeachtet er auf ihm seine Schriftstellerlaufbahn begann, spielte er doch im Grunde genommen von allen Rollen seines Lebens die traurigste. Mit allen seinen Poesieen, selbst mit seinem »Candidat,« einem Heldengedichte, wollte es eben so wenig glücken, wie mit seiner ästhetischen Kritik. Durch Letztere rief er fast absichtlich die gefährlichste Partei seiner Gegner wider sich ins Feld, die gereizten Poeten nämlich, denen gegenüber er denn auch seine geringe Befähigung für poetische Auffassung nie verbergen konnte. Denn was sollte man wohl von einem Aesthetiker halten, der das Verdienst des Erfinders der
____
*) Die Musen in dem Gefolge würdiger Regenten; eine gebundene Rede, worin dem Durchl. Fürsten und Hrn. Herzog Carl u. s. w an Höchstderoselben hohen Geburtsfeste unterthänigst Glück wünschte J. H. Campe. Helmst. und Lpz., 1767. –
Der Schutzgeist von Berlin, 1768. –
Satiren. Helmst. und Magdeb., 1768. –
Kleinigkeiten, 1768. –
Das Testament; eine Satire, 1769. –
Der Candidat, ein Heldengedicht, 1769. –
Gedicht im deutschen Merkur, 1774 –
In der von Ursinus (Berlin, 1777) herausg. Slg. übersetzter Balladen und Lieder altengl. und altschott. Dichtart sind einige von Campe.



____
183

braunschweiger Mumme und des Spinnrades über das eines Dichters stellte, und es höher anschlug, eine Quadratruthe Moorland urbar zu machen, und einen Stein Flachs zu spinnen, als der Verfasser eines Bändchens allerliebster Gedichte zu sein! Wollte man eine solche Versündigung wider den heiligen Geist auch mit einer temporären Mißstimmung entschuldigen: so ließe sich doch niemals sein schlechter Geschmack in Abrede stellen, und höchstens von ihm rühmen, daß er allenfalls nur für das Lehrgedicht Empfindung gehabt habe, welches doch eigentlich vor dem kritischen Richterstuhle nicht als vollgiltig anerkannt wird. Zeigt er wenigstens nicht eine gänzliche Verkennung des Wesens der Poesie, wenn er sagt: »das der eigentliche Zeitpunkt, da der Dichter sich ein recht großes und unsterbliches Verdienst erwerben könne, derjenige sei, da eine Nation anfange, sich aus der Nacht der Barbarei zu der Morgenröthe der Aufklärung empor zu arbeiten. Da sei es ein großes, verdienstvolles Werk, das einer Nation aufzusteckende Licht der Philosophie, dessen reinen unverhüllten Schein sie noch nicht ertragen könne, mit dem Laternenglase der schönen Künste überhaupt und der Poesie insonderheit zu umgeben, damit es in gemildertem Glanze den Leuten in die Augen falle, und durch das Wehen nächtlicher Stürme nicht erlöschen möge. Sobald hingegen ein Volk über jene erste Periode der Aufklärung schon hinaus wäre, und nun schon seinen Haller, (hier zählt Campe von Haller bis auf die Karschin herab seine Lieblinge auf, ohne daß er eines Herder, Goethe, Schiller, Richter und Anderer gedächte,) seine Karschin und Andere aufweisen könne: dann sei es weder eben so schwer, noch so verdienstlich, nützlich und ruhmwürdig mehr, nicht bloß Gedichte überhaupt, sondern sogar solche unsterbliche Gedichte zu verfertigen, als wir jenen verdanken.« Ja, es klingt fast komisch, wenn sich Campe selbst über diese



____
184

so vielfach angefochtenen Ansichten rechtfertigen will in den »statistischen Nachrichten von den Progressen der Deutschen im Versemachen; mit einer pädagogischen Anwendung,« *) und hier vom Lobe der Poesie ungefähr im Tone einer superklugen, abgelebten Bonne spricht: »Ohnstreitig kann die Tugend unter den bildenden Händen der schönen Künste und Wissenschaften wunderbaren Reiz erhalten: ohnstreitig kann sie, wenn sie aus Ramler's Cantate weint, und aus Klopstock's Heldengesängen tönt, auch das kälteste Herz in Empfindung zerlassen. Denn hier erblicken wir die allgemeinen Wahrheiten der Sittenlehre in einzelnen wahren oder erdichteten Beispielen, die abgezogene Erkenntnis erhält gleichsam Körper und Leben und wird in anschauende Erkenntnis verwandelt. Dadurch werden die Vorstellungen erleichtert; dadurch wird die Geschwindigkeit derselben vergrößert; dadurch werden die besonderen Vorstellungen vieler Merkmale in eine einzige zusammengepreßt; dadurch werden wir in den Stand gesetzt, die moralischen Vorschriften, ihre Anwendung auf einzelne Fälle, die Möglichkeit sie auszuführen, und den wohlthätigen Nutzen derselben, mit Einem Blicke zu übersehen. Daher kann bei dieser anschauenden Erkenntnis unser Herz nicht kalt bleiben; es muß von Bewunderung, Ehrfurcht, Liebe, Mitleiden – kurz von den wärmsten Empfindungen und von den lebhaftesten Leidenschaften zerschmelzen.« In der That, nach so einem rührenden Kraftsermone fehlte nichts, als der Trumpf, den unser Aestheticus selbst noch darauf setzte: »soll diese Aeußerung ein unbefugtes Verdammungsurtheil sein?« - -

Besser glückte es unserem Campe mit seinem »Robinson,« **)
____
*) Braunschw. Journ., 1788, I. p. 382. –  
**) Robinson der Jüngere, zur angen. und nützl. Unterhalt für Kinder, II. Hbg., 1779 bis 80. (In's Franz. übers. Paris, 1783; Basel, 1788; von Mich. Huber. Brschw., 1793; Bern, 1793; Frankf., 1794;



____
185

der ihm einen europäischen Ruf verschaffte. Anderen war dieser Stoff immer nur ein gewöhnlicher, romantischer gewesen, und so hatte auch Wezel, der frühere Bearbeiter, gedankenlos die breite Langweiligkeit des englischen Originals von de Foe copirt. Campe, der auch der damals grassirenden Seuche schwächlicher Empfindsamkeit steuern wollte, faßte seinen Stoff von einer praktischen Seite auf, als höchst geeignet zu mannigfachster Belehrung für die Jugend. Dieser praktischen Tendenz hatte er es hauptsächlich zu danken, daß von seinen Werken nicht der Robinson allein, der die, im Zeitraume von 1722 bis 1769 erschienenen, vierzig anderen Robinsone in den Hintergrund drängte, und von welchem bereits im J. 1840 die dreißigste Auflage erschien, in fast alle Sprachen Europa's übertragen wurde. Vom ästhetischen Standpunkte aus thut ihm freilich dieser Vorzug Abbruch; indem die moralische Tendenz die künstlerische zu merklich überwiegt. Charakteristisch ist die Bemerkung des geistreichen und paradoxen G. C. Lichtenberg's über dieses Werk: »Ich wollte zwei Messiaden für einen kleinen Theil des Robinson Crusoe hingeben. Unsere meisten Dichter haben, ich will nicht sagen nicht Genie genug, sondern
____
Paris, 1798; 3. Afl., 1802; v. J. B. Engelmann. Frkf. a. M., 1801; 4. Afl., 1814; v. J. D. Grandmottet. Brschw., 1805; v. S. H. Catel. Berlin, 1806; in's Latein, v. P. J. Lieberkühn. Züllichau, 1785; 3. Afl, v. L. F. Gedike, 1798; 4. A., 1802; v. J. F. T. Nagel. Helmst, 1822 bis 23; in's Holländ., v. Siegenbeck. Amsterd. und Zütphen, 3. Afl., 1814; in's Italien., v. C. G. Jagemann. Halle, 1787; 3. Afl., 1826; Padua, 1811; in's Span., v. D. F. de Yriarte. Madr., 1789; 3. Afl. Hbg., 1808; in's Dän. Kopenh., 1800; in's Neugriech.; in's Poln. Bresl., 1806; in's Engl. Hbg., 1782; v. J. Timäus. Lüneb., 1800; v. C. Will. Frkf. a. M., 3. Afl., 1825; auch unter d. Titel: Engl. Leseb. mit Wörterb. v. C. Wagner. Brschw., 2. Afl., 1817; Nachdr. München, 1780; Wien, 1789; ebend., 1803; 1812; Reutlingen, 1815; 1821; Tübingen, 1796; Forts. v. Chr. Hildebrandt. Lpz., 1806; 2. Afl., 1819; auch unter dem Titel: Robinson's Colonie, ein unterhalt. Leseb.)



____
186

nicht Verstand genug, einen Robinson Crusoe zu schreiben. *) –

Reich ist die Bändezahl seiner noch immer gelesenen und belehrenden Unterhaltungsschriften für die Jugend, **) und
____
*) Geo. Chr. Lichtenberg's verm. Schrn. Göttingen, 1844, II. p. 38  
**) Das Leben der Blanka Capello; aus dem Ital. des Sanseverino. Berlin, 1776. –
Kleine Kinderbiblioth., od. hamb. Kinderalman., od. Weihnachtsgesch. für Kinder, 12 Bdchn. Hbg., 1779 bis 84, (10. Afl. in 18 Bdn., 1805. Das 12 Bdchn. auch unter dem Titel: hamb. Kinderalman. auf d. J. 1785; 2. Afl der 6 ersten Bde., 1782; 3. Afl. des 1. Thls., 1782; 12. Afl. aller 12 Bde., 1828; davon eine russ. Uebersetzung. Petersb., 1783; 2. Afl., 1785; Smolensk, 1801; 2. Afl., 1803; franz. v. I. D. Grandmottet. Brschw., 1800; Paris, 1803; 2. Afl, 1820; eine andere ebend., 1805; schwed. zu Oerebro; poln. Bresl., 1809; Nachdr. Stuttg., 1815; Wien, 1813.)
Die Entdeckung von Amerika, ein angen. und nützl. Leseb. für Kinder und junge Leute, 3 Thle. Hbg., 1781 bis 82, (10. Afl., 1828; den 4. Thl. bearbeitete J. J. Pott. Prag, 1815; in's Franz. übers. v. Junker. Suisse, 1784, 1785; neue Afl. Lpz., 1809; Paris; ebend., 4 Afl., 1807; ebend.; 4. Afl., 1813; Lausanne; Brschw, 1797; in's Engl. v. Elizab. Helme. London, 1799; mit beigedrucktem deutschen Texte. Oldenb, 1808; in's Franz und Poln. v. G. S. Bandtke. Bresl., 1805; in's Poln. Bresl., 1808; Nachdr. Tübing, 1782; ebend., 1786; Wien, 1813; ebend., 1816; Reutling., 1815; 1825 –).
Vorrede und berichtigende Anmerkgn. zu Pet. A. d. Winkopp's Uebers. v. d. Gräfin von Genlis Adelheid und Theodor, 3 Thle. Gera, 1783 bis 84. –
Geograph. Kartenspiel. Ein Weihnachtsgesch. für Kinder und junge Leute; nebst 300 geograph. Spielkärtchen u. einem Umr. v. Deutschl. Hbg., 1784. –
Samml. interessanter und durchgäng. zweckm. abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend. Brschw., 1785 bis 93, 12 Bde. (Vom 1. Thle. die 2. Afl., 1786; sämmtl. auch unter dem Titel: Kleine Kinderbiblioth, 12 bis 24 Bdchn., 2. Afl. in 12 Bdn., 1806; 3. Afl., 1820; in's Franz. übers. Frankf., 1786 bis 93, 7 Bde.; v. Berton. Paris, 1794, 8 Bde.; neue Afl. Bresl. 1805, 2 Bde., u. Paris, 1802 bis 3, 12 Bde.; ins Holländ. Amsterd, 1788 bis 94, und 1805, 5 Bde.; in's Ital., 8 Bde.; Nachdr. Reutlingen, 1790, 12 Bde.; 2. Afl., 1807; Forts. in 3 Bdn., ebend., 1796 bis 1797; Wien, 1812, 12 Bde. Frkf. und Lpz., 1806, 8 Bde. –).
Gesch. Sandford's und Mertons für Kinder erzählt; aus dem Engl., 2 Bdchn. Brschw., 1788. (Franz. Bern, 1790, 2 Bde. –).
Histor. Bilderbüchlein, od. d. allgem. Weltgesch. in Bildern u. Versen, 1. Bdchn. Brschw., 1801; 2. Afl., 1810, (Franz. v. Berton:



____
187

sie liefern in den stets erneueten Auflagen den besten Beleg dafür, daß sich an Popularität schwerlich ein Jugendschriftsteller
____
Les soirées sous le vieux tilleul, ou petit cours de morale en exemples et choix d'histoirettes destinées à l'instruction de la jeunesse. Paris, 1821, 2 vol.; u. v. Dom. S. Fremadeuse: La portefeuille verd, ou collection des histoires pour la jeunesse. Paris, 1819 –).
Neue Slg. merkw. Reisebeschreibungen für die Jugend, 1. bis 6. Thl, 1802 bis 4; 4. Afl., 1820.
Daraus wurde bes. abgedruckt:
Gemälde des Nordens, dargest. in J. Hemskerk‘s und W. Barenz nördl. Entdeckungsreise und den merkw. Abenteuern vier russ. Bootsmänner auf Spitzbergen. Lpz, 1824. (Holländ. Amsterd., 1807; Poln. im Auszuge v. Stanisl. Szumánski. Warschau; Dänisch, Kopenh., 1802 –).
Reise durch Engl. und Frankr. in Briefen an einen jungen Freund (seinen Enkel Ed. Vieweg) in Deutschland, 2 Thle. Brschw, 1803. (Auch unter dem Titel: neue Samml v. Reisebeschreib., 4. bis 5. Bd., 2. Afl., 1815.)
Reise von Braunschw. nach Karlsbad und durch Böhmen, in Briefen an Eduard und Karl. Brschw., 1806. –
Auszug aus der Hawkesworthischen Reisebeschreib. (In der bei Mylius zu Berlin herausg. Slg. v. Reisebeschreib.)
Sämmtl. Kinder- und Jugendschriften. Ausgb. letzter Hand, mit 82 Kupfern, 1. bis 28. Bdchn. Brschw., 1807; 29. bis 30. Bdchn., 1809; 31. bis 37. Bdchn., 1818. - (Neue wohlf. Gesammtausg. der letzten Hand, 1. bis 37. Thl. Brschw., 1828. Enthält: 1. Thl.: Neues ABC- und Leseb., 2. Afl.; 2. bis 7. Thl.: Kl. Kinderbiblioth., 6 Thle, 12. Afl.; 8. Thl.: Seelenlehre f. Kinder, 9. Afl.; 9. Thl.: Sittenbüchl. für Kinder, 9. Afl.; 10. bis 11. Thl.: Robinson der Jüngere, 20. Afl.; 12. bis 14. Thl.: Entdeck. v. Amerika, ein Unterhaltungsb. f. Kinder und junge Leute, 3 Thle., 11. Afl.; 15. Thl.: Geschichtl. Bilderb. od. die älteste Weltgesch. in Bildern und Versen, 2. Afl.; 16. Thl.: Klugheitslehren für Jünglinge, welche im Begriff stehen in die Welt zu treten, 6. Afl.; 17. bis 28. Thl.: Erste Slg. merkw. Reisebeschreib. f. d. Jugend, 12 Thle, 5. Afl. Diese Slg. enthält: 1. Hermskerk's und Barenz nördl. Entdeckungsreise und merkw. Schicksale; 2. Merkw. Abenteuer vier russ. Bootsmänner auf Spitzbergen; 3. Vasco de Gama's Reise nach Ostindien. Die erste, welche um Afrika herum vollführt wurde; 4. Traurige Schicksale der Frau Godin Desodonais auf einer Reise von Riobamba, unweit Quito, durch das Amazonenl.; 5. Campe's Reise von Hamb. bis in die Schweiz; 6. Beschreib. einer Reise um die Erdkugel, angest. v. d. britt. Commodore Biron; 7. Beschreib. einer Reise um die Erdkugel, angest. v. d. britt. Capitain Sam Wallis; 8. Beschreib. einer Reise um die Erdkugel, angest. v. d britt. Capitain Karteret; 9. Das Anziehendste und Merkwürdigste aus Joh. Carver's Reisen durch d. Innere v. Nordamerika; 10. Wilh.



____
188

mit ihm messen kann. sein Stil ist anschaulich und klar, selbst bei Behandlung abstracter Gegenstände, weshalb Campe als Philosoph, *) namentlich als Moral- und Religionsphilosoph,
____
Isbrand Bonteku’s merkw. Abenteuer auf einer Reise v. Holland nach Ostind.; 11. Beschreib. einer Reise um d. Erdk., angest. v. d. britt. Capitain Cook und den beiden Gelehrten Banks und Solander; 12 P. Brydone’s Reise durch Sicilien u. Malta; 13. Campe' s Reise v. Brschw. nach Paris; 14. Capit. Wilson's Schiffbr. bei den Pelju-Inseln; 15. Le Vaillant's Reise in d. Innere v. Afrika, vom Vorgeb. d. guten Hoffn. aus; 16. Lessep’s Reise durch Kamschatka und Sibir. – 29. bis 35. Thl.: Neue Slg. merkw. Reisebeschreib. f. d. Jugend, 7 Thle., 2. Afl. Enthält: 1. Gesch. eines Schiffbruchs an der Küste v. Arrakan in Ostind., nach d. Berichte eines jungen Engländers, des Schifflieuten. W. Mackay; 2. Gesch. des Schiffbr. und d. unglückl. Gefangensch. einer jungen Gräfin Burke; 3. Schreiben aus Algier, von einem der ehemal. Pflegesöhne des Herausgebers Gottl. Böhl; 4. Sam. Turner's Gesandtschaftsr. an den Hof des Teschu Lama in Tibet; 5. Reise eines Deutschen nach dem See Oneida in Nordamerika; 6. Gesch. eines Schiffbr., welchen d. engl. Fähnr. Prentjes in d. nordamerikan. Meerb. St. Lorenz litt; 7. Hugh Boyd’s Gesandtschafsr. nach Candy, auf Ceylon; 8. Reise in d. Land d. Kaffern. Ein kurzer Auszug aus J. Barrow's Reisen durch d. Innere des südl. Afrika; 9. Campe’s Reise durch Engl. und Frankr., in Briefen an einen jungen Freund in Deutschl.; 10. Campe's Rückr. v. Paris nach Brschw., in Briefen an einen jungen Freund in Deutschl.; 11. Reise in d. Land der Buschmänner. Ein Ausz. aus J. Barrow's Reise in d. Innere des südl. Afrika; 12. Campe's Reise v. Braunschw. nach Karlsbad und durch Böhmen, in Briefen an Eduard u. Carl. – 36. Thl.: Väterl. Rath für meine Tochter, 9. Afl.; 37. Thl.: Theophron, od. d. erfahrne Rathgeber f. d. unerf. Jugend, 8. Afl. –
J. F. Reichardt's Lieder für Kinder, aus Campe’s Kinderbiblioth. Mel. b. Clavier zu singen. Wolfenb., 1781 bis 91, 4 Slgn. –
*) Nonnulla de vi consuetudinis quaestionibus Homianis addita. Halae, 1768. –
Philos. Comment. über die Worte des Plutarch: »die Tugend ist eine lange Gewohnheit,« od. über d. Entstehungsart der tugendh. Neigungen. Berlin, 1774. –
Predigt v. d. Pflicht, bei der Abwart. des öffentl. Gottesdienstes sich sittsam u. ehrerbiet. zu beweisen. Potsd., 1775. –
Rede, im 3. St. des philanthr. Archivs, 1776. –
Die Empfindungs- und Erkenntniskr. der menschl. Seele; die erstere nach ihren Gesetzen, beide nach ihren ursprüngl. Bestimmungen, nach ihrem gegens. Einfl. auf einander, und nach ihren Beziehungen auf Charaktere und Genie betrachtet. Lpz., 1776. (Franz. unter dem Titel: Elements de psychologie. Genève, 1785; Hamb., 1789.)
Sittenbüchl. f. Kinder. Dessau, 1. bis 9. Afl., 1777 bis 1814. (Poln. Bresl., 1779; v. Krasinsky, ebend., 1805; latein.: Brunsv.,



____
189

einen nicht unbedeutenden Werth besitzt. Gefällig, oft hinreißend in seiner Schreibart, weiß er sehr eindringlich
____
1780; franz.: Petit livre de morale par L. Blondel, Colmar, 1788; eine zu Basel; eine zu Frkf., 1791; zu Brschw., 1794; zu Paris, 1798; ebend., 1799; poln. und franz. v. C. F. Cramer u. G. Sam. Bandtke. Bresl., 1806; holländ. Amsterd.; 2. Afl. davon, 1807; russ. Petersb., 1801; ungar. v. Nagy; böhmisch v. J. G. Chylick. Prag, 1786; v. P. Nediele. Brünn, 1807; span. v. Herrger, 1805; engl. v. Seymour. London, 1792; Nachdr. München, 1793; Wien, 1816, und zu Brünn. –).
Compendium artis vivendi, ex Erasmi Roterodami libro de civilitate morum puerilium, et ex J. L. Vivis Valentini introductione ad veram sapientiam concinnatum. Hamb., 1778; 1792. (In's Deutsche übers. v. J. G. Gruber. Lpz., 1799 –)
Kleine Seelenlehre f. Kinder. Hbg., 1780. – (10. Afl., 1828; Nachdr. Wien, 1793; ebend., 1809; Reutl., 1812; 1818; 1823 –).
Theophron, od. d. erfahr. Rathgeber f. d. unerf. Jugend, ein Vermächtn. f. seine gewesene Pflegesöhne und f. alle erwachs. junge Leute, welche Gebrauch davon machen wollen, 2 Thle. Hbg., 1783; (8. Afl., 1828; franz. Brschw.; Cleon ou entretiens d'un vieillard avec son fils, prét à entrer dans le monde. Paris, 1803; 18. ed. 1820; Theophron ou le guide de la jeunesse. Brunsv., 1798; Present d'un père à ses enfants, ou nouveau plan d'instruction pratique, ou petit cours encyclopèdique à l'usage des enfants. Paris, 1811; ungar. v. L. Sabestany. Waitzen, 1804; v. J. Dansy. Presb., 1805; poln. Bresl., 1809 –). Theophron im Ausg.; ein Leitf. zu Vorlesungen darüber. Brschw., 1790, (2 Afl., 1799).
Väterl. Rath f. meine Tochter, der erwachsenen weibl. Jugend gewidmet ein Gegenstück zum Theophron. Brschw., 1789. (Ist eine Erweiter. eines früheren Aufsatzes aus dem Revisionswerke. – Neuer Abdr. Lpz., 1812; 9. Afl., 1828; holländ. Amsterd., 1791; franz.: Elise,. ou entretiens d'un père avec une fille sur la destination des femmes dans la societé. Paris, 1803; 2. ed. 1820; und v. Grandmottet. Brschw., 1804; 2. Afl., 1812; russ. v. Jazenkow. Petersb., 1804; poln. v. F. Slominsky. Krakau, 1805; ein Nachdr. Frankf., 1790; Wien, 1790; ebend., 1809; Tübingen, Bern, 1791 –).
Philanthrop. Rede über die Reinigk. des Herzens. Bern, 1789. –
Moritz; ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde. Brschw., 1789. –
Die Klugheitslehren für Jünglinge. Aus des Grafen v. Chesterfield's Briefen an seinen Sohn, in einen zweckm. Auszug mit nöth. Anmerk. gebracht. 2 bes. Ausz. Brschw., 1793; 6. Afl., 1821. (Machte früher einen Thl. des Theophron aus. – Nachdr. Wien, 1793; ebend., 1816 –).
Ph. D. Stanhope's Gr. v. Chesterfield's Klugheitslehren f. Jünglinge, im Auszuge v. C. E. G. Rudolphi, mit nöth. Abänder. v. Campe, 2. bis 3. Afl. Brschw., 1793 bis 1806. (Aus der Revis.)



____
190

auf das Gemüth zu wirken, und versteht bei seinem Reichthume an Gedanken die seltene Kunst, sich leicht und ungezwungen vom Ernst zum Scherz zu wenden. Daß Campe in seiner Aufklärungssucht *) häufig die Umsicht, und noch häufiger die Rücksicht verletzte, wie solches in seiner »kurzen Anweisung zur christlichen Religion,« noch mehr aber in seinen beiden Fragmenten »über einige ungenützte Mittel zur Beför derung der Industrie« geschah, hat er sehr theuer büßen müssen. Diesen Fragmenten, welche neben manchem praktisch Nützlichen, viel Unbegründetes enthalten, alles aber in oberflächlichster Behandlung bieten, kann man auch in der That keine andere Aehnlichkeit mit ihrem berühmten Vorbilde, den wolfenbüttler Fragmenten Lessing's, zugestehen, als das gleiche Geschick des ihnen begegneten, heftigsten Widerspruches. Es ist merkwürdig, welch eine Schaar von Widersachern eine so unbedeutende Schrift in Harnisch bringen konnte.  **) Wenn Campe
____
*) Sam. Crell’s erster und anderer alter Adam; eine deutsche Uebers., hinter welcher in gegenüberstehenden Columnen Crell’s u. Teller's System gegen einander gehalten wird. –
Philos. Gespräche über die unmittelb. Bekanntmach. der Relig. u. über einige unzulängliche Beweisarten ders. Berlin, 1773. –
Ueber einige verkannte, wenigstens ungenützte Mittel zur Beförder. der Industrie, der Bevölker. und des öffentl. Wohlstandes; 2 Fragmente. Nebst einer Beilage v. Stuve: über die Nothwendigk. der Anlegung öffentl. Töchterschulen für alle Stände. Wolfenb., 1786. –
**) Ueber die nächste Bestimmung des Landgeistl., ein Beitr. zur Pastoraltheol.; auf Veranl. der Campeschen Fragmente, von Velthusen. Helmst., 1786. –
Ueber Absichten und Tendenz. Ein Beitrag zur Psycholog. f. aufgeklärte Leser, v. Velthusen. Helmst., 1787, 2 Bde. –
Dagegen erschien von Campe:
An meine Freunde. Wolfenb., 1787. –
Dann von einem Ungen.:
Comment über einige Stellen in Hrn. Rath Campe's Fragmenten; verbunden mit einer ausführl. Beurtheilung d. Schr. des Hrn. Abt Velthusen: über die nächste Bestimm. des Landpredigerstandes. Hbg., 1787. –
Dann gegen Campe:
Beleucht des Campeschen Fragments u. s. w., in einem Anti-Fragmente, 2. St. Freistadt, 1787. –



____
191

ein Quentchen gesunden Menschenverstandes weit über ein Pfund Gelehrsamkeit schätzt, so kann man dagegen nichts einwenden; wenn er aber den Landgeistlichen, außer von fast allem gelehrten Wissen, nicht allein vom Hebräischen und Griechischen, sondern auch vom Lateinischen dispensiren will, und ihm dafür medicinische Pfuscherei und die Beschäftigung des Landbauers und Handwerkers zumuthet: so verräth er dadurch nur seinen schwachen Begriff von der wichtigen Bestimmung eines Landgeistlichen. »Wer fühlt nicht,« sagt Schlözer, (Staatsanzeigen, H. 39, B. X., p. 16), »daß Herr Campe hier der respectablen deutschen Nation, wenigstens dem Theile derselben, für welchen er zunächst schrieb, in's Angesicht Hohn spricht? Und welcher Deutsche oder welcher Braunschweiger empfindet nicht, wie viel Mäßigung dazu gehört, um dergleichen Unhöflichkeiten bloß mit Verachtung oder mit einem mitleidigen Lächeln zu erwiedern?« –

War hier Campe auch in großem Unrechte, so tritt ihm doch wiederum Grundtvig (Weltchronik, p. 367) jedenfalls zu nahe, wenn er von ihm sagt: »obgleich sein ganzes Verdienst blos darin bestand, recht artig zu Kindern sprechen zu können, ihnen Alles einzukäuen und einzuschmieren, und die Religion ohne Bibel zu lehren.« Es ist in der Regel das Ende vom Liede, daß man Männer, welche über ihrer Zeit stehen, wenn man ihnen anders nicht beikommen kann,
____
Einige Fragen an Hrn. Rath Campe und seinen Commentator zu Beförder. der guten Sache, 1787. –
Campe’s Fragmentengeist, v. C. D. Voß. Hbg., 1787. –
Beitrag zur Erörter. der Frage: ob den verschiedenen Religionsparteien, den Religionsgesetzen nach, der öffentl. Gottesdienst verstattet werden dürfe? v. Dr. Aug. Frdr. Hurlebusch. Brschw., 1787. –
Dann eine Recens. v. Klüber in den: Zeitungen für Rechtsgelehrte, XVI. St., 15. Apl. 1788. –
Biblioth. d. neuesten jurist. Literat. für 1787, v. Aug. Frdr. Schott. Lpz., 1787. –
Schlözer's Staatsanzeigen, 39. H., X. B. –



____
192

nach dem Maßstabe der Orthodoxie, und nicht nach dem ihrer Thaten abschätzt. Wollte man Campe's Hauptverdienst eigentlich auch nur auf das eines Jugendschriftstellers beschränken, so würde dieses doch immer unbeschadet seines Werthes geschehen, wenn gleich von seiten der Kritiker noch so geringschätzend auf diesen Zweig der Literatur herabgeblickt zu werden pflegt. Nicht immer glückt es, verjährte Vorurtheile mit der Wurzel auszureuten, und bei Cultivirung eines ganzen Volkes wird es am erfolgreichsten sein, gleich mit der Jugend anzufangen, die nur, wenn das alte Geschlecht ausgestorben ist, ihre besseren Keime entfalten kann. So ließ auch Christus die Kindlein zu sich kommen, und vertrauete zunächst sein Evangelium den an Geiste Armen an. Wenn man nun vollends einen Blick auf die literarischen Bildungsmittel für die Jugend bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wirft, so stellen sich Campe's Verdienste in ein um so vortheilhafteres Licht. –



____
193

Hiermit hätten wir nun den Kreis der Männer geschlossen, welche sich um Verbreitung des bessern Geschmacks in der schönen Literatur verdient machten. Aber wie im Reiche der Natur sich alles verkettet und verzweigt, so steht auch im Reiche des Wissens keine Erscheinung isolirt da. Große Geister, welche ihr Zeitalter weiterführten, wurden selbst doch nur von ihrer Zeit an's Licht gerufen. Ein Gährungsproces in einem Theile des Wissens pflegt aus der tieferliegenden Quelle eines allgemeinen Gährungsprocesses hervorzugehen, oder von seinem örtlichen Ursprunge auf das Allgemeine zurückzuwirken. So war es auch in der von uns berührten Epoche in Braunschweig. Nach allen Richtungen des geistigen Lebens zeigte sich eine erhöhete Thätigkeit, und auf allen Gebieten des Wissens, wie auch auf denen, der schönen Künste treffen wir auf eine Auswahl rühmlichst bekannter Namen *).
____
*) Unter den Theologen:

Joh. Christoph Köcher; G. Frdr. Dinglinger; Joh. Christoph Harenberg; Eliesar Gottlieb Küster; Frdr. Wilh. Richter; Ferdin. Carl Aug. Henke; Joh. Wilh. Wolfg. Breithaupt; Joh. Ludw. Paulmann; Jac. Chr. Weland; Joh. Wilh. Gottlieb Wolf; Rautenberg; Aug. Chr. Bartels; Jac. Frdr. Feddersen; Joh. Carl Frdr. Witting; Joh. Wilh. Heinr. Ziegenbein; Joh. Frdr. Petri; –

unter den Juristen, Rechtshistorikern und Publicisten:

Geo. Heinr. Zincke; Jul. Geo. Phil. du Roi; Joh. Ludw. Jul. Dedekind; Joh. Frdr. Tünzel; Carl Frdr. v. Strombeck; Joh. Paul Mahner; Pet. Jos. Neyron; Gottfr. Leonh. Baudiß; Benj. Constant de Rebecque; –



____
194

Und dabei brauchen wir nicht einmal die im ganzen Lande vertheilten, besonders aber die in Helmstedt und Wolfenbüttel
____

unter den Forschern classischer und neuerer Sprachen:

Elias Kasp. Reichard; Joh. Franz Wagner; Mart. Frdr. Sörgel; Wäterling; Heinr. Herm. Flügge; J. G. Buhle; Joh. Nicol. Ludw. Hörstel; Conr. Heusinger; Carl Frdr. Arend Scheller; Carl Frz. Chr. Wagner; Joh. Ferd. Frdr. Emperius; Frz. Ludw. Carl Boutmy; Domin. Gattinara; Jul. Rob. San-Severino; di San Martino; Joh. Geo. Kleine; Eleaz. Mauvillon; –

unter den Pädagogen, Philosophen, Aesthetikern und Literaturhistorikern:

Joh. Andr-Fabricius; Geo. Heinr. Aug. Koch; With Hundeiker; F. A. Juncker; Joh. Geo. Linse; Joh. Christoph Frdr. Heise; Joh. Frdr. Gräfe; Joh. Christ. Dan. Curio; Joh. Wilh. Jelpke, E. G. v. Feldtenstein; Conr. Frdr. v. Schmidt-Phiseldeck; Aug. With. Baders; Joh. Heinr. Brumleu; F. L. G. Drude;

unter den Historikern:

P. J. Rehtmeier; Christoph v. Schmidt-Phisedeck; Joh. Chr. Frdr. Heise; Ferd. Kunz; Chr. Dan. Voß; Jul. Aug. Remer; Joh. Frdr. Camerer; Ant. Ulr. v. Erath; Heinr. Andr. Koch; Geo. Septim. Andr. v. Praun; –

unter den Naturhistorikern, Mathematikern und Lehrern der Kriegswissenschaften:

Joh. Ludw. Oeder; A. W. Knoch; J. H. G. Fricke; Eberh. Aug. Wilh. v. Zimmermann; Gravenhorst; Graf v. Sierstorpff; Lor. Flor. Frdr. v. Grell; Leop. Theod. Zincken-Sommer; Joh. Chr. Ludw. Hellwig; Aug. Heinr. Christ. Gelpke; Dav. Andr. Schneller; Joh. Geo. Jul. Venturini; –

unter den Medicinern:

Joh. Christoph Sommer; Joh. Aug. Bütefisch; Chr. Aug. Buhle; Aug. Winkelmann; Joh. Steph. Hausmann; Joh. Bernh. Martini; Joh. Frdr. Pott; Urb. Frdr. Bened. Brückmann; Chr. Jerem. Rollin; L. C. Seger; Th. Aug. Roose; Geo. Frdr. Hildebrandt; Schmidt; Carl Gust. Himly; J. D. Brandis; Schönijahn; Roose; Wiedemann;

unter den Musikern

Frdr. Gottlob Fleischer; Fiorillo d. Vater; C. A. Pesch (dessen Schüler Spohr ist); Mocourt; Ferd. Fischer; Carl Lemme; Joh. Schwanberger; Joh.-Matth. Wiedebein; Matern; Joh. Phil. Schönfeld, und Joh. Joach. Christoph Bode (bis 1752 braunschw. Hautboist, später darmst. Geh. Rath); –

unter den Malern:

Ant. Frdr. Harms; Busch; Amandus; Schwarz: Gotthilf Frdr Hensch;



___
195

ansässigen Gelehrten, welche bei dem geringen Umfange des Ländchens mit der glänzenden Residenz leicht in Verbindung treten konnten; auch nicht die vielen großen Männer, welche ins Ausland gingen, und von denen sich einige europäischen Ruf erwarben; noch die vielen Fremden in Anschlag zu bringen, welche durch den Ruf der Guelphenstadt angelockt, längere Zeit in ihr sich niederließen; und wir müssen doch erstaunen über die Regsamkeit der vorliegenden Epoche, welche groß in ihrer Verzweigung, von unberechenbarem Segen in ihrem Erfolge, und leider vielleicht als unwiederbringlich entschwunden in Braunschweigs Annalen verzeichnet steht!
____
Joh. Heinr. Schröder; Joh. Conr. Eichler; Jos. Eichler; Hartmann; Joh. Dominic. Fiorillo, d. Sohn; de Gasc; Rosine de Gasc, verw. Matthieu, geb. Lisiewska; Phi. Wilh. Oeding; Pascha Joh. Frdr. Weitsch; Frdr. Weitsch; –

unter den Kupferstechern:

Ant. Aug. Beck; Carl schröder; Sommerau; Hans Zehntner; –

unter den Medailleuren:

Christ. Frdr. Krull; Merker; –

unter den Architekten:

Albr. Heinr. Carl Conradi: Horn; Gebhardi; Fleischer; Lagwagen; Korf. –

____


____


____

Dritter Abschnitt.

Schlußbemerkungen, für den Erweis: daß die Literaturepoche Braunschweigs von 1745 bis 1800 das Morgenroth der deutschen schönen Literatur sei.

____

Man könnte wohl mit Recht auch den Beweis dafür erwarten, daß die von uns berührte Epoche wirklich den Impuls zur Regeneration der gesammten deutschen Literatur gegeben habe. Mit Freuden darf ich mich zu einem solchen Beweise verstehen, da ich glaube, ihn größtenteils schon geliefert zu haben. Blickten wir doch gleich im Eingange auf das wüste Literaturfeld, welches vor dem hier in Frage stehenden Abschnitte lag und sahen wir doch auch in Braunschweig jene strebenden Geister sich vereinen um dieses öde Gebiet der schönen Literatur anzubauen, und an der Grundlegung einer neuen Kunsthalle thätigst mitzuwirken. Sind aber nicht an dere Städte, möchte hier dieser oder jener einwenden, durch das Zusammenleben vieler großer Geister eben so, wenn nicht noch in höherem Grade bedeutsam für die Literatur geworden? Man darf wohl unbedenklich nein sagen!

Allerdings war über Hamburg *) in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ein gewisser literarischer Glanz verbreitet. Lebten doch hierein Barthold Heinrich Brockes und Friedrich von Hagedorn; ein Michael Richey; der Epigrammatiker Christian Wernike, der Hymnolog Neumeister; der als Tragiker bekannte Kaufmann Georg Behrmann; der Satiriker und Lyriker J. M, Dreyer; der Operndichter Hudemann auf wenige Jahre auch der Satiriker
____
*) s. Historische Studien von Schmidt von Lübeck. Altona 1827.



____
200

Christ. Ludw. Liscow, nebst seinem Bruder Joh. Friedrich Liscow die Redaction der »hamburger Anzeigen« leitend; ganz am Ende dieser Epoche auf ganz kurze Zeit auch J. G. Hamann, mit der Redaction der Zeitschrift „Malcone« beschäftigt; denen sich ein Wichmann, Herausgeber der Poesieen der Niedersachsen (1721–38); Wilkens; Hoffmann, (der mit Richey und Wichmann den »hamb. Patrioten besorgte); Kohl (Herausgeber der hamb. Gelehrten-Berichte); Jac. Fr. Lamprecht (Herausgeber der Zeitschrift »der Menschenfreund«); Zinck, (Redacteur des »Bewunderers«); Ziegra, (der die Schwarzen-Blätter herausgab); Käuflin (der sogar eine lateinische Zeitung edirte) und Andere anreiheten. Aber wo zeigt sich nur in dieser, allerdings erfreulichen literarischen Erscheinung Bewegung? wo ein gemeinschaftliches Streben nach einem festen Ziele? wo bewährt sich unter allen diesen mehr oder minderfähigen Köpfen ein einziger energisch genug, neue Bahnen anzuweisen und zu ebnen? Es regte sich hier der Geist; aber er kam nicht zu förmlichem Erwachen, um ein Schöpfungswerk mit Selbstbewustsein zu üben. –

Wenn daher überhaupt irgend eine Stadt nähere Ansprüche zu machen hätte, so würde es ohne Frage zunächst Leipzig sein. Hier regte sich ja in den »bremer Beiträgen« der erste Pulsschlag des erwachenden Lebens, und hier vereinigten sich ja auch alle die strebenden Geister zu dem brüderlichen Wettlaufe nach dem hohen Ziele. Allein übersehen darf hiebei nicht werden, daß wie es anderer Orten geschah, so auch in Leipzig die Kräfte sich gar bald vereinzelten und zersplitterten, ohne einen fest zusammenhaltenden kritischen Mittelpunkt. Dieser Anhaltspunkt war aber für den leipziger Kreis der Kritiker κατ εξοχην Gärtner gewesen, dem auch, wie schon bemerkt, die Redaction jener »Beiträge



____
201

oblag. Allein dieser vertauschte unmittelbar nach dem Erscheinen jener Zeitschrift den leipziger Aufenthalt mit dem braunschweiger, und somit hörte denn auch das leipziger Literaturleben auf, gerade weil es ein mehr zufälliges gewesen, und zumal auch Gärtner nicht der einzige von dort Scheidende war. *). Allein die neue Richtung wurde verfolgt, und zwar jetzt von Braunschweig aus, wo Gärtner die früher von ihm geprüften Kräfte zusammenhielt, und in den Jahren 1748 bis 1752 die bekannte »Sammlung von vermischten Schriften von den Verfassern der bremer Beiträge edirte. Somit hatte sich denn der zufällige leipziger zu dem braunschweiger Verein consolidirt. Für die ganze deutsche Literatur war es aber von eben so günstigem Erfolge, wie für Gärtner selbst, der noch fast gleichzeitig mit den »bremer Beiträgen« bei literarischen Unternehmungen mit Gottsched in Berührung gestanden hatte, das Gärtner überhaupt Leipzig verließ, um nicht allein dem Argusblicke, sondern auch jeder, unter der Maske der Freundschaft versteckten, hemmenden Einwirkung des Allgefürchteten zu entgehen. Ja, ich möchte sogar auch behaupten, daß diese Entfernung von Leipzig selbst in Rücksicht auf Gellert vortheilhaft war, weil dieser, durch seine hochachtbare Persönlichkeit, allgewaltig dominirende Mann, der freilich unserm Gärtner und seinen Genossen freundschaftlich verbunden, und von Allen hochverehrt war, doch mit der zahmen Nüchternheit seiner moralischen Scrupel den aufstrebenden Genius stets gelähmt haben würde. So zog auch von Gärtners leipziger Entfernung unverkennbar die deutsche Bühne ihren Gewinn. Zwar hatten Herr Professor Gottsched mit Madame Neuber zu
____


*) El. Schlegel, Cramer und Clopstock waren in Kopenhagen; Ebert, Schmid, Zachariä in Braunschweig; Giseke und Ad. Schlegel im Hannöverschen, u. s. w.



____
202

Leipzig Deutschlands dramatische Muse erzeugt; allein das arme Musenkind hätte unter dem Drucke ihres pedantischen und seichten Papas gar leicht verkümmern können, wäre sie nicht noch bei Zeiten seinem Einflusse entzogen, und in bessere Bildungsschulen, z. B. in die Braunschweigs, eingeführt worden, aus welcher sie eigentlich hervorgegangen war, indem, wie Gervinus bemerkt, sich Madame Neuber nur auf Veranlassung des Herzogs Ludwig Rudolph der Verbesserung des deutschen Theaters zugewandt hatte. In Braunschweig wurde aber jetzt der hülfsbedürftigen dramatischen Muse die Gunst des kunstliebenden Herzogs Carl, des Nachfolgers von Ludwig Rudolph, zu Theil, und noch obenein die Pflege treuer Lehrer, von Gärtner's Eschenburg's, Lessings und Leisewitz Schlage.

Was vom berliner Kreise gesagt werden muß, findet seine Anwendung auf fast alle derzeitigen Vereine der preuß. Monarchie. Deutschlands Musensöhne hatten einen Stiefvater am preußischen Landesherrn. Lessing der sich Berlin zum Aufenthaltsorte erkor, machte darum bald, daß er wieder fortkam; Winckelmann wanderte aus; Herdern ließ man nur ziehen, nachdem er zuvor das eidliche Versprechen gegeben hatte, sich auf Verlangen als Militairpflichtiger zu stellen; Hamann verkümmerte, und Kant wurde verketzert. Um so weniger aber konnten die guten Berliner selbst aufkommen, weil sie den verachtenden Seitenblicken ihres Landesvaters gar zu unmittelbar ausgesetzt waren. Aber dennoch hatte dieses Verhältnis etwas sehr Heilsames; denn ohne diese zurückweisende Kälte würde sich der preußische Stockpatriotismus, wie ihm ein Ramler, Gleim und Consorten ohnehin schon craß genug aussprachen, bis zur Unerträglichkeit geberdet haben, und auch nie der Wetteifer zwischen deutscher und französischer Literatur entstanden sein. Wirkte nun Friedrich II.



____
203

zur Hebung der Nationalliteratur unmittelbar noch so wenig, so that er mittelbar um so mehr. Er selbst nämlich freilich auch erst selbst durch seine Zeit zu dem gemacht, was er war, drückte dieser doch wiederum sein eigenes, sehr entschiedenes Gepräge auf. Er, der allen Satzungen verjährter Vorurtheile Hohn sprach, der auf eigene Kraft vertrauend, einer Heerschaar von Feinden muthig die Stirn bot, hielt seiner Nation den Spiegel seiner großen Thaten vor, und befeuerte die deutschen Geister durch seinen Heldengeist. so wurde aber unsere Literatur zum Glück keine preußische, sondern eine deutsche, und noch dazu, so verachtet sie auch früher dagestanden hatte, eine Großmacht unter den Nationalliteraturen, ganz so wie Friedrich den schon wankenden Sitz seiner Herrschaft zu einer europäischen Großmacht erhob und was Friedrich als König und Feldherr wurde, das wurde Lessing als König und Heerführer der Geister und aus unserm Gesichtspunkte am augenscheinlichsten durch seine »Minna von Barnhelm.« –

Halberstadt wurde, der rastlosen Bemühungen Gleim's ungeachtet, doch nie zu etwas Größerem gemacht, als zu einem gelegenen Plätzchen für ein Rendezvous. Eine Provinzialstadt von der Unbedeutenheit konnte, bei der gänzlich mangelnden Unterstützung von oben, nie ein Centralpunkt des deutschen Culturumschwunges werden. Am allerwenigsten aber, da es an diesen Orte an kritischer Sichtung fehlte. Gleim, der höchst edlen Weise jedes darbende Talent nach Kräften unterstützte, und jedes auftauchende mit ungemessenem Lobe aufmunterte, besaß nur die für Mäcenaten unerläßliche Gabe eines höheren Ueberblickes nicht. Darum hielt er es denn mit Allen, nicht weil er jedes Talent nach seinem Werthe geschätzt hätte, sondern weil er von der eitlen Caprice besessen war, mit allen großen Geistern Gemeinschaft haben zu



____
204

wollen. So würgte denn er, der sehr wenig Geschmack hatte, auch alles hinunter, was ihm aufgetischt wurde, und so wurde denn wieder in dem kindlichen Wahne, das alles Gereimte auch ein Geschenk der Musen sei, wieder munter und ungenirt alles von sich gegeben, was nur in den Mund kommen wollte. Aus diesem Grunde gerieth denn auch der halberstädter Kreis sehr bald in Mißcredit, und ich möchte keinesweges mit Gervinus *) behaupten, daß die in Braunschweig Zerstreuten eine Art Mittelpunkt in Gleim gehabt hätten. Der braunschweiger Kreis bildete sich ja ohnehin weit früher zu einer gewissen Selbstständigkeit aus, als der halberstädter, der zu keiner Zeit großen Bestand hatte, und dessen bessere Genossen nicht in Halberstadt Ansässige, sondern nur besuchsweise in Gleim's Hüttchen Einkehrende waren. Fehlte diesem Kreise nun noch obenein alle Färbung, so hat er doch wenigstens das Verdienst, angeregt durch Gleim, der in heiteren Liedern das Glück der Vaterlandsliebe, Freundschaft und Weisheit des Genusses lehrte, das eigentliche Lied gefördert zu haben, welches sich später durch Goethe einer besonderen Pflege zu erfreuen hatte. Man kann es nur beklagen, daß wegen der abgeschmackten, und für Männer widrigen Liebes- und Lobesberäucherung und Freundschaftssüßthuerei, welche Gleim einführte, die halberstädter Productionen einen fatalen Beigeschmack bekamen.
In gleichen Mißcredit gerieth auch der literarische Verband, welcher sich zu Münster um die Fürstin Gallitzin **)
____
*) s. Gervinus I. p. 151.
**) s. Gelzers deutsche poetische Lit. seit Klopstock und Lessing nach ihren ethischen und relig. Gesichtspkten. 1841. S. 137 ff.
s. - Die Fürstin Gallizin und ihre Freunde, v. Levin Schükking; (in rhein. Jahrb. für Kunst und Poesie 1840).
s. Biographie der Fürstin Gallitzin von Katerkamp.



____
205

bildete. Obgleich hier sehr originelle Köpfe zusammentrafen, so war doch von ihnen für das Heil der Menschheit wenig Erkleckliches zu erzielen, weil sie ihre Kräfte in Betretung mystischer Abwege verschwendeten.

An Wien, dessen Literaturleben sich freilich erst in den sechziger Jahren, unter van Swieten entwickelte, kann man ohne ein gewisses Mitleid gar nicht denken; denn war sein Boden an und für sich schon undankbar für die Cultur, so wurde er von der Unzahl mittelmäßiger Scribenten, welche das Volk nicht heranbildeten, sondern zu sich hinabzogen, förmlich verheert. Die wenigen besseren Köpfe konnten solch einer Flut von Wässerigkeit keinen Damm entgegensetzen, und so ohne Anhaltpunkt, da Riedel, wie man dies hätte voraussehen müssen, alle Erwartungen täuschte, wurde denn die wiener Literatur sehr bald wieder unter brünstigen Gebeten der Jesuiten und unter dem Gelächter des Pöbels zu Grabe getragen.

Auch fand man in Kopenhagen, Erfurt, Gotha, Frankfurt, Königsberg, Dessau und an anderen Orten literarischer Celebritäten die Fülle, oder man berief sie; allein abgesehen davon, daß sich das Literaturleben aller dieser Städte erst nach dem leipziger und braunschweiger entwickelte, so standen dort theils die Literaten zu vereinzelt und ohne Unterstützung für weitangelegte Plane; theils gebrach es jenen Sammelplätzen an einem energisch anregenden Geiste, der das jugendliche Feuer so vieler Kräfte auf einen Brennpunkt concentrirt hätte.

Vor allen anderen derartigen Orten zeigten sich in Darmstadt treffliche Keime, die bei günstigeren Constellationen leicht zu glänzendem Ertrage hätten führen können. Hier waltete nämlich in stiller Sinnigkeit die edle Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt, über die sich der Herausgeber



____
206

des Merkschen Briefwechsel äußert: »die große Ländgräfin v. H. D., dieselbe, von der Wieland (in Jacobi's Briefen I. p. 32) sagt, sie sollte Königin von Europa sein, wenn er einen Augenblick König der Schicksale wäre, und welcher Frdr. d. Gr. eine weiße Marmorurne mit der Inschrift aufs Grab setzte: sexu femina, ingenio vir; diese erhabene Pflegerin vaterländischer Dichtkunst veranstaltete die erste Ausgabe von Klopstock‘s Oden und Elegieen, (vier und dreißig Mal gedruckt. Darmst. 1771.) für den engeren Kreis ihrer für den Dichter begeisterten Freunde, zu denen auch Herder und Goethe gehörten.« *) Leider aber wurde diese ausgezeichnete Frau schon im J. 1774 vom Schauplatze ihres segenvollen Wirkens abgerufen, und hiedurch ihr großartiger Plan in Betreff der deutschen Literatur in der Anlage zerstört. Joh. Heinr. Merck, (geb. 1741) der alle Eigenschaften eines kräftigen Heerführers für geistige Bewegungen in sich vereinigte, und der, wenn sich das Morgenroth der Literatur in Braunschweig auch schon längst entfaltet hatte, doch mit höherer Unterstützung leicht Darmstadt zu dem hätte machen können, was Weimar wurde, und was auch Herder unter einem Karl Friedrich von Baden in Karlsruhe intendirte, sah doch für größere Unternehmungen allzu wenige Kräfte zu seiner Verfügung gestellt. Der Präsident Fr. Carl von Moser (geb. 1723, starb 1798), der wenig selbstständig, im Zauberkreise Klopstockscher Freiheitsideen und hymnologischer Andacht festgebannt war; Georg Schlosser (geb. 1739, starb 1799), der bei Redaction der frankfurter Anzeigen zwar die besten Absichten hatte; Höpfner, Wenck und Petersen waren nicht die Leute danach, um mit ihnen großartige Reformen durchzuführen.  
____
*) J. H. Merck‘s Briefwechsel, herausg. v. Carl Wagner 1835. p. 21



____
207

Deshalb wandte sich Merck, dessen kritischer Stachel bei persönlicher Berührung ohnehin viel Verletzendes hatte, wie es sein persönliches Verhältnis selbst mit Goethe darthut, mit seinem Einfluße nach außen, und zwar nach Weimar hin, wo er allen den erleuchteten Genien als kritischer Centralpunkt galt, und wo auch die eigentlichen Grundfesten seiner Wirksamkeit zu suchen sind. Es ist unendlich zu beklagen, daß diesem Geiste männlichster Energie, der in der wohlwollendsten Absicht oft den Verneinenden spielte, und der sich häufig das Vergnügen machte, durch den Hohlspiegel seiner Reflexion die ganze Welt auf den Kopf zu stellen, nicht ein unmittelbarerer Wirkungskreis angewiesen war. Aus diesem Grunde verfiel er denn auch in späteren Lebensjahren einer tiefen Schwermuth anheim, weil er der Entfernung wegen selbst seine weimarschen Beziehungen noch für viel zu wenig resultirend ansehen mochte, und deshalb seinen ganzen Lebenszweck für verfehlt betrachtete.

In der Schweiz waren allerdings viele strebsame Köpfe vereinigt. *). Aber abgesehen von der sehr mängelhaften Unterlage der Volksbildung, und auch abgesehen von der isolirten Stellung der dortigen Literaten, die nicht gestattete, auf die Masse des Volkes, namentlich auf die Jugend zu wirken, so war auch das literarische Treiben der Schweizer nicht etwa ein Erwachen nach naturgemäßem Lebensprocesse, sondern ein unruhiges Erwachen nach einem dumpfen Geistesschlafe. Es gebrach der Mehrzahl jener Schweizer an Originalität der Productionskraft; weshalb ihre Anregung nur
____
*) z. B: Bodmer, Breitinger, Pfenninger, Iselin, Schultheß, Tscharner, J. G. Heß, Künzli, Jac. Fr. Schmidt, Lavater, Füßli, Geßner, Hottinger; selbst des geistreichen Taugenichts Vaser nicht zu geschweigen; auch ein L. Meister, Müller, Bonstetten, Pestalozzi, Wyß, Usteri, H. E. Hirzel, Heidegger, Bondeli, u. s. w.



____
208

eine vorübergehende, und ihr Erfolg ein nur geringer war, umso mehr, da Bodmer und Genossen in ihrem, mit egoistischer Leidenschaft auf die Spitze gestellten Kriticismus bald auf bedenkliche Abwege geriethen. Aber sie würden dahin auch ohnedies gekommen sein, weil Bodmer, von dem freilich die Kritik mit seiner moralischen Wochenschrift »Discurse der Maler« bereits 1728 angeregt wurde, den Maßstab derselben nur an fremde Leistungen anlegte, und sich selbst, dem Protector seiner Genossenschaft, schamloser Weise das fadeste Geschmiere erlaubte. Worauf es hier aber hauptsächlich ankommt, so muß man auch in Erwägung ziehen, daß die genannten Literaten der Schweiz theils im Lande zerstreuet lebten, theils sich auch erst später zu einem gemeinsamen Wirken vereinigten, und daß sich die patriotische Gesellschaft in Schinznach unter Lavater, Geßner, Zimmermann, Hans Casp. Hirzel, Zellweger und Iselin sogar erst im J. 1762 zusammenfand.

Es fragt sich nur noch, ob nicht gerade Göttingen durch seinen so berühmt gewordenen Hainbund die nächste Anwartschaft auf die Ehre besitze, das Morgenroth der Literatur hervorgerufen zu haben. Es soll hier die bis an‘s Lächerliche streifende »Teutschthümelei,« die »Klopstocks-Vergötterung« und »Wielands-Verachtung« der göttinger Dichterjünglinge nicht weiter urgirt werden; aber das möchte sich mindestens behaupten lassen, daß diesem literarischen Studentenklubb, dessen wenigste Mitglieder productives Talent, und von denen noch wenigere damals Ruf besaßen, allzuviel Wichtigkeit beigelegt worden sei. Sagt doch Prutz selbst: »Man darf sich nun aber allerdings nicht verhehlen, daß alle diese Beziehungen zum größten Theil nur äußerlich und zufällig waren und keinen rechten Kern gemeinsamer Ueberzeugung und Bestrebung in sich trugen, weshalb sie auch für die Göttinger



____
209

Verbündeten selbst keine Frucht und Bildung brachten.« *) Auch ist nicht in Abrede zu stellen, daß dieser, sonst löbliche Verein, der seine Existenz kaum zwei Jahre hindurch zu behaupten vermochte, nach der Trennung seiner Mitglieder für das Vaterland ohne Nachwirkung blieb. Vollkommen muß man daher der von Prutz gemachten Aeußerung beipflichten: »Hätten Klopstock sowohl, als die Verbündeten weniger in Abstractionen gelebt, und ein schärferes Auge für die wirklichen Verhältnisse der Welt gehabt, so hätten sie gleich anfangs sich selber sagen müssen, daß diese Trennung eintreten und bald eintreten mußte, und daß, um von allem Anderen abzusehen, schon die kurze Dauer des Studentenlebens dasselbe nicht geeignet macht, großartige Reformen der Literatur oder des Lebens aus ihm zu entwickeln.« **)

Dagegen darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Boie, der Stifter des Hainbundes, erst 1744, also in dem Jahre geboren wurde, in welchem Gärtner die »bremer Beiträge« herausgab, und daß schon fast drei Decennien früher, als jener Hainbund sich der braunschweiger Kreis gebildet hatte, und das Collegium Carolinum, welches 1745, also bald nach der göttinger Akademie ***) gegründet wurde, gerade die Lücke ausfüllte, welche Göttingens Universität, wie auch seine »deutsche Gesellschaft für Literatur und Sprache« in der schönen Literatur und namentlich in der deutschen Sprachforschung ließ. Ueberhaupt war es am braunschweiger Collegium mehr auf eine in antikem Sinne harmonische Ausbildung des ganzen Menschen abgesehen, indem neben dieser gründlicheren Pflege der neueren Sprachforschung, besonders
____
*) der göttinger Dichterbund. Zur Geschichte der deutschen Literatur von R. E. Prutz. Lpz. 1841. p 296.
**) s. Prutz ebendas. p. 333.
***) Eingeweiht am 17. Spt. 1737. -



____
210

der der Muttersprache, und der Uebung aller freien, selbst der technischen und der gymnastischen Künste, wie auch neben einer strengeren, als bisher üblichen Pflege der historischen und der Naturwissenschaften, hauptsächlich, und zwar unter ganz besonderer Aufsicht tüchtiger Hofmeister, auf die Gemüthsbildung der Zöglinge hingewirkt, und durch wahrhaft gründliche Pflege des classischen Studiums die Pedanterie der Wissenschaft in ihrer scholastischen Form bekämpft wurde. Durch diese glückliche Gelegenheit aber, Jünglinge von guter Schulbildung nach einem festen Plane für die besseren Ansichten zu gewinnen, und denselben auch, weil das Collegium eine Vermittlungsanstalt zwischen Schule und Universität war, den Plan ihrer akademischen Studien vorzeichnen zu können, wurde auch mittelbar der neuen Richtung großer Vorschub geleistet. Ja, von solch einer Wirksamkeit, die sich nicht allein durch Schrift, sondern auch durch Wort und That des ganzen Lebens im unmittelbaren Einflusse auf die Jugend manifestiren konnte, war gewiß weit mehr zu erhoffen, als von einigen Jahrgängen einer neuen Zeitschrift von zum Theil neu auftauchenden Autoren. Ein besonderer Segen für die braunschweiger Lehrer der neueren Geschmacksbildung lag auch in dem glücklichen Umstande, daß sie selbst alle in Leipzig unter dem Einflusse des, seiner hohen Lehrgabe wegen, sich einer beispiellos großen Popularität erfreuenden Gellert's gestanden hatten, und in Braunschweig Jerusalem's leuchtendes Beispiel vor Augen hatten. Dem Rufe der Humanität verdankte das Carolinum den Besuch tausender von Zöglingen aus allen Theilen Deutschlands, aus England und Frankreich. Diese aber, welche mit humaner und gründlicher deutscher Bildung in ihr Vaterland heimkehrten, bereiteten wiederum eine nähere Bekanntschaft der deutschen Literatur, und hierdurch auch die Anerkennung derselben



____
211

im Auslande vor. Dazu kam noch, daß Braunschweig von jeher den Ruf behauptet hat, nächst Celle, der Stammsitz des reinsten deutschen Dialectes zu sein, und daß daher die studirende Jugend des Auslandes sich vorzugsweise gern nach diesem Orte wandte, der auch, außer vielen Bildungsinstituten, namentlich den Söhnen höherer Stände die Annehmlichkeiten eines glänzenden und sehr zugänglichen Hofes darbot. Daß aber das Carolinum später in seiner Stellung zu Universitäten für entbehrlich erachtet werden konnte, und sich in der That auch selbst schon überlebt hatte, noch ehe der französische Usurpator diese Schule der Musen in eine Kriegsschule verwandelte, das gereicht dem Carolinum zu nichts weniger, als einem Vorwurfe; weil darin der beste Beleg dafür liegt, daß diese erste deutsche Pflanzschule der Humanität ihr Ziel erreicht habe, nämlich Humanität auf Schulen und Akademieen zu verbreiten. Für unseren Zweck, hier erscheint aber das Carolinum besonders in der Hinsicht von Wichtigkeit, weil dasselbe die Veranlassung war, daß ein prachtliebender, verschwenderisch freigebiger Fürst zunächst für dieses Institut alle jene literarischen Notabilitäten, welche den bessern Geschmack anregten, nach Braunschweig berief, und denselben in seiner äußerlich gesicherten Stellung zugleich eine planmäßigere und erfolgreichere Wirksamkeit nach außen hin sicherte, woran es gerade allen übrigen literarischen Kreisen jener Zeit, wie wir gesehen haben, mehr oder minder gebrach. Daß sich übrigens dieser Literaturzirkel Braunschweigs nicht noch zu größerem Glanze entfaltete, als dies in der That schon der Fall war, ist mindestens nicht die Schuld des Herzogs Carl und seines Nachfolgers; indem Beide fortwährend bemüht waren, Männer von Auszeichnung und Ruf ins Land zu ziehen. Dieses fand z. B. statt bei Klopstock, mit dem Jerusalem bereits 1750 wegen einer Professur am Carolinum



____
212

unterhandelte; *) mit Moses Mendelssohn; **) und selbst Winckelmann erhielt die Weisung, »daß es nur eines Briefes von seiner Seite bedürfe, um einer Anstellung nach seinen Wünschen gewiß zu sein.« – ***) .

Damit man aber nicht wähne, als ob ich das Morgenroth der schönen deutschen Literatur auf den ganzen hier beleuchteten Abschnitt von 1745 bis 1800 ausdehne, sei wenigestens im Vorbeigehen angemerkt, daß ich selbst dieses Morgenroth nur bis zum Entfalten des weimarschen goldenen Zeitalters fortgeführt wünsche; daß ich also nur die ersten dreißig Jahre nach 1745 für die Epoche des Morgenrothes in Anspruch nehme, und bei vorliegendem Zwecke gleich von vornherein auf die auch von uns besprochenen letzten fünf und zwanzig Jahre Verzicht leiste. Aber diese wurden keineswegs ohne Absicht gleich mitberührt. Gerade in dem Uebelstande nämlich, daß alle anderen literarischen Vereine aus jener Zeit nur zufällig entstanden waren und nur zu kurz fortblüheten, lag auch der Grund einer minderen Nachwirkung. In Braunschweig aber konnte in dem langen Zeitraume eines halben Jahrhunderts die Saat nicht allein zum Keinem gebracht, sondern auch bis zu ihrer Reife fortgepflegt werden.

Für dieses rege Geistestreiben nun waren aber auch alle die vielen Institute für Kunst und Wissenschaft in der Residenz selbst von großer Förderung, vor allen aber die wolfenbüttler Bibliothek. Sie hat freilich in den letzten Jahrhunderten wegen zu beschränkter Mittel nicht vermocht, mit ähnlichen Anstalten in ihrer Entwickelung gleichen Schritt zu halten;
____
*) Klopstock. Er; und über ihn, herausg. v. C. F. Cramer. Lpz, 1790, II. p. 393. – **) J. A. Ebert an Lessing; s. Lessing's sämmtl. Schrn, 1827, XXVII. p. 258.
***) Schaller, in der Zeitschrift: »der Biograph« 1808, VII. 2, p.187.



____
213

indeß blieb sie stets ein Sammelplatz der gelehrten Welt, besonders in der von uns bezeichneten Epoche, und erhielt durch ihres Bibliothekars Lessing ausgebreiteten Ruf eben so viel Anziehungskraft, als ihr die Humanität und Gelehrsamkeit Langer's, *) des Nachfolgers von Lessing und des Freundes von Goethe und Leisewitz, gewährte. Auch haben wir ja vorhin selbst gesehen, wie Schmid's Forschungseifer den, Lessing‘s zu ergiebigster Ausbeute anregte, und wie durch diesen wiederum Zachariä und Eschenburg angeregt wurden, denen sich Knittel zu Wolfenbüttel, welcher einige Bruchstücke des Ulfilas auffand, und Andere anreiheten. So diente denn auch diese Bibliothek mit ihrem großen Manuscriptenschatze sowohl für eine auf historischer Basis neuzubegründenden allgemeinen deutschen Literatur, als auch insbesondere allen den gelehrten Forschern zu Braunschweig zu einer tüchtigen Unterlage.

Es ist hier aber auch noch auf den Umstand Gewicht zu legen, daß Braunschweigs Literaten bleibend auf die deutsche Literatur eingewirkt haben. Und doch, könnte man einwenden, haben sie, Lessing allenfalls ausgenommen, nur noch ein sehr
____
*) Wie selbst ein Heyne von diesem Manne dachte, geht aus einem Briefe an ihn hervor:
»Was für ein Schächer ist unser einer gegen sie, als Bibliothekar, der die Bibliographie im Kopfe haben sollte! Eine solche Recension (Annales de l'imprimerie des Aldes, in den götting. gel. Anz. 1804, N. 8 u. 12) brächte ich Zeitlebens nicht zuwege, als die vom Renouard.« - Und der gelehrte Fr. Ad. Ebert fügt die Bemerkung hinzu: »Es ist nicht blos Pietät gegen den ehemaligen Amtsvorfahren, welche den Herausgeber mit voller Ueberzeugung dieses Lob unterschreiben läßt. Was Wolfenbüttel an seinem trefflichen Langer hatte, wird das zweite Stück dieser Ueberlieferungen schildern. Sein unmittelbarer Nachfolger gewesen zu sein, wird mir immer eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens bleiben.« (S. Ueberlieferungen von Fr. Ad. Ebert. Dresden, 1826, I. p. 24.)
Vergl. auch Goethe: Aus meinem Leben, sämtl. Wke., 1829, XXV p. 187 bis 191 u. 304 – und: C. F. v. Strombeck: Darstell. aus meinem Leben und aus meiner Zeit, I. p. 146 bis 148. –



____
214

geringes Publikum, und waren zum Theil auch nur Nachahmer und Uebersetzer. Allerdings; aber abgesehen davon, daß ihre Werke zu den besten ihrer Zeit gehörten, so haben sie auch das sehr günstige Resultat einer neuen Literaturgestaltung für sich. »Eine Nation muß zuvörderst Autoren besitzen, deren Gehalt (etwas anderes, als Inhalt, Stoff, Gegenstand) einen Verein von allen menschlichen, geistigen Kräften in einem hohen Grade, und denselben ausgesprochen in einer schönen und correkten Form darbietet; zweitens aber dieselben nicht als Einzelnheiten, sondern als einen Cyclus von Autoren in aller menschlicher Wissenschaft und Kunst darzeigen können.« *) Der braunschweiger Kreis hat doch wohl vorzugsweise vor allen anderen literarischen, derzeitigen Verbanden stets dahin gestrebt, daß solchen Anforderungen genügt werde. Haben wir uns doch schon oben bei den einzelnen biographischen Abrissen der braunschweiger Literaten von deren Verdiensten um Erweckung des nationalen, literarhistorischen Studiums, um Hinweisung auf die Vorbilder des Auslandes, um Läuterung der Principien und um Bezeichnung einer besseren Geschmacksrichtung, von ihrem rastlosen Bemühen um Aufstellung neuer selbstständiger, nationaler Muster in allen Dichtungsarten, und von der ganzen Vielseitigkeit und Tiefe ihres Strebens überzeugt.

Was den Vorwurf der Nachahmung betrifft, hat in gewissem Sinne seine Richtigkeit. Die meisten der damaligen sogenannten schönen Geister waren nur Copisten und Nachahmer der Ausländer. Aber sie hatten auch keine nationalen Vorbilder. Was ist denn neu in der Kunst und Wissenschaft? Welcher Meister hat nicht seine Vorgänger und Vorbilder gehabt? Und könnte sich denn selbst der Autodidakt den Einflüssen
____
*) Memoiren des Freih. von S-a. Prag und Lpz., 1815, I. p. 33.



____
215

seiner Zeit und Umgebung entziehen? In den zeichnenden Künsten galt damals ein guter Copist für einen guten Künstler. Und mit Recht; denn durch Nachahmung schöner Vorbilder war der Weg gebahnt zur Nachahmung der schönen Natur. So war es auch in der schönen Literatur. Wer möchte Goethen den Ruhm eines Originalgeistes absprechen? Und doch, läßt sich wohl in seinem »Berlichingen« der Ein flus shakespeare's verkennen; in seiner »stella«, in seinem »Clavigo der Einfluß des Lessing'schen Dialoges; und in seiner »Iphigenia« der, der griechischen Muster? Zu der Höhe der Originalität gelangt man nur stufenweise auf steilen und mühevollen Sprossen. Thöricht würde es daher auch sein, das Verdienst der Braunschweiger um Nachbildung und Uebersetzung ausländischer Werke schmälern zu wollen. Unsere Literatur war arm; dem Volke war das Original der Ausländer unzugänglich; die wenigen vorhandenen Uebersetzungen aber zeugten von höchster Geschmacklosigkeit. Wie verdienstlich war daher die Erweiterung des Gesichtskreises durch Uebertragung fremder Werke! Welch einen Gewinn an Wörtern und Wortbildungen, an Feinheit und Eigenthümlichkeit der Wendungen, an Gefälligkeit, Kraft und Hoheit des Ausdruckes zog nicht allein unsere Sprache daraus, besonders seit der Zeit, als man anfing, treu rhythmisch und dem Genius des Originals angemessen nachzubilden! Höchst ungerecht aber würde es sein, Uebersetzungen damaliger und unserer Zeit nach einem und demselben Maßstabe messen zu wollen. Eine gute Uebersetzung jener Zeit mußte fast einem guten Originalwerke gleichgeschätzt werden; indessen heut zu Tage, bei dem Reichthume der deutschen Literatur, aus der Uebersetzungswuth unserer Scribenten sehr wenig Segen erwächst. Jene Uebersetzer mußten sich die Sprache bilden, die Principien feststellen, sich bei den dürftigsten Hülfsmitteln zur Erlernung fremder Sprachen, bei



____
216

schlechter Lehrmethode mit angestrengtestem Fleiße selber zum Verständnis durcharbeiten; während jetzt, zumal bei der erleichterten Verbindung mit fremden Ländern, das Uebersetzen zu einer fabrikmäßigen Speculation unproductiver Geister herabgewürdigt ist.

Wir haben hier aber jetzt noch einen ganz anderen Gesichtspunkt der Beurtheilung für den Uebersetzungseifer der braunschweiger Literaten zu nehmen. Lag doch die ganze damalige Zeit krank danieder an dem Nachäffungsfieber des französischen Rococo-Ungeschmacks! Wie Frankreichs Einfluß auf politische und gesellige Zustände; so wirkte er auch auf literarische. Wahrheit und Natur hatten diesem Einfluße keinenfalls den Weg gebahnt; wohl aber der imponirende Reiz der Aeußerlichkeit und der frappirende Theatercoup einer sich oft schamlos spreizenden Dreistigkeit. Kleinlaut hinkte daher Deutschlands Genius hinter den fränkischen Laffen her. Da wiesen ein Gärtner, ein Lessing, Zachariä, Ebert, Mauvillon, Eschenburg auf die spanische, italienische, vorzüglich aber, nach Bodmer's Vorgange, (der nur selbst zu wenig den brittischen Geist zu fassen vermochte, wie dies seine 1732 erschienene Uebersetzung des Milton beweist,) auf die englische Literatur hin. So wurde Shakespeare bekannt, und zwar hauptsächlich durch Lessing‘s und Eschen burg's Vermittlung. Mit der Einführung des Shakespeare, dem Lessing's »Dramaturgie« den Weg bahnte, und zu dessen Verständnisse Goethe mit seinem Shakespeareschen Nachbilde, dem »Götz«, wesentlich beitrug, war denn mit einem Male die ganze Despotie des französischen Geschmackes, oder vielmehr Ungeschmackes vernichtet. Zerrissen war das Schema dieses steifen Formalismus; verhöhnt diese Prüderie der Unnatur; ersetzt diese verzuckerten Theaterpuppen durch markige Gestalten von Fleisch und Blut. Vor



____
217

allen Dingen wurde auch der Geist einschläfernder Nüchternheit und schön ausstaffirter Gemeinheit ausgetrieben durch den Geist einer natürlichen, kräftigen Gesinnung. Mit dem französischen Esprit wurde aber auch zugleich der böse Geist Gottsched's ausgetrieben. Wahrlich, hat jemals die deutsche Literatur eine wesentliche Umgestaltung erlitten, so geschah es durch die Bekanntschaft mit Shakespeare. Daß später fade Enthusiasten in der Schätzung Shakespeare's zu weit gingen, ist natürlich nicht die Schuld seiner Vertreter und Uebersetzer. Haben wir uns also schon oben überzeugt, daß die Pflege der bis dahin in Deutschland fast gänzlich unbekannten englischen Literatur planmäßig vom braunschweiger Kreise gefördert wurde, so werden wir auch hier nicht anstehen, dieses vom günstigsten Erfolge gekrönte Bemühen nach seinem ganzen Werthe anzuerkennen.

Fassen wir den Entwickelungsgang unserer Nationalliteratur in seinem Zusammenhange auf, so finden wir auch den ersten Impuls des weimarschen Literaturaufschwunges von Braunschweig ausgehend. Amalia von Weimar war Herzog Carl's von Braunschweig Tochter, und Jerusalem's Schülerin. Ihre Geburt fiel nur wenige Jahre vor Gründung des Carolinums. Amalie sah diese Anstalt in vollster Blüthe, ehe sie nach Weimar ging; sie hatte auch den Unterricht der vorzüglichsten Lehrer dieser Anstalt genossen, und sich des Umganges der geistreichsten Männer in ihrer Heimath zu erfreuen gehabt. Sehr natürlich war, daß sie diesem Bedürfnisse nach geistiger Unterhaltung in Weimar durch die Berufung Wieland's Befriedigung werden ließ. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Wieland erst 1772, Knebel 1774, Goethe erst 1775 und Herder 1776 ihren neuen Wirkungskreis antraten, als die braunschweig'schen Literaturzustände sich bereits seit mehren Decennien des anerkanntesten



____
218

Gedeihens zu erfreuen gehabt hatten. Und wie Friedrich Schiller mit seinem dramatischen Erstlinge, den »Räubern,« und wie auch Immanuel Kant mit seiner "Kritik der reinen Vernunft« erst in demselben Jahre in die Welt eintraten, in welchem Lessing sein ruhmvolles Tagewerk beschloß: so florirte auch bereits das Carolinum, ehe überhaupt nur einmal Lessing mit seinen ersten poetischen Versuchen in den »Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths hervortrat.«  

Im Vorbeigehen wenigstens dürfte auch wohl noch auf die Bedeutsamkeit des braunschweiger Kreises wegen seiner vielfachen persönlichen Beziehungen zu auswärtigen literarischen Notabilitäten, wegen seiner Berührungen mit anderen Literaturvereinen und wegen seiner Einwirkung auf dieselben gedacht werden. Gehörte doch zunächst jenem von Gärtner zur Veredelung der Nationalliteratur zu Leipzig gestifteten Sängerbunde auch Klopstock an, der mit seinem Messias erst durch die von Gärtner redigirten »bremer Beiträge« in die deutsche Literatur eingeführt wurde, der Zeit seines Lebens im Streben nach einem gemeinschaftlichen Ziele mit seinen braunschweiger Freunden verbrüdert blieb; der durch seine imponirende Stellung sich gleichen Einfluß auf die Schweizer, Kopenhagener, Halberstädter, Berliner und Wiener verschafft hatte, und aus dessen hochherzigen, vaterländischen Gesinnungen sich später die Grundlage des göttinger Hainbundes bildete, woran Leisewitz Theil hatte. Und wie Boie, der Stifter des göttinger Vereines, noch vor Herausgabe des ersten göttinger Musenalmanachs, welcher 1770 erschien, schon in den Jahren 1766 bis 1771 mit Eschenburg, Ebeling und Engel zur Redaction der »hamb. Unterhaltungen vereinigt; wie Ebert, Giseke's Busenfreund, vom göttinger Kreise hochverehrt, namentlich verbunden war mit Boie, dem jüngeren Cramer, Voß, Knebel und Anderen; wie er durch Hagedorn, Klopstock



____
219

und Cramer zu dem Norden; wie er auch mit Zachariä und Maupillon zum halberstädter Kreise in naher Be ziehung stand; wie der Letztgenannte wieder vorzüglich die im Harze Zerstreueten in diese Sphäre zog; wie Gotter, der in Thüringen einen gewissen Anhaltspunkt bildete, und der mit den Göttingern verbunden war, freundschaftliche Berührung mit Jerusalem, Lessing, Gärtner, Ebert und Zachariä hatte; wie Gärtner, der Schwager Giseke's und Joh. Chr. Rost's, der Freund Dan, Schiebeler's, den leipziger; wie Zachariä durch seine Freunde Eberhard von Gemmingen und J. L. Huber den schwäbischen; wie Lessing *) den berliner, hamburger, halberstädter und weimaraner Kreis; Leisewitz den göttinger, berliner und weimaraner mit dem braunschweiger vermittelten; wie Stuve und Pockels, vorzüglich aber Campe in dem engsten Verhältnisse zu der ganzen neueren Schule der Pädagogen standen: so zeigte sich dieser Literaturverband nach allen Richtungen hin verzweigt, und ließe sich darin noch mehrfach weiter verfolgen.
____
*) Nur beispielshalber sei hier einiger von Lessing’s persönlichen Verbindungen gedacht:
Rabener, Gellert, Kästner, Seiler, Eckhof, Brückner, Mad. Neuber, Weise, El. Schlegel, J. Ad. Schlegel, Joh. Heinr. Schlegel, Mylius, Fuchs, von Brawe, Lippert, Jöcher, Meil, Ewald, Saak, Heineken, Nicolai, Mendelssohn, Gumperz, Mad.  Therbusch, Agricola, Ramler, Premontval, König, Süßmilch, Kirnberger, Krause, Sulzer, Mad. Karsch, Kleist, Naumann, Bernh. Rode, Thaer, Heyne, J. Gottw. Müller, J. D. Michaelis, J. Benj. Michaelis, J. A. Dieze, Herder, Wieland, Gleim, Fr. Jacobi, Klopstock, Gerstenberg, Boie, Ernesti, Platner d. ä., Reifstein, Anton Tischbein, Reiske, Reimarus, J. J. Chr. Bode, Alberti, Basedow, Wolke, Kies, von Breitenbauch, Voß, Benzler, Cramer d. Sohn, Hamann, Gotter, Graf Firmian, Jerusalem, Vater und Sohn, Zachariä, Schmid, Eschenburg, Rautenberg, Ebert, J. Chr. Sommer, Campe, Professor de Gasc und Frau; Brückmann, Gärtner, Buhle, Leisewitz u. s. w.



____
220

Wenn wir uns hier in die Erörterung eines literarischen Kreises einer kleinen Residenz ausführlicher einließen, als vielleicht erwartet wurde, so dürfte wohl dem Umstande der Grund entschuldigend beizumessen sein, daß bisher der hier besprochene Abschnitt aus der braunschweig'schen Literatur in seiner Wichtigkeit und in seiner Beziehung zu einer allgemeinen deutschen Literatur gänzlich übersehen und verkannt wurde. Freilich sagt Wachler einmal beiläufig: »so verjüngte sich in Braunschweig, wo Gärtner, Zachariä, Schmid, Ebert als Amtsgenossen lebten, zum Theil der literarische Kreis, welcher unter geistverwandten Jünglingen in Leipzig entstanden war;« *) allein mit dieser fast zufälligen Bemerkung soll doch wohl eben so wenig, wie mit der noch zufälligeren in Gervinus **) Literaturgeschichte: »daß Ebert aus Hamburg später mit Zachariä, Schmid und Gärtner in Braunschweig zusammen waren,« die Würdigung dieser Epoche, die auch Prutz in dem Werke über den göttinger Dichterbund, Wachsmuth ***) und Andere gänzlich übersehen haben, abgethan sein? Jedenfalls dürfen wir dieselbe als das Morgenroth einer besseren Zeit betrachten, die ein Cronegk, wegen seines zu nahen Standpunktes und wegen der hierdurch bedingten allzumächtigen Einwirkung der Gegenwart, in allerdings zu glühender Begeisterung als die goldene Zeit selbst begrüst, †) wenn er sagt:
»Ihr Freunde, lebt beglückt, vereint durch das Geschicke,
»Ihr, denen Braunschweigs Ruh ein bessres Glück verleiht.
»Dein Beispiel, Gärtner, zeigt, daß Tugend noch beglücke:
»Und da, wo Carl regiert, herrscht auch die goldne Zeit.«
____
*) Wachler's Vorlesungen, II. p. 122.,
**) Gervinus, IV. p. 76.
**) Weimar's Musenhof in den Jahren 1772 bis 1807, histor. Skizze von Wilh. Wachsmuth, 1844
†) Joh. Frd. von Cronegk's Schrn, 2. Afl. Lpz., 1766, II. p. 311.




____

Anhang.

Ein flüchtiger Blick auf das Regentenhaus Braunschweig-Wolfenbüttel, in Bezug seiner Verdienste um Kunst und Wissenschaft.

____




____

Braunschweig hat von frühen Zeiten her das Glück gehabt, Regenten auf seinem Fürstenstuhle zu sehen, welche als das schönste Juwel ihres Diademes die Blüthe der Künste und Wissenschaften betrachteten. *) Schon die Ahnherren dieses uralten Geschlechtes zeichneten sich in dieser Beziehung vortheilhaft aus; obgleich uns ihr, von Barbarei beherrschtes Zeitalter, außer einigen Baudenkmalen und geistlichen Stiftungen, wenig Documente davon erhalten hat.

Um hier dem Felde der Mythe gänzlich fern zu bleiben, sei zunächst Ludolph's (st. 860) gedacht, dem die Gründung des Klosters Gandersheim zugeschrieben wird, welches seine Tochter Gerberge (st. 896) 881 vollendete. Seine Gemahlin Oda stiftete 850 das Kloster Brunshausen; sein Sohn, Herzog Bruno, (st. 880) war Erweiterer Braunschweigs; dessen Bruder, Otto Illustris, (st. 912) Gründer vieler geistlicher Stiftungen, u. a. des Klosters zu Lüneburg
____
*) Commentarius historicus de Augustae Domus Brunsvico-Lüneburgensis meritis in rem literariam; auctore Henr. Jo. Bytemeister, 1730. –
Hiermit ist zuvergleichen:
Antonii Uldarici Eath conspectus historiae Brunsvico; Lüneburgicae universalis, in tabulas chronologicas et genealogicas divisus et historicorum cujusvis aevi perpetuis testimoniis munitus. Praemissae sunt bibliotheca, Brunsvico- Lüneb. et diss. crit. de habitu tetlus operis. Helmst., 1745. –
E. J. G. Wolffram, (später von Wolfframitz), Versuch einer Nachricht von den gelehrten Herzogen und Herzoginnen von Br.-Lüneb. Ein Beitrag zur vater. Gelehrtengeschichte. Brschw., 1790.



____
224

und der Stiftskirche zu Gandersheim; Tanquard erbauete im J. 861 die Stammburg Tanquarderode zu Braunschweig; König Heinrich der Finkler, (st. 936), der deutsche Städteerbauer, war Gründer des merseburger und quedlinburger Domes, und Beförderer des Handels, der Kunst und Cultur für das gesammte Vaterland, und legte in Braunschweig die Neustadt an.

Auch Heinrichs Sohn, Kaiser Otto I. (st. 973), stiftete sich ein Denkmal durch die Dome zu Brandenburg und Havelberg und durch Fundirung des Klosters Ludgeri bei Helmstedt. Magdeburg, welches er seiner ersten Gemahlin Editha (st. 947), einer Tochter des Königs Edmund von England, schenkte, weil diese eine große Vorliebe für diesen Ort wegen seiner lokalen Aehnlichkeit mit London hegte, verwandelte er aus einem offenen Flecken mit einer Burgfeste in einen blühen den Handelsplatz. Nachdem Editha den Ort mit Mauern hatte umziehen und nach Kräften bebauen lassen, verlieh ihm Otto der Große das Marktrecht, gründete an der Stelle des jetzigen Domes das Benedictiner Kloster, legte auf dem Johannisberge das, 965 von den Mönchen bezogene Kloster Bergen an mit einer trefflichen Klosterschule, stiftete auch eine Bibliothek, und 963 die leider 1207 wieder eingeäscherte Domkirche auf der Stätte des jetzigen Oberlandesgerichts-Gebäudes. Im J. 968 erhob er Magdeburg auch zu einem Erzstifte, mit dem, wie die Sage geht, ungeheuren Kostenaufwande von 19 Tonnen Goldes.

Otto's Bruder, Bruno, nachheriger Erzbischof von Cöln, Gründer mehrer geistlicher Stiftungen, genoß den Ruf eines der gelehrtesten Fürsten seiner Zeit, wie er denn auch einer der eifrigsten Sammler von Schriftschätzen war.

Diese Liebe zu den Wissenschaften zeichnete überhaupt den ganzen Stamm jenes sächsischen Fürstengeschlechtes aus, welches



____
225

von 919 bis 1024 den deutschen Kaiserthron innehatte. Denn nicht genug, daß die Ottonen nach Besiegung der Ungarn und Slaven, und nach befestigter Herrschaft in Italien, den Wohlstand und die Sicherheit des Landes zu heben suchten: sie ließen sich auch in gleichem Maße die Förderung geistiger Interessen angelegen sein. Dieses beweisen sowohl die vielen Schulen, deren Gründer sie waren, und von denen einige in großem Rufe standen, als auch ihre persönlichen Beziehungen zu mehren der tüchtigsten Gelehrten. Hier sei beispielshalber nur jenes Gerbert's gedacht, der seiner stupenden Gelehrsamkeit wegen selbst von seinen Amtsbrüdern, den Geistlichen, in den Ruf der Zauberei gebracht wurde, und dem unter dem Namen Silvester II., im J. 999 Kaiser Otto III. zur päpstlichen Herrschaft verhalf. Schrieb doch auch zur Zeit der Ottonen die Dichterin Roswitha im Kloster zu Gandersheim ihre lateinischen Comödien, während ein Witichind und Ditmar die Thaten jenes erlauchten Hauses in ihren Chroniken aufzeichneten. –

Aber auch aus anderen Linien dieses weitverzweigten Geschlechtes leuchten Namen hervor, an welche sich nicht minder ehrwürdige Erinnerungen knüpfen. So ist Hermann der Billunger, Herzog von Lüneburg, (st. 973) bekannt als Erbauer der Michaelis-Klosterkirche zu Lüneburg; Bernhard, (st. 1061) als Stifter der Klöster Steterburg und Heiningen; Markgraf Ludolph II., (st. 1038) als der, der Petrikirche in der Burg zu Braunschweig, der dortigen früheren Ulrichskirche und als Mitfundator der daselbst 1031 eingeweiheten Magnikirche; Eckbert I., (st. 1068) als Gründer der Burg Wolfenbüttel um's J. 1046; Siegfried, Graf von Bomemburg, als Stifter des Klosters Amelunxborn; die Markgräfin Gertrud, (st. 1117) als Erbauerin der Egidienkirche zu Braunschweig; und Kaiser Lothar III., (st. 1137) der das



____
226

römische Recht erneuerte, als Stifter des schönen Domes in Königslutter.

Vor allen Anderen aber möchte hier auf Heinrich den Löwen hinzudeuten sein, (geb. 1129, st. 1195),der in den verschiedensten Theilen seines Vaterlandes Denkmale seines ruhmvollen Wirkens hinterlassen hat. Freilich bestehen die meisten derselben, welche auf uns gekommen sind, in Kirchenbauten; allein man darf nicht vergessen, daß die Kunst damals größtentheils nur im Dienste der Kirche stand, und daß sie ohne diesen mächtigen Schutz in jenem, von politischen Stürmen bewegten Zeitalter sicherlich einer noch bei weitem größeren Barbarei, als dieses ohnehin schon der Fall war, anheimgefallen sein würde. Auch ist hierbei nicht außer Acht zu lassen, daß derzeitige Kirchen byzantinische Bauwerke waren, deren Charakter es mit sich brachte, daß die Wände über und über mit kostbaren Fresken auf Goldgrunde und mit prachtvollen, polychromatischen Arabesken ornirt wurden. Auf solche Weise blieb denn der Kirchenbau der hauptsächlichste Träger der Kunst; und wenn die uns erhaltenen, byzantinischen Kirchen größtentheils nur einen nüchternen Kalkanstrich zeigen, so darf man nicht vergessen, daß dieser erst in späterer, barbarischer Zeit sich eingedrängt hat, und sehr häufig noch jetzt mit seinem Bettlermantel, die kostbarsten Kleinodien der Kunst verdeckt. Herzog Heinrich führte nun auf seinen Kreuz- und seinen vielen Kriegszügen aus den fernen Landen manche Blüthe der Cultur in sein Vaterland heim. Außer den zu Lübeck, Ratzeburg und Schwerin erbaueten Domen, gründete er auch den zu Braunschweig; und die diesem Tempel geschenkten Glasgemälde, der daselbst noch jetzt aufbewahrte, kunstvolle Armleuchter, die prächtigen Kirchengeräthe, Gemälde und Schnitzarbeiten, namentlich ein von früheren Schriftstellern hochgerühmtes, silbernes Crucifix, 5000 Mark an Werth, die Reliquienbehälter, hauptsächlich die unter



____
227

seiner Regierung geprägten zierlichen Münzen, so wie auch der vor der Burg aufgestellte Bronzelöwe beweisen, daß Heinrich neben seinen kirchlichen Zwecken die Pflege der Künste ganz besonders im Auge hatte. Nach seiner Rückkehr aus dem gelobten Lande erweiterte und verschönerte er die Stammburg seiner Väter Tanquarderode, und beschenkte Braunschweig auch noch mit der neuen Petrikirche, mit der Paulscapelle neben der Martinikirche und mit der Catharinenkirche.

Sein Sohn, Kaiser Otto IV. (geb. 1175, st. 1218), dessen Liebe zu den Wissenschaften Arnold von Lübeck (lib.VIII. c. 18) ausdrücklich hervorhebt, trat in dieser Beziehung ganz in die Fußstapfen seines Vaters, und sorgte nicht allein durch die Festen Asseburg, Lichtenberg, Herlingsburg u. s.w. für die Sicherheit seines Stammlandes, sondern er stattete auch die prachtvolle, weit berühmte Harzburg, in welcher er sein Leben beschloß, zu einem Tempel der Musen aus.

Albrecht I. (st. 1279), der das Kloster der Franciscaner zu Göttingen, die Porta Cöli zu Helmstedt und die heilige Geistkirche zu Braunschweig stiftete; Heinrich II. (st. 1351) de Graecia genannt, obgleich ihn seine Forschbegierde nicht allein Griechenland, sondern auch Palästina und Arabien durchwandern ließ, seiner Bildung wegen hochgefeiert; Albrecht, der Feiste, (st. 1318) der Gründer der göttinger Burg »Ballruz«, wie des dortigen Paulinerklosters, der das St. Georgenhospital, auch das Stift St. Blasii, das Egidienkloster zu Braunschweig, und das Kloster zu Königslutter reichlich beschenkte; Otto (geb. 1292 st. 1344), seiner vielen milden Stiftungen wegen der Milde genannt, der 1340 den Dom Heinrichs des Löwen nach der südlichen Seite hin erweiterte, und der auch die Paulinerkirche zu Braunschweig fundirte; Heinrich der Friedsame (geb. 1411 st. 1473)



____
228

der durch ein Grundgesetz vom 17. Mai 1433 der Leibeigenschaft ein Ende machte, und allen reisenden Fremden die Rechte freier Landsassen verlieh; Wilhelm der Aeltere (geb. 1392, st. 1482), der den Beinamen Gotteskuh führte, Sieger in sieben Schlachten, der 1469 den braunschweiger Dom nach der Nordseite hin erweiterte; Erich der Aeltere, (geb. 1470, st. 1540), Stifter des göttinger Gymnasiums, ein hochgebildeter Fürst, dessen zweite Gemahlin, die fromme Wittwe Elisabeth, geb. Markgräfin von Brandenburg (geb. 1510) den hohen Ernst ihrer mütterlichen Sorgfalt für die Erziehung ihres Sohnes Erich II. (geb. 1528, st. 1584) durch einen noch in Handschrift vorhandenen Unterricht für ihren Sohn *) documentirt hat, und die Erziehung desselben einem Urban Regius und Anton Corvinus anvertraute, und den edlen Prinzen auch noch in den Jahren, als sie ihn schon verheirathen wollte, stets nach frommer alter Weise das Tischgebet hersagen ließ; Ernst II. der Bekenner, (geb. 1497, st. 1546), dieser hochgebildete Fürst, der mit Recht die Devise führte: „Aliis inserviendo consumor“ und der als unmittelbarer Schüler Luthers zu Wittenberg, zuerst der reineren lutherschen Lehre im Lande Lüneburg den Weg bahnte, am 25. Juni 1530 mit seinem Bruder Franz (geb. 1508, st. 1549), die augsburgsche Confession unterzeichnete, und den Urban Regius in seine Dienste berief; Philipp I. von Grubenhagen (st. 1551), durch seine ruhmvolle Regierung in dankbarer Erinnerung, der seinem Lande ein freisinniger Schirmer des Protestantismus war; Wilhelm (geb. 1535, st. 1592), Stifter der jüngeren oder großbrittannischen Linie, der seine Privatbibliothek der Kirche zu Celle überwies, und die
____
*) Der Herzogin Elisabeth, Herzog Erich's des älteren von Calenberg Gemahlin, Unterricht für ihren Herrn Sohn, Herzog Erich den Jüngern.



____
229

Herausgabe der symbolischen Bücher besorgte; Wolfgang (geb. 1531, st. 1595) durch Gründung der Schulen zu Harzburg, Eimbeck und durch die große Sorge für die Volkserziehung in seinem ganzen Lande bekannt; Wilhelm (geb. 1564, st. 1642) zum Rector der Akademie Rostock ernannt, bei welcher Gelegenheit er drei lateinische Reden hielt, durch ausgedehnte Reisen vielfach gebildet, und selber Verfasser einer deutsch-lateinischen Abhandlung über die christlichen Glaubensartikel; – alle diese Genannte sind neben vielen Anderen mit Ehren zu erwähnen.

Doch gehen wir gleich über zu den Söhnen des regierenden Herzogs Heinrich des Jüngern (geb. 1489, st. 11. Juni 1568). Dieser kriegslustige und später so kriegesmüde, starre und vom Schicksal so hart gebeugte Fürst selbst, hat sich um sein Land das hohe Verdienst einer neuen Gerichtsverfassung und eines verbesserten Steuersystemes erworben.

Sein Sohn, Prinz Philipp Magnus, (geb. 1527) der mit seinem Bruder Carl Victor am 9. Juli 1553 in der Schlacht bei Sievershausen den Heldentod fand, war durch vielseitige Bildung ausgezeichnet, welche er sich auf seinen Reisen durch Italien und andere Länder angeeignet hatte. Leider besitzen wir als die einzige Frucht seiner Schriftstellermuße nur eine Uebertragung aus dem spanischen. *)

Sein Bruder Julius, früher Bischof von Minden, nachher regierender Herzog, (geb. 10. Juli 1528, st. 3. Mai 1589) hat sich als Förderer der Reformation das unvergänglichste Denkmal gesetzt. Diese freisinnige Richtung ist bei ihm um so höher anzuschlagen, als er ihr nur unter großen
____
*) Ludwig d'Avila, Büchlein vom deutschen Krieg de a. 1546 und 1547, in‘s Deutsche übersetzet von Philippo Magno, Herzog Heinrich d. J. Sohn. Wolfenb., 1552. –



____
236

Opfern folgen konnte, und bis zum Tode seines Vaters, jenes bigotten Fürsten, welcher 1525 dem Thomas Münzer noch auf der Richtstätte das Glaubensbekenntnis vorbetete, unter schwerem Drucke zu seufzen hatte. Indem er das von ihm 1570 gestiftete gandersheimer Pädagogium 1574 nach dem Plane seines Canzlers Joachim Mynsinger von Frundeck nach Helmstedt verlegte, und 1576 zur Universität umschuf, freisinnige, hochgelehrte Männer dorthin berief, wie den Tilemann Heßhusius, Jacob Andreä, Peter Ulner, David Chyträus, Joh. Caselius, besonders den Martin Chemnitz, durch den er das „Corpus doc trinae Julium“ *) abfassen ließ, wirkte er unmittelbar für die raschere Verbreitung des Protestantismus. In dem Rufe eines tüchtigen Chemikers, beurkundete er seine Liebe zu den Wissenschaften vorzüglich durch die erste Anlage eines kostbaren Bücherschatzes, den er 1568 von seinem Schlosse zu Hessen nach Wolfenbüttel brachte; den er 1572 durch die Sammlungen der Klöster Wöltingerode bei Goslar, Steterburg, Dorstadt, Heiningen und Marienberg bei Helmstedt vermehrte, und dem er sehr häufig die in verschiedenen Städten Deutschlands gemachten Acquisitionen auf großen Rüstwagen zuführen ließ, besonders in den Jahren 1577 – 1580, als er von der Wittwe Aurifaber in Erfurt einen an Handschriften Luther's und anderer Reformatoren reichen Büchervorrath angekauft hatte. **) Verdient machte er sich
____
*) Corpus doctrinae aus Verordnung Julii dersegen zu Br.-Lün. – Heinrichstadt, 1576.
**) Ueber das, was sich auf Büchersammlungen des braunschweiger Regentenhauses bezieht, ist zu vergleichen: »Umrisse zur Geschichte und Beschreibung der wolfenb. Bibliothek, von C. P. C. Schönemann.« (Im: Serapeum, Zeitschr. für Bibliothekwissensch., Handschriftenkunde und ältere Literatur; herausg. von Dr. Rob. Naumann, IV. Jahrg. Lpz., 1843, N. 6, 7, 13, 14).



____
231

auch durch Verbesserung des unter seinem Vater von Mynsinger von Frundeck gestifteten Hofgerichtes, und durch Herausgabe einer Hofgerichtsordnung; ingleichen durch Gründung des helmstedter anatomischen Theaters mit allen anatomischen Instrumenten, und durch Verbesserung der Schulen, in denen er die Wissenschaften, besonders das Sprachstudium vernachlässigt fand. In seiner Sorgfalt für die studirende Jugend gewährte er auch unbemittelten, aber talentvollen Jünglingen die freigebigste Unterstützung für Reisen und für Vollendung ihrer Studien. Er widmete dem Berg- und Hüttenwesen die höchste Sorgfalt, und gründete u. a. das Salzwerk »Juliushalle«  zu Harzburg, und die Messinghütte; wie denn auch die in Wolfenbüttel von ihm errichtete Factorei dem Betriebe der auf dem Harze producirten Marmor- und Eisenarbeiten von Förderung war. Die wohlthätige Einrichtung einer in der Gertrudencapelle in der Burg zu Braunschweig begründeten Buchdruckerei wurde leider sehr bald wieder durch Eifersucht des Magistrates vereitelt, indem der betriebsame Buchdrucker Lucius gezwungen wurde, die Stadt zu räumen. Die seinen Vater zu Ehren benannte »Heinrichstadt« und die Vorstadt »Gotteslager«  in Wolfenbüttel erschuf Julius von Grunde auf; schmückte die dortige Hofcapelle; engagirte für dieselbe zur Erhöhung des Cultus die aus den Diensten des Herzogs von Gotha entlassenen Musiker; kaufte viele im Kriege aus den Niederlanden geraubte, kostbare Glocken auf; brachte in seinen Waffensälen eine solche Masse von nützlichen und seltenen Waffen zusammen, daß sein Zeughaus zu den ausgezeichnetsten im ganzen deutschen Vaterlande gehörte. An die Befestigung Wolfenbüttels wandte er große Summen; und unter den vielen von ihm ausgeführten Prachtbauten verdient auch das 1576 mit



____
232

neuem Glanze ausgestattete und erweiterte alte Residenzschloß zu Wolfenbüttel erwähnt zu werden.

Sein Sohn, der edle Heinrich Julius, (geb. 1564, st. 1613) war vielleicht dem Vater an gelehrter Bildung noch überlegen. Bei der feierlichen Einweihung der helmstedter Akademie am 15. Oct. 1576, also in seinem zwölften Lebensjahre, zum beständigen Rector dieser Anstalt ernannt, hielt er seine erste lateinische Rede, und zwar mit demselben Beifalle, womit er später öfter auftrat. Als tüchtig im Griechischen und Hebräischen wird er gerühmt, und auch seine Kenntnisse in der Philosophie, Jurisprudenz, und der Naturwissenschaft, werden ganz besonders hervorgehoben. Wie bei seinem Vater die theologische, so war bei ihm die juristische Bildung vorwaltend. Seiner Liebe zu den Wissenschaften verdankte das helmstedter anatomische Theater die von dem damals berühmten Maler Christoph Gertner verfertigten anatomischen Gemälde, welche von Zeitgenossen als noch nie gesehene Wunderwerke gepriesen wurden. Seine Kunstliebe rief unter anderen Bauten das weitberühmte, leider aber nicht mehr vorhandene Prachtschloß Gröningen, in der Nähe von Halberstadt, und das schöne Universitäts-Auditorium nebst der Bibliothek zu Helmstedt in's Leben. Auch als tüchtiger Staatsmann bewährte sich Heinrich Julius, und zwar in seiner Stellung als Director des kaiserlichen Geheimenrathes unter Rudolph II. Ihm verdankt sein Land auch das für die Cultur höchst wichtige Grundgesetz über Erblichkeit der Bauerngüter, wie auch über Fixirung der Meierzinse. – Die Verbreitung der reineren evangelischen Lehre in seinem Bisthum Halberstadt darf hauptsächlich als sein Werk betrachtet werden. – Durch Ankauf der Büchersammlung des Matthias Flacius im Jahre 1597 legte er den ersten Grund zur helmstedter Bibliothek. Auch für Belebung typographischer


____
233

Betriebsamkeit brachte Heinrich Julius große Opfer, wie die Rechnungen über die bedeutenden Summen ausweisen, welche er sowohl an den Buchhändler Lucius in Helmstedt, als auch an die Vorsteher der Buchhalterei zahlte. In diesem Interesse nahm er auch den bekannten Formschneider Holwein zu Wolfenbüttel in seine Dienste. – Von seiner schriftstellerischen Thätigkeit würden schon viele auf der wolfenbüttler Bibliothek vorhandene Bände zeugen, die er theils eigenhändig zusammengetragen, theils mit Noten versehen hat. Oeffentlich erschien von ihm eine Streitschrift wider den braunschweiger Stadtrath *), und eine Sammlung seiner Reden. **) – Was diesen Fürsten aber zunächst hier von unserm Standpunkte aus am interessantesten macht, ist der Umstand, daß er im Jahre 1605 das erste deutsche Hoftheater gründete, für dasselbe Musiker aus Italien, Schauspieler aus England und Deutschland verschrieb, nicht allein den Capellmeister Thomas Mancinus, der zugleich auch sein Bibliothekar war, in seinen Diensten hatte, sondern auch noch 1607 den als Componisten und Kirchenliederdichter gleich berühmten Michael Prätorius als Capellmeister anstellte; daß er auch selbst als der erste fürstliche deutsche Dramatiker mit zwei dramatischen Gedichten hervortrat, welche er aufführen und in Druck erscheinen ließ. ***) Wie nun von
____
*) Illustre examen autoris illustris. Helmst., 1608. –
**) Orationes tres Helmsteti a Rev. et Illustr. Principe ac Domino - Henrico Julio, Duce Br. et Lüneb. memoriter recitatae. Henricopoli, 1578. –
***) Comoedia von Vincentio Ladislao, Satrapa von Mantua, in 6 Aufzügen von Hibaldeha (d. h. Henr. Jul. Brunsv. ac Lüneb. Dux edidit hunc actum), 2. Afl. Wolfenb., 1594. –
Tragica comoedia Hibaldeha, von der Susanna, wie dieselbe von zweien alten, Ehebruchs halber, fälschlich beklaget, auch unschuldig verurtheilet, Aber endlich durch sonderliche Schickung Gottes des Almechtigen von Daniele errettet, und die beiden Alten zum Tode verdammet worden. Mit 34 Personen. Wolfenb., 1593.



____
234

Heinrich Julius an bis auf die neueste Zeit die braunschweiger Hofbühne fortblüht, so werden wir auch diesen charakteristischen Zug einer besonderen Vorliebe für dramatische Kunst an den meisten Herzögen der folgenden Zeit wahrnehmen; und so wird denn auch in keiner, einigermaßen umfassenden Darstellung des deutschen Bühnenwesens der Einfluß des braunschweiger Regentenhauses übergangen werden dürfen.–

Philipp Sigmund (geb. 1568, st. 1623), der Bruder unsers Heinrich Julius, der mit diesem eine und dieselbe Erziehung genoß, später Domherr zu Magdeburg, Bischof zu Verden und Administrator des Bisthums Osnabrück wurde, zeichnete sich gleichfalls durch gelehrte Kenntnisse aus. Er hinterließ ein schätzbares Tagebuch *) –

Des Heinrich Julius Sohn und Nachfolger, Herzog Friedrich Ulrich (geb. 5. April 1591, st. 11. Aug. 1634), war freilich ein den Sstürmen seiner viel bewegten Zeit nicht gewachsener Regent, aber immer ein Mann von umfassender Bildung, (von namentlich ausgezeichneter Geschichtskenntnis), welche er sich auf seinen Reisen durch fast alle Länder Europas aneignete. Daß er die Universität Helmstedt glänzender fundirte, und ihr die von seinem Vater und Großvater gesammelte, an Manuscripten reiche, und von ihm selbst vielfach vermehrte Privatbibliothek schenkte, beurkundet seine Liebe zu den Wissenschaften eben so wohl, wie auch ein eigener schriftstellerischer Versuch. **) – Das sogenannte Mooshaus in der Burg zu Braunschweig, an welches sich die denkwürdigsten Erinnerungen für seine Familie knüpften, ließ er 1616 zum Theil wieder aufbauen, und zwar auf eine sehr splendide
____
*) Diarium ac Manuale Manuscriptum.
**) Ser. P. Friderici Ulrici Consultatio de praerogativae certamine, quod est inter Milites et Literatos. Tübingae, 1607.



____
235

Weise. Auch ließ er sich in demselben Jahre die Erneuerung des ehrwürdigen Bronzelöwen vor der Burg, des Wahrzeichens von Braunschweig, angelegen sein. Als ein Freund der Musik, gab er dem nach Magdeburgs Verwüstung von dort geflüchteten Cantor Heinrich Grimm, einem ausgezeichneten Contrapunktisten, in Braunschweig ein freundliches Asyl; und der Hofbühne, welche er dem damaligen Zeitgeschmacke gemäß, zur Hofoper umschuf, zeigte er sich als freigebigster Beschirmer. –

Da mit Friedrich Ulrich die ältere, wolfenbüttler Linie erlosch, so kam die Regierung an Herzog August den Jüngern von Braunschweig-Danneberg, dessen ganzer Stamm bis auf Carl Wilhelm Ferdinand herab die überraschende Erscheinung einer sich fast zwei Jahrhunderte hindurch herausstellenden hohen Geistesgediegenheit gewährt. Der Stifter dieser Linie, Herzog August selbst, (geb. 10. April 1579, st. 1. sept. 1666) dürfte wohl, so lange überhaupt Wissenschaft noch geschätzt werden wird, immer den verdienstvollsten und gebildetsten Fürsten Dentschlands beigezählt werden. Schon in seinem funfzehnten Jahre trat er das Rectorat der Universität Rostock mit einer gediegenen Inauguralrede an *); und ließ sich auch abermals öffentlich hören, **) als er auf Befehl seiner Eltern noch in demselben Jahre Rostock zu verlassen gezwungen war. Hierauf ging er nach Tübingen, wo er mehrfach öffentlich disputirte; und wo ihm auch das Rectorat dieser Universität conferirt wurde. Auch hier trat er wiederum als Redner auf, ***) und würde ebenfalls noch einen andern, bereits ausgearbeiteten Vortrag †) gehalten
____
*) De elementa et severitate.
**) De rationis et appetitus in homime conflictu. –
***) De legum dignitate et utilitate.
†) De recta reipublicae literariae constitutione. – Cf. Augusti lunioris



____
236

haben, wäre er nicht durch den Tod seines Vaters unerwartet schnell abgerufen worden. In Strasburg, wohin er sich nun wandte, disputirte er außergewöhnlicher Weise ohne Vorsitz. Nachdem er auf seinen zehnjährigen Reisen durch fast alle Länder Europas den Schatz seiner Kenntnisse bedeutend erweitert hatte, namentlich in der Mathematik, Astronomie, Geschichte, Jurisprudenz und den Sprachen; und nachdem er auch mit den ausgezeichnetsten Fürsten und Gelehrten seiner Zeit sich persönlich befreundet, mit Vielen z. B. mit Calixt und dem Polyhistor Hermann Conring, eine fortwährende briefliche Verbindung angeknüpft hatte, widmete er die Hauptstunden seiner Muße seinem kostbaren Bücherschatze. Diese Bibliothek, welche er im Jahre 1604 auf dem schlosse zu Hitzacker gründete, und dort bereits schon ein eigenes Bibliothekgebäude errichtete, verlegte er später nach Braunschweig, und endlich nach seiner Residenz Wolfenbüttel. Außer fortwährenden einzelnen Vermehrungen, kaufte er für diese Sammlung ganze Bibliotheken an, z. B. 1616 die des Coelius secundus Curio und die des Coelius Augustinus Curio zu Basel; 1618 den größten Theil von Marquard Frehers Bibliothek; 1636 den Büchernachlaß des Joach. Clutenius zu Strasburg. Zur Unterhandlung derartiger Geschäfte stand der Herzog mit auswärtigen Gelehrten in stetem brieflichen Verkehr. so hatte er z. B. in Augsburg den Phil. Heinhofer, J. Ge. Anckel, und Elias Ehinger; zu Strasburg den Joach. Clutenius; in Schöningen den Joach. Jo. Mader; zu Rom den Athanas. Kircher; zu Nürnberg den Georg Forstenheuser; und so bediente er
____
Br. et Lüneb. Ducis et Rostochiensis Acad. Rectoris Orationes et Edicta publice proposita. Rostochii, 1594. –
Augusti Innioris Br. et Lüneb. Ducis et Academiarum Rostochiensis et Tübingensis Rectoris Orationes et Edicta publice proposita. Tübingae, 1598.



____
237

sich für diese Zwecke auch eines Jo. Val. Andreä, Heinr. Jul. Blum, Nicol. Heinsius, Heinhofer, Hirt und vieler Anderer. Dem auf solche Weise außerordentlich stark und schnell anwachsenden Büchervorrathe räumte er das obere Geschoß des massiven Marstalles ein, welcher noch jetzt dem neuen Bibliothekgebäude als Unterlage dient. Auch verfaßte er einen noch vorhandenen, eigenhändig geschriebenen Katalog von vier Folianten, und begünstigte mit höchster Humanität die Benutzung seiner ihm so werthen Sammlung. Als Beleg hierfür wird schon ein einziges Beispiel genügen. Im Jahre 1660 ließ er dem berühmten Ezechiel Spanheim zu Heidelberg das gewünschte höchst werthvolle Manuscript des Lucanus mitten im Winter unter militairischer Bedeckung nach Heidelberg bringen. – Die Gebrüder Stern, Buchdrucker aus Lüneburg, zog er eigends nach Wolfenbüttel, um die »Evangelische Kirchenharmonie« drucken zu lassen.

»Mitten unter den Stürmen und Erschütterungen einer in trüben Massen gährenden Zeit,« sagt Friedrich Adolf Ebert, »bereitete sich Herzog August in seinem Museum eine eigenthümliche Welt, in welcher er von den Beeinträchtigungen einer ihn nahe berührenden und oft hart drängenden Gegenwart Erholung suchte und fand. Neben den Erscheinungen des Tages, die er nicht unbeachtet ließ und in welche er, selbst ein fruchtbarer Schriftsteller, vielfach verflochten war, wendete sich doch seine Sammelliebe mit einem tiefer liegenden und nicht blos in müßiger Curiosität begründetem Bedürfnis fast mehr noch dem Vergangenen, Unbekannten und Verborgnern zu, und behielt diese Richtung auch dann noch bei, als über Deutschlands Gauen wieder ein wolkenloserer Himmel sich wölbte. So brachte er in einer für den Büchererwerb günstigen Zeit und durch ein sechzigjähriges, unablässiges Bemühen einen Schatz von Handschriften, alten Drucken



____
238

und Seltenheiten aller Art zusammen, von dessen fleißiger Benutzung die Anmerkungen zeugen, welche sich von seiner Hand oft mitten in Werken befinden, die wohl selten eines Fürsten Hand zu berühren, pflegt. Die Huldigungen, welche die in- und ausländischen Gelehrten jener Zeit, mit deren mehreren er in näherem, brieflichen Verkehr stand, dem für literarische Bildung sich so lebendig und thätig interessirenden Fürsten brachten, trugen dazu bei, seine Sammlung auch in den literarischen Erzeugnissen seiner Zeit so vollständig zu machen, wie man sie vielleicht in keiner andern deutschen Bibliothek finden wird, weil eben jene Kriegsjahre fast auf allen andern deutschen Sammlungen die bisher geübte Thätigkeit unterbrachen. Auf diese Weise wurde seine Sammlung, in welcher er auch die kleinste Schrift der Aufbewahrung nicht unwerth hielt, ein in seiner Art einziges Archiv für die Geschichte der (vorzüglich deutschen) literarischen Thätigkeit des siebzehnten Jahrhunderts bis zum Jahre 1666, in welchem der rastlos thätige Fürst sein langes und auch um das Wohl und die Verfassung seines Landes hochverdientes Leben schlos.« *) – Als Mitglied der fruchtbringenden Gesellschaft, deren Tendenz bekanntlich die Pflege der Muttersprache war, führte Herzog August den Namen des »Befreienden;« und machte sich nicht allein durch seine im Auftrage fremder Cabinette vielfach geführten, diplomatischen Unterhandlungen auswärtig bekannt, sondern auch um sein Vaterland hochverdient durch Verbesserung des gesammten Schulwesens, durch Gründung eines Consistoriums, und durch seine Förderung der Canzlei- und Hofgerichtsordnung. Mit vielen Prachtbauten und der neu angelegten Auguststadt hat er seine Residenz Wolfenbüttel ganz
____
*) Ueberlieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor- und Mitwelt; herausg. v. Friedr. Ad. Ebert. Dresden, 1826, I. 1, pag. 141.



____
239

besonders geschmückt; Braunschweig verdankte ihm 1646 die Vollendung des von seinem Vorgänger 1616 begonnenen, prachtvollen Umbaues des Schlosses in der Burg. – Als schriftsteller genoß er einen ausgebreiteten und wohlverdienten Ruf. *) –

Herzog August’s dritte Gemahlin Sophia Elisabeth, eine geb. Prinzessin von Mecklenburg (st. 1676) machte sich als Virtuosin rühmlichst bekannt. Es erschienen unter ihrem Namen mehre Singspiele in Druck. – **).
____
*) Das Schach- oder König-Spiel von Gustavo Seleno, in vier unterschiedene Bücher, mit besonderem Fleiß, gründ- und ordentlich abgefasset, auch mit dienlichen Kupferstichen gezieret. Diesem ist zu ende, angefüget, ein sehr altes Spiel, genandt, Rythmo-machia. Lips., 1617. –
Gustavi Seleni Cryptomenytices et Cryptographiae Libri IX. in quibus Stenanographiae a J. Trithemio magice et senigmatice olim conscriptae, enodatio traditur. Lüneb, 1624. –
Biblischer Auszug, oder gründliche Summarien über die beiden Heil. Testamenta eines vornehmen deutschen Theologi. (Dan. Cramers) durch A. B. L. d. H. Bibel-Liebhabern, mit besonderem Fleiß übersehen, und in dieses Handbüchlein gebracht. Lüneb., 1625. –
Die Historie und Geschichte von des Herrn Jesu des Gesalbten Leiden, Sterben und Begräbnis, aus den evangelischen Schriften zusammengetragen. Lüneb., 1640. –
Verzeichnis beider jungen Herren (Heinr. Aug. und Rud. Aug.) Prägenitorum. –
Evangelische Kirchen-Harmonie, d. i. der H. Schrift unterschiedene Texte und Worte, welche von unseren Vorfahren an gewissen Tagen des Herrn und der Festen den Gemeinen der Christen jährlich vorzulesen und zu erklären verordnet, und von einem Liebhaber seines liebsten Herrn Jesu und dessen heiligen Worts mit schriftmäßiger Erklärung ausgeführt sind. Mit Kupfern, 2 Thle. Wolf, 1644. –
Handbüchlein aus der Evangelischen Kirchen-Harmonie von des Herrn Jesu Leben etc., Wolfenb., 1646. –
Augusti Duc. Br.-Lüneb. ad Athanasium Kircherum S. J. Epistola a 1651 scripta, et edita cum notis Zach. Göze. Osnabr., 1716. –
Auf des Herzogs Veranlassung erschien auch das Werk: Reformatio Papatus, juxta confessionem Augustanam, qua proponitur Romanorum Pontificum atque conciliorum consensus cum Augustana confessione in omnibus articulis etc. Gosl., 1621. –
**) Der Minerva Banquet auf den 77. Geburtstag Herzog Augusti, vorgestellt a 1655. Wolfenb. –Dabei noch: Glückwünschende Freudensdarstellung, dargestellt von Sophia Elisabeth, Herzogin zu Br.- Lüneb. – und: Ballet der Zeit. –
Der Herzogin Sophia Elisabeth glückwünschende Wahrsagung



____
240

Beiläufig sei auch noch eines Bruders von Herzog August und von Julius Ernst gedacht, des edeln Prinzen Franz, geb. 1572. Er war Domherr zu Strasburg und Cöln, an welchem ersteren Orte er lebte, und zwar wegen seiner Menschenfreundlichkeit und hohen Bildung allgemein verehrt. Nachdem er sich unter Kaiser Rudolph II. im Türkenkriege ehrenvoll ausgezeichnet hatte, fand er am 24. Dec. 1601 seinen Tod in den Fluthen des Rheines im 30. Jahre seines Lebens. Auch er ist als Schriftsteller bekannt, und zwar durch eine 1587 gehaltene Schulrede, „de Pyrrhi et Demetrii fratrum dissidiis componendis,“ welche der Professor der Eloquenz Melchior Junius in der von ihm edirten Sammlung von Reden abdrucken ließ. –

Herzog August's ältester Sohn und Nachfolger, Rudolph August, (geb., 16. Mai 1627, st., 26. Jan. 1704 zur Hedwigsburg), theilte ganz die gelehrte Richtung seines Vaters. In der fruchtbringenden Gesellschaft führte er den bezeichnenden Namen des »Nachsinnenden,« und bereitete diesem literarischen Kreise, dem auch sein Vater angehört hatte, und zu dessen Mitgliedern ebenfalls zwei seiner Brüder gezählt wurden, an seinem eignen Hofe einen gewissen Sammelplatz, indem hier mehre von den sehr wenigen literarischen Celebritäten jenes Dichterordens vereint waren, z. B. der hochverdiente Sprachforscher Just. Geo. Schottelius, (geb. 1612, st. 1676 zu Wolfenbüttel), und die Dichter Sigm. von Birken, (geb. 1626, st. 1681) und Andr. Heinr. Buchholz, (geb. 1607, st. 1671 zu Wolfenbüttel). Diesen reiheten sich nun noch an: ein Leibnitz, (geb. 1646, st. 1716), durch seine »unvorgreiflichen Gedanken über die teutsche Sprache« in der deutschen
____
und Ankunft der Königin Nicaulä und deren bey sich habenden 12 Sybillen, benebst 4 benachbarten Königen in die weltberühmte Guelfenburg. Wolf., 1656. –



____
241

Literatur bedeutsam; ein Gottfr. Wilh. Sacer, (geb. 1635, st. 1699) durch seine »Erinnerungen wegen der deutschen Poeterei« und durch seine Lieder bekannt; und endlich Christ. Woltereck, (geb. 1686, st. 1735) der die »holstein. Musen« schrieb. –

Rudolph August betrachtete als den schönsten Schmuck seiner Schlösser zu Hedwigsburg, zu Braunschweig, Blankenburg, auf dem Forsthause zu Wolfenbüttel und zur Harzburg eine auserlesene Büchersammlung. Durch seinen Bibliothekar Adam Stenger ließ er 1689 die 102 Bände der Kloster- Weißenburg'schen Manuscripte ankaufen, und schenkte 1702 auf Verwendung Hermann von der Hardt's den größten Theil seines von ihm so mühsam gesammelten Bücherschatzes nebst allen Manuscripten der Universität Helmstedt. Daneben bedachte er auch freigebigst die Bibliotheken des Klosters Riddagshausen und der Brüdern-Kirche zu Braunschweig; stiftete 1690 in Gemeinschaft mit seinem Bruder Anton Ulrich das Predigerseminar zu Riddagshausen; erweiterte, reorganisirte und fundirte das blankenburger Gymnasium, welches daher nach ihm »Rudolpheum Augusteum,« genannt wurde; schenkte die auf eigene Kosten gebauete, neue Collegien-Kirche der helmstedter Hochschule; und gemeinschaftlich mit seinem Bruder der Catharinen-Schule zu Braunschweig das jetzige Schulgebäude; veranstaltete auf eigene Kosten, unter Redaction Hermann von der Hardt's, die Herausgabe des sechs Bände starken Werkes über das costnitzer Concilium; *) wie auch den Abdruck vieler Autographen Luther's, und zeichnete sich auch selbst als Schriftsteller aus. **)
____
*) Magnum oecumenicum Constantiense Concilium de universali Ecclesiae reformatione, unione et fide. –
**) Epistola consultatoria ad Augustum Parentem ob defunctum Christianum Augustum ex conjuge Megapolitana filium, 1639. –



____
242

Aber von allen Herzögen Braunschweigs möchte für unsern Zweck wohl der interessanteste und wichtigste Anton Ulrich sein, des Vorigen Bruder, seit 1685 sein Mitregent und endlich sein Nachfolger (geb. 4. Oct. 1633, st. 27. März 1714). Dieser Fürst nämlich, der sich vorzugsweise der Literatur der schönen Wissenschaften widmete, und von seinen Zeitgenossen zu den gefeiertsten Dichtern gezählt wurde, wird auch in der Literatur einen dauernden Ruhm behaupten, wenn gleich für unsere Zeit den meisten seiner poetischen Schöpfungen, mehre seiner trefflichen Kirchenlieder davon ausgenommen, nur noch ein literarhistorisches Interesse geblieben sein sollte. Er war ein Schüler des gelehrten Sprachforschers Just. Georg Schottelius; ein geistvoller, kenntnißreicher Fürst, durch Reisen gebildet; stand mit bedeutenden Gelehrten in brieflicher Verbindung und vermochte schon in seinem siebenzehnten Jahre, als Procanzler der Universität Helmstedt, den öffentlichen Act theologischer Doctorpromotionen durch gediegenen lateinischen Vortrag zu leiten. Wie er denn nicht ohne Eitelkeit war, führte er auch in der fruchtbringenden Gesellschaft den Namen des »Siegprangenden.« Literarisch interessant bleibt es jedenfalls, daß, wie Anton Ulrich durch des wolfenbüttler Hofpredigers Andr. Heinr. Buchholz Romane »Herkules und Valiska,« und »Herkuliscus und Herkuladisla«
____
Epistola ad Parentem de superato anno climacterico magno, 1642. –
Aus unterschiedlichen Gesang- und Gebetbüchern zusammen gezogener und mit Kupfern gezierter Kern der Fest-Catechismus - und andern schönen Gesängen und Gebeten, wie selbige von unseren Gottseeligen Vorfahren ihrem ersten und rechten Satz nach sind herausgegeben. Wolf., 1672. –
Beantwortung der Frage: Ob es christlich sei in öffentlichen Prozessen vor Gerichte zu schaffen zu haben? –
Opfer der Heiligen, bestehend in 2 Theilen andächtiger Gebete, 1702. –
Ein kurzer Psalter aus allen Psalmen zusammen gezogen. Helmst., 1702, – (auch unter dem Titel: Kern der Psalmen Davids, herausgegeben von Caspar Questel. Plön, 1708.)



____
243

zu seiner »römischen Octavia« angeregt wurde, er selbst wieder durch dieses Werk einen Lohenstein zu dem Romane gleichen Genres »Arminius und Thusnelda« anregte.

Die Spuren der Geistesrichtung Anton Ulrich's lassen sich übrigens am deutlichsten an seinen Schöpfungen erkennen. Er stiftete 1787 in Gemeinschaft mit seinem Bruder die Ritterakademie zu Wolfenbüttel, eine zu ihrer Zeit sehr renommirte Lehranstalt, welche von den meisten studirenden Prinzen und Söhnen des Adels besucht wurde; jedoch schon mit dem Tode ihres Begründers die Endschaft ihrer Blüthe erreichte, und nach 28jährigem Bestehen im J. 1715 aufgehoben wurde. Auch vermehrte Anton Ulrich die Schätze der wolfenbüttler Bibliothek; indem er durch seinen Bibliothekar Leibnitz, mit dem er einen vertraueten Briefwechsel führte, außer anderen nicht unbedeutenden Erwerbungen, auch im J. 1710 die an kostbaren Handschriften reiche Sammlung des Staatsraths Marquard Gudius zu Kiel ankaufen ließ; und auf Leibnitz Verwendung auch einen jährlichen Vermehrungsfond von 200 Thalern aussetzte. In den Jahren 1706–1710 errichtete er auf der Stätte des alten Bibliothekgebäudes, mit Benutzung des gewölbten Untergeschosses, die jetzige großartige Bibliothek. Weil Leibnitz meistentheils in Hannover wohnte, so ernannte er 1705 den Legationsrath Hertel zum Mitbibliothekar, der später seine ansehnliche Privatbüchersammlung der fürstlichen Bibliothek testamentarisch schenkte. Anton Ulrich bedachte auch die riddagshauser Klosterbibliothek mit einem Theile des Büchernachlasses seines Bruders; während seine eigene Bibliothek später der Grundstamm der Bibliothek des braunschweiger Collegiums wurde. Im Jahre 1710 erbaute er die katholische Kirche zu Braunschweig, zu deren Confession er, vielleicht nicht freizusprechen



____
244

von ehrgeizigen Rücksichten der Politik, übertrat. Das blankenburger Schloß erweiterte und verschönerte er; ließ den Dom zu Braunschweig (leider aber vom ursprünglichen Stile abweichend), neu decoriren, und die darin befindlichen Grabschriften seiner Ahnen erneuen; widmete auch dem Grabmale Kaiser Lothar's im Dome zu Königslutter eine besondere Sorgfalt, und stattete von neuem die braunschweiger Residenz in der Burg glänzend aus. In Braunschweig begründete er auch die ausgezeichnete italienische Oper, für welche er das Rathhaus zum Hagen 1690 mit bedeutenden Kosten zum Opernhause umschuf, und diesen Tempel des Gesanges mit Werken, wie »Ariadne« und »Andromeda« eröffnete. Im Jahre 1691 erbauete er sein Lustschlos Salzdahlum, woselbst er unschätzbare Kunstsammlungen aufstapelte. Um hier, außer dem großen Schatze des interessanten Majolica-Geschirres, welches er größtentheils auf seinen italienischen Wanderungen selbst erwarb, nur noch einer einzigen von jenen Sammlungen Erwähnung zu thun, muß ich auf die Gemäldegallerie hindeuten, welche ihrer Zeit zu den allervorzüglichsten Deutschlands gezählt wurde, und noch gegenwärtig einen Glanzpunkt Braunschweigs bildet, ungeachtet das beklagenswertheste Mißgeschick über ihr gewaltet hat, indem ein Theil derselben nach dem Abbruche des Salzdahlumer Schlosses auctionsmäßig verschleudert worden, ein anderer durch die bonapartische Plünderung verloren gegangen, ein dritter durch den braunschweiger Schloßbrand im Jahre 1830 vernichtet, und endlich ein nicht unbedeutender vierter Theil durch sogenannte Restauration nicht eben verbessert worden ist. – Das Andenken Anton Ulrich's wirkte noch lange unter seiner Nachwelt fort, indem derselben die vielen von ihm zusammengehäuften Reichthümer der Wissenschaft und Kunst Sporn und Haltpunkt


____
245

in dem Streben nach Bildung wurden. Die Zahl seiner Schriften ist nicht unbedeutend *). –

Anton Ulrich's Gemahlin, Elisabeth Juliane, geb. Prinzessin von Holstein-Nordburg, (geb. 24. Mai 1634, st. 4. Febr. 1704), durch ihr im Jahre 1701 zu Salzdahlum gestiftetes und von ihr reichlich fundirtes Jungfrauenkloster »zur Ehre Gottes« rühmlich bekannt, war die Verfasserin der ersten Abtheilung eines hymnologischen Werkes **), bei welchem auch Rudolph August und Anton Ulrich als Mitarbeiter betheiligt waren. –

Die älteste Tochter dieser geistvollen Fürstin, Elisabeth Eleonore, (geb. 31. Sept. 1658, st. 1729) vermählt an den Herzog Johann Georg von Mecklenburg-Mirow, und
____
*) »Christ-Fürstliches Davids Harpfen-Spiel, zum Spiegel und Fürbild Himmelflammender Andacht, mit ihren Arien oder Singweisen hervorgegeben.« Nürnb., 1667. (Die musikalischen Compositionen sind von seiner Stiefmutter Sophia Elisabeth.)
Sodann die Singspiele: »Regierkunst-Schatten, 1658;« »Andromeda, 1659;« »Orpheus, 1659;« »Iphigenia, 1661;« »Jacobs des Patriarchen Heyrath, 1662;« »Des trojanischen Paridis Urtheil;« »Solimene;« »Amelinde;« »Die verstörte Irmenseul oder das bekehrte Sachsenland etc.;«
und die Romane: »Die Durchlauchtigste Syrerin Aramena, 9 Thle., mit Kupfr. Nürnberg, 1670 bis 1673.«
»Octavia, Römische Geschichte der hochlöblichen Nympfen-Gesellschaft an der Donau gewidmet. Nürnb., 1685 bis 1703.« –
»Beschluß, der Durchl. Herzogin gewidmet, die diese Römerin von ihrem mehr als 20jährigen Schlaf erwecket, 1704 bis 1707.« – Die Römische Octavia, auf Veranlassen einer hohen Prinzessin, nach dem ehemal. Entwurf geändert und durchgehends vermehret. Brschw., 1712, VII.
In Augustin Theiner’s Schrift: »Funfzig Beweggründe, warum die kathol. Relig. allen andern vorzuziehen sei, 2. Afl. Einsiedeln, 1843,« wird ganz fälschlich auch die Autorschaft der: »Beweisgründe aus der Vernunft und den Grundsätzen des Glaubens, daß die röm. kathol. Relig. allen übrigen Religionen vorzuziehen sei,« dem Anton Ulrich untergeschoben. –
**) »Gottgewidmetes Opfer der Heiligen, bestehend in zwei Theilen andächtiger Gebete; wobei einer andächtigen Seele Gedanken von Gott, zu Gott und in Gott; wie auch ein Christ-Fürstliches Davids Harfen-Spiel. Oettingen, 1732.« –



____
246

später an den Herzog Bernhard von Sachsen-Meiningen, ist Verfasserin vieler geistlicher Lieder, welche sich im gothaischen Gesangbuche, (1715 p. 395 etc.) und im meiningschen Gesangbuche (1711 p. 857 etc.) finden. –
Sibylla Ursula, Anton Ulrichs schwester, (geb. 1629, st. 1671) vermählt an den Herzog Christian zu Holstein Glücksburg, eine höchst gelehrte Dame, ist hier insofern nicht zu übergehen, als sie nebst ihren Brüdern Rudolph August, Anton Ulrich und Ferdinand Albrecht mit dem berühmten würtenberger Theologen Johann Valentin Andreä einen lateinischen Briefwechsel unterhielt, welchen dieser Gelehrte später herausgab. *) –

Ein Bruder der eben Genannten war der apanagirte Herzog Ferdinand Albrecht von Bevern, nach dem Titel seines eigenen Werkes »Wunderliche Begebnisse etc., der »Wunderliche« genannt, (geb. 22. Mai 1636, st. 23. April 1687). Ein Schüler der gelehrten Männer, Just Georg Schottelius und Sigismund von Birken, durchreiste er fast ganz Europa; aber auf eine andere Weise, als Fürsten gewöhnlich zu reisen pflegen. sein eigenster Zweck war Belehrung, deshalb ließ er sich auch längere Zeit an Orten nieder, wo er diese zu finden hoffte, z. B. in Paris und Pavia, wo er sich förmlich als akademischer Bürger einschreiben ließ, um sich in neueren Sprachen, in der Mathematik, Musik und Baukunst zu vervollkommnen; so auch in Rom, wo er den mathematischen Unterricht des berühmten Athanasius Kircher genoß. Bei diesem Ernste seiner
____
*) „Jo Valent. Andreae Seleniana Augustalia una cum opusculis aliis. Uimae, 1649;“ und:
„Serenissimae Domus Augustae Selenianae Principum Juventutis utriusque Sexus pietatis eruditionis comitatisque exemplum sine pari in perfectae educationis et institutionis normam expositum. Ulmae, 1654.“ –


____
247

Studien bildete er sich denn auch zu einem der gelehrtesten Männer seiner Zeit aus, der zehn Sprachen reden und schreiben konnte. Er war Senior und Decanats-Statthalter des evangelischen Stiftes zu Strasburg, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu London, und der fruchtbringenden Gesellschaft, in welcher er den Namen des »Wunderlichen« führte. Nach dem Tode seines Vaters lebte er ausschließlich den Wissenschaften auf seinem Schlosse zu Bevern, welches er sich zum freundlichsten Musensitze umgeschaffen hatte. Außer den auf seinen ausgedehnten Reisen erworbenen Sammlungen von Büchern, Münzen und Naturalien, besaß er auch ein werthvolles Antiquitätencabinet, in welchem sich das ihm durch Erbschaft zugefallene, unschätzbare mantuanische Onyx-Gefäß befand, welches später dem braunschweiger Museum einverleibt wurde. – Um seiner Schriftsteller-Neigung ungestörter folgen zu können, hatte er sich in seinem Schlosse förmlich eine Buchdruckerei einrichten lassen. Von seinen Werken sind noch jetzt einige als Quellen für das Studium jener Zeit von Wichtigkeit *) –
____
*) sonderbare, aus göttlichem Eingeben andächtige Gedanken, in Reime gemacht und gebracht von einem Liebhaber seines Herrn Jesu, deswegen auch, weil er die reine Wahrheit und Aufrichtigkeit bis in den Tod zu lieben und zu vertheidigen beschlossen, unglückseligen Fürsten, auch nach desselben Verordnung und Einrichtung mit ihren Singweisen, von seiner Hoff-Capellen gemacht, hervorgegeben, Frömmigkeit Ankerfest Haltenden, Zur Beständigkeit Und Liebe. Braunschw., 1656,– (später neuaufgelegt: Bremen, 1674; zuletzt: Bevern, 1677.)
 J. de Büssieres Blümlein allerley Geschichte, aus dem Lat. in's Teutsche übersetzet, von einem unglückseeligen Fürsten. Hannover, 1673. –
Chr. Besoldi, des Rechtsgelehrten, Anweisung zu den alten Geschichten; in's Teutsche übersetzet. –
Wunderliche Begebnissen und wunderlicher Zustand in dieser wunderlichen verkehrten Welt; meistentheils aus eigener Erfahrung, und dann geistlicher, verständiger, erfahrner Leute Schriften wunderlich herausgesuchet, durch den in der fruchtbringenden Gesellschaft sogenannten Wunderlichen im Fruchtbringen. Erster Theil, begreifend des Wunderlichen Lebens- und Reisebeschreibung. Auf dem Fürstl. Residenzschloß..



____
248

Auch die fromme Tochter dieses kunstsinnigen Fürsten, Sophia Eleonore, (geb. 5. März 1674, starb 24. Jan. 1711) Canonissin von Gandersheim, hat sich als Schriftstellerin bekannt gemacht. *) –

Von ihren Brüdern starben zwei als Helden auf dem Bette der Ehren: August Ferdinand (geb. 29. Dec. 1677), welcher als Generalmajor in braunschw. Diensten bei Erstürmung des baierschen Lagers auf dem Schellenberge an der Donau am 2. Juli 1704 als Sieger blieb; und Heinrich Ferdinand (geb. 12. April 1684), welcher als Kaiserl. östreichischer Obristlieutenant am 7. Septbr. 1706 beim Entsatze von Turin sein Leben einbüßte. –

Wir kommen jetzt zu Anton Ulrich's Kindern zurück, von denen Herzog August Wilhelm (geb. 1662, st. 1731), nach dem Tode seines Vaters und seines ältern Bruders, des Kaiserl. Obrists August Friedrich, der in Folge einer, bei der Belagerung von Philippsburg empfangenen Wunde seinen Heldentod fand, die Regierung übernahm. Das seiner Zeit prachtvolle Residenzschloß zu Wolfenbüttel verdankt der von ihm 1716 vorgenommenen Erneuerung seine jetzige Gestalt;
____
Bevern druckts Joh. Heitmüller, 1678. Zweiter Theil, begreifend die wunderlichen Göttlichen Dinge des Alten- und Neuen-Testaments, aus dem Wunderbuche der heiligen, göttlichen Schrift und anderen geistreichen Büchern mit Verwunderung angesehen von dem Wunderlichen im Fruchtbringen. Bevern, 1678. –
XXIV Andachten vom Leiden Christi, nach so vielen schönen Gemälden en miniature nach der Ordnung aufgesetzt, von dem bekannten Liebhaber seines Herrn Jesu. Bevern, 1688. –
Außerdem haben sich noch mehre seiner Manuscripte erhalten, u. a. Sein Reisetagebuch, und ein Opus unter dem Titel: „Loci politici, 1648.“–
*) »Geistliche Lieder über die sieben Blutvergießungen Jesu Christi der ganzen Welt Heylandes, von einer Gottergebenen Seele, 1696.« –
Nach ihrem Tode erschien: »Die Rechte des Herrn, ein Lied im Hause der Durchl. Fürstin und Frauen, Frauen Sophie Eleonoren, Herzogin von Br-Lüneb. etc. zusammt den geistlichen Liedern über die sieben Blutvergießungen Jesu Christi, auf gnädigsten Befehl, herausg. von Eberh. Finen. Brschw., 1713.« –



____
249

das daneben gelegene kleine bevernsche Schloß wurde 1723 vollendet; dabei verwandte er große Summen auf den 1721 begonnenen Bau seines Residenzschlosses in Braunschweig, und zwar auf der Stätte des 1671 von seinem Oheim angekauften »grauen Hofes;« fügte diesem Schlosse auch eine Capelle hinzu; erneuerte 1721 den Unterbau des Löwen in der Burg; errichtete die Schloßcapelle zu Vechelde; renovirte die Egidienkirche zu Braunschweig; vermehrte die Bibliothek zu Wolfenbüttel, und knüpfte seinen Namen auch an das durch ihn festlich begangene Reformationsfest. Um die Kunst machte er sich noch besonders verdient durch Pflege des Theaters. Unter ihm begann der unsterbliche Joh. Ad. Hasse im J. 1723 mit Aufführung seiner ersten Oper »Antigonus« seine ruhmgekrönte Laufbahn in Braunschweig. Nach Hasse wurde 1725 Carl Heinrich Graun als erster Tenorist berufen und später zum Vicecapellmeister ernannt; bis er 1735 als Kammersänger in die Dienste des Kronprinzen von Preußen trat. –

Elisabeth Sophie Marie, die dritte Gemahlin dieses Fürsten, (geb. 12. Sepbr. 1683, st. 3. April 1767), eine Tochter Herzogs Rudolph Friedrich von Holstein-Nordburg, und Wittwe des Erbprinzen von Holstein Plön, war die Gründerin der kostbaren Bibelsammlung, zu welcher G. L. O. Knoch den Catalog *) herausgab; und trat auch außerdem selbst als Schriftstellerin auf. **) –
____
*) Bibliotheca Biblica, d. i. Verzeichnis der Bibel-Sammlung, welche die Durchl. Fürstin und Frau, Frau Elisabeth Sophia Maria etc. gesammlet und in Dero Bücher-Schatz auf dem Grauen Hofe der Christlichen Kirche zum Besten aufgestellet hat. Brschw., 1752. –
Und Knoch's: Historische Nachrichten von der Braunschweigschen Bibelsammlung. Wolfenb., 1754. –
**) »Kurzer Auszug etlicher zwischen den Katholiken und Lutheranern streitigen Glaubenslehren, aus des Concilii zu Trient, und der Göttlichen Schrift eigenen Worten, wie auch der hierbeigefügten Päbstlichen


____
250

Da August Wilhelm ohne Erben starb, so fiel die Regierung der gesammten braunschweig-wolfenbüttelschen Lande an seinen jüngsten Bruder Ludwig Rudolph, dem bereits früher schon von seinem Vater Anton Ulrich die Grafschaft Blankenburg zugetheilt worden war. Dieser prachtliebende Fürst (geb. 22. Juli 1671, st. 1. März 1735), vermählt mit Christine Louise Prinzessin von Oettingen, (einer mit den Wissenschaften wohlvertrauten Dame, zu deren schätzbaren Privatbibliothek von Praun den Katalog anfertigte,) war der Großvater des russischen Kaisers Peter II. und auch der Kaiserin Maria Theresia. Seine Bauliebe war den Städten Blankenburg und Braunschweig von großem Nutzen, und als Gründer der Kirche und des Predigerseminars zu Kloster Michaelstein, und mehrer Kirchen in seinem Fürstenthum Blankenburg, wie auch als Vermehrer des wolfenbüttler Bücherschatzes hat er sein Andenken gesegnet. Aus seinem großen Büchernachlasse erhielt noch im J. 1750 die Sammlung des braunschweiger Collegiums einen bedeutenden Zuwachs. Ludwig Rudolph, durch Reisen gebildet, war ein thätiger Förderer der Künste. Vorzüglich darf hier sein wohlthätiger Einfluß auf Deutschlands Bühnenwesen nicht ganz mit Stillschweigen übergangen werden. »Es ist bekannt, daß sich Madame Neuber geb. Weissenborn nur auf Veranlassung dieses Fürsten der Verbesserung des deutschen Theaters zuwandte, und im Jahre 1707 mit Aufführung des »Cid« begann, den schon früher ein Kriegsrath Lange dem
____
Glaubens-Bekänntnis und Religions-Eide treulich gefasset, und zum nöthigen Unterricht, was jeder Theil glaubt und glauben soll, an's Licht gestellt. Wolfenb., 1714.« –
»Eine deutlichere Erklärung der Glaubenslehren, so in den 12 Briefen des Jesuiten Seedorf’s enthalten, nach dem Glaubensbekenntnis, welches die Protestanten in Ungarn bei ihrem Uebertritte zur römischen Kirche schwören müssen. Brschw., 1750.« –



____
251

braunschweigschen Hofe zugefallen übersetzt hatte.« *) – Von Ludwig Rudolph erschien auch eine, während seiner Studienzeit auf der Ritterakademie zu Wolfenbüttel gehaltene Rede in Druck **).

Da auch Ludwig Rudolph ohne männliche Erben starb, so fiel die Regierung an seinen Schwiegersohn, den Brudersohn seines Vaters, an Herzog Ferdinand Albrecht, (geb. 1680, st. 3. sept. 1735) den Sohn Ferdinand Albrecht's von Bevern. Leider überlebte dieser Regent seinen Vorgänger nur sechs Monate; zeichnete sich jedoch als Kaiserlicher Reichs-General-Feldmarschall und Befehlshaber der Festung Comorn in Ungarn, sowohl bei Landau, wie auch beim Entsatze der Festung Belgrad 1718 rühmlichst aus; und hat für uns noch ein besonderes Interesse wegen seiner an Geistesgaben reich ausgestatteten Nachkommenschaft. –
_____________

Jetzt erst kommen wir endlich zu dem Abschnitte der braunschweigschen Fürstengeschichte, welcher mit der braunschweiger Literaturepoche aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in nächster Beziehung steht. Jener Rückblick auf die Vorzeit dieses Fürstengeschlechts wird aber zeigen, wie schon frühe das Fruchtkorn gesetzt und gepflegt wurde, welches später so ertragreich ausfiel, und wird auch einleuchtend machen, wie nur unter der Gunst der obwaltenden Verhältnisse namentlich im Geiste des Herzogs Carl alle die vortrefflichen Keime ansetzen konnten, welche sich zum Ruhme des Guelphenhauses und zum Segen der Wissenschaft entfalteten.
____
*) s. Gervinus Gesch. d. Lit. IV. p. 362.
**) „Ludovici Rudolphi D. Br.-L. de maxima fortitudine panegyricus, in Academia patriae, quae est Wolfenbuteli, primo natali XV. Kalend. Aug. 1688, ex memoria dictus.“



____
252

Herzog Carl (geb. 1. Aug. 1713, st. 26. März 1780) folgte seinem Vater Ferdinand Albrecht im Jahre 1735 in der Regierung nach. Sein Hof wurde zu den glänzendsten der damaligen Zeit gezählt; sein Geschlecht war an Ahnenruhm und Alter den meisten fürstlichen Häusern Europas überlegen; und der Einfluß seiner Familie wurde mehr und mehr durch verwandtschaftliche Verbindungen erweitert. Am 2. Juni 1733 vermählte er sich mit der schönen Philippine Charlotte, einer hochgebildeten Dame, und einer milden Beschützerin der Künste und Wissenschaften. Wie sie, als Freundin Jerusalems, die edelsten Lebensfreuden im Umgange mit geistbegabten Zeitgenossen suchte, so brachte sie auch die Stunden der Einsamkeit nur mit ihren todten Freunden, ihren Büchern, zu, deren ganzen Vorrath sie der wolfenbüttler Bibliothek legirte. Sie war eine Schwester des großen Friedrich von Preußen, dessen Ehe mit Christine Elisabeth (geb. 8. Nov. 1715, st. 13. Jan. 1797), einer Schwester Carl's, der würdige Abt Mosheim am 12. Juni 1733 zu Salzdahlum einsegnete. Auch Königin Christine Elisabeth hat es nicht verschmäht, sich hin und wieder zu dem mühevollen Pfade des Schriftstellerthums zu wenden; indem sie für die Entbehrung des höchsten Erdenglückes, der Liebe, nur mit Achtung entschädigt, welche ihr auch selbst ihr Gemahl nicht zu versagen vermogte, sich selbst noch immer am besten entschädigte durch die Erhebung, welche sie aus ihrer Beschäftigung mit den Wissenschaften schöpfte. *) - -
____
*) „Le Chretien dans la Solitude. à Berlin, 1776“ –
„Sage resolution. à Berlin, 1776.“ –
„Reflexion et méditation à l'occasion du renouvellement de l'année, sur les soins, que la providence a pour les humains et de ses voyes remplis de bonté, par les quelles elle les mene. à Berlin, 1777“ –



____
253

Auch mit dem Könige Friedrich V. von Dänemark durch seine Schwester Juliane Marie verschwägert; durch die Töchter Ludwig Rudolphs mit dem deutschen und russischen Kaiserhause ohnehin schon verwandt, suchte Carl durch die Vermählung seines Bruders Anton Ulrich (der am 23. Aug. 1714, im Todesjahre seines großen Namensverwandten geboren wurde, und als Gemahl der Regentin Anna, als Vater des unglücklichen Iwan VI und durch sein eigenes verhängnisvolles Schicksal, er starb nämlich am 4. Mai 1774 als erblindeter Verbannter zur Scholmogory in Archangel, in der Geschichte bekannt ist,) einen neuen Strahl des Glanzes dem Guelphenstamme zuzuwenden. Seine übrigen Brüder, der edle Ludwig (Ernst) (geb. 25. Sept. 1718, st. 12. Mai 1788), Kaiserlicher Feldmarschall, Generalcapitain der holländischen Union, und Gouverneur von Herzogenbusch, dessen Wirken Schlözer in einem vortrefflichen biographischen Gemälde dargestellt hat, und der, nach Biron's Verbannung zum Herzoge von Curland und Semgallen erwählt war, seiner Hoffnungen aber durch die am 6. Dec. 1741 ausgebrochene Revolution beraubt wurde; der sich, wie mehre noch vorhandene Proben beweisen, auch als geschickter Zeichner in der Kupferstecherkunst versuchte; – der Feldmarschall Ferdinand (geb. 12. Jan. 1721, st. 3. Juli 1792), der ruhmgekrönte Sieger bei Crefeld uud Minden, der gleichfalls in seiner
____
„Consideratious sur les Livres de Dieu, dans la regne de la nature et de la providence pour tous les jours de l'année. Ouvrage traduit de l'Allemand de Mr. C. C. Sturm. III. T. à la Haye, 1777.“ –
„Six sermons de Mr. Sack. à Berlin, 1777.“ –
„Reflexions sur l'état des affaires publiques en 1778. Addresseés aux personnes craintives. à Berlin, 1778.“ –
„Reflexions pour tous les jours de la semaine. à Berlin, 1778“ –
„L'homme ami de Dien, traduit de l'anglais de Richard Jones. à Berlin, 1778.“ –
Ein Verzeichnis ihrer Werke enthält (Roch's) allgem. liter. Anzeiger



____
254

Jugend der Kupferstecherkunst oblag, ein Herzensfreund Jerusalems, und ein väterlicher Schirmer der Gelehrten und Künstler überhaupt war, von denen manche, z. B. die Dichterin Anna Louise Karsch, der Musicus Joh. Bach, lebenslängliche Pensionen von ihm bezogen; – so wie auch Prinz Albrecht (geb. 4. Mai 1725), welcher 1745 in der Schlacht bei Soor blieb, und der ebenfalls die Neigung seiner Brüder für Uebung der Kupferstecherkunst theilte; – und endlich Prinz Friedrich Franz (geb. 8. Juni 1732), welcher am 14. Oct. 1756 bei Hochkirchen auf dem Bette der Ehre starb:– alle in dem Buche der Geschichte als Helden aufgezeichnet, trugen durch die auf ihrer Feldherrnbahn errungenen Lorbeeren nicht wenig zu dem erhöheten Ansehen ihres Stammhauses bei. –

In dankbarster Erinnerung wird aber auch die späteste Nachwelt alles das bewahren, was Herzog Carl selbst für Kunst und Wissenschaft gethan. Nichts ist beklagenswerther, als daß seine zu verschwenderische Freigebigkeit in Bezug auf seinen glänzenden Hofstaat, auf sein Militair, auf seine beiden Hofbühnen zu Braunschweig und Wolfenbüttel, besonders auf Begünstigung der Oper, in keinem Verhältnis stand zu den Erwerbsquellen seines Landes. Keinesweges ist es, am allerwenigsten aber hier, auf eine Apologie dieses Fürsten abgesehen; indessen würde es mehr als unbillig sein, zu allen den Verläumdungen und Mißverständnissen zu schweigen, welchen gerade dieser Mann ausgesetzt gewesen ist, der das Unglück hatte, mehre seiner Unternehmungen von einem ungünstigen Erfolge begleitet, und seinen Hauptfehler, Verschwendung, durch die weise Sparsamkeit seines Nachfolgers in ein um so helleres Licht gesetzt zu sehen. Wenn Havemann in seiner braunschweigischen Geschichte, bei gänzlicher Verkennung dieses Fürsten, daher so weit geht, auch von »fader Gesellschaft«



____
255

desselben zu reden, so thut er ihm sehr unrecht, indem, wie ich dreist zu behaupten wage, überhaupt wohl nur wenige Regenten fortwährend den Umgang mit wissenschaftlich gebildeten Männern gleich eifrig gesucht haben möchten, wie Herzog Carl. Gerade er nämlich, der allen seinen Hoffesten die Weihe des geistigen Charakters verlieh, fühlte fortwährend das Bedürfnis, Gelehrte und Künstler, ja selbst gebildete Zöglinge des Collegiums an seine Tafel zu ziehen, eine Sitte, die sich in allen übrigen Hofhaltungen seines Hauses verbreitete, und die namentlich von seinem Nachfolger Carl Wilhelm Ferdinand eifrigst fortgeübt wurde. Ein zuverlässiges Zeugnis giebt dem verkannten Herzoge der ehrwürdige Jerusalem in einem Briefe an Fr. von Hagedorn, *) worin es heißt: »Es ist gewiß noch kein teutscher Fürst gewesen, der sich der Erziehung der Jugend mit mehrer Vernunft und Liebe angenommen hätte, als unser regierender Herr. Die großen Kosten, die er darauf verwendet, und wovon die große Anzahl der öffentlichen Lehrer ein Beweis ist, sind das Wenigste. Mancher große Herr giebt wohl auch zum gemeinen Besten Geld ohne Gefühl aus. Aber die große Leutseligkeit, mit der er die jungen Leute empfängt, wenn sie ihm vorgestellt werden, die gnädige Ermunterung, die er ihnen selbst zu allem Guten giebt, die sorgfältige Achtung, die ihnen bei allen Gelegenheiten bei Hofe erzeigt wird, und die ächt väterliche Fürsorge für Alles, was ihnen die Wissenschaften und die Tugend angenehm machen kann, sind solche Beweise von seiner edeln Absicht, die er bei diesem Collegio hat, daß man ihn als den ersten Lehrer dabei ansehen kann, sowie er überhaupt in seinem Lande der erste ehrliche Mann ist. Glauben sie nicht, das ich dies als Herzogl.
____
*) Friedr. von Hagedorn’s poet. Wke. Hamb. 1800 V p. 302.



____
256

Braunschw. Hofprediger schreibe. Sie würden ihm, wenn sie ihn kennten, eben dies Zeugniß geben, und was für ein Zeugniß für ihn! SSie selbst würden ihn als Fürsten für einen liebenswürdigen Fürsten halten.« – Am allerwenigsten wird es Braunschweig vergessen, was Carl für die Blüthe dieser Stadt gethan, die er 1754 zu seiner Residenz erhob, und auf deren Verschönerung, besonders durch Aufführung größerer Bauten, (Herzogl. Cammer; Neustadt - Rathhaus; Restauration des höchsten und schönsten Thurmes der Stadt, des St. Andreas, u. s. w.) stets sein Augenmerk gerichtet war. Er gründete die Schule zu Holzminden durch den würdigen Generalsuperintendenten Fr. Wilh. Richter im Jahre 1760, und machte ihr ein Geschenk mit 8600 Bänden aus der von ihm 1754 angekauften Bibliothek Burckhard's. An die wolfenbüttler Bibliothek knüpfte er sein Andenken durch reichliche Vermehrung derselben, indem er ihr, außer sehr vielen einzelnen bedeutenden Schenkungen, 1753 aus Ludwig Rudolphs Nachlasse 328 Manuscripte und 10,408 Bände zuwandte; ihr im Jahre 1759 die Büchersammlung seines verewigten Bruders Friedrich Franz; 1762 die seiner Mutter Antoinette Amalie; 1764 die Bibliothek seines in Holland lebenden Bruders Ludwig Ernst, und das höchst werthvolle Bibelcabinet der Herzogin Elisabeth Sophia Marie, später auch noch den übrigen Bücherschatz dieser Fürstin; 1768 den hinterlassenen Büchervorrath seines Großvaters Ferdinand Albrecht I. und den seines eigenen Sohnes Wilhelm Adolph überwies; und für dieselbe 1767 die 10.000 Bände starke Bibliothek des 1764 zu Braunschweig verstorbenen Hofraths Baudis acquirirte. Auch die Bibliothek des Collegiums Carolinums vermehrte er mit 5000 Bänden aus dem Nachlasse Ludwig Rudolphs. Im Jahre 1744 gründete er zu Veltenhof die Colonie der aus ihrem



____
257

Vaterlande durch Intoleranz vertriebenen, arbeitsamen Pfälzer; 1745 die braunschweigschen Anzeigen; 1747 das Obersanitäts-Collegium. Auch die Pflege der Universität Helmstedt, die, nach aufgehobener, hannöverscher Mitverwaltung, seit 1745 dem Hause Braunschweig-Wolfenbüttel ausschließlich zufiel, 1746 von Herzog Carl reichlicher fundirt wurde, und nach ihm, gleichsam ihrem zweiten Schöpfer, den Namen »Julia Carolina« führte; die Stiftung der dortigen »deutschen G sellschaft;« die Beschaffung eines, den Zeitbedürfnissen entsprechenden Gesangbuches; sowie die Stiftung des fürstlichen Museums, für welches er von 1754 an alle Kunstschätze der verschiedenen Schlösser sammeln, 1754 vier naturhistorische Cabinette, 1755 durch Süperville eine kostbare Collection geschnittener Steine in Frankreich ankaufen und 1764 das Ganze in einem dazu geeigneten Locale aufstellen ließ; sowie auch endlich die Gründung des Collegiums Carolinums zu Braunschweig werden seinen Namen stets in Ehren erhalten. Besonders die letztgenannte Anstalt, welche aus einer dunkeln helmstedter Klosterschule hervorging, und deren europäischen Ruf ihre ausgezeichneten Lehrer und die von allen Enden unsers Welttheils herbeiströmenden Schüler begründeten. – Die bis dahin fast beispiellose Freigebigkeit, mit welcher Herzog Carl das Theater bedachte, ist ihm freilich oft zum Vorwurfgemacht worden; aber man muß wenigstens zugleich eingestehen, daß etwas Großes und zur Hebung des gesammten deutschen Bühnenwesens Förderndes damit erwirkt wurde, und daß namentlich die italienische Oper zu Braunschweig damals vollkommen mit der zu Wien, Berlin und Dresden wetteifern konnte. Im J. 1735 ließ Carl das jetzige Theater einrichten, auf welchem 1740 die Gesellschaft der rühmlich bekannten Caroline Friederike Neuber debütirte; während



____
258

1753 Nicolini mit seiner italienischen Operngesellschaft eintraf, deren Zierde vorzüglich die ausgezeichnete Sängerin Anna Nicolini war. Auch die deutsche Oper blühete, und zwar unter Leitung des berühmten Capellmeisters Schwanenberg, der 1762 seine Oper »Soliman« zur Darstellung brachte. Neben Schwanenberg war Brunetti als zweiter Capellmeister engagirt. In der Periode von 1763 bis 1770 waren abwechselnd Ackermanns in Braunschweig anwesend, als deren Matador der unsterbliche Mime Friedrich Ludwig Schröder bewundert wurde. Machte Johann Bach's im J. 1768 aufgeführte Oper: »Cato von Utica« Glück, so muß die am 13. März 1772, am Geburtstage der Herzogin, durch Döbbelin veranstaltete erste Darstellung von Lessing's »Emilia Galotti« als ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der deutschen Bühne betrachtet werden. – Möchten diese dürftigen Notizen hinreichen, Herzog Carl's Vorliebe für das Theater in einem günstigeren Lichte erscheinen zu lassen. –

Dabei genoß dieser hochgebildete Fürst auch das Glück, einen Kreis der hoffnungsreichsten Kinder um sich versammelt zu sehen. Von seinen Söhnen sei zunächst des apanagirten Prinzen Friedrich (August) gedacht, (geb. 29. Oct. 1740, st. 8. Oct. 1805). Er war Herzog von Braunschweig-Oels, Königl. Preußischer Generallieutenant, Inhaber eines berliner Infanterieregimentes, Gouverneur von Küstrin, Dompropst zu Brandenburg, Ritter des schwarzen Adlers, und Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Er zeichnete sich nicht allein durch die Schärfe seines Schwertes aus, welche er bei dem Entsatze des vom Prinzen Xaver von Sachsen im J. 1761 bedrängten Braunschweigs, wie auch in den Treffen bei Völlinghausen und bei Wilhelmsthal bewährte, sondern auch durch die Schärfe seines Witzes und durch die



____
259

Leichtigkeit seiner Feder. *) Es existiren von ihm noch einige sehr ausgezeichnete Blätter von Caricaturskizzen, welche er selbst in Kupfer gestochen hat. Charakteristisch für die Gemüthsart dieses Mannes ist vielleicht der einzige Zug, daß er sich einst von einem heftigen Fieber durch Lachen und die dadurch bewirkte Transpiration curirte, und zwar, indem er sich eine schwülstige Tragödie von einem ungebildeten Bedienten vorlesen ließ. – Ein ehrendes Denkmal stiftete er sich selbst durch die 1763 der wolfenbüttler Bibliothek geschenkte Büchersammlung seines verstorbenen Bruders Albrecht Heinrich, welche ihm aus dessen Hinterlassenschaft zugefallen war; durch die freigebige Unterstützung, welche er der unglücklichen Dichterin Anna Louise Karsch alljährlich zuwandte, die König Friedrich der Grßse nur mit eitlen Hoffnungen vertröstete; und durch das seinem Freunde Kästner zu Göttingen errichtete Monument. –

Außer seinem Bruder Albrecht Heinrich (geb. 26. Febr. 1742), welcher im Treffen bei Röhne 1761 tödtlich verwundet wurde, zeichneten sich auch noch Wilhelm Adolph (geb. 18. Mai 1745, gest. 28. Aug. 1770 in der Wallachei) sowohl in praktischer Kriegskunde aus, die er als russischer Volontair
____
*) »Glücklicherweise; Lustspiel in einem Aufzuge, von dem Herrn Rochon de Chabanne. Aus dem Franz. Brschw., 1763.« –
„Comedie à la grecque. à Strasb, 1764.“ –
»Regulus, ein Trauersp., a. d. Franz. Berlin.« –
„Considerazioni sopra le cose della grandezza de Romani e della loro decadenza per il Sign. de Montesquieu, trad. dal Franscese. à Berlino, 1764.“ –
„Riflessioni critiche sopra il Carattere e le gesta d'Alessandro Magno, Re di Macedonia. in Milano, 1764;“ (2. Afl. 1803; französisch, 1764; engl. London, 1764).
„Discours sur les grands hommes. à Berlin, 1768.“ –
»J. E. Brande's »Ariadne auf Naxos,« in's Franz. übers. Berlin 1776.« –
»Instruction für sein Regiment, 1791.« –
»Seine eigene militairische Gesch. 1797.« – etc. –



____
260

im Treffen am Pruth bewies, wie auch in theoretischer; – und der menschenfreundliche Leopold.

Marimilian Julius Leopold, Königl. preuß. Generalmajor, Inhaber des Regimentes »von Dieringshofen« zu Frankfurt an der Oder, Ritter des St. Johanniter-Ordens, war geboren am 11. Oct. 1752 zu Wolfenbüttel. Wenn auch nicht auf dem Schlachtfelde, so starb dieser hochherzige Fürst nichts desto weniger in seiner hingebenden Aufopferung für Nothleidende den Tod der Ehren; indem er bei der 1785 eingetretenen Ueberschwemmung zu Frankfurt an d. O. am 27. Apl. von den Fluthen verschlungen wurde, als er im Begriff stand, einigen in ihren niederen Hütten höchster Gefahr ausgesetzten Mitmenschen als Retter beizuspringen. *) Der Graf von Artois setzte tausend Thaler aus als Preis für das beste Lobgedicht dieser Edelthat; und Marmontel, der ihn mit seiner Ode errang, mit dem Lohne des allgemeinen Beifalls sich begnügend, dachte groß genug, jeden andern Lohn zu verschmähen. – Einen redenden Beleg dafür, daß Leopold’s ganzes Leben nur aufopfernder Menschenliebe gewidmet war, gab er dadurch, daß er, der Ausländer, zu Frankfurt für die an geistiger Pflege fast gänzlich verlassenen Kinder des dortigen Militairs eine Schule gründete, und zwar ganz aus seinen
____
*) So viel auch (in Raumer' s histor. Taschenb., 1844), ein Herr G. W. Keßler aus einem Geklätsch, welches bisher nie wagen durfte, vor das Licht der Welt zu treten, noch jetzt, nach bereits einem, seit dem Tode des edeln Prinzen verflossenen Zeitraume von fast 60 Jahren, darzuthun sich abmühet, daß Prinz Leopold nicht aus Edelmuth, sondern nur aus Tollkühnheit sein Leben eingebüßt habe, indem er seine Geschicklichkeit habe zeigen wollen, durch die Brückenpfeiler hindurch über den reisenden Strom an's jenseitige Ufer gelangen zu können: so wird sicherlich dennoch jene Edelthat ihren Werth behaupten; während Herrn G. W. Kesler's Auctoritäten, denen gegenüber, welche als Augenzeugen, und zwar als unverdächtige und allgemein geachtete, die Wahrheit auch vor der Welt zu bezeugen keinen Anstand nahmen, in ihr ohnmächtiges Nichts zurücksinken werden. –



_____
261

eigenen Mitteln, die im Verhältnis seines Standes ohnehin schon gering waren, und ihn bei seiner unbeschreiblich großen Mildthätigkeit oft selber der Verlegenheit aussetzten. Sein hohes Interesse für den geistigen Theil dieser Stiftung zeigt klar, daß er dieselbe für mehr, als einen nur so ausgeworfenen Almosen ansah. Ja, er hielt es nicht unter seiner Würde, sich persönlich zu dem Philanthropen von Rochow in Rhekan bei Brandenburg zu verfügen, um sich über die Erziehungsmethode dieses gefeierten Pädagogen selbst belehren zu lassen. Diese Methode führte er denn auch in seiner neuen Schule ein, und versäumte nie einer öffentlichen Prüfung beizuwohnen. Nur das Wohlthun, nicht aber das Großthun liebend, ließ er die mit mächtigen, goldenen Buchstaben am Schulgebäude angebrachte Inschrift: »Leopold'sche Garnisonschule« entfernen, und durch die anspruchlosere: »Garnisonschule« ersetzen. – Würdig war dieser Fürst des Denkmals, welches man ihm zu Frankfurt errichtete, und zwar mit der schönen Inschrift:

»Menschenliebe, Standhaftigkeit, Bescheidenheit,
Drei himmlische Geschwister,
Tragen Deinen Aschenkrug
Unvergessen lang.
Und klagen mit der Göttin der Stadt,
Deren Bürger Du zu retten eiltest;
Und klagen mit dem Odergotte,
In dessen Wellen Du untergingst,
Daß die Erde
Ihr Kleinod verloren hat.«

Würdig war Leopold auch des Denkmals, welches ihm sein Onkel, Held Ferdinand, im Garten der Freimaurerloge zu Braunschweig setzte; aber ohne Frage das angemessenste Denkmal stiftete ihm sein Bruder, der oben erwähnte Prinz Friedrich, der alleinige Erbe seiner Hinterlassenschaft, auf welche dieser zu Gunsten der frankfurter Garnisonschule



____
262

verzichtete. – Leopold, unter dessen Schutze und in dessen Gesellschaft im J. 1775 Lessing nach dem Lande seiner Sehnsucht, nach Italien wanderte, ein Zögling Gärtner’s, Ebert's und Jerusalem's, war auch ein fast leidenschaftlicher Verehrer der Wissenschaften und Künste. Auf seinen Reisen waren es nicht eigentlich die hochgestellten, sondern die hochverdienten Leute, welche er einer persönlichen Bekanntschaft für werth hielt; und die Achtung und Freundschaft eines Grafen Firmian, Cardinals Albani und Lords Hamilton rechnete er zu den höchsten Genüssen und Gewinnen seiner italienischen Wanderung. Zu Carl Renatus Hausen’s »Staatsmaterialien« und zu dem »historischen Portefeuille« lieferte er Beiträge, und verfaßte auch ein tüchtiges, leider nicht edirtes Werk: »Militairische Vorschläge.« –

Auch darf hier die Schwester dieser edeln Brüder, Sophie Caroline Marie, (geb. 7. Oct. 1737, st. 1818) nicht mit Stillschweigen übergangen werden, von welcher der Ritter Carl Heinrich von Lang, der eben nicht allzufreigebig mit seinem Lobe ist, in seinen Memoiren *) sagt: »Die Frau Markgräfin von Baireuth, die als Wittwe des 1763 verstorbenen vorletzten Markgrafen Friedrich in Erlangen residirte, war eine höchst geistreiche Dame und Kennerin der Künste, deren Anschauung sie in Italien selber genossen, und sich wohl eben daher im Umgang der Männer besser, als der Frauen gefiel, Flugschriften und Druckschriften, wenn sie auch in mancherlei Rücksichten frei und verwegen waren, herbeischaffte und ihren Vertrauten mittheilte, kecke urd witzige Urtheile gern anhörte und selber wagte, und dabei die Lage der Dinge und die wahrscheinliche Zukunft mit einem ihrem Geschlechte seltenen Scharfsinn und Unbefangenheit beurtheilte.« –
____
*) s. »Memoiren des Carl Heinrich Ritters von Lang, II. Brschw, 1842, p. 138.



____
263

Aber vor Allen darf hier wohl noch Carls edle Tochter, Anna Amalia erwähnt werden. Am 24. Oct. 1739 zu Braunschweig geboren, eine Schülerin Jerusalem's, ergriff sie als neunzehnjährige Wittwe des Herzogs Ernst August Constantin von Weimar mit sicherer Hand die Zügel vormundschaftlicher Regierung. Was sie zum Segen des Landes und zum Flore der Wissenschaften gewirkt, namentlich für die Blüthe der Universität Jena; wie sie als Schützerin der Künste, wovon sie selbst die Malerei unter Oeser's Anleitung, die Musik, und oft in Privatzirkeln die Schauspielkunst praktisch übte; welch ein Vorbild der Mutterliebe und Muttersorgfalt sie war; wie sie durch den Reichthum ihres Geistes und durch die Hoheit ihres Gemüths der Mittel- und Glanzpunkt des weimarschen Hofes wurde, und namentlich durch die Berufung Wieland's, Bertuch's, Jagemanns, (mit dem sie das Italienische trieb,) Knebel's und anderer erleuchteter Zeitgenossen zu Lehrern und Führern ihrer Kinder den ersten Grund zu dem später sich bis zu welthistorischer Bedeutsamkeit entwickelnden Rufe Weimars legte: das Alles ist so bekannt, daß es hier keiner weiteren Ausführung bedarf. Aus vollstem Grunde der Wahrheit sagt daher Theodor Mundt von dieser hochgebildeten Frau: »In einer frühen Zeit des deutschen gesellschaftlichen Lebens war Herzogin Amalie eine feine und anmuthige Gestalt, die, mit einer ungewöhnlichen Gründlichkeit der Bildung, Geschmack, Sinn für das Schöne und Grazie in den Lebensformen vereinigte, wie es in Deutschland, besonders unter den Frauen, noch etwas Seltenes war. *) – Daß diese Dame ihre Sprachstudien nicht blos auf lebende Sprachen beschränkte, sondern auch des Lateinischen
____
*) Knebel's lit. Nachlaß und Briefwechsel herausg. v. Varnhagen von Ense und Theodor Mundt, 1840, I. p. XXII.


____
264

in so weit mächtig war, daß sie den Properz übersetzen konnte, ist bekannt; aber nicht ohne Bewunderung kann man auf den Eifer blicken, mit welchem sie noch in ihren höheren Jahren sich der Erlernung der griechischen Sprache widmete. »Seit Villoison's Hiersein,« schreibt sie an ihren Freund Knebel, »habe ich das Griechische angefangen, ich kann sieben Anakreontische Oden lesen und verstehen, und bin aber auch une Princesse pleine de génie. Knebel, was sagen sie dazu? wären sie hier, wie wollten wir die Sprache der Götter treiben! Es macht mir wirklich unendlich viel Freude und bringt mir viele Stunden angenehm hin.« Kurz darauf heißt es weiter: »Das Griechische nimmt mit großen Schritten seinen glücklichen Fortgang. Wie habe ich doch so verlassen sein können und nicht eher diese Sprache der Seele gelernt! Mir ist es, als wär' ich in einer ganz andern Welt; meine Seele flattert so leicht mit dem liebenswürdigen Täubchen, welches aus Anakreons Hand sein Brot pickt.« Zwei Jahre darauf durfte die edle Frau sich schon das Zeugnis geben: »Mein Fleiß im Griechischen geht mit großen Schritten. Diesen Winter studire ich den Aristophanes, welchen ich zuweilen mit Wieland lese; ich finde an ihm sehr viel Vergnügen, sein beißender Witz ist unerschöpflich, und mit allem dem hat er so viel Grazie, daß man ihm Alles gern verzeiht, und selbst seine schmutzigen Sachen. Ich habe mit den »Fröschen den Anfang gemacht, die so gut auf unsere Zeit passen, daß wenn Aristophanes jetzt noch lebte, er nicht besser über unsere Μονσικῂ χελιδονῶν und λωβητοί τεχνῆς sprechen könnte! *) –

Herzog Carl's ältester Sohn, und sein Nachfolger, Carl Wilhelm Ferdinand, (geb. 9. Oct. 1735, st. 10. Nov. 1806
____
*) Knebel’ s lit. Nachlaß, I. p. 190 bis 194. –



____
265.

zu Ottensen in Folge einer in der Schlacht bei Jena erhaltenen Wunde) dehnte seine großangelegten Plane sogar bis auf den Thron von Großbritannien aus, dessen Anwartschaft er sich durch die Vermählung mit der Prinzessin Auguste gesichert zu haben glaubte, als sich später durch neue Nachkommenschaft die Aussichten trübten, und er sich mit einer doppelten Aussteuer seiner Gemahlin abfinden lassen mußte. – Carl Wilhelm Ferdinand's Lehrer in der Kriegskunst waren seine Oheime: König Friedrich der Große und Herzog Ferdinand von Braunschweig, unter deren Auspicien er seine Feldherrnlaufbahn durch die Siege bei Hastenbeck 1757, bei Crefeld 1758 und bei Herford 1759 so glorreich begann, daß selbst der große Friedrich sein Lob in einer Ode verewigte. – In den Künsten des Friedens hatte dieser hochbegabte Fürst den würdigen Abt Jerusalem zum Lehrer. Durch diesen Mann wurde die Vorliebe für wissenschaftliche Studien schon früh in dem Jünglinge genährt, und das Bedürfnis geweckt, im Umgange hochgebildeter Männer stets den edelsten Lebensgenuß zu suchen. Daher war er in Italien der tägliche Gesellschafter eines Winckelmann, Hamilton u. A.; und in seiner Heimath der Beschützer eines Lessing. Jeder durchreisende Gelehrte von Auszeichnung konnte auf die Ehre rechnen, dem Herzoge vorgestellt zu werden, und mit einem Mirabeau, Benjamin Constant, Garve, de Lüc, Justus Möser, Helvetius, d'Alembert, Voltaire, Mendelssohn, Plattner, Pütter, (den er sogar zu seinem Staatsrathe ernennen wollte,) Johannes Müller, Marmontel, Gall und vielen Anderen stand er theils in persönlicher, oder wenigstens in brieflicher Verbindung.– Gebildet durch seine in fast alle Länder Europas unternommenen Reisen, die fast Triumphzügen glichen, weil man in ihm einen Helden des siebenjährigen Krieges feierte, erwarb



____
266

er sich als Regent den Ruhm eines weisen und innig geliebten Vaters des Vaterlandes, ohne dabei die Pflege der Künste aus dem Auge zu lassen. Was er durch Unterstützung hülfsbedürftiger Kunstjünger (z. B. Weitsch), was er aber auch namentlich durch seine Bauliebe gewirkt, wie er durch sie zur Verschönerung Braunschweigs beigetragen, indem er daselbst das prachtvolle Corps-de-logis des Schlosses, das landschaftliche Haus und die schöne Hauptwache am Augustthore errichtete, auch die Anlage der reizenden Wallpromenade begann; wie er durch freigebige Unterstützung geschmackvolle Privatbauten förderte, und durch Erweckung der Baulust die Industrie zu heben suchte, ist dankbarlichst zu rühmen. Obgleich er sich in seinen früheren Jahren nicht ohne Glück auch in der Poesie versucht hatte, so zog ihn doch von allen Künsten die Musik am meisten an, »welcher er,« wie er selbst sagte, »die schönsten Stunden seines Lebens verdankte.« Auf der Violine brachte er es selbst bis zur Virtuosität. Nachdem er den ersten Unterricht von dem braunschweiger Stadtmusicus Weinholz genossen hatte, setzte er dieses Studium bei dem in braunschweigsche Dienste berufenen Concertmeister Pesch, einem Manne von ausgezeichneten Leistungen, fort, der ihn auch auf der 1766 unternommenen Reise nach Italien begleiten mußte. Hier schwelgten sie nun in den Genüssen, die ihnen durch das Spiel der ausgezeichnetsten derzeitigen Violinisten bereitet wurden, eines Nardini, Nazari, Pugnani, Barbella, vorzüglich eines Tartini. Wie nun 1764 der lernbegierige Fürst während seines londoner Aufenthaltes den Unterricht Giardini's benutzt hatte, so kamen auch später namhafte Virtuosen auf seine Einladung nach Braunschweig, z. B. Nardini, Lolli, mit denen fleißig musicirt wurde. Diese Uebungen wurden auch noch später bei dem sehr ausgezeichneten braunschweiger Violinspieler Maucour fortgesetzt,



____
267

und zwar bis zum eigentlichen Regierungsantritte, wo nun diese Lieblingsneigung den ernsteren Berufspflichten gänzlich weichen mußte. Zu erwähnen ist wenigstens, daß auch Louis Spohr, ein Braunschweiger, seine erste Unterstützung zu seinen Studienreisen von Carl Wilhelm Ferdinand empfing. – Auch dem Theater schenkte der Herzog Theilnahme, und man rühmt von ihm, daß er sich selbst als Darsteller ausgezeichnet habe, nicht allein bei den Hofspielen, welche Prinz Heinrich von Preußen zu Rheinsberg zu geben pflegte, sondern auch bei den auf dem braunschweiger Schlosse veranstalteten, in denen in der Regel fast alle Prinzen und Prinzessinnen des Hauses mitwirkten. Daher zollte auch dieser Fürst dem Gastspiele großer mimischer Künstler, z. B. eines Iffland, seinen unverhohlensten Beifall. Von Dresden berief er die italienische Oper unter Simoni und Patrassi nach Braunschweig, erhob das Theater zur Hofbühne, und gewährte dem Publikum an jedem Montage unentgeltlich den Genuß der, sich des höchsten Flores erfreuenden italienischen Oper. –

Hauptsächlich richtete dieser weise Regent sein Augenmerk auf Verbesserung des Unterrichts- und Schulwesens, und munterte auch Privatleute, welche sich diesem wohlthätigen Zwecke widmeten, durch bedeutende Unterstützung auf. So überwies er z. B. das Lustschlos Vechelde bei Braunschweig dem bekannten Pädagogen Hundeiker, lediglich zur Einrichtung eines Privat-Erziehungsinstituts; und förderte auch die Jacobsohn'sche Erziehungsanstalt zu Seesen durch die liberalsten Privilegien. – Dem Collegium Carolinum, dessen physikalische Instrumenten-Sammlung er freigebigst vermehrte, widmete er überhaupt eine ganz vorzügliche Sorgfalt; und wahrhaft fruchtbringend wurde diese Anstalt in der That erst dadurch, daß er diese Lieblingsschöpfung seines Vaters ganz



____
268

im Geiste ihres Stifters fortpflegte, und ihr durch eine angemessene Reform eine höhere Bedeutung zu verschaffen sich angelegen sein ließ. Scheiterten auch manche kühne Pläne dieses strebenden Geistes an der Engherzigkeit kleinlicher Alltagsmenschen, so werden sie dennoch ihrem Schöpfer die Bewunderung der Nachwelt sichern. Zu diesen Plänen gehörte die Reform des gesammten Schulwesens im Herzogthum Braunschweig, zu deren Realisirung er einen Campe, Stuve, Trapp u. s. w. in seine Dienste berief. Auch ist die Errichtung einer Schulbuchhandlung hierher zu zählen, für welche sich der Herzog unter großen Opfern interessirte. so überwies er z. B. dem nach Braunschweig berufenen Buchhändler Vieweg, dem Schwiegersohne Campe's, zur vorläufigen Einrichtung eines Buchladens die Zimmer des Mosthofes, schenkte ihm das fürstliche Schauspielhaus vor der Burg zur Benutzung des Platzes und Baumaterials, und streckte ihm außerdem die nöthigen Mittel dar zu einer großartigen, für ganz Europa berechneten Buchhändler-Börse. Ja, er ging in seiner Großmuth so weit, daß er die Rechnungen cassirte, um den Vorwürfen der Kleinigkeitskrämer für immer zu entgehen. Bei der vortheilhaften Lage Braunschweigs, bei seinem Reichthume, seinem ausgebreiteten Transitohandel, bei den für Braunschweig vortheilhaften, politischen Conjuncturen, bei der Gewährung der liberalsten Freiheiten und Bevorzugungen, namentlich bei der damals in Braunschweig und Dänemark vor allen anderen europäischen Staaten herrschenden Preßfreiheit, konnte die Errichtung einer neuen Buchhändlerbörse dem sächsischen Monopole höchst gefährlich, und für Braunschweig selbst, als Centralpunkt des Buchhandels, eine Quelle des reichsten Gewinnes werden. – Dazu kam, daß man auch 1795 die Verlegung der Landesuniversität Helmstedt nach der Residenz beabsichtigte, und die darauf bezüglichen Berathungen



____
269

bereits einer dazu gebildeten Commission übertragen hatte, welche unter dem Vorsitze des Geheimenraths Mahner bestand, aus: den Aebten Henke und Sextro, Hofrath Remer, den beiden Bürgermeistern von Helmstedt, Hofrath Fein und Seidel, dem Bürgermeister Hurlebusch, Polizeidirector Alburg und den beiden Hofräthen von Zimmermann und Eschenburg. Die Vereinigung aller wissenschaftlichen und artistischen Institute in Braunschweig bot um so weniger Schwierigkeit dar, als hier bereits viele derartige Schätze in fürstlichen Sammlungen und öffentlichen Instituten aufgestapelt waren, und auch die Verschmelzung der wolfenbüttler Bibliothek mit der helmstedter und den im Lande zerstreueten, klösterlichen und städtischen Sammlungen zu einer braunschweiger Gesammt-Bibliothek in Aussicht stand. Aber das Eine wie das Andere unterblieb, weil zunächst mehre der helmstedter Professoren zu unmäßige Entschädigungen forderten. So hatte z. B. Beireis die Dreistigkeit, nur für den Transport seiner Effecten an 80,000 Thaler als Vergütung zu verlangen. Auf dieses Gesuch resolvirte jedoch der Herzog weiter nichts, als das er in margine eine Windmühle anbrachte! – Auch die großartige Idee, in Braunschweig eine Kunstakademie zu errichten, deren Oberaufsicht dem würdigen Oberbaurath Peter Joseph Krahe übertragen werden sollte, mit dem auch bereits über den Bau derselben, sowie über die Aufführung einer Bildergallerie das Vorläufige abgeredet worden war sollte leider durch die Kriegsunruhen, welche die letzten Lebensjahre dieses edeln Fürsten störten, verzögert, und endlich durch seinen unerwartet schnellen Tod gänzlich vereitelt werden! –

Dieser Ueberblick wird hoffentlich genügen, uns die Ueberzeugung zu verschaffen, daß nur unter dem Schutze eines geistig so hochgebildeten Fürstenhauses die Entwickelung jener Literaturepoche möglich war, deren Schilderung wir unternahmen,



____
270

und wir fühlen uns schließlich nur noch veranlaßt, die Ungerechtigkeit zurückzuweisen, mit welcher man den Einfluß dieses Fürstenhauses auf die deutsche Literatur hat schmälern wollen. Bouterweck sagt geradezu: »Nicht ein einziger deutscher Fürst unter den vielen, die keinen Aufwand scheueten, einen glänzenden Hofstaat zu unterhalten, hat sich durch einen merkwürdigen Beweis von Liberalität, oder auf andere Art, um die erste Regeneration der deutschen Poesie verdient gemacht.« –– »Die Verachtung, mit der Friedrich II., König von Preußen auf die deutsche Literatur herabsah, mußte den kleinen Fürsten, die in anderen Dingen seine Nachahmer wurden, auch ein hinreichender Grund scheinen, sich um die deutsche Poesie wenig zu bekümmern. *) Wie schon gesagt, hat uns das braunschweigsche Regentenhaus vom Gegentheil überzeugt. Die belebende Sonne fürstlicher Huld war unserer damals armen, verkannten und verachteten Literatur allerdings unentbehrlich, weshalb selbst ein Klopstock, der doch für Volksfreiheit glühete, stets bemühet war, der Literatur fürstliche Gönner zuzuwenden. Läßt sich aber auch auf der anderen Seite nicht läugnen, daß Fürstengunst meistentheils nur lähmend auf den freien Entwickelungsgang der Kunst und Wissenschaft einzuwirken pflegt, und daß auch, nach den betrübenden Erfahrungen aus neuerer Zeit zu wünschen gewesen wäre, daß sich die fürstliche Huld womöglich soweit erstreckt hätte, unsere Literatur gänzlich zu ignoriren, so würde es doch eines Deutschen unwürdig sein, das Gute, wo es wirklich einmal geschah, verkennen und mißgünstig verläugnen zu wollen. Deshalb müssen wir auch dem braunschweigschen Regentenhause, mit den besten Wünschen für die Zukunft, freudig seinen mittelbaren Antheil an dem Verdienste zugestehen, welches sich Braunschweigs Literaten um das gesammte deutsche Vaterland erwarben.
____
*) Fr. Bouterwek's Gesch. der Künste und Wissenschaften, 1819, XI. p. 12.





Quelle:

Das Buch wurde vom Münchener Digitalisierungszentrum eingescannt und liegt in der Bayerischen StaatsBibliothek digital wie folgt vor:

Braunschweig's schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur
Autor / Hrsg.: Schiller, Karl Georg Wilhelm ; Schiller, Karl Georg Wilhelm
Verlagsort: Wolfenbüttel Erscheinungsjahr: 1845 Verlag: Holle
Signatur: P.o.germ. 1273 w
Reihe: Braunschweig's schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur
Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10119137-0


Hinweis zum Autor:
Carl Georg Wilhelm Schiller war ein deutscher Kunst- und Kulturhistoriker und Privatgelehrter. Er war Gründer und erster ehrenamtlicher Leiter des Städtischen Museums Braunschweig.









Alfred Wolff 1915: Der Toleranzgedanke in der deutschen Literatur zur Zeit Mendelssohns

Wolfenbüttel: Statue Nathan der Weise

Der Toleranzgedanke in der deutschen Literatur zur Zeit Mendelssohns.

(Gekrönt mit dem I. Preis der Mendelssohn-Toleranz-Stiftung.)

Von Dr. Alfred Wolff, Oberlehrer am Lessinggymnasium in Berlin.

Berlin. Mayer & Müller, 1915.


____

Der Toleranzgedanke in der deutschen Literatur zur Zeit Mendelssohns.

(Gekrönt mit dem 1. Preis der Mendelssohn-Toleranz-Stiftung.)

Von Dr. Alfred Wolff, Oberlehrer am Lessinggymnasium in Berlin.

Berlin. Mayer & Müller. 1915.


____

Vorbemerkung. Diese Arbeit ist 1913 entstanden; nach den Bestimmungen des Preisausschreibens sollte ihr Umfang nicht drei Bogen übersteigen. An anderer Stelle und zu ruhigeren Zeiten hoffe ich, ausführlicher die Geschichte des Toleranzgedankens behandeln zu können.
A. W.


____

I.
Eine Geschichte des Toleranzgedankens, die seinen mannigfachen Verzweigungen und Wirkungen gerecht würde, ist noch nicht geschrieben. An Vorarbeiten fehlt es nicht; von theologischer Seite hat man bei allen Konfessionen diesem Problem, seiner dogmatischen Seite und religiösen Bedeutung, eingehende Aufmerksamkeit gewidmet; man hat gelegentlich seine philosophische Begründung und seine Verknüpfung mit anderen Strömungen des geistigen Lebens untersucht; man hat sich mit den staats- und kirchenrechtlichen Konsequenzen des Gedankens in den einschlägigen Lehr- und Handbüchern beschäftigt und schließlich der Bedeutung, die er für bestimmte Zeiten hat, oder den Wandlungen, die er in einzelnen Ländern durchgemacht hat, objektiv-wissenshaftlich, no< Häufiger in tendenziöser Färbung nachgespürt.

Aber alle diese an sich aufschlußreichen Monographien, von denen der bibliographische Anhang einige zusammenstellt, sind doch nur Vorarbeiten, Abschlagszahlungen zu einem umfassenden Werk, das die Bedeutung des Toleranzgedankens für die Geschichte der Menscheit zum Gegenstand wählen würde. Reicht doch die Idee der Duldung bis in die Anfänge menschlichen Gemeinschafts- und Gesellschaftslebens hinein, um sich dann in allmählicher Ausweitung zu einem großen und beherrschenden Menschheitsgedanken zu entfalten, der in des Einzelnen und der Völker Dasein mit eigenen Ansprüchen eingreift. Seine Vollendung, Anerkennung und endgültige Formulierung findet er schließlich in den Zeiten des 18. Jahrhunderts; seiner Behandlung in der deutschen Literatur zur Zeit Moses Mendelssohns ist diese Arbeit gewidmet.

Wer einen Ausschnitt aus der Geschichte des Toleranzgedankens darstellen will, so wie er in der zeitgenössischen Literatur seinen Niederschlag gefunden hat, schreibt sozusagen ein Kapitel aus der Biographie eines Helden, eben dieses Gedankens, als eines Individuum, das


____
4 Methode der Darstellung,

lebenerfüllt und lebenspendend Taten und Ideen der Menschen formt. Und wie es bei der Biographie eines Menschen sich empfiehlt, zunächst einmal das Milieu, in dem er aufwuchs, und seinen Zusammenhang mit seinen Ahnen, seine Herkunft zu schildern, so wird es auch rein methodisch nützlich sein, zuerst eine Grundlegung des Gedankens zu geben und dann die literarische Behandlung der Idee in jener Zeit zu besprehen -- in chronologischer Reihenfolge, aber nicht in einer Aufzählung von Namen und Zahlen, sondern so, daß durch diese Darstellungsweise die allmähliche Entwicklung und Verbreitung des Gedankens aus den Werken der Literatur deutlich wird. So wird auf der einen Seite die Totalität des Gedankens und seine Bedeutung in der Zeit ebenso wie die Ausdrucksformen, die er sich geschaffen hat, schärfer hervortreten, auf der anderen Seite wird die Grundlegung die Aufgabe haben, kurz das Wesen, die Geschichte, die Objekte der Toleranz und den allgemeinen Charakter der Zeit zu skizzieren, damit so der Zusammenhang, die Kontinuität dieses Begriffs sich zeige, der in die Zeit. des 18. Jahrhunderts schon mit allerlei Traditionen und Erlebnissen belastet eintrat, um dann seine Erfüllung und Vollendung zu finden.

So viel zur Einleitung über die Ökonomie und den Aufbau der Arbeit. --- --

Toleranz ist in ihrer ursprünglichsten Form die Duldung, die der eine gegen den anderen aus Gründen des sozialen Empfindens, des notwendigen Zusammenlebens zu üben hat. In erweiterter und komplizierter Form wird allmählich aus dieser selbstverständlichen Forderung ein Problem, wenn es sich darum handelt, einmal das Verhältnis der mächtigeren Gruppe zur schwächeren zu regeln und ferner die Beziehungen zwischen den religiösen Gruppen untereinander und dem Staat gegenüber so zu ordnen, daß sich eine relative oder mit der Zeit allgemeine Gleichberechtigung daraus ergibt.

Diesem Begriff der Toleranz haftet leicht ein unangenehmer Beigeschmack an, der darin liegt, daß „Duldung“ bedeuten kann: etwas als nicht voll- und gleichberechtigt sehen, als tieferstehend ertragen, ohne darüber hinweggehen oder hinwegsehen zu können *). Das demütigende Gefühl, daß der Tolerierte gegenüber dem Duldenden
____
*) So Goethe, Sprüche in Prosa: Dulden heißt beleidigen.


____
5 Begriff der Toleranz.

empfindet, steigert sich leicht, wenn die Toleranz als Gnade, nur als Gnade gewährt wird, nicht als Recht, und wenn der huldvoll Gewährende den Unterschied zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden sehr stark, zu stark betont.

Neben diese Form der Toleranz, die mit der Zeit ganz zurückweicht, tritt eine andere Auffassung: nach ihr ist Toleranz ein notwendiges Element, ein regulierendes Prinzip des sozialen Haushalts, um in Zeiten der Vorbereitung, der noch nicht völligen Gleichberechtigung die Beziehungen der Menschen zu ordnen; sie ist dann eine notwendige Durchgangsstation, durch die man hindurch, über die man aber auch hinweg muß.

Der Gedanke der Toleranz bedeutet schließlich drittens in seiner Vollendung etwas Höheres, ganz Positives, was die Menschen und die Menschheit bereichert; er bedeutet die Achtung, die der eine vor dem anderen, jeder vor der Invidualität, eine Gemeinschaft vor der andersartigen, vor ihrer Überzeugung und ihrem Streben, hegt und zeigt; er bedeutet, daß man gewillt ist, dem anderen und seiner Wesensart gerecht zu werden, ihn voll Anerkennung und Ehrfurcht auf sich wirken zu lassen und die Gerechtigkeit neben die Liebe, das Recht neben die Gnade zu setzen. So gefaßt lehrt die Toleranz weder Entsagung noch Gleichgültigkeit (wie ihr bisweilen -- zu Unrecht -- vorgeworfen wird), weder Unglauben noch Schwäche, sondern sie erhöht die eigenen Kräfte im Wettkampf mit den anderen, die der Intolerante nicht kennt noch anerkennt. In dieser aktiven und aktivierenden Form genommen, bereichert sie die Seele des Einzelnen und der Gesamtheit, ist sie eine der stärksten Ausdrucksformen eines berechtigten und selbstsicheren Individualismus, ist sie ein Protest gegen jede monopolisierende, rücksichtslose Gewalt, die mit dem Anspruch auf Allein- und Allgemeingültigkeit im kirchlichen oder politischen oder sozialen oder geistigen Leben auftritt, und lehrt schließlich, daß Ziele vor dem Menschen liegen, nicht hinter ihm, lehrt, daß das Ergebnis der Vergangenheit und Gegenwart nur Mittel zum Höheren, Zukünftigen ist, lehrt, daß, je vielgestaltiger das Leben und das Denken ist, desto reicher und fruchtbarer es sich offenbart.

Alle diese Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Toleranzgedankens treten, kritisch oder zustimmend, ihm vor allem in


____
6 Zur Geschichte des Toleranzgedankens. -- Altertum.

seiner Geschichte gegenüber, die wir jetzt, in den wichtigsten Etappen wenigstens, andeutend skizzieren wollen.

Wenn wir die Stellung kennen lernen wollen, die die Träger unserer heutigen Kultur im Altertum zu dem Gedanken der Toleranz eingenommen haben, und zuerst die Auffassung des Judentums prüfen, so sehen wir, daß seine Gesetzgebung von ethischen und religiösen Gesichtspunkten durchtränkt, im weitgehendsten Maße Schonung und Duldung gegen die Fremden empfahl. Der Gott der Juden, der ein eifervoller, aber darum kein unduldsamer, sondern ein Gott der Liebe ist, hatte zwar seinem Volke für ewige Zeiten das mehr leid- als freudvolle Gepräge der Auserwähltheit aufgedrückt, aber diese setzte sich doch darum nicht in bekehrungswütigen Fanatismus um, sondern ließ den verschiedensten Elementen nebeneinander Glaubens- und Existenzberechtigung zuteil werden.

Bei den Griechen standen ökonomische Gesichtspunkte im Vordergrund, die sie die Fremden und Minoritäten nach dem Nutzen beurteilen ließen. Im übrigen sprachen keine ethischen Gesichtspunkte mit, sondern in diese Herablassung mischte sich, solange das Prinzip der πόλιςdie geschichtliche Entwicklung beherrschte, die souveräne Verachtung gegen den βάρβαρος. In religiösen Dingen aber war bei aller Freiheit des Denkens der Glaube an die Götter selbstverständliche Voraussetzung und Grundlage des Lebens, seine Übertretung verpönt. Erst im 4. Jahrhundert v. Chr. finden sich Ansätze zu einer theoretischen Vertiefung des Gedankens; die Ausbreitung des bis dahin national fundierten Griechentums über die Welt, die man die Epoche des Hellenismus nennt, lehrt sie die ganze Tragweite des weltbürgerlihen Gedankens fassen, für den sie den Namen des „Kosmopolitismus“ prägen. Dadurch werden sie zur Kenntnis und Erkenntnis anderer Völker, anderer Kulturen, anderer Denk- und Wesensart gezwungen, aus der bald eine Anerkennung wird; sie lernen deren Eigenwerte dulden oder achten, wenn auch nicht gern (wie ja noch die nivellierende Tendenz der Politik des Antiochus und seine Intoleranz zu den Kämpfen gegen die Juden führte). Aber die Griechen bildeten keinen aktiven Faktor mehr in der Weltpolitik, sie gaben diese Rolle ganz an die Römer ab, die lange den religiösen Besonderheiten ihres vielgestaltigen Reiches gegenüber tolerant blieben. -- -- Auf die Probe gestellt wurde der Toleranzgedanke erst, als das Christentum mit seinen weltumspannenden


____
7 Mittelalter.

Plänen auftrat und der römische Staat sich den Bestrebungen der aufsteigenden Kirche mit allen Gewaltmitteln entgegensetzte. Und als das Christentum seinen Sieg errungen hatte, zunächst geduldet, dann die herrschende Staatsreligion geworden war, da entsteht der paradoxe Prozeß, daß dieselbe Macht, die die Verfolgungen erlitten hatte und im Namen der Liebe und der Humanität die Welt erobern wollte, die stärkste Intoleranz übt gegen alle, die anders daten, anders glaubten . . .

Das Mittelalter ist voll von Dokumenten der Unduldsamkeit, von Prozessen gegen Juden, Ketzer, Heiden und Sektierer, von Verfolgungen aller Art. Alle Regungen abweichender Frömmigleit, besonders wenn sie sich in eigenen Gemeinschaftsbildungen organisieren wollten, wurden von der Kirche unterdrückt, die die Entwicklung von Religion zur Theologie, vom Erlebnis zur Tradition, von persönlicher Hingabe an den Gott zur oft mechanisierten, in Formen und Formeln gebrachten Frömmigkeit durchgemacht hatte. So kommt es, daß Schriften wie die des Abälard, dem Lessing sich wahlverwandt fühlte, mit ihrer vorurteilslosen Anerkennung der Religionen und ihrer Berechtigung eine Ausnahme in der religionsphilosophischen, dogmatisch abgestimmten Literatur des christlichen Mittelalters bildeten. Wer auch nur Proben aus den zahllosen Religionsgesprächen liest, die gerade unter unserem Gesichtspunkt eine sehr ertragreiche Behandlung verdienen würden, mit ihrem Für und Wider, mit ihren unheilvollen Konsequenzen für den Überwundenen, der weiß, daß hier von Toleranz keine Rede sein kann, daß hier blindwütiger, voreingenommener Fanatismus seine Orgien feiert. Und was von ihnen, gilt auch von der übrigen Literatur, und Stimmen wie die Walters von der Vogelweide:

im dienent kristen Juden heiden
der alle lebendin wunder nêrt

oder Freidanks:

Gott hat dreier leie kint
daz kristen juden heiden sint.

sind selten genug in der an Kulturwerten so reichen Zeit des Mittelalters. Nahm es doh trotz der Erweiterung des Horizonts durch die Kreuzzüge in Glaubensdingen einen sehr einseitig begrenzten Standpunkt ein, der sowohl von der bürgerlichen als auch von der religiösen Toleranz nichts wissen wollte.


____
8 Reformation.

Der Gedanke daran tritt erst, nachdem die am Griechentum orientierten Anschauungen der Renaissance und die Wiederbelebung der Antike sowie vorher schon die Erweiterung des Horizonts durch die Kreuzzüge das strenge und harte Gefüge der Kirche etwas gelockert und die Anerkennung des Einzelnen proklamiert hatten, mit dem Kampfgedanken der Reformation, mit dem Auftreten Luthers in ein neues Stadium. Jetzt erhob eine festorganisierte Gemeinschaft gegenüber der bisher allein herrschenden und alleinseligmachenden katholischen Kirche den Anspruch, als gleichberechtigte Macht angesehen zu werden; sie ward selbst in vielen Gegenden die stärkere und zwang dadurch, da sie sonst die Mactmittel der Intoleranz gegen die Katholiken angewandt hätte, zu einer Auseinandersezung, nach der den Minoritäten eine gewisse Duldung eingeräumt wurde.

Freilich ist auch die protestantische Kirche in allen ihren Abarten diesem Prinzip nicht treu geblieben, wo sie erst die Macht hatte; gegen Sekten, die sich innerhalb der neuen Kirchen bildeten, gegen einzelne „Ungläubige“ verfuhr sie bald ebenso unduldsam wie gegen Katholiken und wie alle stets gegen die Juden. Aber es war doch ein Fortschritt, daß einmal von einer geschlossenen Gesamtheit der Gedanke der Toleranz proklamiert worden war.

Die Auseinandersetzungen, die das 17. Jahrhundert um dies Prinzip führte, die blutigen Kriege, die neben dem Kampf um die Macht auch häufig im Namen der Religion ausgefochten wurden, hatten neben der rechtlichen Anerkennung der Kirchen, die noch einmal festgelegt wurde, das Gute im Gefolge, daß jetzt eine gewisse Passivität, eine gewisse Resignation gegen die allzu starke, allzu prononzierte Betonung des religiösen Gedankens eintrat, die der Ausbreitung des Toleranzbegriffs Vorschub leistete. Man hörte damit auf, dem einzelnen Andersdenkenden oder der Sekte das Recht auf Leben und Duldung zu verweigern oder zu beschränken. Man griff auf das alte Argument, das einst schon die skeptische Stimmung des ausgehenden Altertums gelehrt hatte, zurück, daß schließlich alle Konfessionen und Religionssysteme dasselbe Recht hätten, da ihnen ja allen dasselbe Ziel und derselbe Text, derselbe Stoff gegeben sei und ihnen allen der Drang nach der Wahrheit und dem Göttlichen innewohne. Es galt für ungebildet, sich für religiöse Differenzpunkte stärker zu interessieren, und



9  17. Jahrhundert. -- Pietismus.

es galt für die Sache und Pflicht eines freien Geistes, überall diese Probleme mit dem Lächeln des über den Dingen Stehenden zu übergehen und dafür Heil und Antwort in der Philosophie zu suchen. Aber man blieb bei dieser Negation, die doch den Charakter des Verzichts trug, nicht stehen, sondern man ging weiter und proklamierte das Toleranzprinzip positiv als Recht und Pflicht des Staates, dem die oberste Entscheidung in diesen Fragen eingeräumt wurde. England, gewitzigt durch seine Religionskämpfe, machte den ernsthaften Versuch, den verschiedenen religiösen Gemeinschaften nebeneinander Duldung zu gewähren; es nahm die Juden wieder im Lande auf und strebte vor allem danach, die Kräfte des einzelnen möglichst zugunsten des Staates aufs höchste zu entwickeln. Ebenso befolgte Holland in tatkräftiger Konsequenz und mit glänzendem Erfolg für seine materielle und geistige Lage diese Grundsätze, denen der Engländer Locke die theoretische Formulierung gab. In Deutschland sorgte mit glänzender Publizistik und in scharfsinnigem Ausbau Pufendorf für ihre Ausbreitung, und sein Brotherr, der Große Kurfürst, setzte sie durch gesetzgeberische Maßnahmen, vor allem zugunsten der aus Frankreich vertriebenen Protestanten, in die Tat um.

Und noch einen Zufluß erhält der Toleranzgedanke, bevor er in das Zeitalter der Aufklärung eintritt und dort seine volle Ausgestaltung erfährt, nämlich das Auftreten des Pietismus. Diese Sektenbewegung, in ihrer Bedeutung für das deutsche Geistesleben erst durch die neuere Forschung gewürdigt, versuchte abseits von dem offiziellen Kirchenglauben durch den Appell an das Gemütsleben die Frömmigkeit des Einzelnen zu beleben und zu verinnerlichen. Dem Staate treu bildeten sich jetzt Gemeinschaften, die ein eigenes nach ihren Gesetzen geleitetes Gemeinschaftsleben führten. Dadurch kamen sie in Konflikt mit der herrschenden Kirchengewalt, um so mehr als sie durch die Männer, die ihre Vorkämpfer waren, durch ihre sittliche Würde und tiefe Frömmigkeit eine Zeitlang immer größere Bedeutung für das öffentliche Leben gewannen. Schon aus eigenem Interesse also rückten sie mit aller Wucht gegenüber den Anfeindungen von seiten der Kirche das Recht der Duldung in den Vordergrund, die der Staat seinen Untertanen selbst gegen die Kirche zu gewähren habe; aber erst Friedrich der Große war es, der sie auch offiziell von Staatswegen den Sekten gegenüber durchführte.


____
10 Aufklärung.

Und damit kommen wir ganz in das 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung, dieser so viel gepriesenen, aber auch viel gescholtenen und verkannten Bewegung, deren Einfluß auf die Entwicklung der modernen Welt gar nicht hoch genug anzuschlagen ist; auch für den Toleranzgedanken ward sie Grundlage und Ausgangspunkt, Ziel und Vollendung. Was in ihr revolutionierendes lag, sei mit ein paar Worten gesagt: Sie setzte -- vorbereitet durch Renaissance und Reformation und die Philosophen des 17. Jahrhunderts --- an Stelle der Autorität die Autonomie, an Stelle der Gebundenheit und Abhängigkeit die Mündigkeit, an Stelle der Kirche als der mächtigsten Gewalt den Staat, an Stelle des Gewissenszwangs die Gewissensfreiheit, an Stelle der Macht der Gesamtheit das Recht des Einzelnen, an Stelle des Dogmas die Vernunft, an Stelle der Unterdrückung die Toleranz. So schuf sie jedem die Möglichkeit, unbeirrt von Vorurteilen und Abhängigkeiten, die außerhalb seiner Fähigkeiten lagen, sein eigenes Leben aufzubauen. Das galt nicht bloß für den einzelnen, sondern in ihrem Programm lag es, daß auch die bisher unterdrückten Minoritäten das Recht bekamen, sich zu organisieren, sich am Staatsleben zu beteiligen und im freien Spiel der Kräfte auf diese Weise die eigenen Anlagen zu entwickeln, zum eigenen Nutzen und zum Nutzen des Staats und der Gesellschaft. Ihr Instrument war die „Vernunft“, der Wert- und Gradmesser, mit dem sie die Rätsel des Lebens schätzte und löste. Freilich hatte sie auch die Fehler ihrer Vorzüge: ihr Rationalismus ist bei einigen ihrer Vertreter zur Nüchternheit, ihre Kritik zur Verständnislosigkeit, ihr oft unhistorisches Empfinden zur Verkennung alles Irrationalen, Intuitiven, des Gefühls, der schöpferischen Phantasie geworden, ihre Anhänger haben manchmal negiert, was aus den unterirdischen und unfaßbaren Quellen des Lebens hervorquillt, sie haben den Wert der Instinkte oft unterschätzt. Aber all das ist geringfügig im Verhältnis zu dem Großen, was die Aufklärung für die Entwicklung der modernen Welt geleistet hat, sie ist ein befreiendes Element, eine notwendige Durchgangsstation, ein grundlegender Eckstein geworden.

Aber die Aufklärung ist kein ausschließlich deutsches Gewächs, dazu waren ihre Gedanken zu sehr mit der Welt und der Weltlage verwachsen. Von England und vor allem von Frankreich strömten


____
11 Ausland. -- Friedrich der Große.

ihr Zuflüsse zu, und wir werden nachher (s. S. 27) in der Entwicklung des Toleranzgedankens in der deutschen Literatur an einem Beispiel statt vieler sehen, wie französische Werke bedeutungsvoll geworden sind. Hier mag nur auf den engen Geistesverkehr hingewiesen werden, der zwischen den beiden Völkern bestand, der bewirkte, daß französische Werke in Deutschland, sei es als Original, sei es als Übersetzung beinahe ebenso häufig und gern gelesen wurden wie in der eigenen Heimat; und es mag die publizistische Tätigkeit der Enzyklopädisten, eines Voltaire, Diderot usw. wenigstens erwähnt werden, deren Arbeit nicht nur dem gesamten Gedanken der Aufklärung, sondern auch dem Einzelgebiet der Toleranz zu gute kam.

Erfuhr so der Toleranzgedanke in Deutschland von ausländischer Literatur her starke Beeinflussung und Unterstützung, so muß hier, wo seine Grundlagen und die Voraussetzungen für seinen Erfolg geschildert werden, noch eines wesentlichen Faktors gedacht werden, der für seine Ausbreitung und Anerkennung in Betracht kam, der Stellung Friedrichs des Großen als des „repräsentativen Mannes“ dieser Zeit zu diesem Problem.

Man kann ihn trotz seiner ausgedehnten schriftstellerischen Tätigkeit -- in französischer Sprache -- nicht gut zur deutschen Literatur rechnen, von deren Gegenwart er wenig wußte und nichts wissen wollte, von deren Zukunft, selbst als die Verheißung anfing, Erfüllung zu werden, er nichts ahnte. Aber als Förderer der Toleranz muß er hier angeführt werden, er, der nicht nur die Macht, sondern auch den Mut gehabt hat, ihre Forderungen in Tat umzusetzen, der jeden in seinem Staat nach seiner eigenen Fasson leben und seelig werden ließ, der mit warmen Worten ihre Segnungen pries. Was er in der Brandenburgischen Geschichte (I. 212) einmal sagt: „der falsche Glaubenseifer ist der Tyrann, der die Länder entvölkere, die Duldsamkeit die Mutter, die sie pflege und blühend mache“ gilt in weitgehendem Sinn als Leitmotiv für seine Anschauungen und seine Maßregeln.

So setzten sich die Elemente und Faktoren zusammen, aus denen der Toleranzgedanke im engen Bund mit der Aufklärung seine Nahrung zog. Die Aufklärung lieferte bei dem Kampfe, den die Toleranz gegen ihre Gegner zu führen hatte, die besten Kräfte und die stärksten Argumente; sie stellte die Vorkämpfer und half, die Forderungen


____
12 Subjekte und Objekte des Toleranzgedankens.

schärfer zu präzisieren, deren Verwirklichung die Toleranzbewegung erstrebte: die Glaubens-, Gewissens- und Gedankenfreiheit, die dem einzelnen zugestanden werden sollte, die Bekenntnisfreiheit für die Minoritäten, die Lebensfreiheit für alle diejenigen, die bis dahin zurückgedrängt, sich nicht voll für Staat und Gesellschaft auswirken konnten.

Das sind die Prinzipien und die grundlegenden Ideen des Toleranzgedankens, den ein gewiß unverdächtiger Zeuge, Heinrich von Treitschke, in seiner deutschen Geschichte (I 5, 27) „den Grundgedanken der neueren deutschen Geschichte“ genannt hat; an sie knüpft seine literarische Behandlung immer wieder an. Für seine Verwirklichung traten neben den Förderern, wie Friedrich dem Großen und Joseph II., und neben den Fürsprechern, die aus Mitleid oder Rechtsgefühl oder politischem Empfinden die Toleranz begünstigten, diejenigen Schichten der Bevölkerung auf, die am meisten unter der Unduldsamkeit zu leiden hatten; sie sind gewissermaßen die Objekte der Toleranz, sie sind das Anschauungsmaterial, auf das die Literatur nachher Bezug nimmt. Da die Dichter und Schrifsteller sich ihrer so häufig bedienen, mit ihnen als feststehenden Typen oder Individuen operieren, mögen sie hier noch zusammengefaßt und kurz besprochen werden.

Schon die Geschichte des Toleranzgedankens hat gezeigt, daß die Minoritäten vor allem auf kirchlich-religiösem Gebiet es waren, die die Toleranz für sich forderten, sowohl die offiziell anerkannten Religionsbildungen, die wenigstens eine gewisse staatliche Macht in anderen Ländern für sich und hinter sich hatten, als auch die neu entstandenen Sekten. Aber neben ihnen stellten auch noch andere Gemeinschaften oder Einzelne ihre Forderungen; da waren es die Anhänger der natürlichen Religion, die Deisten, die Atheisten, da die Freigeister in allen Schattierungen, die unter der bisherigen Theorie und Praxis zu leiden hatten. Sie alle kämpften gegen die bestehenden Zustände und besonders gegen deren stärkste Verfechterin, die Orthodoxie, die meist die Macht des Staates, oft die Menge, noch öfter die Trägheit der Herzen und die Tradition für sich hatte und mit dem Übergewicht der geschlossenen Organisation die einzelnen, die Freischärler, erdrückte. Zu diesen Schichten, die innerhalb der Kirche ihren Kampf um ihre Duldung ausfochten, gesellte sich noch



13 Die Juden als Objekt des Toleranzgedankens.

eine besondere Gruppe, die der Juden, die der Toleranz wohl am meisten bedurften. Galten ihnen gegenüber doch immer noch harte, einengende Bestimmungen, die ihnen jede Aussicht auf eigenes Recht und Enfaltung ihrer Kräfte raubten. War auch ihr Leben nicht mehr so bedroht wie einst zu den Zeiten des Mittelalters, da die Scheiterhaufen loderten und Folter und Marter sie quälte, so waren sie doch noch weit von dem Zustand der Duldung entfernt. Auch ihnen -- und ihnen vor allem -- mußte der Toleranzgedanke, der sich in früheren Zeiten nur mit den einzelnen Teilen des Christentums beschäftigt hatte, seine Aufmerksamkeit zuwenden; seine Anwendung auf sie war die letzte und äußerste Konsequenz. Darum kann man an der Art und Weise, wie die Dichter sich zur Judenfrage gestellt haben, wie sie jüdisches Wesen literarisch behandelt haben, sehr gut ihre Stellungnahme zur Toleranzfrage erkennen (ohne daß damit freilich auch schon ein endgültiges Urteil über ihre gesamte Auffassung von diesem Gedanken gegeben wäre); darum kann man aber auch mit Recht die Behandlung dieses Themas für diese Zeit des 18. Jahrhunderts unter den Namen und das Panier Moses Mendelssohns stellen, der die Segnungen der Toleranz gepriesen und erfahren hat, der zur Begründung und Vollendung dieses allgemeinen und tragenden Gedankens der Zeit beigetragen hat wie wenige durch Wort und Schrift, durch Leben und Persönlichkeit, und der wie dieser Gedanke selbst mit allen Strömungen der Zeit verwurzelt war.

Auf diesen Voraussetzungen der Geschichte, der Zeit und der wirkenden Kräfte baute sich der Toleranzgedanke auf, dessen Behandlung in der deutschen Literatur wir jetzt näher betrachten wollen, wie sie zur Zeit Moses Mendelssohns (1729--1786) erfolgt ist.


____
14 Gottsched.

II.

Zu der Zeit, als Moses Mendelssohn das Licht der Welt erblickte, war der ziemlich allgemein anerkannte Herrscher im literarischen Leben Deutschlands der Leipziger Gottsched. Als ungekrönter König auf dem Gebiete des Geistes repräsentiert er die Richtung und Denkart der Literaten, die damals in Deutschland den Ton angaben. Viel gescholten und auch durch neuere Rettungsversuche nur wenig rehabilitiert, stellte er in der Entwiklung des deutschen Geistes eine Stufe dar, die vielleicht notwendig war, aber überwunden werden mußte. Da er aber zu den Kämpfen der Zeit sein placet oder veto gab, so nahm er auch zu dem Gedanken der Toleranz flüchtig Stellung. Freilich nur indirekt, nur nebenbei, indem er in seiner Zeitschrift „Der Biedermann“ (1728/9) durch Lehre und Erzählung gegen religiöse Unduldsamkeit Front machte. Zu solcher Stellungnahme, die zum eigentlichen Toleranzgedanken nur in losem Zusammenhang stand, die nur seine Peripherie berührt, verpflichtete ihn schon sein Bekenntnis zur Wolffschen Philosophie, die lange genug in der Defensive gestanden und die Unduldsamkeit, die sich gegen ihre Anhänger richtete, zu stark gespürt hatte, als daß sie nicht den Wert der Toleranz hoch eingeschätzt hätte. Ein größeres Verdienst auf diesem Gebiet erwarb er sich aber dadurch, daß er mit großer Energie für die Einbürgerung von Bayles Dictionaire sorgte, jenes großen Werkes, in dem in und zwischen den Zeilen mit ätzenden scharfen Worten die herrschende Orthodoxie bekämpft, Wege zur Toleranz und zur Gedankenfreiheit gewiesen worden waren.

Unmittelbarer schon waren die Diskussionen, die damals in lateinischer Sprache, in mehreren Flugschriften um Begriff, Geltung und Anwendung oder, wie es eine 1728 in Hamburg erschienene anonyme Scrift ausdrückte: „Der Toleranz und Gewissensfreiheit Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Nutzen“ geführt wurden. Aber diese Diskussionen erstreckten sich doch nur auf einen engen Kreis von


____
15 Moralische Wochenschriften.

Fachgelehrten, das große Publikum wußte wenig davon und interessierte sich nicht für diese allzu speziell behandelten Fragen. Aktuell wurden sie und das ganze Problem der Toleranz erst, als sie in den moralischen Wochen- und Monatsschriften behandelt wurden; nicht streng wissenschaftlich, nicht mit tiefgründiger Gelehrsamkeit, sondern mit verdünntem Gehalt, mehr in der Form allgemein moralischer Lehren, der Predigt humaner Gesinnung, vorurteilsloser Gerechtigkeit. Aber man soll diese „Literatur“, die gewissermaßen anonym ist, die für den Tag geschrieben ist und oft mit dem Tag vergeht, nicht unterschätzen. Den englischen einflußreichen Zeitschriften nachgebildet, erfüllten sie zu ihrer Zeit eine wichtige Mission. Sie waren in vielen Exemplaren als Organ des deutschen Bürgertums verbreitet, das durch sie gebildeter und literarischer wurde. Ohne Anspruch darauf, in die hohe Literatur eingereiht zu werden oder erwähnenswerte Werke von bleibendem Wert zu schaffen, machten sie große Gedanken allmählich zum Gemeingut ihrer Leser, indem sie predigend oder erzählend, belehrend oder ergötzend mit Erfolg bestrebt waren, ihr Publikum moralisch zu erhöhen; zu den Bestandteilen dieser Moral gehörte aber auch die gegenseitige Duldung und Achtung und das Bekenntnis zu einer gewissen religiösen Freiheit. Sie schaffen, ohne daß man ihren Einfluß zu überschätzen braucht --- die große Persönlichkeit wiegt sie alle auf --- den Untergrund einer neuen Zeit, einer neuen Gesinnung, und sie schaffen in unermüdlicher, entsagungsvoller Arbeit die Atmosphäre, in der die neuen Gedanken ein leichteres Fortkommen finden. Um manche von ihnen gruppieren sich die deutschen Gesellschaften, die im 18. Jahrhundert eine große Rolle spielen und diese moralischen Gedanken in Tat umsetzen wollen. Gewiß erscheinen sie uns, erschienen sie schon den literarisch anspruchsvollen Menschen jener Zeit unbedeutend, voll an Trivialitäten, aber für manche Zeiten und manche Sphären muß man bisweilen den Mut zur Trivialität haben, um so in die unverwöhnte, unverbildete Masse zu dringen und dem aufsteigenden Nachwuchs einen hohen Gedanken als Selbstverständlichkeit erscheinen zu lassen.

Und schließlich war ja auch die höhere und niedere Unterhaltungslektüre jener Zeit, die sich zur Literatur zählte, reich an Trivialitäten, sowohl die vielen unbedeutenden Romane, die man gar nicht zu erwähnen braucht, weil schon der nächste Tag sie wegschwemmte,


____
16 Romane. -- Gellert.

als auch die bekannteren, repräsentativen Romane, die ja eigentlich bloß in die Länge gezogene, mit Intriguen, Affekten und Effekten ausgestattete Artikel der moralischen Wochenschristen darstellen. Man lese doch nur einen zu seiner Zeit so erfolgreihen Roman wie den des Herrn von Loen: Der freymütige Mann am Hofe (1740), der von humaner und toleranter Gesinnung zeugte, -- eines Mannes, der in seiner amtlichen Stellung und durch sein Buch „die einzig wahre Religion, verwirrt durch die Sekten, vereinigt in Christo", für ein beschränktes Gebiet kirchlicher Streitigleiten dem Toleranzgedanken Geltung zu verschaffen suchte --, oder man blättere in den sentimentalen Familienromanen; überall wird man finden, daß an Deklamationen und Tiraden über moralische Dinge und so auch über die Duldsamkeit kein Mangel war.

Aber was uns zum harten Urteil verleitet, muß man aus der Zeit heraus verstehen und würdigen, für die diese Färbung und Formung der Gedanken doch stets von Bedeutung war.

Einen Höhepunkt in dieser Literatur, zugleich aber auch ein neues Moment in der Entwicklung des Toleranzgedankens bedeutete der Roman „Die schwedische Gräfin“ von Gellert, dem Mann, der nach Goethes Ausspruch die Aufgabe gelöst hat, „die sittliche Kultur der Deutschen zu schaffen.“ In seinen Fabeln, geistlichen Oden und moralischen Vorlesungen hatte er schon ein weiches, mildes Wesen gezeigt und gelehrt, in diesem Roman aber nahm er fast demonstrativ, wenn auch nur in der Zeichnung einer Episodenfigur, zum Toleranzgedanken Stellung. Er schilderte dort mit warmherzigem Empfinden als Gegenstück zu einem tückischen Priester einen russischen Juden, dessen „grauer Bart und langer polnischer Pelz ihm ein ehrwürdiges Aussehen gaben“ und von dem die Gräfin sagte (S. 304):

„Der rechtschaffene Mann! Vielleicht würden viele von diesem Volk bessere Herzen haben, wenn wir sie nicht durch Verachtung und listige Gewalttätigkeit noch mehr niederträchtig und betrügerisch in ihren Handlungen machten und sie nicht oft durch unsere Auffassung nötigten, unsere Religion zu hassen.“

Solche Worte machten zwar Gellerts gutem Herzen alle Ehre und verfehlten auf die zahlreichen Leser des Romans ihre Wirkung nicht, verrieten aber andererseits den typischen Standpunkt primitiver


____
17 Lessings „Juden“.

Toleranz, die mit Entschuldigungen versuchte, Mitleid für die Fehler des Juden und seine Verhaßtheit bei den anderen hervorzurufen. Doch bedeutete diese Toleranz des Sentiments einen gewissen Fortschritt des Gedankens, weil sie eine psychologische Erklärung für die Situation des Juden suchte, das Verständnis, die nächste Stufe der Toleranz, zu erwecken bestrebt war, und vor allem weil sie überhaupt einmal auf die Juden angewandt wurde. Galt doch von ihnen das Wort, das Moses Mendelssohn später einmal in der Vorrede zu Manasseh Ben Israels „Rettung der Juden“ äußerte:

„Was aber auch über Toleranz bisher geschrieben und gestritten ward, ging bloß auf die drei im römischen Reich begünstigten Religionsparteien, und höchstens auf einige Nebenzweige derselben. An Heiden, Juden, Mahomedaner und Anhänger der natürlichen Religion ward entweder gar nicht gedacht oder höchstens nur in der Absicht, um die Gründe für die Toleranz problematisch zu machen.“

Mit Gellerts Auftreten war, wenn auch nur leise und zunächst ohne Wirkung, der Anfang gemacht zu dieser Erweiterung des Toleranzgedankens, welcher seine Forderungen auch auf die Juden erstreckte. Das nächste Werk, das in der Geschichte des Toleranzgedankens eine größere Bedeutung hat, rückt dies Problem schon im Titel und ebenso nach dem Inhalt in den Vordergrund : es ist von Lessing und nennt sich „Die Juden“.

Dies kleine Stück wurde 1749 geschrieben, bevor Lessing die Bekanntschaft, wenigstens die intimere, mit einem Juden gemacht hatte, und stellte in den Mittelpunkt eine Predigt der Toleranz, die nicht durch Worte bewiesen wurde, sondern durch das Unrecht ihrer Bekämpfer, die durch den Edelmut eines Juden zu einer anderen und duldsameren Überzeugung gebracht wurden, und durch die gemeine Gesinnung, die gerade die Judenhasser an den Tag gelegt hatten. Schon vorher hatte Lessing in dem Stück „Der Freigeist“ anderen Seiten des Toleranzproblems, etwas spielerisch zwar, mit Konzessionen an das Konventionelle, aber doch als Unparteiischer, wie er es zu sein liebte, seine Aufmerksamkeit zugewandt. Auch der Freigeist, so lehrte er, habe duldsam zu sein gegen den religiösen Menschen; wer Religion besiege und glaube, tue es wahrlich nicht stets aus egoistischen Gründen, und es sei falsch, zu denken, daß Religionslosigkeit die wahre, die einzig mögliche Religion des gebildeten

Wolff, Toleranzgedanke.


____
18 Lessings Motive.

Menschen sei. Solche Auswüchse der Aufklärung, die von demselben Fanatismus getragen waren und dieselbe Flachheit bekundeten wie die Übertreibungen der Orthodoxie, bekämpfte Lessing jetzt nur andeutend, mit leichten Waffen, als Vorspiel für schwerere Kämpfe, so wie „Die Juden“ auf größere und ernstere Gedanken über dies Problem hinweisen. Vorläufig erhebt sich Lessing noch nicht zu den reinen Höhen, auf und aus denen er die Lehre des Nathan predigt; so weit reichte sein Blick noch nicht, aber beiden Werken gemeinsam ist der Mut, mit dem er für das am wenigsten tolerierte Volk, die Juden, eintrat. Mit seiner Absiht macht er nicht einen einzelnen zum Gegenstand des Stücks, sondern stellte „die“ Juden in den Mittelpunkt. Der Reisende, der die Hauptrolle als Lebensretter des Barons spielt und bezeichnenderweise anonym erscheint, repräsentiert sein Volk, zu dem er sich zwar spät erst und gezwungen, dann aber aus vollem Herzen bekennt. Als solcher gerade und als Vertreter seiner guten Eigenschaften hat er die Verleumdungen der Spitzbuben Lügen gestraft, die törichten Bemerkungen des eigenen Dieners entkräftet und die Vorurteile des Barons beschämt. Gerade diese Aufklärung, die der Reisende durch sein Wesen verbreitet, die Erziehung zur Toleranz, die er bewirkt, -- das waren die Motive Lessings, als er dies Stück schrieb; er hat sie am schärfsten in der Vorrede präzisiert, die später hinzugefügt, auf die Psychologie seiner Arbeit helles Licht wirft: „Es war das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muß, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. Aus ihm, dachte ich, sind ehedem so viele Helden und Propheten aufgestanden, und jetzo zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen ist.“

Aus diesen Gedankengängen vollzog er die „Rettung“ der Juden, wie er in seinem Leben häufig genug mit Rettungen für die Verkannten, Vergessenen und Verachteten eingetreten ist, für Einzelne und für Gemeinschaften, als reinster und reifster Apostel der Toleranz, -- Das Stück erregte viel Aussehen, Zustimmung und Ablehnung. Unter den Stimmen, die sich gegen die Tendenz und Moral des Stücks erhoben, erschien Lessing besonders die des Orientalisten Michaelis bemerkenswert. Dieser gab in seiner Rezension zu bedenken, es sei doch wohl nicht anzunehmen, daß in dem -- notwendigerweise und


____
19 Michaelis und Mendelssohn.

vielleicht mit Recht -- von Feindschaft gegen die Christen erfüllten Volk der Juden ein so edler Mensch aufstehen könne. Damit warf er ein Moment in die Debatte, das für und gegen die Anwendung des Toleranzgedankens auf die Juden ausgespielt wurde und in seiner Begründung und Entwicklung eine gewisse Bedeutung hatte. Während nämlich die eine, die judenfeindliche, Seite geltend machte, daß wegen der Unterdrückung der Juden und ihres daraus resultierenden Hasses ihre minderwertigen Eigenschaften immer stärker ausgebildet, mindestens hervorgerufen worden seien, jetzt aber als bleibende zu ihrem Charakter, zu ihrem Wesen unauslöschlich gehörten, schob die judenfreundliche Partei dies Motiv, das dort nur als sekundärer Erklärungsgrund einer feststehenden Tatsache gegolten hatte, in den Vordergrund und argumentierte, daß die Toleranz erst recht auf die Juden angewandt werden müsse, da der Wegfall der Unterdrückung die Fehler ihres Charakters beseitigen werde.

Alle diese Diskussionen, die unter dem Namen der Toleranz geführt wurden, die von falschen Voraussetzungen ausgingen, mit Entschuldigungen gerierten und auf unzulässigen Verallgemeinerungen aufgebaut waren, alle diese Debatten mußten für einen aufrechten und bewußten Juden etwas ungeheuer Demütigendes haben, und so ist die Entrüstung Moses Mendelssohns begreiflich, der in einem von Lessing abgedruckten Brief sich heftig gegen Michaelis wandte und im Gegensatz zu ihm mit stolzen Worten für sein Volk die Tugend in Anspruch nahm. Und Mendelssohn und noch härter sein Freund Gumpertz, an den dieser Brief gerichtet war, mußten die Vorwürfe als Beleidigung empfinden, da die Lage der Juden selbst in Preußen noch sehr viel im privaten und öffentlichen Leben zu wünschen übrig ließ, ein Empfinden, für das ein späterer Brief Zeugnis ablegt, der darum als Ausdruck und Spiegelbild seiner Stimmung zitiert werden mag: „Allhier in diesem sogenannten duldsamen Lande lebe ich gleichwohl so eingeengt, durch wahre Intoleranz so von allen Seiten beschränkt, daß ich meinen Kindern zu liebe mich den ganzen Tag in einer Seidenfabrik einsperren muß.“

So hatte mit Lessings „Juden“ die Diskussion gleich an den wundesten Punkt des Toleranzproblems gerührt, als sich der Gedanke literarisch in der Anwendung auf sie dokumentierte, deren Behandlung ja stets ein Schibboleth für wahre Toleranz gewesen ist. Vorläufig


____
20 Berliner Aufklärung.

aber blieb diese Diskussion ohne praktische Folgen, auch ohne allzu hervortretende weitere literarische Produkte, wie ja überhaupt diese Zeit, ästhetisch durch Klopstocks Auftreten interessiert, für den Toleranzgedanken noch keine in höherem Maße repräsentativen Werke geschaffen hat. Dafür aber breitete er sich in verdünnter Form, mehr in die Breite als die Tiefe gehend, als ein Teil und Programmpunkt derjenigen Forderungen aus, die mit starker Wirkungskraft und Agitation besonders von den Berliner Kreisen der deutschen Aufklärung betrieben wurden. Nach zwei Seiten traten ihre Tendenzen am stärksten hervor; einmal mehr negativ in dem heftigen Kampf, den sie gegen die beherrschende und unterdrückende Orthodoxie führten, und dann positiv in der Forderung der Toleranz für alle beeinträchtigten, in Denk-, Handlungs-, Glaubensfreiheit gehinderten Schichten. Dabei handelte es sich weniger um die Diskussion dieser Fragen in sozialer und politischer Hinsicht als vielmehr nach der religiös-theologischen, nach der Seite der Weltanschauung hin, was Schriftsteller und Publikum interessierte. Denn das damalige Deutschland hatte wenig direkt politischen Sinn, weil Kleinstaaterei und Despotismus den Weg zu diesen Abzweigungen des Problems versperrten, mindestens das Interesse daran verringerten. Aber es gab ja auf dem Gebiet des geistigen und religiösen Lebens für die Durchsetzung der Idee noch so viel zu tun, daß die Aufklärung darin volle Befriedigung finden konnte.

Diese Stimmungen der Zeit erkannte und benutzte der tatkräftigste und durch seine kaufmännische Tätigkeit versierteste unter den Berliner Aufklärern, der vielgeschmähte Friedrich Nicolai, der als Buchhändler sowohl durch seine geschäftlichen als auch literarischen Unternehmungen einen weitreichenden, ja eine Zeitlang dominierenden Einfluß besaß. Er hat diesen Einfluß nach seiner Weise zu seinen Zweden ausgenutzt, um Aufklärung zu verbreiten, Gewissensfreiheit und Toleranz zu predigen. Er ist als Organisator und Parteihaupt, als Kritiker und als Herausgeber seiner Zeitschrift, als Verleger, als Schriftsteller und Romanschreiber mit allen Kräften seiner Seele und mit allen Gaben seines Intellekts für diese Sache eingetreten, die ihm ans Herz gewachsen war. Und wenn sein Charakterbild in der Geschichte schwankt und die mißgünstige Beurteilung vorwiegt, gegen die das Buch Aners eine Ehrenrettung bedeuten soll, so liegt das z. T.


____
21 Nicolai. -- Berliner Geistliche.

daran, daß er, der kampflüsterne Parteimann, Größeren wie Fichte und Goethe gegenübergestanden hat, deren Urteil weithin übernommen wurde und als Vorurteil die Kritik unwillkürlich beeinflußte; liegt z. T. freilich auch daran, daß er in seiner hartnäckigen Art das Rauschen der neuen Zeit nicht spürte und darum von ihr nicht beachtet wurde. In der Zeit aber, von der hier die Rede ist, und für diesen Gedanken hat er segensreich gewirkt; in seinem Verlag ist eine große Anzahl der Schriften erschienen, in denen unermüdlich das Problem der Toleranz diskutiert wurde, er selbst hat in seiner „Bibliothek“, um deren tendenziöse, ja selbst stilistische Ausgestaltung er sich bis in die Einzelkorrekturen gekümmert hat, unter diesem Gesichtspunkt rezensieren lassen. Statt vieler Einzeläußerungen mag hier nur die stehen, die ganz in seinem Sinn geschrieben war und von Resewitz stammt (Allgemeine Deutsche Bibliothek 1768, 8, 156): „Wir wollen der Intoleranz, diesem Ungeheuer, das alle Religionen vertilgt, entgegengehen,“ ein Leitmotiv, das in allen möglichen Variationen wiederkehrt.

Zu den Männern, die dieser Gedankenwelt nahestanden, ohne doch direkt an den Debatten teilzunehmen, gehörte auch ein Teil der Berliner protestantischen Geistlichkeit. Die Namen Spalding, Teller, um nur einige der damals meistgenannten Anhänger dieser Richtung herauszugreifen, besagten für jeden Zeitgenossen, daß hier Menschen von milder, manchmal weicher Gemütsart am Werk waren, die in ihrem Beruf als Prediger das versöhnende, den Konfessionen gemeinsame Element betonten und alle Glaubensdifferenzen zurückschoben, soweit sie imstande waren, zu Verfolgung und Ausbrüchen des Fanatismus Anlaß zu geben. Als indirekte Träger und Förderer des Toleranzgedankens verbreiteten sie eine Atmosphäre des Wohlwollens, in der der Gedanke besser und leichter gedeihen konnte, und spielten so eine ähnliche Rolle wie der Berliner Schriftsteller Engel, dessen Lorenz Stark, dessen (David Friedländer gewidmete) Philosophie für die Welt bei dieser Gelegenheit schon erwähnt werden mag, weil aus seiner gemütvollen Art, Weltbetrachtung zu lehren, eine ähnliche Auffassung spricht. Was Engel als Erzähler leistete, das betonte noch stärker Garve, eine der treusten Stützen dieser Richtung und als Popularphilosoph einer ihrer menschlich angenehmsten Vertreter. Worauf er vor allem hinwies, das war, daß man keine


____
22 Berliner Popularphilosophen. -- Cronegk.

absolut gültige Religion, keinen endgültigen Abschluß der religiösen Entwicklung annehmen und dadurch dem freien Denken Fesseln anlegen, anderen Religionen Geringschätzung entgegenbringen dürfe. „Ich will“, so sagte er später, indem er diese Gedanken zusammenfaßte, in einem „Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai“ (1786), „über den Protestantismus hinauskommen, er ist mir teuer und wert als Mittel, als ein gebahnter Weg zu denjenigen Untersuchungen und Kenntnissen, welche ich vor allen anderen liebe. Diese selbst aber sind es eigentlich, was ich schätze; und bei welchen Menschen ich sie finde, da finde ich einen Glaubensgenossen und Freund.“

Wir haben hier öfter Äußerungen dieser Männer herangezogen, die einer späteren Zeit angehören, um ihre Stellung zu diesem Gedanken zu charakterisieren; aber was alle diese Anhänger der Berliner Aufklärung von einander unterscheidet, sind eigentlich nur Nuancen des Stils, des Temperaments, der Mittel, mit denen jeder nach seinem individuellen Talent der Idee huldigte. Aber ihre Gedankenwelt, ihre Plattform und Zielsetzung ist dieselbe, sie zeigen alle eine gewisse Kontinuität und Konstanz, die ihre Stärke, aber auch ihre Shwäche war. Ihre Stärke lag darin, daß sie alle mit gleicher Stoßkraft und dem unbedingten Drang siegen zu wollen, als geschlossene Phalanx vorgingen; ihre Schwäche darin, daß sie starr und nicht mehr aufnahmefähig wurden. Aber vorläufig überwog ihre Stärke, die sie in der Zeit als Macht zeigte und ihr Anhänger zuführte. Von ihr wurden auch selbständigere Talente beeinflußt, wie der frühverstorbene Cronegk, der auf dramatischem Gebiet sein Glück versuchte und dem Toleranzgedanken die eigenartige Färbung gab.

In seinem unvollendetem Drama „Olint und Sophronia“, das Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie mit kritischen Bemerkungen auch über die falsche Geschichtsauffassung besprach, verlegte er die Handlung in den Orient zur Zeit der Kreuzzüge. Er stellte den Islam als den nicht bloß von Fanatismus, sondern auch von blutiger Unduldsamkeit erfüllten Glauben hin, demgegenüber das Christentum im Licht reiner Toleranz und Menschenliebe strahlte und durch die Kraft seiner Idee die ungläubigen Gemüter gewann. Und das zur Zeit der Kreuzzüge, die den Geist des Glaubenseifers und der schwärmerischen Hingabe oft genug auf christlicher Seite in blutbesprengten Fanatismus umgewandelt hatten.


____
23 Der Islam als literarisches Motiv der Toleranz.

Daß Cronegk aber gerade dies orientalische Milieu wählte, lag nicht bloß daran, daß dort der Zusammenprall zweier Religionen am leichtesten darzustellen war, sondern daß, im Gegensatz zu seiner Auffassung, der Islam gerade in der Literatur des 18. Jahrhunderts als typische Religion der Toleranz verherrlicht wurde. Das Material über dies literarische Motiv, das überreich ist, kann hier nicht vorgelegt werden ; es soll nur im Zusammenhang mit unserem Gedanken darauf hingewiesen werden, daß man bestrebt war, die Persönlichkeiten und Lehren der mohammedanischen Religion gegen das Christentum auszuspielen, daß man mit einer bewußten Überschätzung in einigen Kreisen sich für den Islam interessierte. Die Psychologie dieser Toleranz war evident: man zeigte, daß es neben den offiziell anerkannten Religionen ebenso wertvolle gäbe, die man bisher, ohne Kenntnis, bekämpft habe; man bewies, daß man über die Enge der Heimat hinausgewachsen war, und bekundete so ein geistiges Weltbürgertum, das der Duldsamkeit nahe verwandt war. Zu dieser Lust am Exotischen, die andere Religionen, fremde, kaum kontrollierbare, idealisierte, kamen noch wissenschaftliche Interessen hinzu, die für die Ausweitung und Begründung auch des Toleranzgedankens nicht unwesentlich wurden: man bezog aus geschichtlichen und philosophischen Gedankengängen heraus die Welt fremder, entfernter Völker in seinen Gesichtskreis ein (sodaß Wolf seine Rektoratsrede über die Moral der Chinesen hielt); man trieb, nachdem die Bibelkritik begonnen hatte, die Inspiration der Bibel in Zweifel zu ziehen, nachdem die absolute Gültigkeit der einzigen Religion bestritten war, aus theologischen Gründen Religionsvergleichung und suchte bei den verschiedenen Völkern Keime, Triebe und Produkte eigenen religiösen Lebens auf, und Bücher wie Arnolds Ketzergeschichte, Mosheims Kirchengeschichte, vor allem Herders umfassende Forschungen auf diesem Gebiet beseitigten manch Hindernis, das der Toleranz im Wege stand, und führten von der Tolerierung eines Volkes zu seiner Anerkennung und weiter zum Humanitätsgedanken, zur Entdeckung und Stärkung individuellen Volkslebens, nationalen Bewußtseins im 19. Jahrhundert.

Aber von diesen Ausläufern soll hier noch nicht gesprochen werden, wo zunächst noch von den Wurzeln und ersten Produkten des Toleranzgedankens die Rede war; und der kleine Abweg sollte nur Perspektiven zeigen. -- --


____
24 Göze.

Das Cronegksche Drama war eins von den wenigen literarischen Erzeugnissen aus der Zeit des 7 jährigen Krieges, in dem doch sonst die Musen schwiegen, es sei denn, daß sie von den Freuden der Krieger und den Leiden des Krieges kündeten. Nach dem Kriege setzt dann wieder stärker die Diskussion über den Toleranzgedanken ein, der ja -- was nie unterschätzt werden darf -- in bestimmten Grenzen und Formen als Teil der Moral und der Aufklärung schon eine gewisse Bedeutung und -- was mehr ist -- eine gewisse Selbstverständlichkeit erlangt hatte, der noch dazu durch Friedrichs des Großen Äußerungen und sonstige Stellungnahme bei den vielen „Fritzisch“ Gesinnten, aber auch in anderen Kreisen offiziell anerkannt, legalisiert worden war. Aber zu ernsthaften, nicht mehr abgebrochenen Auseinandersetzungen über seine Allgemeingültigkeit für Atheisten und Ketzer, für Freidenker und Juden kam es erst jetzt, in den 60er Jahren, auf verschiedenen Kampfplätzen, bis die endgültige Entscheidung zugunsten der Toleranz fiel.

Als Hort der Unduldsamkeit, des engherzigen Glaubens an unbarmherzige, unnachgiebige Tradition, tritt jetzt Hamburg in den Vordergrund, und Göze, der Papst Hammoniae, wie die Gegner spotteten, ist der Prophet. Er ist für seine und spätere Zeiten ein Symbol der Intoleranz und der repräsentative Typus jener Denkrichtung geworden, die glaubte, das Heil allein zu haben und allen es als allein denkbares mitteilen zu müssen, kein anderes als gleich heilig, gleich göttlich anzuerkennen. Er war ein streitbarer Kämpfer, der, unterstützt von der Autorität der Behörde, gestärkt durch den Resonanzboden seines Hamburger Publikums und der Dunkelmänner im Reich nach allen Seiten mehr grob als fein, aber erfüllt von seinem Recht und treu sich selbst seine Geschosse schleuderte, bis er in Lessing den überlegenen Besieger fand; und derselbe Mann, der in seiner Abschiedspredigt zu Magdeburg noch mit rühmenden Worten „die unaussprechliche Wohltat der völligen Geistesfreiheit“ gelobt und den „Monarchen, welcher allen Gewissenszwang aufs äußerste verabscheut“ gepriesen hatte, derselbe Mann ging jetzt in Hamburg gleichmäßig gegen Gerechte und gegen Ungerechte vor.

Von denen, die seine Härte zu spüren bekamen, weil sie von Duldung sprachen und für ihre verschiedenartige religiöse Auffassung die Duldung proklamierten, ist zunächst Basedow zu erwähnen.


____
25 Basedow.

Basedow hatte als stärkstes Ergebnis seiner Anschauungen ein neues Erziehungsideal proklamiert, das in der Form des Philanthropins versuchen wollte, auf natürliche Weise den Kindern eine vernünftige Anschauung von Welt und Gott beizubringen. Diese Erziehungslehre ruhte auf dem Grund einer am Rationalismus orientierten Weltanschauung, die in ihr Programm die weitherzige Duldung aller nicht orthodoxen Denkarten --- er nennt sie „paradoxe“, der δόξα entgegenstehenden --- forderte. (Gingen doch, um das gleich hier als einen Beweis für die weitherzige Anwendung des Toleranzgedankens bei dieser Richtung der Pädagogik vorwegzunehmen, gingen doch die Wünsche seines Nachfolgers, Campe in Dessau, dahin, jüdische Kinder zusammen mit den anderen in einer Schule aufzuziehen, -- ein für jene Zeit noch ganz unerhörtes Angebot, das bei den Juden so wenig auf Gegenliebe stieß, daß Moses Mendelssohn in einem Brief an Campe die Haltung seiner Glaubensgenossen begründen und entschuldigen mußte.) Als Basedow in seinen pädagogischen Schriften und in seinen Lehrbüchern mit Verve, wenn auch oft mit phantastischer Verstiegenheit seine Anschauungen niederlegte, als er von ihren Grundlagen in seiner 1765 erschienenen Schrift: „Betrachtungen über wahre Rechtgläubigkeit und die im Staat und in der Kirche notwendige Toleranz“ sprach, als er in der Polemik gegen Shallenbach seine Definitionen immer schärfer und weitgehender fixierte, da zog er sich den Haß der Eiferer zu. Man wandte sich mit Verdächtigungen gegen ihn, gegen sein moralisches, gegen sein Familienleben; die Stadtbehörden Hamburgs warnten vor der Schrift und verboten den einheimischen Druckern, sie zu drucken; die Pädagogen durften bei schwerer Strafe nichts von seinen Lehren wissen noch erwähnen. Dem Geistlichen Alberti wurde das Abendmahl verweigert, weil er den Verkehr mit ihm nicht abbrach, die Stadt Lübeck verbot, ein Buch von ihm in die Stadt zu bringen; kurz, man boykottierte ihn auf jede mögliche Weise und versuchte ihm das Leben in Altona zu erschweren.

So wurde er als Märtyrer des Toleranzgedankens von vielen emporgepriesen und bekam die Mittel zur Verwirklichung seiner Pläne. Göze aber, der seiner Pädagogik vorgeworfen hatte, daß sie die religiöse Bildung der Kinder „verwischen“ wolle, der die Seele des Kampfes gegen ihn war, konnte sich in Wort und Schrift rühmen, ihn zur Strecke gebracht zu haben, trotz der vielen und heftigen


____
26 Abbt. -- Alberti.

Broschüren und Bücher, die bei diesem Streit gegen ihn geschrieben wurden. Es mag von ihnen, da sie sich alle immer im selben Kreis bewegten und mehr Grobheiten als Gründe brachten, nur eine Schrift aus dem Berliner Kreis herausgehoben werden; das sehr bösartige, mit Galle geschriebene Pasquill des sonst sehr sanftmütigen Abbt: „Erfreuliche Nachricht von einem in Hamburg bald zu haltenden protestantishen Inquisitionsgericht und dem inzwischen in effigie zu haltenden erwünschten evangelisch lutherischen Autodafé!“, ein Pamphlet, in dem Abbt mit ätzender Kritik, mit plastischer und drastischer Schärfe ein doch wohl verzerrtes Bild von dem „Ketzerrichter und Großinquisitor“ zu entwerfen suchte, um auch auf diesem Wege den Kämpfern für die Toleranz Hilfe zu leihen.

Waren so im Basedowstreit der Begründung der Toleranz von seiten der Pädagogen neue Kräfte zugeführt worden, aus deren Theorien und Prinzipien bald praktische Fragen der Erziehung wurden, so wurde von anderer Seite eine rein theologische Konsequenz aus dem Gedanken gezogen und literarisch begründet.

Der Prediger Alberti, der aufgeklärte Pastor Hamburgs und darum Antipode Gözes, hatte im Jahre 1770 bei der Verlesung in der Liturgie die Stelle in dem Psalm 79 ausgelassen: „Herr, schütte deinen Grimm auf die Heiden, die dich nicht kennen, und die Reiche, die deinen Namen nicht anrufen.“ Denn diese Worte schienen ihm bei seinem aufgeklärten Sinn eine Herabwürdigung des Göttlichen und Heiligen zu sein und allzu fanatisch, jeder Duldung Hohn zu sprechen. Er setzte diese offizielle Maßregel auch beim Kirchenregiment trotz Gözes Einspruch durch und begründete die Anschauung, von der sie getragen war, sowohl in seinen (später auch gedruckten) Predigten wie auch in seiner „Anleitung zum Gespräch über die Religion“. Seine Schriften, die zur Milde und Duldsamkeit mahnten, sein Lehrbuch der Religion, das die Dogmen etwas nebensächlich behandelte, sein Lob aufklärerischer Bücher, all das reizte Göze noch mehr, und so wurde von beiden Seiten mit polemischen Flugblättern und größeren Schriften gekämpt, bis Alberti im Jahre 1772 starb. Dadurch wurde zunächst Gözes Kämpfen ein Ende gemacht, bis er dann gegen Bahrdt und später gegen den „Fragmentisten“ und Lessing wieder hervortrat.

Zur selben Zeit war von zwei verschiedenen Seiten aus der Toleranzgedanke in einigen seiner Teilgebiete behandelt worden, in


____
27 Das Sokratesporträt als literarisches Motiv der Toleranz.

dem Streit, den Lavater und Mendelssohn mit einander ausfochten, und in den Diskussionen, die um die Auffassung des Sokrates geführt wurden.

Um von diesem Punkte zuerst zu sprechen, handelte es sich scheinbar darum, wie die Person des Sokrates und ihr ethischer Wert für die Gegenwart zu beurteilen sei, in Wirklichkeit stand aber die weitreichendere Frage zur Erörterung, wie weit heidnisches, in diesem Falle griechisches Wesen und Denken imstande gewesen sei, dieselbe Erziehungsarbeit zu leisten wie das Christentum. Man argumentierte, daß, wenn andere Weltanschauungen solche Resultate erzielten und so tugendhafte Menschen hervorbrachten wie den Sokrates, daß dann ihre Anhänger mit Toleranz zu behandeln seien. Den Anstoß zu diesen Auseinandersetzungen hatte ein Buch Marmontels gegeben. Marmontel, ein französischer Schriftsteller und Mitglied der Akademie, einer ihrer flachsten, aber damals populärsten Denker, gehörte zum französischen Aufklärerkreis, in dessen Programm aus prinzipiellen und egoistischen Gründen die Toleranz eine große Rolle spielte. Und wie Voltaire, in Deutschland viel gelesen, übersetzt und weit wirkend, mit seinen Werken wie der „Henriade“, den „Ghebern“ (oder: „Toleranz") für sie eingetreten war, so hatte ihr auch Marmontel in seinem Roman „Bélisaire“ (1767) ein ausführliches Kapitel gewidmet. Der Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde, hatte großen Erfolg; besonders das Kapitel über Toleranz schlug ein, ja es wurde ins Russische übersetzt und auf Befehl der Kaiserin Katharina seines nützlichen Inhalts wegen weit verbreitet ! -- --

Was diesem Roman von christlich-gläubiger Seite besonders zum Vorwurf gemacht wurde, das war die Behauptung, es könnten auch Menschen, die die Lehre des Christentums und seine dogmatischen Segnungen nie kennen gelernt hätten, der ewigen Seeligkeit teilhaftig werden, wie es ja die Personen und das Leben des tugendhaften Menschen Sokrates beweise. Dagegen machten alle theologischen Kreise Front, die noch an die unbedingte und allein gültige Absolutheit der christlichen Kirche glaubten, weil sie meinten, daß durch diesen Anspruch der Toleranz ihre Geltung, ihr Erziehungswert verschwinden müsse, und der holländische Pfarrer Hofstede als Wortführer gab diesem Gedanken Ausdruck. Auf der anderen Seite bemächtigten sich aber gerade die Anhänger des Deismus, die in Sokrates einen Idealtypus


____
28 Eberhard. --- Claudius.

der eigenen Lehre sahen, seiner Person und kämpften, indem sie seine Person in den Vordergrund schoben, in Wahrheit um die eigene Existenz und um die Ausdehnung der Toleranz auf ihre Weltanschauung, die noch sehr unter den Vorurteilen der Kirche und des Staates zu leiden hatte. So schrieb der Berliner Gelehrte Eberhard ein zweibändiges Werk, das trotz seines großen Umfangs in verhältnismäßig kurzer Zeit drei Auflagen erlebte, weil die Aktualität des Problems und des Stoffs das Publikum lockte: „Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seeligkeit der Heiden.“ Schon der Titel lehrte, was der Inhalt bestätigte, daß hier mit schwerem Geschütz, aber nicht immer zuverlässiger Gelehrsamkeit (Lessing hat einige Fehler der Argumentation aufgedeckt) Thesen der Toleranz bewiesen werden sollten. Die Sokratesfrage wurde eben nur als ein Ausschnitt aus dem größeren Gedankenkomplex betrachtet, welche äußeren Rechte und innere Gleichberechtigung die anderen Religionen hätten und wie sie und ihre Anhänger zu behandeln seien.

In diese Diskussion um die Auffassung von Sokrates griff auch der populäre Herausgeber des Wandsbeker Boten, Matthias Claudius, ein, der damals noch dem Toleranzgedanken und seinen Grundlagen sympathisch gegenüberstand und sich einmal über die Debatten so äußerte: „Es ist freilich eine übertriebene Toleranzgrille, die alten Philosophen zu Christen machen zu wollen, weil sie eine hohe Moral gepredigt haben . . . trotzdem würde es ungeraten sein, dem Sokrates den Kranz, den er via legitima verdient hatte, abzureißen und ihm die Freude Gottes abzudisputieren,“ -- und in seiner „Nachricht von einer Audienz beim Kaiser von Japan“ proklamierte er das Recht und die Pflicht der Brüderlichkeit, die alle Menschen zu umfassen habe.

Zur selben Zeit etwa war der Mann, den man in Deutschland als einen neuen Sokrates kannte und verehrte, Moses Mendelssohn, in einen Streit mit Lavater geraten, in dem Grundfragen der Toleranz zur Diskussion standen. War der Kampf um das Sokratesporträt eigentlich weiter nichts als ein Kampf um die Berechtigung des Heidentums und des Deismus gewesen, so bedeutete die Auseinandersetzung zwischen Lavater und Mendelssohn die erste, wirklich allgemein und mit Spannung verfolgte Anwendung des Toleranzgedankens auf die Juden. Gewiß hatte man schon in früheren Werken diese Anwendung erstrebt, und wir haben oben S. 16ff. in der Besprechung


____
29 Mendelssohn.

Gellerts und Lessings diese Phase in der Entwicklung erwähnt. Aber die Gründe, die man damals anführte, waren noch ganz aus der Ideologie, aus dem Sentiment geboren, sie stellten die Stufe dar, auf der man für die Juden ganz von außen her, mit demütigenden Einschränkungen: „trotzdem sie ein verbittertes, hassendes und hassenswertes Volk seien“ plädierte. Einen Fortschritt auf dem Wege zur Toleranz bedeutete es, daß man in den 70er Jahren anfing, dem künstlerischen und literarischen Genius der Bibel, deren Rezeption in Deutschland mit ihrer ungeheuren Bedeutung für den deutschen Geist und ihren wechselvollen Schicksalen leider noch nicht beschrieben ist, zu huldigen und gerecht zu werden; man begann, auf dem Wege über das Judentum auch den Juden zu verstehen und kennen zu lernen. Die dritte Stufe zur Toleranz (abgesehen von den allgemeinen Prinzipien der Aufklärungszeit und gewissen sozialen Verschiebungen, die damals eine Annäherung und eine gewisse Verständigung zwischen Juden und Christen herbeiführten), die dritte Stufe war die, daß mit Moses Mendelssohn ein neuer repräsentativer Typus des Juden in der weiteren Öffentlichkeit hervortrat. Dies „Genie der Lebensführung“, wie Moritz Lazarus einmal hübsch gesagt hat, wurde durch die ganze Art seines Auftretens ein Mitglied der deutschen Gesellschaft, ohne Selbstentwürdigung, dabei vielen ein Berater, einigen und nicht den geringsten ein Freund, fast allen ein verehrungswürdiger Mensch. In seiner literarisch fruchtbaren Tätigkeit, in der er mit stilumbildender Schreibweise weite Kreise für moralische und ästhetische Probleme zu interessieren wußte, behandelte er die Toleranz des öfteren und legte gegen allerlei Übertreibungen und aus persönlichem Drang ihre Grenzen fest. Seine wichtigste Formulierung war ihm immer wieder, daß Toleranz nicht Glaubensvereinigung, „Glaubensvermengung“, Religionsmischung bedeute, sondern daß jeder Glaube und besonders jeder durch Vernunft und geschichtliche Offenbarung bewährte Glaube als berechtigt anzusehen sei. Diese prinzipielle Feststellung und Grundüberzeugung, „ein Criterium der Wahrheit in Religionssachen“, umschrieb er einmal in einem Brief an den Erbprinzen von Braunschweig mit folgenden Worten: „Da die Menschen alle von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit bestimmt sein müssen, so kann eine ausschließende Religion nicht die wahre sein . . . Eine Offenbarung, die allein die seligmachende sein will, kann nicht die wahre sein, denn


____
30 Mendelssohn.

sie harmoniert nicht mit den Absichten des allbarmherzigen Schöpfers.“ Um so mehr mußte er, der stets die anderen Religionen geachtet hatte, der das Christentum als eine ihm zwar nicht konvenierende Form religiösen Denkens und Empfindens betrachtet, aber doch nie ein Wort zu seiner von so vielen Seiten her geplanten Negierung und Zerstörung beigesteuert hatte, um so mehr mußte er den plumpen Vorstoß Lavaters als gefährlich und ungehörig erachten, der ihn zwang, aus seiner Reserve herauszugehen und Fragen der persönlichsten Überzeugung vor einer vorurteilsvollen Öffentlichkeit zu verhandeln. Lavater hatte im Anschluß an ein Buch von Bonnet, Palingénésie, in dem ihm deutlich die Absolutheit des Christentums bewiesen schien, Moses Mendelssohn, der ihm aus Berliner Jahren und Gesprächen lieb und wert war, aufgefordert, öffentlich zu den Gründen des Buchs Stellung zu nehmen, seine Beweise zu widerlegen oder aber die Konsequenzen zu ziehen und zum Christentum überzutreten. In diesem Zwiespalt wies Mendelssohn mit ausgezeichneter Würde die Zumutung zurück, die ganzen Voraussetzungen als falsch, die Fragestellung als unbegründet nach. Er setzte vor Lavater und der Welt auseinander, daß „nach den Grundsätzen seiner Religion man niemand, der nicht nach unserem Gesetz geboren ist, zu bekehren suche; alle unsere Rabbiner lehren einmütig, daß die schriftlichen und mündlichen Gesetze, in welchen unsere geoffenbarte Religion besteht, nur für unsere Nation verbindlich sind . . . Die ihren Lebenswandel nach den Gesetzen dieser Religion einrichten, werden tugendhafte Männer von anderen Nationen genannt, und diese sind Kinder der ewigen Seligkeit.“ So proklamiert das Judentum -- und Mendelssohn hat die Toleranz später noch stärker als tragendes Element des Judentums hingestellt -- vollkommene Duldung aller derjenigen, die aus Vorurteil, Irrtum oder Gläubigkeit anderen Anschauungen huldigen, sich aber dadurch nicht beirren lassen, das Gute zu erstreben. Und der Jude proklamiert diese Duldung, diese Duldung, die weit weg führen muß von Bekehrungssucht und Fanatismus, aber auch entfernt ist von Indifferentismus und Unglauben, um so mehr als er selbst noch froh ist, geduldet zu werden. Darum seien alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, darum will Mendelssohn zunächst wenigstens auf den materiellen Inhalt von Bonnets Buch nicht eingehen, sondern nur darauf hinweisen, daß dessen Beweise ihm nicht überzeugend erscheinen. Lavater antwortete


____
31 Lavater.

reuevoll, daß er sein Unrecht einsehe und das öffentlihe Erscheinen der Schrift bedauere, schloß aber mit der Hoffnung, daß sein Gegner doch einstmals die Glaubenslehren des Christentums annehmen werde. Durch diese Bemerkung sah sich Mendelssohn, der diese Antwort und Gegenantwort zusammen herausgab, veranlaßt, eine „Nacherinnerung“ hinzuzufügen. Er benutzte darin die Gelegenheit, aus der Menge der Schriften, die dieser Streit hervorgerufen hatte, und die in größerer Zahl gegen ihn eiferten, nur in geringerer sich für ihn einsetzten (die meisten seiner Gesinnungsgenossen beschränkten sich darauf, in Privatbriefen ihre Zustimmung zu seiner Stellungnahme auszudrücken, so Semler, so Heyne), sich die eines gewissen Kölbele herauszugreifen und an ihr ein Exempel zu statuieren. Kölbele hatte schon in einem 1765 erschienenen Roman „Begebenheiten eines jüdischen Frauenzimmers, von ihr selbst beschrieben“ allerlei gegen und über Mendelssohn vorgebracht; jetzt griff er ihn in mehreren Broschüren an, um die Ansichten Mendelssohns über die Duldung als eine Eigenschaft des Judentums aus dessen Geschichte und Lehre zu widerlegen. Gegen seine falschen Zitate und Zeugen wandte sich Mendelssohn und schied noch einmal mit scharfen Strichen das Prinzipielle vom Zufälligen und Gelegentlichen.

Die Diskussion über diese Schriften zog weite Kreise in Broschüren und Artikeln, die mehr mit Instinkten als mit Gründen operierten und vom Judenhaß, der stärksten Form der Intoleranz, geboren waren.

Lavater, der „Prophete“, hatte zwar schon in der Antwort an Mendelssohn sein Bedauern darüber geäußert, daß er mit seiner Schrift gegen die Grundregeln der Toleranz verstoßen habe, er hat aber auch in anderen Schriften und Situationen sich als ihr Fürsprecher und Förderer gezeigt. Daher mag, zumal seine Worte nicht nur in den sentimental-schwärmerishen Kreisen Deutschlands, sondern auch bei vielen Gebildeten anderer Weltanschauung Autorität und Geltung besaßen, noch einiges über seine sonstige Stellung zum Toleranzgedanken hinzugefügt werden.

Als ein Mensch, dem sein Christentum über alles ging und der aus dieser Gesinnung heraus den (der Toleranz entgegenwirkenden) Drang hatte, alle edlen Menschen zu dieser Heilswahrheit zu bekehren, betonte er auf der anderen Seite immer wieder, in Predigten,


____
32 Lichtenberg.

Briefen und anderen Werken, daß der Staat die Pflicht habe, allen Religionsparteien gleichmäßig Duldung zu gewähren; denn Religion sei Gewissenssache, wer sie zwinge, zerstöre sie; je mehr Duldung geübt werde, desto weniger Polemik sei zu befürchten. Darüber hinausgehend, betonte er immer wieder, wie notwendig es sei, das Gute und Reine in allen Parteien und Richtungen liebevoll und rückhaltslos anzuerkennen. Durch diese Sätze, die er in den Vordergrund rückte, schuf er eine Ergänzung zu seiner sonstigen Gedankenwelt, die mit starkem Appell an die Sentimentalität empfindsamer Seelen -- und weiteste Kreise der 70er Jahre waren von dieser Stimmung nicht frei -- und inbrünstiger Mystik die Seelen zum religiösen Erleben und Bekennen aufzurütteln suchte.

Gegen die Auswüchse seiner Frömmigkeit wie gegen seine wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiete der Physiognomik hatte am schärfsten vielleicht sein Gegner Lichtenberg polemisiert, der auch mit seiner Schrift „Timorus“ in dem Mendelssohnstreit gegen Lavater Stellung genommen hatte. Aber in der Auffassung von der Toleranz berührten sie sich häufig, wenn auch Lichtenberg, der große Satiriker, sie viel pointierter, packender zum Ausdruck brachte. Das tat er vor allem in seinen prägnanten Formulierungen der Aphorismen, in denen er auseinandersetzte, daß die Freiheit des Gedankens ihm erstrebenswerter erscheine als die politische; denn da, im politischen Leben, mache sie ihn unglücklich, wo sie die anderen Menschen befriedige, die sie im Glauben und Denken verwerfen; obwohl doch, rief er aus, Religions- und Systemsdespotismus das fürchterlichste unter allen sei.

Solche Gedanken der führenden und freien Geister der Nation waren zwar noch nicht Allgemeingut geworden, aber sie beherrschten doch das Denken vieler und der besten Schichten des Volkes. Verstärkt wurde diese tolerante Gesinnung noch dadurch, daß jetzt stärker und häufiger sich Stimmen erhoben, die auf dem Theater, der weithin sichtbarsten und wirkungsvollsten Stätte der Predigt, von Duldung sprachen. Es entstehen nämlich in den 70 er Jahren eine große Anzahl Theaterstücke, in denen, ohne große literarische Ambition, Juden die Hauptrolle spielen oder wichtige Episodenfiguren sind. Und zwar werden jetzt diese Judenfiguren nicht mehr nach dem alten Schema gezeichnet als Wucherjuden oder ängstlich und unsicher oder


____
33 Toleranzmotiv auf der Bühne.

mit allerlei seelischen und körperlichen Defekten behaftet, sondern diese Volksstücke, die für die Massen bestimmt waren, stellen mit bewußter Absicht und grobschlächtiger Kunst den Edelmut, das Verehrungswürdige am Juden dar. Der poetische Wert dieser theatralischen Belustigungen ist nicht sehr groß, es ragt keins von ihnen zum Ewigkeitsruhm noch zur zeitlosen Geltung empor; aber ihrer Zeit haben sie genug getan und darum gelebt auch für spätere Zeiten. Und wie Literatur stets beide Momente in sich enthalten soll, einmal Ausdruck des reichen Lebens zu sein, andererseits aber auch durch seinen Einfluß das Leben zu gestalten und umzuformen, so verraten einerseits auch diese Stücke den Einfluß der neuen toleranten Gesinnung, die sie widerspiegeln, und verändern andererseits durch unermüdliche Lehre, durch die Anschaulichkeit und Tendenz der Figuren, die manchen Zuhörer zur gerechteren Anschauung dem Juden gegenüber erzogen, das Urteil und die Gesinnung des Publikums.

Rein literarisch genommen sind diese Judenstücke wenig wertvoll, wenn auch für jene Zeit sehr wirkungsvoll, und es genügt, an einigen aus ihrer Menge die --- oft variierte --- Problemstellung und die neue Gesinnung zu studieren.

Eins von den literarischen Motiven, an denen die Kunst der Dichter sich gern erprobte, weil es genug Stoff und Anlaß zu Betrachtungen über die Toleranz bot, war die Frage, ob die Ehe zwischen Juden und Christen, durch Tradition und Verfügungen erschwert, wenn nicht gar verboten, statthaft und möglich sei. Dies Motiv, in Lessings „Juden“ schon angedeutet, im „Nathan“ später wenigstens gelegentlich herangezogen, tritt stärker in einem Volksstück auf, das Stephanie d. Ä. zum Verfasser hat: „Der neue Weiberfeind und die schöne Jüdin“ (Wien 1773). Die Neigung zwischen einer Jüdin, deren Verlobter einst dem Grafen das Leben gerettet hat, und dem Grafen soll zur Ehe führen, aber diesem Wunsch des Grafen steht das unüberwindbare Hindernis der Glaubensverschiedenheit im Wege. Durch das Stück, das mit sentimentalem Gehalt an die Tränendrüsen appelliert, zieht sich unausgesprochen, zuweilen auch stärker betont, das Grundempfinden der Toleranz, deren Notwendigkeit diese Konflikte beweisen.

Auf eine andere Form der Unduldsamkeit, nämlich diejenige, welche noch den Juden den Besitz von Land und Boden verbot,

Wolff, Toleranzgedanke.


____
34 Judenstücke und Judentypen.

spielt ein Jahr darauf das Stück Pauersbachs „Der redliche Bauer und der großmütige Jude“ an, in dem der Jude sein durch Zufall wiedergewonnenes Eigentum verschenkt und sich als edler Wohltäter bewährt. Gegen diese Gesinnung sticht um so mehr die des christlichen Schulmeisters ab, der in dem Stück als Vertreter der Intoleranz gezeichnet wird. Zwar tritt er nicht selbst auf, aber das Kind des Bauern erzählt, wie er mit großer Heftigkeit die alten Vorwürfe gegen die Juden schleudere und ihnen alle möglichen Freveltaten zur Last lege. Solche Vorurteile bekämpfen und widerlegen die Schriftsteller durch die Schilderung von Juden, die durch Güte und Edelmut beschämen oder schurkische, judenfeindliche Christen entlarven. Neben diese Wirkung durch Taten setzen andere Schriftsteller den Versuch, die Zuhörer durch Reden von dem Wert der Juden und der Berechtigung gegenseitiger Toleranz zu überzeugen; mag der Jude selbst von seinen Eigenschaften sprechen, wie es in Bischoffs „Judenfeind“ (1780) des Juden Tochter Rahel einem Bettler gegenüber tut, oder noch ungeschickter in Steinbergs „Menschen und Menschensituationen“ der Jude Isaak Mendel, der die eigene Vorurteilslosigkeit preist, die ihm das Wort „Mensch" heilig mache, den Haß gegen den Nebenmenschen verbiete -- --- oder mögen andere mit warmen Worten die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit des und der Juden rühmen, wie in Stephanies d. J. „Eigensinnigem“ (1774) oder einem späteren Stück desselben Autors „Sie lebt in der Einbildung“ (1780). Diese Anerkennung steigert sich in dem Stück: „Der adlige Tagelöhner“ von F. v. Nesselrode soweit, daß ein armer ehrlicher Jude durch seinen Mut und seine Energie die Bösen verdirbt und den Guten zu ihrem Recht verhilft.

Die Übersicht über die Judentypen, die in der populären Literatur auf das Theater gebracht wurden, lehrt, daß die Toleranz den Juden gegenüber wenigstens von der literarischen Seite her im Vorrücken begriffen war; daß sie aber auch von anderer Seite her gepflegt und entwickelt wurde, mag der Erfolg des Romans beweisen, den Friedrich Nicolai, das immer noch anerkannte Haupt der Berliner Aufklärung, in den Jahren 1773--1776 erscheinen ließ: „Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker.“ Die Tendenz des Buches hat er selbst später in seiner Autobiographie (in Lowes Bildnissen 1806) dahin präzisiert, daß er darauf ausging, „die Verfolgungssucht


____
35 Nicolais Romane, -- Schlözer. -- Gleim.

hartherziger Orthodoxie, wovon damals sich noch häufig Beispiele fanden, durch das ridendo dicere verum in ihrer Verächtlichkeit darzustellen und dagegen Geistesfreiheit und Toleranz, welche damals an mehreren Stellen noch sehr zum Nachteil gereichten, zu empfehlen.“ Er versuchte mit Erfolg, ein Bild des damaligen Deutschlands zu geben, und stellte die Schichten der Bevölkerung im Verhältnis zur Toleranz dar, so daß auf der einen Seite als Vertreter der Toleranz die Reichen, die Vornehmen und die orthodoxen „Pfaffen“ erschienen, auf der anderen Seite Soldaten und Lehrer und die holländische Sekte der Kollegianten und Landpfarrer die Toleranz lehrten und übten. Ein solcher Landpfarrer ist auch der Held, der durch einen orthodoxen Generalsuperintendenten Stauzius (= Göze) wegen seiner milden Auffassung von den Höllenstrafen aus dem Amte vertrieben wird. Auf seiner Wanderung kommt er mit den verschiedensten Religionsgemeinschaften zusammen; jede glaubt -- mit Ausnahme etwa der Kollegianten -- die Offenbarung allein für sich zu besitzen und kann darum nur diejenigen aufnehmen, welche auf die eigene Lehre schwören. Nach mannigfachen Abenteuern und Verwicklungen, die bis ins Kolportagehafte gesteigert sind, gelangt er zur Ruhe. -- An dies vielgelesene Buch, in dem Fürst Friedrich von Waldeck mit starker Überschätzung seines Wertes eine „Inspiration der Toleranz“ erblickte, schloß er mit ähnlicher Tendenz in späteren Jahren das zwölfbändige Werk an, das 1783 zu erscheinen begann: „Die Beschreibung einer im Jahre 1781 mit seinem ältesten Sohn durch Deutschland und die Schweiz unternommenen Reise.“ Darin suchte er alle Formen auf, die sich Schwärmerei und Fanatismus noch geschaffen hatten, und geißelte mit scharfem Blick, aber leicht ermüdender Breite die Bigotterie und den Aberglauben, wo er sie fand.

Was Nicolai hier in unnachsichtiger Polemik vorbrachte, das leistete der Historiker und bedeutende Publizist Schlözer in seinen Zeitschriften, in seinem „Briefwechsel“, als deren Zweck ein deutscher Fürst es bezeichnete, „Aufklärung und Duldungsgeist zu befördern.“

Eine ähnliche Stimmung, nur viel milder, weicher ausgedrückt, klang auch in Gleims „rotem Buch oder Halladahat“ durch, das unter Nachahmung orientalischen Stils reine Menschenliebe predigte, klang auch in dem -- längst jetzt vergessenen, damaligen Moderoman


____
36 Miller. -- Hermes. -- Stilling. -- Bahrdt.

(1776) „Siegwart“ von Miller durch, in dem, wenn auch nur episodenhaft, der protestantische Pfarrer versuchte, seinen katholischen Amtsbrüdern gerecht zu werden und die trennenden Differenzen möglichst zu verwischen. Und wie hier, so zeigten auch die anderen Romane ein ähnliches Bild, ich greife aus der Masse der Namen und Werke, die damals für das deutsche Publikum die geistige Nahrung des Alltags waren, nur zwei verschiedenartige Persönlichkeiten als Typen und Zeugen heraus. Der Pastor und Romanschreiber Hermes legte in seinem Hauptwerk „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ im 4. Band eine predigthafte Behandlung der Toleranz ein (die er übrigens selbst so warm und aufrichtig in seinen Predigten auf die Juden ausdehnte, daß diese ihm zu seinem Jubiläum in einem rührend herzlichen Psalm gratulierten). Und neben ihm mag ein anderer, Stilling, stehen, der Shwärmerei mit Duldsamkeit vereinte und in seinem Roman „Theobald der Schwärmer“ mit den Worten Gedankenfreiheit lehrte: „Wenn jeder frei denken darf, so erscheinen Millionen Lehrsätze, die jeder beleuchten kann, dadurch entstehen allgemeine Gährungen, die dem Geist immer Licht und Reinigkeit geben.“

Sieht man aus diesen Proben, daß der Toleranzgedanke in der deutschen Literatur für weite Kreise schon eine gewisse Selbstverständlichkeit bekommen hatte, so entging er auf der anderen Seite nicht der Gefahr, nicht nur trivialisiert, sondern auch in der Hand unwürdiger Personen verzerrt und entstellt zu werden. Das zeigt sich am Beispiel Bahrdts, dieser „Wetterfahne des Zeitgeists“, der gern und mit unleugbarem journalistishem Geschick den Wandlungen der Zeit Konzessionen machte. Einst orthodox und ein Lieblingsschüler Gözes hatte er sich der flachsten Aufklärung in die Arme geworfen, die alle Religionen wie alle übernatürlichen Begriffe ausschalten wollte. Er beansprucht für sich und seine Lehren die Toleranz, die er als einen zentralen Gedanken auffaßte; doch die Scham darüber, daß der große Gedanke der Toleranz durch einen so kleinen und verächtlihen Menschen entwürdigt wurde, rief viele gegen ihn ins Feld, die sonst manches auf Zerstörung von Dogmen und Vorurteilen gerichtete Prinzip seiner Ansichten gebilligt hätten. So stimmten einmal wenigstens auch viele Freigesinnte Göze zu, als er sich gegen Bahrdt wandte, was er freilich in der Absicht tat, mit dem Auswuchs


____
37 Lessing.

auch die ganze Bewegung des Toleranzgedankens zu bekämpfen und wenn möglich zu vernichten.

Voll Befriedigung über diesen Sieg wagte es Göze aber auch, mit einem Größeren den Kampf zu beginnen, mit demjenigen, der der Heros der Toleranz ward, mit Lessing.

Mit Lessings Auftreten erreicht der Toleranzgedanke seinen Höhepunkt im literarischen Leben, erhält er den krönenden Abschluß und die endgültige Formulierung. Der Kampf gegen Göze und für die Toleranz, der mit dem „Nathan“ sein Ende findet, ist wie ein gut aufgebautes Drama, in dessen Handlung sich, Schlag auf Schlag, in Aktion und Wortgefeht, die Gegenspieler bekämpfen. Auf der einen Seite stand, das Drama beherrschend, Lessing, nur unsicher von wenigen und unzuverlässigen Bundesgenossen öffentlich unterstützt, über die er weit hinausragte, weil er mehr als sie wollte, wußte, ahnte, und weil er in unersättlichem Drang nach Wahrheit dort den Zweifel ansetzte, wo sie schon im beruhigenden und beruhigten Glauben waren, dort die Kritik noch für nötig und erst recht für nötig hielt, wo sie meinten, schon die Wahrheit zu sehen und zu besitzen. Und auf der anderen Seite stand als Vertreter eines Prinzips, einer Idee, die über den Tag hinausreicht, die von Ewigkeit her ist, weil sie auch ihre Existenz und Notwendigkeit hat, als ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, als Vertreter der herrschsüchtigen Intoleranz Göze.

Bei Lessing hingen die seelischen Voraussezungen *), aus denen heraus die Toleranz wirklich eine Grundlage seines Lebens war, zusammen mit der weitgreifenden, alle Schätze des Geistes an sich reißenden Vielseitigkeit seines Wesens, die ihn erkennen ließ, wieviel Ewiges, Wahres in anderen Weltanschauungen liege, ohne ihn darum zum Skeptiker oder Nihilisten werden zu lassen. Daran hinderte ihn sein nimmermüdes Streben nach Wahrheit, dieser unbarmherzige (gegen andere und vor allem gegen sich selbst), unbestechlich faustische Wahrheitsdrang, dies Wahrheitssuchen, das er über den Besitz der Wahrheit selbst stellte, ungläubig aus Glaubenssehnsucht, und aus
____
*) In der Anmerkung wenigstens sei erwähnt, daß eine gewisse Prädestination, wenn man will, zu diesem Thema in ihm lag, hatte doch sein Großvater in einer freilich mehr verheißenden als erfüllenden Dissertation über das Thema de tolerantia religionum 1669 gehandelt.


____
38 Lessings Voraussetzungen.

dem die glühende und ihn selbst fast verbrennende Flamme der Begeisterung aufstieg und ihn trieb, das Absolute zu ermitteln, wo es auch liege. So erklärt es sich, daß er, dem die Entwicklung des Menschengeschlechts wie ein Erziehungsprozeß erschien, in dem die einzelnen Religionen die Etappen darstellten, im Christentum keinen Abschluß menschlichen Denkens und Lebens sah, daß er, der Dogmenfreie, christliche Dogmen zwar achten und erforschen, aber doch nicht, mochten sie in katholischer oder protestantischer Form auftreten, anerkennen konnte.

Aus solchen Voraussetzungen erwuchs seine Toleranz, welche, wie Friedrich Schlegel (Lessings Gedanken und Meinungen) es einmal ausdrückt, „nicht aus der Gleichgültigkeit hervorgehen kann, sondern aus der universellen Ansicht, welche vorzüglich der historische Standpunkt der Bildung und der Konstruktion ihrer Epochen gewährt.“ Von diesen Grundlagen aus, in dem Bewußtsein, daß es sich um ein wesentlihes Problem seines eigenen Seins und um ein Menschheitsproblem handle, hat er den Kampf um und für die Toleranz begonnen, hat ihn aus Negation und Kritik zu positiver Lehre, aus Polemik und literarischem Gezänk zur reinen Höhe des großen Kunstwerks geführt, das Zeitliche streifte er ab und schuf im „Nathan“ ein monumentum aere perennius für sich selbst und die hohe Idee, der er sowuchs  huldigte.

Hatte Lessing schon früher in „wuchs Rettungen“, in kirchengeschichtlichen Verteidigungen von verkannten Schriftstellern seine gegen Orthodoxie und Aufklärung unparteiische Toleranz gezeigt, so predigte er mit noch stärkeren Akzenten die Toleranz in dem 3. Stück der Wolfenbüttler Beiträge: von Adam Neusern einige authentische Nachrichten (1774). Hier kam es ihm darauf an, an einem vielverlästerten Bekenner des 16. Jahrhunderts, der vor dem Glaubenseifer und -übereifer nach der Türkei geflohen und dort zum Islam übergetreten war, eine Ehrenrettung vorzunehmen und an dem Justizmord, der an dessen Genossen Sylvan in Wahrheit, an Neuser in effigie verübt worden war, die Notwendigkeit der Toleranz zu beweisen. Und er, der selbst für sich und die Schriften, mit denen er die Welt in Aufregung setzen sollte, den Druck und die Ausschreitungen der Intoleranz zu fürchten hatte, rief vorahnend aus: „Welch ein Glück, daß die Zeiten vorbei sind, in denen solche Gesinnungen Religion und Frömmigkeit hießen!“


____
39 Fragmente eines Ungenannten.

Dieser Beitrag war ein Auftakt zu der Reihe von Schriften, in denen Lessing kritisch an die Grundlagen der christlichen Religion rührte. Er veröffentlichte nämlich aus dem Nachlasse des Hamburgers Reimarus unter dem Titel: „Fragmente eines Ungenannten“ eine Anzahl Aufsätze, die mit allerschärfstem Radikalismus gegen Inspiration und die Vorgänge, wie sie in der Bibel geschildert waren, loszogen und eine Revision der Anschauungen vom Christentum und seinen dogmatischen Voraussetzungen anbahnten. Das erste Fragment „Von Duldung der Deisten“ knüpfte an Neusers Schicksal an und setzte in markiger Sprache und mit dem Pathos des Erlebnisses auseinander, welchen Verfolgungen auch jetzt noch die Anhänger der deistischen Weltanschauung unterworfen seien. Dies offene Eintreten für eine so verhaßte „Sekte“, wie sie in den Augen der Frommen und Gläubigen die Deisten waren, rief ebenso wie die folgenden Fragmente *), deren Titel, noch mehr freilich die schlagende Schärfe der Argumentation, Schrecken erregten, den Widerspruch und den Verfolgungsgeist hervor, dem Göze offen Ausdruck verlieh. Er wandte sich nicht bloß gegen die einzelnen Punkte, sondern vor allem gegen das ganze Grund- und Lebensgefühl, das aus den Schriften, aus der Tatsache ihrer Veröffentlichung und aus Lessings Zu- und Gegensätzen dazu sprach. Ohne zu erkennen, daß diese Schriften erschienen waren, um die Begriffe durch Diskussion zu klären, appellierte Göze an Lessings vorgesetzte Behörde, um weitere Veröffentlihungen zu verhindern. Aber auch literarisch verfocht er die Sache, die ihm heilig war; in einer Reihe von grob und derb und körnig geschriebenen Flugschriften griff er mit glühendem Fanatismus Lessing an und spielte die Autoritäten vergangener Zeiten gegen Wahrheitsdrang und Vernunft aus, das Dogma gegen das Recht der Forschung, die unduldsame Selbstsicherheit gegen die erkenntnisstrebende Toleranz. Aber Lessing parierte, parierte und griff selbst an, scharf, schneidig und wehrhaft mit den Waffen des
____
*) Diese 5 Fragmente hießen: „Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln“ -- „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können“ -- „Daß die Bücher des Alten Testaments nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren“ -- „Über den Durchgang der Israeliten durchs rote Meer" -- „Über die Auferstehungsgeschichte“ (die beiden letzten eine historisch-kritische Zersetzung der Tatsachen und ihrer Darstellung).


____
40 Lessings „Nathan der Weise“.

Geistes, des Witzes und des Wissens, in den Stücken des „Antigöze“, in denen er in unbarmherziger Fehde und mit packender Kraft, mit vorwärtsstürmendem Pathos Gözes Argumente vernichtete.

Den wahren Abschluß aber gab er diesem Kampfe dadurch, daß er ihn auf das Theater verlegte, auf seine wahre Kanzel, um zu sehen, wie seine Predigt von hier aus wirke. So schuf er als tiefstes Produkt seines Geistes „Nathan den Weisen“, δν οὐδ αἰνεῖν δέμις ἐστίν, „das nicht einmal zu loben erlaubt ist“; schuf dies dramatische Gedicht, das er durch die sittliche Würde seines Wesens, die Wucht seiner Worte und das Ethos seines Erlebnisses adelte, aus dem Überdrang seines Herzens, als Erlösung aus persönlichem Leid, an dem seine Seele krankte in den Tagen des Todeskampfes seiner geliebten Frau, als sein Glück in Scherben zerbrach; er schuf es als Befreiung von den Kämpfen, in denen er gestanden hatte.

In Residenz und Stadt des Saladin drängte er die Vertreter der großen Religionen zusammen, von denen in jenen fanatischen Zeiten zwei in erbitterten Glaubenskämpfen lagen und die dritte, das Judenvolk, unter den Kämpfen nicht weniger zu leiden hatte. In diese Atmosphäre der Unduldsamkeit, die man aus den vorhergehenden Ereignissen noch spürt, die des Nathan Erzählung vom Tod seiner Lieben emporzaubert, die des Patriarchen Gesinnung und Hinterlist atmet, und des Tempelherrn unbändigen, störrischen Drang ebenso zeigt wie der besorgten Daja kümmerliche Naivität, in diese Atmosphäre voll Unreinheit tritt voll Hoheit und doch voll irdischen Sinns, voll Kühle und doch in glühendem, flackerndem Temperament, voll Bedächtigkeit, die abwägt, und doch von leidenschaftlicher Stärke Nathan, den die Menschen den Weisen nennen. Er und sein Abglanz Recha repräsentieren am reinsten jenes „göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl“, das Goethe am „Nathan“ pries, die Toleranz, die, frei von Vorurteilen, Gottes und der Seele Offenbarungen lauscht. Und was Nathan von der Höhe des Intellekts und der Selbstüberwindung des Leids, das das Wohltun milderte, ausspricht, das Recht der Duldung und das Recht des Menschen, gleichviel welchen Ring einst der Ahne trug, gleichviel welchen Glauben er selbst bekennt, das billigt auch Saladin, der sich durch Nathans Erzählung von der Ahnung zur Gewißheit erheben läßt, das bekennt in der naiven Sicherheit der gottgefälligen Seele der Klosterbruder,


____
41  J. H. Voß.

sie alle geeint durch den Glauben an die Pflicht der Toleranz und der Liebe. So spiegelt sich der Gedanke daran in tausend Brechungen, in Wort und Geste, in Sentenz und Erzählung wider, ewig, wie er ist, lichtvoll und leuchtend; so klingt dies Leitmotiv von Lessings Gedankenwelt in jenen bald brausenden, bald ruhenden Akkorden von verhaltener Glut wider, da Nathan der Weise die alte Parabel von den drei Ringen erzählt, wie einst in alten Zeiten ein Mann im fernen Osten den Ring, ererbt von den Ahnen, besaß, der vor Gott und den Menschen wohlgefällig machte. Und wie er dann zum Sterben kam, da ließ er noch zwei Ringe anfertigen, die waren dem ersten und untereinander so ähnlich, daß keiner sie unterscheiden konnte, und gab sie den drei Söhnen. Von denen aber glaubte jeder, daß er den echten Ring habe, und diese Zuversicht trieb ihn zum Kampfe gegen die anderen, die denselben Anspruch erhoben: der weise Richter aber, vor den sie traten, lehrte sie, der echte Ring sei wohl verloren, der seinen Besitzer wohlgefällig mache, da sie mehr sich liebten als Gott und als die anderen . . .

Lessings „Nathan“ stellte den eigentlichen dichterischen Höhepunkt aller der Kämpfe, die um das Prinzip und die Idee der Toleranz so lange geführt worden waren; sie wird jetzt mit diesem Drama ins Selbstverständliche erhoben, sie wird eins von den moralischen Geboten, das der Mensch zu beobachten hat. Freilich regen sich immer noch Widerstände, und die volle Ausdehnung auf verschiedene Lebensgebiete muß immer noch betont, gefordert werden; und wie die Entwicklung und der Fortschritt der Menschheit selten genug geradlinig vor sich geht, sondern häufig Umwege, bisweilen scheinbar Rückschritte zeigt, so geht das auch mit dem Toleranzgedanken; trotzdem bleibt doch wahr, daß das höchste und letzte vielleicht für diesen Begriff von Lessing gesagt ist. Das spürten nicht nur die Großen wie Goethe und Herder, das spürten auch die Kleineren, wie J. H. Voß, der den „Nathan“ andächtig wie ein Evangelium verehrte, das Gedicht alljährlich der Gattin vorlas und in seinem Idyll „Luise“, besonders den späteren Auflagen, der Idee innig gedachte. Ja, er flocht eine Fabel ein, wie die Vertreter der verschiedenen Richtungen im Christentum ans Himmelstor klopfen, jeder mit dem Anspruch, allein des Himmels teilhaftig zu werden, und wie Petrus keinen hereinläßt, wie sie dann, von der ewigen Harmonie des Alls umtönt und einander


____
42 Fortsetzungen und Nachahmungen des „Nathan“.

nahe gebracht, beginnen: „Wir glauben alle an einen Gott“ und der Himmel sich ihnen, den Versöhnten, jetzt öffnet. Und in derbehrlichen Versen schließt der wackere Rektor Voß:

Liebet Euch, redet der Herr, und brüderlich duldet einander,
Aber die höllische Pest Unduldsamkeit sheucht in den Abgrund.

Freilich bei all dem freudigen Widerhall, den das Stück fand, blieben doch auch die Stimmen nicht aus, die in dem Stück eine Herabsetzung des Christentums und eine Glorifizierung des Judentums sahen, die nicht erkannten, daß die Tendenz des Stücks lehrt: es kommt nicht darauf an, was man glaubt (kaum darauf, daß man glaubt), wohl aber, was man ist. Aus dem quälenden Zweifel, in den ihn Lessings Gedicht geworfen hatte, suchte sich der Pfarrer Pfranger zu befreien, indem er eine Fortsetzung des „Nathan“ schrieb, der er den Titel gab: „Der Mönch am Libanon.“ Darin erzählte er, wie Krankheit den König Saladin überfiel und ihn in der Not und Furcht des Todes Nathans Zuspruch nicht zu erheben vermochte, wohl aber das Christentum, das so als glorreicher Triumphator und Retter der Seelen aus dem Wettstreit der Religionen hervorging.

Aber solche Stimmen waren und blieben vereinzelt, wenn auch nicht ganz wirkungslos, und verklangen vor der überragenden und überraschenden Wirkung, die Lessings „Nathan“ ausübte. Vor allem kam diese natürlich dem am meisten mißachteten Volk zugute, den Juden; wußte doch jeder, daß einer von ihnen und einer ihrer Besten das Vorbild für den Titelhelden gewesen war. So wurde die Wandlung des Judentypus, die frühere Volksstücke (s. S. 33) schon vorbereitet hatten, nach dem Auftreten des Nathan noch verstärkt; neben oder an Stelle des Shylocktypus, der früher noch die einzige Verkörperung des Juden gewesen war, trat jetzt die Figur des edelmütigen Juden, der als deus ex machina durch sein Eingreifen alles zum Guten brachte, wie etwa in Lotichs Stück: „Wer war wohl mehr Jude?“ (1783), oder wie in Reinickes „Nathan der Deutsche" und in ähnlichen Stücken, sich als edelherzigen und toleranten Wohltäter gegen die Christen zeigte.

Der Wert dieser Dichtungen lag nicht so sehr nach der poetischen, sondern nach der politischen und sozialen Seite hin; sie schufen den Resonanzboden, der einer solchen Schrift wie der des christlichen Kriegsrats Dohm „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden"


____
43 Dohm. -- Mendelssohns „Jerusalem“.

einen weithin reichenden Widerhall erzeugte. Dohm, ein Mann von umfassendem Wissen und aufrichtigster Gesinnung, geschult in den Staatsrechtslehren der Zeit, gebildet an der Theorie des toleranten Turgot, trat nicht nur im Prinzip für die Gleichstellung der Juden ein, sondern machte auch praktische Vorschläge und begründete seine Forderungen mit dem Interesse des Staats, dem daran liegen müßte, im freien Spiel der Kräfte die Fähigkeiten des Einzelnen über das bisherige Maß zu entwickeln.

Was der Christ ausgesprochen, das vollendete der Jude Mendelssohn, der als der repräsentativste galt und wie keiner berufen war, die Forderung der Toleranz auch im Namen der Juden zu vertreten, und jetzt in dieser Frage wieder auf den Plan trat. Er gab die Schrift Menassah Ben Israels wieder heraus, in der dieser einst die Aufnahme der Juden in England bewirkt und die Angriffe gegen die bürgerliche und moralische Qualität der Juden und der jüdischen Lehre zurückgewiesen hatte, und schickte ihr eine Vorrede voraus, in der er auf den gegenwärtigen Stand der Toleranz gegen die Juden einging. So nahm er das Thema wieder auf, das er schon gegen Lavater ausgeführt hatte, daß das Judentum das spezielle Volk der Duldung sei, daß es nicht auf Bekehrung ausgehe, daß es im Gegen-teil den Proselyten den Eintritt und Übertritt in die Gemeinschaft der Juden möglichst schwer mache. Und er führte dies Motiv, das ihm der wesentlichsten eins in jüdischer Gesetzlichkeit zu sein schien, in seiner 1783 erschienenen Schrift „Jerusalem“ oder „Über religiöse Macht und Judentum“ weiter aus. Anders seien die Absichten und die Tätigkeit und Kompetenzen des Staates, anders die der Kirche; jener habe kein Recht, Glaubens- und Gewissenszwang auszuüben, ebenso wenig dürfe er, wenn er wirklich seinen Aufgaben gerecht werden wolle, bestimmten religiösen Gemeinschaften, deren Religion nicht die der herrschenden Kirche sei, die politischen Rechte versagen. Aber auch die Kirche, jede Kirche, habe den eigenen Angehörigen gegenüber nicht unbeschränkte Rechte, sie dürfe keine Gewalt über die einzelnen Mitglieder und ihre Meinungen ausüben, auf keinen Fall etwa den Bann über eins ihrer Mitglieder wegen irgendwelcher religiösen Differenz verhängen; wer die Toleranz für seine und seiner Kirche Ansicht im gemischten Staat beanspruche, der müsse auch den einzelnen Mitgliedern der Kirche gegenüber Toleranz üben. Mit


____
44 Tendenz und Wirkung des „Jerusalem“.

dieser Beweisführung wandte er sich gegen zwei Fronten: einmal gegen Dohm, der dafür plädiert hatte, bei einer Neuordnung der jüdischen Verhältnisse in Deutschland der jüdischen Gemeinschaft Bann- und Disziplinarrechte über ihre Angehörigen einzuräumen; auf der anderen Seite gegen seine Glaubensgenossen, die dies Recht ihm gegenüber in einigen Teilen der Judenheit durch Ächtung und Verbrennung seiner Bibelübersetzung sehr energisch ausgeübt hatten. Im übrigen betonte er abschließend als Ziel seiner Wünsche und Forderungen, daß es nicht auf Glaubensvereinigung ankomme, die nur verwirre und verwische, sondern auf die wahre und echte Toleranz, die der Entwicklung der eigenen Person und Gemeinschaft volle Freiheit lasse, sie so fördere und erhöhe.

Der Widerhall, den dies Buch bei Freunden und Gegnern fand, war groß; die alten Gegner und ihre Nachfolger rührten sich wieder, aber sie wiederholten nur die alten Argumente; auch Hamann, der in seiner Schrift „Golgatha und Sceblimini“ (1784) gegen Mendelssohns Auffassung vom Judentum auf seine chaotische, sprunghafte, stillose Weise polemisierte, fügte nichts Neues hinzu. Es war eben so, daß, wenigstens in Bezug auf das Judentum, jetzt eigentlich die literarische Behandlung des Toleranzgedankens abschließt und die schriftstellerische und praktische Diskussion um die Emanzipation einsetzt. Daß Mendelssohns „Jerusalem“ auch so von den Zeitgenossen empfunden wurde, mag die Zustimmung Herders, Garves, Mirabeaus lehren, der Mendelssohn mit dem Staatsmann Turgot verglich, mag vor allem das Urteil Kants lehren, der das Buch rühmte „als die Verkündigung einer großen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein ihre Religion, sondern auch andere treffen wird. Sie haben“, schrieb er in diesem Briefe vom 16. August 1783, „Ihre Religion mit einem solchen Grad von Gewissensfreiheit zu vereinigen gewußt, die man ihr gar nicht zugetraut hätte, und desgleichen keine andere sich rühmen kann. Sie haben zugleich die Notwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreiheit zu jeder Religion so gründlich und so hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unsrerseits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigt und drücken kann, von der ihrigen absondern, welches sie endlich in Ansehung der endlichen Religionspunkte vereinigen muß.“


____
45 Schlosser. -- Josephs II. Toleranzpatent.

Hatte sich Mendelssohn so mit Erfolg für die endgültige Ausdehnung des Toleranzgedankens auf die Juden eingesetzt, so unterstützte er durch Ermunterung und Zustimmung diejenigen Versuche, die gemacht wurden, den Deisten volle Duldung zu verschaffen. Auch in diesen literarischen Kämpfen war Dohm der Wortführer der „Tolerantisten“, wie sie bisweilen bezeichnet wurden, unterstützt von der „Berlinischen Monatsschrift“, die sich mit beredtem Eifer z. B. in den Berliner Briefen für die Deisten einsetzte. Auf der anderen Seite standen dieser Forderung, die schon Reimarus „der Fragmentist“ erhoben hatte, nicht nur die Orthodoxen und Frommen gegenüber, sondern auch solche Männer wie Goethes Schwager, Schlosser, die doch von denselben Grundlagen der Aufklärung ausgingen und das Prinzip der Toleranz verkündeten. Aber Schlosser fürchtete --- und er hat das nicht nur in den Aufsätzen des „Deutschen Museums“, sondern auch in dem an und gegen Dohm gerichteten Büchlein „Über die Duldung der Deisten“ ausgesprochen --, daß aus der Toleranz („dem großen Streitgaul der Panegyristen jener Zeit“, wie sein Biograph und Enkel Nicolovius es mehr plastisch als schön ausdrückte) Gleichgültigkeit hervorgehen werde; er glaubte, daß die Zeiten noch nicht reif seien, daß man erst vorbereitende Maßregeln treffen müsse, und vor allem, daß bei vollkommener Durchführung der Gewissens- und Glaubensfreiheit, „wenn jeder sich seinem Raisonnement hingebe, eine Religion entstehen müsse, deren Gott und Priester Despotismus heiße.“

Solche Bedenken wurden noch stärker betont von denen, die in Josephs II. Toleranzpatent vom Jahre 1781 eine Übereilung sahen und in zahlreichen Hirtenbriefen, Flugschriften, Predigten und populären Werken gegen seine Anwendung sich wandten. Alle diese Argumente von katholisher Seite, die auch heute noch in der offiziellen katholisch- kirchenrechtlichen Literatur eine Rolle spielen, die noch in diesen Jahren bei dem Streit zwischen dem aufgeklärteren katholischen Historiker der Aufklärung, Merkle, und seinen Gegnern hervorgeholt wurden, gipfelten darin, daß einmal die katholische Kirche etwas Absolutes, Gottgewolltes sei, nichts anderes neben sich als ebenbürtig anerkennen dürfe, und daß, wie der Staat durch Gesetze, so die Kirche durch die ihr möglichen Zwangsmaßregeln ihre Autorität ihren Mitgliedern gegenüber durchführen müsse. Gegen diese Auffassung wandten sich

____
46 Katholizismus und Toleranzgedanke.

katholische Professoren wie Sailer und Stattler, die eine mildere Praxis empfahlen, und vor allem der einstige Mönch Eulogius Schneider, der in einer 1785 zu Augsburg gehaltenen, später veröffentlihten, viel besprochenen Rede de tolerantia zur Eintracht aufrief und vor allem seine katholischen Mitbürger, aber auch die Angehörigen der anderen Konfessionen zur wahren Toleranz, die in der gegenseitigen Liebe besteht, führen wollte.

So schließt sich der Kreis, den die Idee der Toleranz durchläuft; sie berührt alle Schichten des Volkes mit ihrem Zauberstab und sucht Segen zu verbreiten; ihr Sieg ist endgültig entschieden, ihre Mission erfüllt; ihre Fragen sind beantwortet; ihr Leben ist zu Ende; an ihre Stelle treten mit der neuen Zeit andere Probleme von Gleichberechtigung, von Freiheit des Einzelnen und des Volkes.

Und wenn wir ihre Bedeutung für jene Zeit und unsere Zeit kurz zusammenfassen, so war im 18. Jahrhundert, zur Zeit Moses Mendelssohns, wie der Gang durch die deutsche Literatur zeigt, der Toleranzgedanke kein ausschließlich beherrschender, aber ein großer und lebenswerter Gedanke, der dem Leben und der Literatur frisches Blut zuführte. Was er hervorbringt an schriftstellerischen Werten und Werken, ist kräftige Tendenzpoesie, keine l'art-pour-l'art-Poesie. Sie dringt in alle Poren des Volks, sie wird den besten der Zeit, den Klassikern, eine Selbstverständlickeit, die sie schon als Besitz, als Erbe übernehmen, ohne noch selbst Kämpfe für sie führen zu müssen, und die sie dann in der Form des Humanitätsgedankens zu strahlenden Höhen emporführen.

Aber die Wirkung des Toleranzgedankens, sein Nachleben, reicht weiter, reicht hinein als ein tragendes Element in drei große Strömungen geschichtlichen Geschehens, reicht in den Individualismus, dem er als Achtung vor dem Individuum, seinen Eigenarten, seinen Rechten, neue Zuflüsse zuführte, in den Nationalismus, der ihm die Lehre vom Recht der Völker auf eigenes Leben und Erleben verdankte, und den Kosmopolitismus, den er lehrte, hinter und neben Völkern und Konfessionen den Menschen zu sehen und zu achten.

Diesem Empfinden gab, noch kurz vor seinem Tode, der preußische Kulturpolitiker Althoff, wie Harnack in seiner Trauerrede auf ihn berichtet, Ausdruk, als er den Plan „eines interkonfessionellen Toleranzbundes über allen Parteien“ entwarf. Damit knüpfte er, bewußt und


____
47 Schluß.

unbewußt, an alte Ideen an, die immer wieder auftauchen, wenn es gilt, neben den Besonderheiten, die durchaus erhalten und erhöht werden müssen, das Gemeinsame zu betonen. Daß das vorhanden ist, daß es stark ist, mag dieser Blick in die Vergangenheit lehren, da im 18. Jahrhundert die deutsche Literatur den Gedanken der Toleranz behandelte; das lehrt auch ein Blick in unsere Zeit, für die wahre Toleranz noch immer Wert und Würde hat; auch für unser Lebensgefühl kann der Gedanke noch bei allen Kämpfen ums Dasein seine bereichernde und fruchtbare Wirkung haben, uns erheben und uns befreien.


Bibliographischer Anhang.

Vorausgesetzt und darum nicht erwähnt sind die Geschichten der deutschen Literatur, sowohl die allgemeinen als auch die dieser Zeit gewidmeten, wie Hettner-Harnack, vorausgesetzt auch die bekanntesten Hilfsmittel deutsch-literarhistorischer Forschung wie Gödekes Grundriß in der Neubearbeitung. Die erwähnten oder zitierten Autoren werden hier aber so wenig wie ihre Ausgaben in den bekannten Sammlungen angeführt; auch die vielen in der Arbeit nicht aufgezählten Shriften, anonymen oder für die Behandlung des Themas wenig förderlichen, lohnt es nicht zu nennen, da ihre Zahl wie die der moralischen Wochen- und Monatsschriften zu groß ist, eine Aufzählung zu weit führen würde. Vielmehr berücksichtigt das nachstehende Verzeichnis vor allem diejenigen Werke, die sich mit der Geschichte des Toleranzgedankens beschäftigt haben:

Auer, Der Aufklärer Friedrich Nicolai.

A. Baumgartner, Lessings religiöser Entwicklungsgang (Stimmen aus Maria Laach).

Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert.

Bonet-Maury, Gewissenssreiheit in Frankreich (übers. von Reinicke-Röder).

Brasch, Mendelssohn.

Brenning, Gestalt des Sokrates im 18. Jahrhundert (Festschrift der 45. Philologenversammlung).

Carrington, Figur des Juden in der dramatischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Dissert. Heidelberg 1897.


____
48

Crous, Die religionsphilosophischen Lehren Lockes und ihre Stellung zu dem Deismus seiner Zeit. 1910.

Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung.

Dilthey, Die verschiedenen Abhandlungen im Archiv für Geschichte der Philosophie, in den „Preußishen Jahrbüchern“ usw.

J. v. Eichendorff, Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum.

F. Gelzer, Die neuere deutsche Nationalliteratur nach ihren ethischen und relig. Gesichtspunkten.

F. Hermelink, Der Toleranzgedanke im Reformationszeitalter.

G. Hoffmann, J. T. Hermes.

Kayserling, M. Mendelssohn.

Kretzschmar, Lessing und die Aufklärung.

Lecky, Geschichte des Ursprungs und des Einflusses der Aufklärung.

Lezius, Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs.

Matagrin, Histoire de la tolérance religieuse.

Merkle, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters.

Merkle, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland.

Milberg, Die moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts.

Minor, Goethes Mahomet.

Minor, Lessings Jugendfreunde.

Monatshefte der Comeniusgesellschaft.

Paulus, Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert.

Pigge, Friedrichs des Großen religiöse Toleranz.

Reinkens, Lessing über Toleranz.

Reuter, Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter.

Ruffini, La libertá relig.

E. Schmidt, Lessing.

Sell, Religion unserer Klassiker.

Spranger, W. v. Humboldt und die Humanitätsidee.

D. F. Strauß, S. H. Reimarus.

Stümcke, Fortsetzungen, Nachahmungen und Travestien von Lessings Nathan.

v. Treitschke, Historische und politische Aufsätze (IV, über Pufendorf).

Tröltsch, Gesammelte Schriften (und seine Aufsätze in der Histor, Zeitschrift usw.).

Unger, Hamann und die Aufklärung.

Völker, Toleranz und Intoleranz im Zeitalter der Reformation.

Vermeersch, Toleranz.




Druck von G. Uschmann in Weimar.



Quelle:
Alfred Wolff: Der Toleranzgedanke in der deutschen Literatur zur Zeit Mendelssohns. Berlin. Mayer & Müller. 1915.

Hinweis:
Das Buch wurde in Internet Archive (archive.org) eingescannt. Die gescannten Seiten sind über folgenden Link im Internet zugänglich:
https://archive.org/details/dertoleranzgedan00wolfuoft





Gervais: Lessing als Dramaturg

Wolfenbuettel: Statue Nathan der Weise
Wolfenbüttel: Statue Nathan der Weise

 

Lessing als Dramaturg. *)

 

 

Was Lessing in Bezug auf Dryden ausgesprochen hat: „Wenn ein Schriftsteller in seiner Gattung Beides, Regeln und Beispiele gegeben, so erfordert die Natur der Sache, sich jene zuerst bekannt zu machen“ **), ist für unsern deutschen Dramaturgen und Dramatiker eine fast noch dringendere Forderung als für den englischen Kritiker und Dichter, weil Lessing‘s Dramen scheinbar nicht für seine dramaturgischen Vorschriften und Lehren ein Modell und Beispiel geben, dem Stoffe wie der Behandlung nach einem sehr andern Gebiete angehören, als das ist, auf welches er·den Leser seiner dramaturgischen Werke, ja die dramatischen Dichter und Künstler verweist.

 

Daß Lessing‘s bürgerliche Trauer- und Lustspiele, obwohl sie der rührenden französischen und englischen Tragödie und Komödie anzugehören scheinen, und bis auf „Nathan“ in Prosa abgefaßt sind, gleichwohl mit den·Regeln des Aristoteles im Einklang stehen und von der richtigsten Benutzung, von dem wahren Studium der Alten und Shakespeare‘s zeugen, haben wir an jenen Stücken nachgewiesen ***). Was Lessing für die dramatischen Dichter aller Zeiten als einen unumstößlichen Kanon durch seine Kritik über dramatische Poesie

 

____

*) Diese Abhandlung ergänzt die, welche ich dem Programm von 1851: „Lessing als dramatischer Dichter“ veröffentlichte, doch nach einem andern Maßstabe, da ich seitdem in einem größern Werke: „Das deutsche Drama und die deutsche Bühne von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ dem großen Dramaturgen und Dramatiker, mit dem ich den ersten Band schließe, eine ausgeführtere Beurteilung zugewendet und solche in fünf Abschnitten geschrieben habe, wovon der hier abgedruckte der erste ist. Den zweiten: „Lessing‘s Kritik über dramatische Poesie“, muß ich, um nicht die Grenzen einer Programm-Abhandlung zu überschreiten, für eine zweite Ergänzung zurückhalten.

**) S. Lessing‘s Werke, Lachmann‘sche Ausgabe Bd. VI., S. 336.

***) In dem Hohensteiner Schulprogrammm von 1851.

1

 

 

____

2

 

festgestellt hat, müssen wir einer anderweitigen Besprechung vorbehalten *). Hier beschränken wir uns allein auf den „Dramaturgen“, der den Weg zu einer vollendeten deutschen Schaubühne mehr zu zeigen als selber zu bahnen unternahm.

 

Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat, aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe natürlicher Weise noch weiter entfernt, und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist“. Diese Aeußerung Lessing‘s **) giebt den Standpunkt seines Wirkens der deutschen Bühne gegenüber sehr bezeichnend an. Es ist ein anderer, als ihn Gottsched einnahm, der eine neue Bühne nach fremden Regeln und Mustern zu begründen versuchte, und die früher vorhandene nur als ein historisches Denkmal den Zeitgenossen vorführte mit der Weisung, ihr gänzlich zu entsagen und eine werdende bis zum Gipfel der Vollkommenheit auszuführen. Sein Beginnen schien nach den vorgefundenen Zuständen des deutschen Theaters gerechtfertigt, aber seine Leistungen waren von der Vollkommenheit; die sein beschränkter Geist, sein Starrsinn und seine Eitelkeit schon erreicht zu haben wähnten, weit entfernt, und Lessing bewies, warum seine Produkte nicht besser werden konnten. „Gottsched galt in seiner Jugend für einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterscheiden wußte. Philosophie und Kritik setzten nach und nach diesen Unterschied in‘s Helle, und wenn Gottsched nur mit dem Jahrhundert hätte fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmack seines Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen, so hätte er vielleicht wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden können. Aber da er sich schon so oft den größten Dichter hatte nennen hören, da ihn seine Eitelkeit überredet hatte, daß er es sei, so unterblieb jenes. Er konnte unmöglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte, und je älter er ward, desto hartnäckiger und unverschämter ward er, sich in diesem träumerischen Besitze zu behaupten.“ Dieser scharfe, aber gerechte Vorwurf trifft nur den Dichter, nicht seine theatralischen Bestrebungen, die heilsam werden konnten, wenn sie anderweitige Unterstützung von Dichtern, die mehr zum Richtigen fortschritten als Gottsched und seine Schüler, erhalten hätten. Wer solche in den Schlegel, Kronegk, Brawe, Weiße nachweisen wollte, müßte doch eingestehn, daß auch sie, gleich Gottsched und seinem Troß elender Nachahmer, von falschen Regeln und blendenden Mustern sich nicht losmachen wollten oder konnten, und daß Bühne und Bühnendarstellungen eine Gestalt behielten, die wider Natur, Verstand und Gefühl stritt. Lessing, der den Grundsatz: „wider die Gewohnheit der Kunstrichter mehr zu loben als zu tadeln,“ in der Beurtheilung jener seiner mitlebenden und mitstrebenden Dichter so schön gewahrt hat, mußte, um der verderbten deutschen Bühne ihre Fehler und Haltlosigkeit nachzuweisen, die ganze Schärfe seiner Kritik gegen die Regeln und Muster wenden, die damals selbst die bessern Dichter verleiteten und den Aufschwung des

 

____

*) S. vorstehende Seite erste Anmerkung.

**) In der Ankündigung der Hamburger Dramaturg. Werke Th. VII.

 

 

____

3

 

Theaters, trotz der Bemühungen begabter Dichter und Schauspieler, hemmten. Nicht nur Gottsched‘s falschen Dichterruhm, auch der Franzosen eitle Verblendung nachzuweisen, war ihm vorbehalten. Er that es schonungslos, aber mit gerechtem Zorn. „Kaum riß“, so spricht er von den in ganz Europa angestaunten Tragikern, „Corneille ihr Theater ein Wenig aus der Barbarei, so glaubten die Franzosen der Vollkommenheit es schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben, und hierauf war gar nicht mehr die Frage, ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer oder rührender sein könne als Corneille und Racine; sondern dieses ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte sich darauf beschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden als möglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Theil ihre Nachbarn mit, hintergangen; nun komme einer und sage ihnen das, und höre, was sie antworten.“

 

Was die Franzosen und die Verehrer des französirenden Geschmacks in Berlin unter Friedrich‘s II. Protektion auf Lessing‘s vernichtende Kritik zu antworten hatten, beweist ebenso sehr ihren Dünkel als ihre Empfindlichkeit gegen den Mann, der ihre Götzen gestürzt hatte. „Was ganz Frankreich; vornehmlich Paris, in Werken des Geschmacks glaube, das müsse ganz Europa nachglauben; die Großen thäten es auch; nur der Mittelmann und der Pöbel blieben halsstarrig und wollten selbst urtheilen. *)“ In der That, Lessing wollte selbst urtheilen, und seine Verehrung für das wirkliche Verdienst, das er gern anerkannte, nicht bis zum Verschweigen der Schwächen und Fehler treiben. In der Rüge dieser ist ebenso wenig Uebertreibung, wenn er in seiner Kritik fortfährt: „Von beiden großen Dichtern der Franzosen ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet und auf die tragischen Dichter den verderblichsten Einfluß gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine Muster verführt, Corneille aber durch seine Muster und Lehren zugleich. Diese letztern als Orakelsprüche angenommen, von allen Dichtern befolgt, haben nichts Anderes als das kahlste, wäßrigste, untragischste Zeug hervorbringen können.“ Corneille‘s und Voltaire‘s falschen Regeln und blendenden Mustern die Bühne der Alten und der Engländer entgegenzustellen, war die Hauptaufgabe, die Lessing in seiner Hamburger Dramaturgie sich stellte. Aus den Alten schöpfte er, gestützt auf Aristoteles, die wahren Regeln der Kunst, auf Shakespeare wies er als ein Muster von unerreichter Vollendung. Daß Shakespeare und Aristoteles nicht im Widerspruche mit einander stünden, ist nach der Negation gegen die Franzosen die erste Position, die Lessing dem kühnen Nachweiß abgewann. Sie war ihm nöthig, um vom Wege gekünstelter Unnatur auf den der Natur und Kunst Dichter und Schauspieler zu leiten und der Bühne der Zukunft den weiten Prospekt von Sophocles bis Shakespeare, in deren Ausdehnung jede Stellung erlaubt und für die deutsche erreichbar ist, zu eröffnen, um allmählich sie die Stufen, die bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen sind, emporklimmen zu helfen.

 

____

*) S. Karl Lessing‘s Brief an seinen Bruder, in des Letztern Werken, Th. XIII. S. 142.

1*

 

 

____

4

 

Wir könnten den Vorwurf zurückweisen, den Lessing in den Literaturbriefen Gottsched gemacht, daß dieser den Geschmack der Engländer in unsern ältern Stücken nicht erkannt und benutzt habe; wir könnten beweisen, daß von den Opern, Staatsaktionen und Hanswurstiaden die Bühne zu reinigen, einfache und regelmäßige Stücke heilsam gewesen wären. Lessing überzeugte sich davon auch, als er nach seinen Jugendkomödien im herrschenden französischen Geschmacke weder durch Volksstücke wie Faust, noch durch Stücke mit Hanswurst, wie er beides sich vorgesetzt hatte, sondern durch das bürgerliche Trauerspiel „Sara Sampson“ und das ganz dem Zeitgeist entsprungene Lustspiel „Minna von Barnhelm“ der Bühne und den Schauspielern zwar einen großen Fortschritt zur Kunst, aber nicht zum englischen Theater hin zumuthete. Ja, als die ersten Versuche dahin von den Kraftgenies der 70ger Jahre gemacht wurden, trat Lessing entschieden denselben entgegen und würde, wenn ihm damals nicht schon alles Theatralische ein Ekel, und die Befassung damit ein Greuel gewesen wäre, selbst gegen „Götz von Berlichingen“ in die Schranken getreten sein, um dem Unwesen, dem Ueberstürzen des Geschmacks sich mit scharfer Kritik entgegen zu stellen. Da war es ein Leisewitz mit seinem „Julius von Tarent,“ der ihm Genüge that, und von dessen Genius er sich schöne Früchte für die Bühne versprach,·nicht jene Köpfe, die abermals am fremden Genie sich entzündet glaubten „und am leichtesten von einem, das Alles bloß der Natur zu danken zu haben scheint, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschreckt.“

 

Die Negationen in Lessing‘s Dramaturgie, wodurch er die falschen Regeln und Muster der Franzosen vernichtete, seine Hinweisungen auf die Alten und Shakespearse haben oftmals Dichter und Kritiker verleitet, unsere deutsche Bühne durch eine Verschmelzung beider Typen umzugestalten, indem man von den Alten die Regeln der Kunst, von Shakespeare die Wahrheit der Natur entlehnen müsse; und da beide von Lessing nirgends in Widerspruch gefunden, sei eine Nachahmung beider im ganzen Umfange der Gipfelpunkt, auf den unser Theater gelangen könne. Daß Lessing selbst davon weit entfernt gewesen, und uns weder eine antike Bühne noch eine englische geschaffen, lehren seine Stücke. In der Form tragen sie den Zuschnitt des von dem damaligen England herübergekommenen bürgerlichen Trauerspiels und des bei den Franzosen entstandenen rührenden Lustspiels. Beide Gattungen erklärte er aus dem Naturell der Nationen entsprungen. „Der Franzose ist ein Geschöpf, das immer größer scheinen will als es ist; der Engländer ein anderes, welches alles Große zu sich hernieder ziehen will. Dem einen ward es verdießlich, sich immer von der lächerlichen Seite vorgestellt zu sehen; ein heimlicher Ehrgeiz trieb ihn, seines Gleichen aus einem edlen Gesichtspunkte zu zeigen. Dem andern war es ärgerlich, gekrönten Häuptern viel voraus zu lassen; er glaubte bei sich zu fühlen, daß gewaltsame Leidenschaften und erhebende Gedanken nichts mehr für sie als für einen aus seiner Mitte wären *).“ Dieses ist vielleicht nur ein leerer Gedanke, wie Lessing selber einräumt. Genug aber, die neuen Veränderungen der Bühne, die von

 

____

*) Vergl. Lessing‘s W., Th. IV. S. 110.

 

 

____

5

 

England und Frankreich ausgingen, nahm er auf, um dem verderbten deutschen Theater ein Besseres, als es bisher empfangen hatte, zu geben. Von Sophocles, mit dessen Leben und Werken er das deutsche Publikum gründlichst vertraut machen wollte, von Shakespeare, oder auch von Beaumont, Fletcher und Ben Johnson, „den großen Genies, die das englische Theater mit musterlichen Werken bereicherten, es auf einmal zu einem Theater der Vollkommenheit machten, welches nach dem griechischen für einen Kenner das allerinteressanteste ist, und dem Ansehn nach auch bleiben wird,“ nahm er nichts an —·als: was die Kunst, was die dramatische — nach Aristoteles die höchste — Poesie für ihren Zweck, für ihr unumstößliches Gesetz zu allen Zeiten, bei allen Nationen in den Werken ihrer wahren Meister bewußt oder unbewußt kundgegeben hat.

 

Man verkennt Lessing‘s Bestrebungen um die deutsche Bühne, wenn man glaubt, er habe ihr eine Norm als die allein berechtigte, die einzig künstlerische geben wollen. Ebenso, wenn man aus seiner Polemik gegen die Regeln der Franzosen schließen wollte, daß er die regelmäßigen Stücke überhaupt verworfen, und der scheinbaren Regellosigkeit Shakespeare‘s das Wort geredet habe. Nur den Wahn von der Regelmäßigkeit der Franzosen bestritt er. Keine Nation habe die Regeln des alten Dramas mehr verkannt, als gerade die Franzosen. „Einige beiläufige Bemerkungen, die sie über·die schicklichste äußere Einrichtung des Dramas bei dem Aristoteles fanden, haben sie für das Wesentliche angenommen, und das Wesentliche durch allerlei Einschränkungen und Deutungen dafür so entkräftet, daß nothwendig nichts Anderes als Werke daraus entstehen konnten, die weit unter der höchsten Wirkung bleiben, auf welche der Philosoph seine Regeln kalkulirt hatte.“

 

Empfahl er darum die englische Bühne als Muster? Durchaus nicht! „Den englischen Stücken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln, mit welchen uns die französischen so bekannt gemacht hatten.“ — Oder schloß er, daß sich auch ohne Regeln der Zweck der Tragödie erreichen lasse? daß diese Regeln gar Schuld sein könnten, wenn man ihn·weniger erreiche? — Im Gegentheil, diesen falschen Schluß bekämpfte er. „Wir waren auf dem Punkte“, sagt er, „uns alle Erfahrungen der vergangenen Zeit muthwillig zu verscherzen, und von den Dichtern lieber zu verlangen, daß jeder die Kunst auf‘s Neue für sich erfinden solle. Ich glaube das einzige Mittel getroffen zu haben, diese Gährung des Geschmacks zu hemmen. Darauf losgearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegener sein ließ, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne zu bekämpfen.“ Da er weder bei den Franzosen, noch bei den Engländern die Regeln und Grundsätze fand, die ihm für die dramatische Kunst und deren Schauplatz, die Bühne, genügten, suchte er sie bei andern Nationen und fand sie bei — Aristoteles „so unfehlbar, als die Elemente des Euklides nur immer sind.“

 

Ein Anderes ist es, wichtige Regeln und Grundsätze, besonders der Kunst, nachweisen, ein Anderes, sie anwenden. Lessing fand, daß sie ebensowohl in der griechischen

 

 

____

6

 

Tragödie, wie in der römischen Komödie, in den Dramen Shakespeare‘s und selbst in den von augenfälligen Fehlern begleiteten spanischen Stücken, bei Molière und Goldoni, in den überladenen englischen Lustspielen und in den Entwürfen italienischer Improvisationen, aber nicht in den sogenannten Trauerspielen des Seneca und in den gerühmten Mustern der französischen Bühne und deren Nachahmungen beobachtet seien. Daher trat er gegen Seneca schon in der theatralischen Bibliothek (1754), gegen die Franzosen leise schon damals, entschieden in der Hamburger Dramaturgie (1767 - 69) auf, nahm in jener das rührende Lustspiel, in dieser das bürgerliche Trauerspiel in Schutz, und lieferte für beides Musterstücke, die bewiesen, daß auch eine von keinem der größten dramatischen Dichter gebrauchte Form die richtigern Regeln und Grundsätze der Kunst enthalten könne. Den Deutschen aber wünschte er mit Sophocles und Plautus, mit Shakespeare, wenn auch nur durch die Wielandsche Uebersetzung, mit Thompson‘s Stücken bekannt zu werden; sie auch auf die Spanier aufmerksam zu machen, deren Fehler in die Augen sprängen, deren Schönheiten nicht übersehen werden dürften; den deutschen Lustspieldichtern in den besten Entwürfen ungedruckter italienischer Lustspiele ein Magazin zu überliefern, „aus welchem sie sich sicherer und zugleich unschuldiger versorgen könnten, als aus ganzen gedruckten Stücken, die leicht selbst in einer Uebersetzung auf deutscher Bühne erscheinen, und sie also der Gefahr verglichen zu werden, aussetzen möchten.“

 

Wenn Lessing auch den großartigen Plan, eine Geschichte des Theaters aller Völker, den er einst mit Mylius gefaßt hatte, aufgab, doch blieb er, so lange das Theater für ihn Reiz und Interesse hatte, bemüht, ihm durch seine Kritik, durch Mittheilungen und Anweisungen eine neue, ja eine so breite Basis zu geben, daß keine Form und keine Norm, die kunstberechtigt war, ihm fortan fehlen durfte, wenn nur die rechten Geister auf die rechte Weise es anfaßten, nicht die Regeln verwarfen, nicht in den gewagten Versuchen sich überstürzten. Das war eine andere Errungenschaft, als Gottsched sie erstrebt, der nur Franzosen und, wie diese sie mißverstanden, die Griechen gelten lassen wollte. Und was er von seiner Jugend an erkannt und gelehrt, das blieb, in steter Läuterung, sein Ziel bis zum Alter, nur daß er leider im Unwillen über die verkehrten und trägen Zeitgenossen, und von andern Studien angezogen, zu frühe der thätigen Mitwirkung für die Bühne sich entzog und andern das Werk überließ, das kein Deutscher, weder vor noch nach ihm, in gleichem Maaße durchzuführen verstand; daher es denn bald stockte und auf schlimme Abwege gerieth. Und doch schuf er gerade in den Zeiten seines Grollens mit dem Theater seine vollendetsten Stücke, Emilia Galotti und Nathan. Ja erst in letzterm wählte er den Ausdruck der Form, der zur künstlerischen Vollkommenheit der dramatischen Poesie nach seiner eigenen Ueberzeugung ihr nicht fehlen darf, den Vers. Schon in der Dramaturgie hatte er der Meinung des Houdar de la Motte widersprochen, daß das Sylbenmaß ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwerfen; er hatte den großen Vorzug unserer Sprache vor der französischen darin gefunden, daß sie der griechischen ungleich näher

 

 

____

7

 

komme, die durch den bloßen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrückt werden sollten, anzudeuten vermag.

 

Noch deutlicher wird die Nothwendigkeit des Verses in der dramatischen Poesie aus Lessing‘s Urtheil über diese. „Die Poesie,“· so schreibt er 1769 an Nicolai, *) „muß schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen, und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prosa und wird Poesie. Die Mittel, wodurch sie dieses thut, sind der Ton, das Wort, die Stellung der Worte, das Sylbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse u. s. w. Alle diese Dinge bringen die willkürlichen Zeichen den natürlichen näher, aber sie machen sie nicht zu natürlichen Zeichen: folglich sind alle Gattungen, die sich nur dieser Mittel bedienen, als die niedern Gattungen der Poesie zu betrachten; und die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die wirklichen Zeichen gänzlich zu natürlichen macht, das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge. Daß die dramatische Poesie die höchste, ja die einzige Poesie ist, hat schon Aristoteles gesagt, und er giebt der Epopöe nur insofern die zweite Stelle, als sie größtentheils dramatisch ist oder sein kann. Der Grund, den er davon angiebt, ist zwar nicht der meinige, aber er läßt sich auf meinen reduziren und wird nur durch diese Reduktion auf meinen vor aller falschen Anwendung gesichert.“ —

 

Was von dem Auge der Kritik als zweckdienlich, heilsam oder zulässig erspäht werden kann, hat Lessing dem deutschen Theater zuzuwenden gesucht. Was sein richtiger Blick als falsch, hemmend, störend für dessen Emporkommen erkannte, wies er mit Gründen nach, die keine Widerlegung möglich machten, gegen die nur Dünkel und Kurzsichtigkeit sich sträuben konnten, zu denen auch die Kritik nach ihm so viel wie Nichts zu ergänzen fand. Daß gleichwohl die Wirkungen seiner Kritik auf der Bühne sich viel langsamer Bahn brachen als Gottsched‘s Reformen, der weder das Richtige erkannt, noch das Fehlerhafte vermieden hatte, darf nicht befremden. Hier galt es nicht, einem Verderbniß, das der Blödsichtigste bemerkte, abzuhelfen, sondern einem Wahne, in dem die besten Geister befangen waren, entgegen zu treten; hier galt es nicht, einen Harlekin oder die Staatsaktionen mit der Autorität der Corneille, Racine und Voltaire vom Theater zu verbannen, sondern diese seit einem Jahrhundert von allen gebildeten Nationen gepriesenen Heroen zu bekämpfen, sie als falsche Götter zu entthronen; hier galt es, unbekannte oder gar verachtete Muster als die allein wahren Genies und Kunstrichter zur Geltung zu bringen; hier galt es, nicht Uebersetzungen und Bearbeitungen zu fabriciren, abgeschriebene Regeln und Gesetze, die weit verbreitet waren, auch den Deutschen zu verkünden, sondern selbstständige Produkte zu schaffen und schwer verständliche Lehren, die von den Franzosen theils falsch verstanden, theils absichtlich entstellt waren, durch richtige Erklärung in ihrer wahren Bedeutsamkeit, selbst für Denker und Dichter,

 

____

*) Werke XII. S. 225.

 

 

____

8

 

zur Evidenz zu bringen. Eine Anzahl von Stücken, rasch auf einander in Scene gesetzt, hätte die Physiognomie des deutschen Theaters schneller geändert als alle Kritik; allein ihnen den Weg zu bahnen, war ohne Kritik nicht möglich. Die Tragödien und Komödien der Alten, die Dramen Shakespeare‘s waren entweder in deutschen Uebersetzungen nicht da, oder konnten, wenn sie übersetzt wurden, auf den damaligen Bühnen, von den damaligen Schauspielern nicht aufgeführt, noch von dem Publikum schon gewürdigt werden.

 

Wie weit aber war Lessing entfernt, die Alten selbst, Shakespeare selbst den Deutschen auf der Bühne vorzuführen. Sie sollten sie nur kennen, schätzen lernen, um an ihnen die dramatische Kunst, nicht ihre Formen, denen zu viel von ihrer Zeit, von ihren Nationen anhaftete, zu bewundern. Die Alten und Shakespeare richtig nachzuahmen, das war eine schwierigere Aufgabe, als wie Gottsched und seine Schüler die Franzosen nachgeahmt hatten. Daß Lessing in seinen Stücken es gethan, vermag noch heute nur die schärfste Kritik nachzuweisen, während man damals eher Diderot und Marmontel oder George Lille, den Verfasser des „Kaufmanns von London“, oder einen gleichzeitigen englischen Dichter für seine Vorbilder hielt. Selbst sein „Philotas“, sein „Schatz“ lassen die Schule von Sophocles und Plautus kaum erkennen! Und in wie langsamer Aufeinanderfolge ließen Lessing‘s Stücke auf sich warten! Neben ihm aber stand keiner, der ihm bei dem schwierigen Werke, die Bühne zu bessern, sie mit Stücken, an denen seine Kritik Befriedigung gefunden hätte, zu versehen, Beistand leistete. Als auch er sich vom Theater voll Groll und Ueberdruß zurückzog, ja bis nach Italien entweichen wollte, nannte mit Recht Nicolai es verwaist, „weil mit ihm die einzige Hoffnung besserer Erzeugnisse schwinde.“

 

Der reiche Schatz, der in früheren Schriften, vornehmlich aber in der Dramaturgie niedergelegt war, sollte ein Vermächtniß für die Zukunft sein, sowie auch heute noch in seinen Erwartungen und Bestrebungen eine Hoffnung ruht, die Bühne der Zukunft unter anderen Bedingungen und Verhältnissen, als die gegenwärtigen sind, zu gründen. Man hat den Hauptwerth der Dramaturgie in dem negativen Theile gesucht und mit Stolz darauf hingeIwiesen, daß ein Deutscher die Irrthümer und Fehler der Franzosen so schlagend und bis zur Vernichtung ihrer Autorität bekämpft habe. Wohl, auch wir erkennen den Scharfsinn dieser Negationen und haben oft auf dieselben zur Unterstützung des eigenen Urtheils hingewiesen. Es schmälert sein Verdienst nicht, daß er aus Aristoteles und Horaz, aus deren Auslegern, aus Diderot, Marmontel und Dacier, aus den dramatischen und kritischen Werken der·Alten und Neuern seine Beweisgründe entlehnt; gelegentlich weist er auch sie alle zurecht, und abhängig macht er von ihnen sich niemals. Doch da wir‘s mit der Beurtheilung Lessing‘s selber zu thun haben, dürfen wir die Größe seines Geistes, das Verdienst seines Wirkens nicht allein in dem suchen, was er als falsch, als unwahr oder trügerisch nachgewiesen hat, sondern müssen auch, was er als die richtigen, wahren und leitenden Grundsätze und Regeln, mag er sie aus sich geschöpft oder aus Andern entlehnt haben, für seine

 

 

____

9

 

Zeit oder für die Zukunft zur Nachachtung aufstellte, in‘s Auge fassen; zunächst die, welche die verderbte Bühne heben sollten.

 

Schon als 17jähriger Jüngling bot Lessing der Bühne in Leipzig seinen Beistand, schloß sich erst an die Neuber, und suchte Gottsched‘sche Stücke durch seine und die seiner Mitstrebenden, Mylius, Weiße, Fuchs, Kleist u. A. zu verdrängen. Seinen „jungen Gelehrten“ hielt die verständige Direktrice für einen bedeutenden Fortschritt in der drastischen Behandlung des Gegenstandes, und gab ihn 1747. In den nächsten Jahren ließ Lessing schnell aufeinander „die Juden“, „den Freigeist“ und den „Schatz“ folgen; denn ein Repertoir zu schaffen, hielt er damals noch für das Wirksamste, um die Bühne umzugestalten. Mit ganzer Begeisterung ging er an das Werk. „Wenn man mir den Titel eines deutschen Molière beilegen könnte,“ schreibt er an die Seinen, so könnte ich eines ewigen Namens versichert sein.·Die Wahrheit zu gestehen, so habe ich große Lust, ihn zu verdienen.“ Er erkennt wohl die Schwierigkeit, ja seine Ohnmacht, die die größte Lust ersticke, aber er zeigt auch die Nothwendigkeit von Arbeiten, worin noch so sehr wenige seiner Landsleute ihre Kraft versucht hätten, und daß er sich daran machen und nicht eher aufhören wolle, als bis man Meisterstücke von ihm gelesen habe. Das Ehrenvolle des gewählten Berufes, den sein Vater einen gottlosen genannt hatte, verficht er mit jugendlicher Schwärmerei, und will den Herren Theologen das durch die That beweisen. „Ein Komödienschreiber,“ fährt er fort, „ist ein Mensch, der die Laster von ihrer lächerlichen Seite schildert. Darf denn ein Christ über die Laster nicht lachen? Verdienen die Laster so viel Hochachtung? Und wenn ich nun gar verspräche, eine Komödie zu machen, die nicht nur die Herren Theologen lesen, sondern auch loben sollen? Wie, wenn ich eine auf die Freigeister und auf die Verächter ihres Standes machte?“ —

 

So hielt Lessing, wie später Schiller, in jugendlicher Begeisterung das Theater für eine Schule der Moral und der sittlichen Bildung. Noch einige Jahre später *) beruft er sich auf den heiligen Hieronymus, der sich an Plautus Komödien ergötzte, wenn er in vielen Nachtwachen aus Reue über seine begangenen Sünden herzliche und bußfertige Thränen vergossen hatte. „Man mag hierüber schelten oder spotten, wie man will, ich sehe weder was Unbegreifliches, noch weniger was Verdammliches darin. Entweder man betrachtet das Laster als etwas, das unserer unanständig ist, das uns geringer macht, das uns in unzählige widersinnige Vergehungen fallen läßt; oder man betrachtet es als etwas, das wider unsere Pflicht ist, das den Zorn Gottes erregt, und uns also nothwendig unglücklich machen muß. Im erstern Falle muß man darüber lachen, in dem andern wird man sich darüber betrüben. Zu jenem giebt ein Lustspiel, zu diesem die heilige Schrift die beste Gelegenheit.“ Wie die Frommen an seinen Stücken Gefallen finden, sollten die Gebildeten seine Bemühungen um‘s-Theater verstehen und würdigen lernen.

 

____

 

*) Im Lebens des Plautus, W. III. S. 12.

 

 

____

10

 

Dazu mußte die Kritik die Wege bahnen. Drum begann er 1750 mit Mylius die „Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters“, verfaßte „das Leben des Plautus,“ sowie eine Uebersetzung „der Gefangenen“ und wider eine tadelnde Kritik des römischen Komödienschreibers eine Antikritik, worin er Plautus als ein Muster allen neuern Lustspieldichtern empfahl. Weil aber sein Mitarbeiter noch zu tief in Gottsched‘scher Anschauungsweise steckte, zog Lessing sich von der Unternehmung, die auf eine Geschichte des Theaters aller Völker abzielte, schon nach dem vierten Stücke zurück, ja er wandte sich, weil die Eltern über seine Theaterpassion Zeter riefen und fürchteten, er werde gar wohl selber ein Komödiant werden, der Bühne einige Jahre ganz ab, und streng wissenschaftlichen Studien zu.

 

Das sollte das Theater noch oftmals von Lessing erfahren; und wir bemerkten schon, daß er nie mit jener Begeisterung und dem rüstigen Bemühen seiner ersten Betheiligung ihm sich zuwandte, zuletzt nur mit Widerstreben, auch durch die glänzendsten Anerbietungen von Wien und Mannheim nicht gelockt und gewonnen, sondern von Zeit zu Zeit durch neue, vollendetere Produkte und durch gereifte, bedeutsame Lehren, die eine momentane Stimmung, oder ein in der Tiefe seiner Seele treibender Drang seinem Groll und Widerwillen abzuringen schien. Vielleicht hat gerade dieser Wechsel seinen Neigungen, Studien und Empfindungen, überhaupt das Unstete seines Strebens und Lebens, seiner Beschäftigungen und seines Aufenthaltes in ihm die eminente Kraft, die er praktisch und theoretisch kund gab, hervorgebracht, daß er wie ein Meteor plötzlich hellglänzend erschien und eben so rasch wieder verschwand. Das deutsche Theater aber bedurfte damals, wie heute, einer steten und festen Leitung; diese, wie einst Gottsched, zu übernehmen, war Lessing nie zu bestimmen.

 

Wohl wahr! seine Kritik und seine Produkte durchfuhren elektrisch von einem Ende Deutschlands bis zum andern die Bühnen; jedes neue Stück von ihm ergoß in Spieler und Zuschauer ein neues Leben; seine dramaturgischen Schriften rissen wohl manchen wie Gleim zu dem entzückten Ausruf hin: „Woher, ihr Götter, nimmt er die gründlichen Betrachtungen, die Kenntniß alles Tragischen der ganzen Welt!“ *). Doch des Schlechten drängte sich immer so viel zwischen die wenigen Lessing‘schen Stücke, der Kritiker und Kritikaster gab es so viele, die den Geschmack des Publikums wieder verdarben, die Schauspieler verfielen in die alten Manieren, und oft in die abgeschmacktesten und übertriebensten, daß dicke Finsterniß bald da wieder herrschte, wo eben Lessing‘s Geist einige Helle verbreitet hatte. — Ich will kurz andeuten, wie und wo er sich noch thätig für die Bühne zeigte. Ohne alle Mitarbeiter gab er 1754 - 58 seine „theatralische Bibliothek“ heraus, in der Absicht, den beschränkten Gesichtskreis für Tragödie und Komödie zu erweitern, reichern Stoff aus der antiken, aus der ältern und neuern englischen, italienischen und spanischen Literatur, den Deutschen zuzuführen. In seiner Kritik ist er noch Lehrling, wie hoch er auch über seiner Zeit steht; er zeigt noch für

 

____

 

*) Gleim an Lessing, in des Letztern Werken, Th. XIII. S. 130.

 

 

____

11

 

das rührende Lustspiel nach Gellert‘scher Auffassung eine zu große Neigung, lobt noch Thomson als Tragiker und Destouches als Komödienschreiber, doch beginnt er schon den Kampf gegen den französischen Geschmack, dem er den anderer Theater entgegenstellt und ihn noch unter dem Seneca‘s nachweist. Schlagender als seine Andeutungen war seine „Miß Sara Sampson“, die 1755 erschien.

 

Seit diesem letztgenannten Jahre hatte Lessing wieder Leipzig zu seinem Aufenthalte gewählt, nachdem er von 1748 ab in Berlin gelebt, und mit Mendelssohn und Nicolai eine gründliche Verbesserung des Theaterwesens vielfach durchdacht und durchgesprochen hatte. Erzürnt, daß in Leipzig noch immer der französische Geschmack und Gottsched die Bühne beherrschten, griff er beide heftig an und leugnete, daß Letzterer je Verdienste um das Theater gehabt. In seinen „Briefen, die neueste Literatur betreffend“, die sich über alle literarischen Erscheinungen der damaligen Zeit ausbreiteten, gab er auch über die dramatische manche neue Aufschlüsse und wies in dem „Leben des Sophocles“ auf die Alten und deren tragische Kunst hin. Allein fürchtend, daß eine Nachahmung der Alten wieder zu den Franzosen zurückführen möchte, lenkte er die Aufmerksamkeit auf Shakespeare und behauptete, daß dieser im Wesentlichen den Alten näher stünde als Corneille. Um aber die Anhänger und Verehrer der Franzosen in Deutschland zu beschämen, zeigte er ihnen, daß ein neuer französischer Kunstrichter und dramatischer Dichter die Götzen der Deutschen ihres Nimbus beraubt habe. „Selten genesen wir eher von der verächtlichen Nachahmung gewisser französischer Muster, als bis der Franzose selbst diese Muster zu verwerfen anfängt.“ Trefflicher konnte Lessing die Gallomonie der Deutschen nicht zeichnen. Uebersetzungen waren damals an der Tagesordnung. Der ganze Molière, Destouches, Favart, Goldoni‘s zahllose Stücke erschienen und fanden lebhafte Theilnahme. Auch Lessing entschloß sich zu einer Uebersetzung eines Franzosen, der neben dem Dichter auch ein denkender Kunstrichter war. Er übersetzte „das Theater des Herrn Diderot“ sammt den angehängten „Unterredungen“ zu dessen natürlichem Sohne, worin die Unnatur und Ueberladung der französischen Bühne angegriffen waren. Lessing sagte in seiner Vorrede: „daß sich nach dem Aristoteles kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben habe als Diderot.“ —

Das wirkte; er hatte in Feindes Landen einen Bundesgenossen gefunden. Diderot hatte das von den Engländern gepflegte bürgerliche Trauerspiel nach Frankreich verpflanzt, und Lessing rieth, es einmal mit diesem andern Extrem zu versuchen, wenn auch nur, um zur Natürlichkeit des Dialogs zurückzukehren. Diderot‘s Stücke, von denen Lessing eigentlich nur der „Hausvater“ für ein gutes gelten läßt, waren der Art, daß er sie selbst zu erreichen und übertreffen hoffen durfte. Für die Schauspieler wie für das Publikum waren sie verständlich, führten jene zu einem natürlichen Spiele, und machten diesem das Theater als eine Schule des Lebens noch einmal so lieb als die frostigen und unnatürlichen Königstragödien und Heroenstücke.

 

Wie weit auch Lessing in späterer Zeit entfernt war, in Diderot‘s Lehren einen

2*

 

 

____

12

 

Aristoteles, in seinen Stücken Meisterwerke zu erkennen, wie sehr er Diderot‘s Freigeisterei, die derselbe in Deutschland zur Schau stellte, lächerlich fand: er bezeugte noch 1781 *) seine Dankbarkeit einem Manne, der an der Bildung seines Geschmacks so großen Antheil gehabt. „Denn es mag mit diesem auch beschaffen sein, wie es wolle, so·bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderot‘s Muster und Lehren eine ganz andere Richtung würde bekommen haben. Vielleicht eine eigenere, aber doch schwerlich eine, mit der am Ende mein Verstand zufrieden gewesen wäre.“ Diderot scheint überhaupt auf·das deutsche Theater weit mehr Einfluß gehabt zu haben als auf das Theater seines eignen Volkes. **) Auch war die Veränderung, die er auf diesem hervorbringen wollte, in der That weit schwerer zu bewirken als das Gute, welches er jenem nebenher verschaffte. Die französischen Stücke, welche auf unserm Theater gespielt wurden, stellten doch nur lauter fremde Sitten vor; und fremde Sitten, in welchen wir weder die allgemeine menschliche Natur, noch unsern besondern Volkscharakter erkennen, sind bald verdrängt. „Wir sehnten uns nach etwas Besserm, ohne zu wissen, wo dieses Bessere herkommen sollte, als „der Hausvater“ erschien. In ihm erkannte sogleich der rechtschaffene Mann, was ihm das Theater noch eins so theuer machen müsse. Sei immerhin wahr, daß es seitdem von dem Geräusche eines nichtsbedeutenden Gelächters weniger ertönte. Selbst unsere Schauspieler fingen an dem Hausvater zuerst an, sich selbst zu übertreffen. Denn der Hausvater war weder französisch noch deutsch; er war bloß menschlich. Er hatte nichts auszudrücken, als was Jeder ausdrücken konnte, der es verstand und fühlte. Und daß Jeder seine Rolle verstand und fühlte, dafür hatte Diderot vornehmlich gesorgt.“

 

So erkannte Lessing noch in seinem Todesjahre, was er, das Publikum, die Schauspieler, kurz das deutsche Theater Diderot verdankten. Vergebens haben neuere Kunstrichter diesen Einfluß bestritten. Aber Lessing selber war längst über Diderot‘s Stücke mit den seinigen, über Diderot‘s Ansichten mit den Resultaten seines Forschens hinweggeschritten. Nachdem er in den Literaturbriefen mannigfache Materien behandelt, und als Sekretair des preußischen Generals Tauenzin in Breslau, dann ein Jahr in Berlin mit den verschiedenartigsten Leuten und mannigfachen Verhältnissen sich vertraut gemacht, mit mancherlei Plänen beschäftigt hatte, die alle fehlschlugen, wandte er sich endlich wieder dem Theater zu, als die Idee, die er im Umgange mit Nicolai, Ramler, Mendelssohn oft besprochen, ein sogenanntes „akademisches Theater“ in Deutschland zu gründen, in Hamburg zur Ausführung zu kommen schien.

 

Dieser Ort hatte nächst Wien der Bühne die meiste Theilnahme zugewendet; daselbst bildeten sich zuerst bessere Schauspieler, besonders aus der Gesellschaft Schönemann‘s, an deren Spitze 1758 Koch trat und fünf Jahre ununterbrochen in Hamburg blieb. Schon unter ihm wirkten Eckhof und die Hensel rühmlichst mit. Beide waren noch dort, als 1767

 

____

*) In der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Diderot‘s Theater W. Vl. 369.

**) Warum ? setzt Lessing in der Dramaturgie auseinander.

 

 

____

13

 

die Reorganisation der Hamburger Bühne erfolgte, zu der eine Gesellschaft von Kaufleuten zusammentrat, an der Spitze Seiler und Babbers, und alle Talente dabei in Anspruch zu nehmen gedachte. Kein einziger schlechter Schauspieler ward engagirt und mehrere konnten vortrefflich genannt werden. Sie in ihrer Kunst vollends auszubilden, wurde der am Orte lebende Theaterdichter Löwe beauftragt, Vorlesungen über Schauspielkunst und Mimik zu halten, und Lessing wünschte man als Theaterdichter zu berufen. Doch zu einem Goldoni, der in einem Jahre dreizehn Stücke schrieb, fühlte Lessing sich nicht berufen; er lehnte die Aufforderung ab. Da gedachte man seine kritische Feder zu nutzen, und berief ihn, um Schauspieler, Dichter und Publikum durch seine Beurtheilung der aufzuführenden Stücke zu unterrichten. Auch zu einem Recensenten würde er sich nicht hergegeben haben, aber er faßte die Sache in höherm Sinne auf, als vielleicht die Unternehmer selbst erwartet und gewünscht. Hören wir, was er darüber am Schlusse der Hamburger Dramaturgie sagt: „Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der Griechen, d. i. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles von den Stücken der griechischen Bühne zu schreiben der Mühe werth gehalten. — Ich war schon Willens, das Blatt selbst Hamburger Didaskalien zu nennen. Aber der Titel klang allzufremd, und nun ist es mir lieb, daß ich ihm diesen (Dramaturgie) vorgezogen haben. Was ich in eine Dramaturgie bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir.

 

Das Theaterunternehmen in Hamburg versprach nach den Mitteln, die beschafft, nach den Kräften, die zur Mitwirkung gewonnen, nach den Vorbereitungen, die gemacht waren, eine neue Aera für die deutsche Bühne zu werden. Eine große und reiche Stadt, nicht wie Wien durch Hof- und Censur-Zwang beengt, nicht wie Berlin einem fremdländischen Geschmacke von oben her ergeben, nicht mehr von Gottsched‘s Jüngern, sondern dessen Gegnern in ganz patriotischem Geiste geleitet, und dem Theater als einer Sittenschule gegen die Anfeindung einer orthodoxen Geistlichkeit zugewendet, schien der einzige Platz in Deutschland, wo ein Lessing mit seiner Kritik, und wenn er den bereits fertigen Produkten in unzweifelhaft höherer Vollendung nur von Zeit zu Zeit neue nachfolgen ließ, mit seinen Stücken das Ziel, das er bisher unverrückt und mit immer hellerem Blick im Auge hatte, die höchste Stufe der dramatischen Kunst zu erreichen hoffen durfte. Für ihn selbst war es hohe Zeit, die produktive Kraft nach den antiquarischen Studien, wie er sie in seinem Laokoon zwar glänzend, aber zugleich mit Geistesermüdung bewährt hatte, wieder zu beleben. Er versprach sich von seiner Stellung in Hamburg das Beste für sein Wirken und Schaffen. „Ich habe mit dem dortigen neuen Theater,“ schreibt er an Gleim,·*) „ein Abkommen getroffen, welches mir auf einige Jahre ein ruhiges und angenehmes Leben verspricht. Als ich mit ihnen abschloß, fielen mir die Worte aus dem Juvenal ein: Quod non dant proceres, dabit histrio. Ich will meine theatralischen Werke, welche längst auf die letzte Hand gewartet haben, daselbst vollenden

 

____

*) S. Werke Xll S. 177.

 

____

14

 

und aufführen lassen. Solche Umstände waren nothwendig, die fast erloschene Liebe zum Theater wieder bei mir zu entzünden. Ich fing eben an, mich in andere Studien zu verlieren, die mich gar bald zu aller Arbeit des Genies würden unfähig gemacht haben. Mein Laokoon ist nun wieder die Nebenarbeit“ u. s. w.

 

Doch schon einen Monat nach der Eröffnung schrieb er an seinen Bruder in Berlin: „Mit dem Theater — das im Vertrauen — gehen eine Menge Dinge vor, die mir nicht anstehen. Es ist Uneinigkeit unter den Entrepreneurs und keiner weiß, wer Koch oder Kellner ist.“ Diese Uneinigkeit war entweder schon die Folge, oder wurde die Veranlassung von Fehlern, die bald das vielversprechende Unternehmen in Stocken brachte. Ein akademisches oder, wie es bald zum Modewort, erst in Hamburg, dann in Wien, dann in Mannheim, dann hier und dort in Deutschland wurde, ein „Nationaltheater“ zu begründen, sollte für damals, wie bis heute, ein schöner Traum bleiben. Lessing schloß seine Dramaturgie mit dem bittern Ausfall: „Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutschen noch keine Nation sind!“ Lessing denkt hier nicht einmal an die politische Verfassung, nur an den sittlichen Charakter der Deutschen, der fast sei: „keinen eignen haben zu wollen.“ Auch heute sind wir noch immer die Nachahmer alles Ausländischen; Alles, was uns von jenseits des Rheins kommt,·ist reizend, allerliebst, vortrefflich. Und wie hat doch Lessing schon diese unsere Schwäche gegeißelt! „Lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimmasse für Ausdruck, ein Geklingel von Reimen für Poesie, Geheule für Musik uns einreden lassen, als im Geringsten an der Superiorität zweifeln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk der Welt, wie es sich selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in Allem, was gut und schön und erhaben und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Antheile erhalten hat.“

 

Wir ersehen schon aus dem Repertoir, das Lessing‘s Dramaturgie uns vorführt, daß an ein deutsches National-Theater nicht zu denken war, wo zwei Drittel der gegebenen und am meisten wiederholten Stücke Uebersetzungen aus dem Französischen waren, wo neben der deutschen Bühne eine französische Truppe Zulauf fand, und die Oper mit ihrer Dekorationspracht und ihren Buffo‘s die Zuhörer ergötzte. Das Hamburger Unternehmen wäre, wie viele hundert andere, längst in Vergessenheit vergraben, wenn nicht Lessing ihm durch seine Dramaturgie ein unvergängliches Denkmal gesetzt hätte. Gerade die Bevorzugung französischer Stücke bot ihm die Gelegenheit, die gerühmten Muster der französischen Bühne ausführlich zu beurtheilen, und zu zeigen, daß ihre Regeln wie deren Anwendung sie nie zu der Stufe der Vollkommenheit geführt haben und führen können, auf welcher sie in eitlem Wahne die Bühnen aller neuern Völker so weit unter sich erblickten. Der Irrthum, daß bei unsern Dichtern: die Franzosen nachahmen, so viel heiße, als nach den Regeln der Alten arbeiten, widerlegt er aus Aristoteles Grundsätzen, besonders von der Tragödie, und bewies unwidersprechlich,

 

 

____

15

 

daß diese von der Richtschnur des Aristoteles sich keinen Schritt entfernen könne, ohne sich ebensoweit von seiner Vollkommenheit zu entfernen. Aus Shakespeare entwickelte er, wie das Theater noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als ihm Corneille, Racine und Voltaire zu ertheilen vermochten. Aber, damit nicht geblendet von dem plötzlichen Strahl der Wahrheit wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurückprallten und etwa wähnen möchten, daß sich auch ohne alle Regeln der Zweck der Tragödie erreichen lasse, zeigte er einmal die völlige Uebereinstimmung des scheinbar regellosen Britten mit den Anforderungen des Stagiriten, und suchte den Inbegriff dieser in ihrem ganzen Umfange zu erschöpfen. So baute er mit einer Hand das Gebilde der Kunst auf, während er mit der andern das Truggebilde niederriß, doch, ohne dem Genie vorzuschreiben, was es zu thun habe, wies er nur schlagend nach, was es nicht thun dürfe.

 

Als Lessing seine Dramaturgie begann, hielt er es nicht für seine einzige, nicht einmal für seine erste Aufgabe, die Dichter zu rektificiren. Er hatte in der Ankündigung bereits gesagt, daß man nicht immer Meisterwerke aufführen werde; die große Schwierigkeit eines Repertoirs gezeigt, das eine Menge von Stücken zur Auswahl voraussetze, woran es in Deutschland fehle; die Beibehaltung gewisser mittelmäßiger Stücke schon darum gestattet, weil sie gewisse vorzügliche Rollen für diesen oder jenen Akteur hätten; und das Publikum aufgefordert, an dem Dargebotenen, auch wenn es unbefriedigt ließe, sein Urtheil zu üben. Da zum ersten Male nicht den Schauspielern oder ihrem Prinzipal die Sorge überlassen sei, für ihren Verlust oder Gewinnst zu arbeiten, so hätten sie allein den Anforderungen ihrer Kunst zu genügen; dem Publikum läge es ob, einem uneigennützigen Unternehmen seine Begünstigung zuzuwenden, damit aus dieser ersten Veränderung in der Bühnenleitung leichter und rascher alle andern Verbesserungen erwachsen könnten, deren unser Theater bedürfe. An Fleiß und Kosten sei nichts gespart; ob es an Geschmack und Einsicht fehle, werde die Zukunft lehren. Das Publikum habe es in seiner Gewalt, was es mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen. „Es komme nur und sehe und höre und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urtheil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden.“ —

 

So wies Lessing dem Publikum, für dessen Geschmacksbildung er seine Feder anbot, den ihm gebührenden Platz und Antheil bei einem Unternehmen, welches Verbesserung des Theaters als sein Hauptziel erstrebte. Aber nicht jeder kleine Kritikaster sollte sich für das Publikum halten, und derjenige, dessen Erwartungen getäuscht würden, auch mit sich selbst zu Rathe gehen, von welcher Art seine Erwartungen gewesen seien. „Nicht jeder Liebhaber ist ein Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stückes, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Werth aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten jeder Art verbreitet,

 

 

____

16

 

aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.“ Was Lessing hier von dem Hamburger Publikum fordert, von ihm erwartet, sagt so vortrefflich und für alle Zeiten, was von einem Publikum zu fordern ist, was man von ihm erwarten darf. Eben so klar giebt er seine Stellung verständigen Zuhörern gegenüber an. „Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Die große Feinheit eines dramatischen Richters zeigt sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wie viel davon auf Rechnung des Dichters oder des Schauspielers zu setzen sei.“ Das freilich vermochte mit Unfehlbarkeit nur ein Kunstrichter wie Lessing; Zeugniß dafür ist seine Dramaturgie von der ersten bis zur letzten Seite. Hören wir das Urtheil eines Mannes, der auch Kenner war, auch seine Kunst verstand und voll Begeisterung und Begabung für sie wirkte. Schiller, als er die Dramaturgie gelesen, schreibt an Göthen *): „Es ist doch gar keine Frage, daß Lessing unter allen Deutschen seiner Zeit über das, was die Kunst betrifft, am klarsten gewesen, am schärfsten und zugleich am liberalsten darüber gedacht, und das Wesentliche, worauf es ankommt, am unverrücktesten in‘s Auge gefaßt hat. Lieset man nur ihn, so möchte man wirklich glauben, daß die gute Zeit des deutschen Geschmacks schon vorbei sei; denn wie wenig Urtheile, die jetzt über die Kunst gefällt werden, dürfen sich an die seinigen stellen.“ So verstand der große Dichter den großen Kritiker. Daß das vielköpfige, schwankende und leicht verleitete Publikum seiner Leiterhand folgen werde, durfte Lessing nicht für gewiß annehmen, obgleich er ihm nichts Schweres zumuthete, ihm nur sein Gefallen oder Mißfallen deuten, nur ihm dann und wann Winke geben will. Das thut er denn auch, wie ein weiser Mentor. So gleich nach der ersten Vorstellung von „Olint und Sophronie“, als unter Kronegk‘s eingestreuten Sentenzen, die Lessing im Ganzen rühmt, doch einige sehr falsche oder einseitige das Publikum zum Beifall hinreißen. „Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich ausbrechen läßt. Theils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral. Dieses Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich ein Euripides Ruhm erwerben und ein Sokrates würde sie gerne besuchen. Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese vermeinten Maximen wären **), und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmel den meisten Antheil möge gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Pöbel das sittliche Gefühl so fein, so zärtlich war, daß einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestürmt zu werden.“

 

____

*) Briefwechsel zwischen Schiller und Göthe Th. V. S. 61.

**) Diese falschen Maximen lauteten: „Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht.“

Die zweite: „Wer schlimm von Andern denkt, ist selbst ein Bösewicht.“

 

 

____

17

 

Wie fein sarkastisch, wie belehrend zugleich diese Zurechtweisung! Etwas derber schilt er, aber nicht bloß das Hamburger Parterre, wenn er von dem Applaus hinter abgehenden Schauspielern, die dazu forcirt haben, spricht: „Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es theils nicht Kenner genug, theils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, für die That.“ — Wiederholentlich stellt Lessing dem deutschen Publikum, der deutschen Bühne das athenische Volk und Theater als Vorbild hin. „Wozu,“ ruft er, *) „die saure Arbeit der dramatischen Form? Wozu ein Theater erbauet, Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Haufen geladen, wenn ich mit meinem Werke und mit der Ausführung desselben weiter nichts hervorbringen will als einige von den Regungen, die eine gute Erzählung, von Jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefähr auch hervorbringen würde?“

 

Die Antwort darauf lautet bei Lessing: weil die dramatische Form die einzige ist, in welcher sich Mitleid und Furcht in vollendetestem Grade erregen lassen; gleichwohl wollen moderne Zuschauer lieber alle andern Leidenschaften als diese darin erregt haben, und die dramatische Form lieber zu allem Andern brauchen als zu dem, wozu sie vornehmlich geschickt ist: anders ist das im Alterthume gewesen. „Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren, besonders jenes auf das tragische. Wie gleichgültig, wie kalt ist dagegen unser Volk für das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ihrer Bühne sich mit so starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Bühe so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit und des Geldes werth halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen fast alle, fast immer aus Neugierde, aus Mode, aus Langweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu gaffen und begafft zu werden in‘s Theater, und nur Wenige, und diese Wenigen nur sparsam aus anderer Absicht.“ In gerechten Zorne bricht daher Schiller aus **): „So lange das Schauspielhaus weniger Schule als Zeitvertreib ist, mehr dazu gebraucht wird, die eingähnende Langeweile zu beleben, unfreundliche Winternächte zu betrügen, und das große Heer unserer süßen Müßiggänger mit dem Schauer der Weisheit, dem Papiergeld der Empfindung und galanter Zoten zu bereichern; so lange es mehr für die Toilette und die Schminke arbeitet, so lange mögen immer unsere Theaterschriftsteller der patriotischen Eitelkeit entsagen Lehrer des Volks zu sein. Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dürfte wohl schwerlich die Bühne ihr Publikum bilden.“

 

Lessing versuchte gleichwohl dieses Letztere, und warf nicht blos dem deutschen Volke und der deutschen Bühne, sondern mehr noch den Franzosen und deren Nachahmern die

 

____

*) W. VII. S. 358.

**) Schiller über das gegenwärtige deutsche Theater. Werke, Th. Xl S. 7.

3

 

 

____

18

 

Schuld der Kälte und Gleichgültigkeit vor: weil das französische Theater keine tiefen, keine wahren Empfindungen hervorrufe. — Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob dieses der einzige Grund der Verschiedenheit zwischen Griechen und Modernen sei. Genug, wir müssen bekennen, daß uns der begeisterte Sinn für die Bühne fehlt, und daß ein Nationaltheater, wie die Griechen es besaßen, uns so lange fehlen wird, als bis die Begeisterung dafür im Volke erwacht ist. Vergebens bemühen sich Theaterverwaltungen, statt durch die Wärme der Empfindung und die Stärke geistiger Eindrücke uns zu erheben, den Sinnenreiz, die Neugierde zu befriedigen. Auch das rügte schon Lessing als einen verkehrten Weg und zeigte seinem Publikum, daß Bühnenpracht und Pomp, die Voltaire verlangt, um die Wirkung der Kunst zu erhöhen, den vermißten Enthusiasmus nicht herbeilocken könne, und beweist dies gegen die Franzosen von der Bühne Shakespeare‘s her. „Wie entbehrlich die theatralischen Verzierungen sind, davon will man mit den Stücken Shakespeare‘s eine sonderbare Erfahrung gehabt haben. Welche Stücke brauchten, wegen ihrer beständigen Unterbrechung und Veränderung des Ortes, des Beistandes der Scenen und der ganzen Kunst des Dekorateurs wohl mehr als eben diese? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus Nichts bestanden als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die bloßen, blanken, höchstens mit Matten und Tapeten behangenen Wände zeigte. Da war nichts als die Einbildung, was dem Verständnisse des Zuschauers und der Ausführung des Schauspielers zu Hülfe kommen konnte; und dem ungeachtet, sagt man, waren damals die Stücke Shakespeare‘s ohne alle Scenen verständlicher, als sie es hernach mit denselben gewesen sind.“ Als man in Deutschland die Shakespeare‘schen Stücke zu spielen begann, war der Coulissenkram zu sehr Bedürfniß geworden, als daß man ihn entbehren konnte. Lieber that man dem Dichter Gewalt an, und suchte durch Weglassung ganzer Scenen und, wie man es nannte, „Bearbeitung für die Bühne,“ „in Scene setzen,“ „bühnengerecht machen,“ den unbeholfenen Theatermaschinen ihre Wirkung möglich zu machen. Heutzutage sind diese Schwierigkeiten, wenigstens auf Hof- und großstädtischen Theatern, leichter zu überwinden, da der raffinirte Operngeschmack das Sceneriespiel zur höchsten Vollendung gebracht hat; aber ein Gewinn für die Kunst ist hierdurch nicht erzielt, vielmehr ein schlimmer Nachtheil daraus erwachsen. Seit man Shakespeare in der Schlegel-Tieck‘schen Uebersetzung ganz und unverändert auf die Bühne gebracht, verzeiht man eher, daß eine kleine Rolle, die aber oft den besten Schauspieler verlangt, schlecht besetzt sei, als daß nicht vollständiges Genüge der Dekoration und dem Orte geschehe; obgleich Shakespeare dies weder fordert noch bedarf. Vergebens wiesen dies englische wie deutsche Kunstrichter nach; das einmal verwöhnte Publikum will sich der mehr störenden als fördernden Scenenverzierung und Coulissenpracht nicht mehr entschlagen. Vergebens zeigte Lessing, daß der Dichter sich um die Verzierung gar nicht zu bekümmern habe; daß selbst, wo sie nöthig scheine, sie ohne besondern Nachtheil seines Stückes wegbleiben könne. Seit Voltaire für seine Semiramis eine schönere, geräumigere Bühne gewann, kein Zuschauer mehr darauf geduldet

 

 

____

19

 

wurde, der Dekorateur dem Poeten Alles malte und baute, was dieser verlangt, fehlte dem französischen und französirenden Theater nichts als die wärmern Stücke, die gleich den Tragödien der Alten die Zuschauer mit starken, außerordentlichen Empfindungen begeisterten.

 

Was half‘s, daß Lessing dem Hamburger Publikum bewies, daß nicht bessere Bühnendekorationen, sondern allein bessere Stücke als die nach dem Muster der Franzosen ein Theater schaffen könnten, denen die Nation ihr lebhaftes Interesse zuwenden würde. Man hing in Hamburg, wie in Wien, Berlin und wo es in Deutschland Bühnen gab, an den falschen französischen Regeln, an der Bühnenverzierung, an den Bühneneinheiten fest, und sah darin das ganze Wesen der Kunst. Schon Elias Schlegel hatte gezeigt, daß die Engländer die Einheit des Orts richtiger aufgefaßt hätten als die Franzosen; daß es am allerwenigsten darauf ankomme, das Gemälde der Scenen zu verändern; daß es unsinnig sei, wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers aufführe, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen habe, ohne daß dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldigt werde. „Es würde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser nach dem Gebrauche der Engländer die Scene aus dem Hause des Einen in das Haus eines Andern verlegt und also den Zuschauer seinem Helden zugeführt hätte, als daß er seinem Helden die Mühe macht, dem Zuschauer zu Gefallen an einen Platz zu kommen, wo er nichts zu thun hat.“ —

 

Lessing machte vollends die Einheitstheorie lächerlich, die bald eine Ausdehnung erhielt, daß es sich kaum mehr der Mühe verlohnte, sie aufzustellen, bald in so gezwungener Art beobachtet wurde, daß es weit mehr beleidigte, sie so beobachtet zu sehen als gar nicht. Mit dem großen Haufen, sah Lessing in Jahr und Tag ein, lasse sich das erstrebte Nationaltheater nicht schaffen, weil er keine Spur von Urtheil zeigte. Im Zorne ruft er aus, als das ganze Unternehmen gescheitert war: „Wenn das Publikum fragt, was ist denn nun geschehen? und mit einem höhnischen Nichts sich selbst antwortet, so frage ich wiederum: und was hat denn das Publikum gethan, damit etwas geschehen könne? Auch Nichts, ja noch etwas Schlimmeres als Nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht gefördert; es hat ihm nicht einmal seinen freien Lauf gelassen! — Hamburg würde wohl der letzte Ort sein, wo der süße Traum, ein Nationaltheater zu gründen, in Erfüllung gehen würde!“ — Damit that Lessing den Hamburgern Unrecht, denn ein besseres Theater als irgend wo in Deutschland zu besitzen war Hamburg damals der geeignetste Ort. Hat doch Lessing wie wir gesehen, die Gründe, warum auch hier nicht der dramatischen Kunst aufzuhelfen war, erkannt, und lagen die großen Fehler in der Verwaltung der sogenannten akademischen Schaubühne, die falschen Maßregeln und Mißverständnisse, daß die Unternehmung so bald fallen mußte, außer der Schuld des Publikums. Aber wahr bleibt darum doch, daß ein Publikum von keiner Kritik, und wäre es auch die eines Lessing, aus die Bahn richtiger Einsichten,

3*

 

 

____

20

 

tiefer Empfindungen, dauernder Begeisterung für die Kunst geführt werden könne. Und gleichwohl müht noch immer die Theaterkritik, die Tochter von Lessing‘s Hamburger Dramaturgie, von Neuem sich ab, bald zurechtweisend, bald schmeichelnd, bald zürnend dem Publikum das Verständniß der Kunst zu erschließen! —

 

Wir haben gesehen, daß Lessing, ebenso wie dem Publikum Winke zu geben, es überdrüssig wurde, die Schritte der Schauspieler zu begleiten, und erkannte: „Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren: sie muß ganz von Neuem wieder erfunden werden.“ Lessing hatte sich frühzeitig angelegen sein lassen, die Kunst des Schauspielers in ihrem lehrhaften technischen Theile genau zu erforschen und sie auf Regeln und Grundsätze zurückzuführen.

 

In Leipzig nutzte er den Umgang mit der Neuber, an der er nicht nur ein entschiedenes Talent für die Bühne, sondern auch eine vollkommene Kenntniß ihrer Kunst gewahr wurde. Von Brückner, den er auch später noch bewunderte, und in manchen Rollen selbst dem von ihm so hoch gestellten Eckhof vorzog, *) lernte er deklamiren. Und wenn beide Künstler gewiß bald mehr von Lessing erleuchtet wurden als dieser von ihnen, so erhellt doch aus seinen Urtheilen über die Hamburger Akteurs und Aktricen, daß er mit den feinsten Zügen des Spiels, der Deklamation, der Bewegung, des Gebrauchs der Arme, Hände, Füße, den der Natur abzulauschenden Zügen völlig vertraut war. Ohne daß die von den Eltern gehegte Furcht, daß er selber Komödiant werden wolle, je einigen Grund gehabt, blieb Lessing bis in die Jahre hin, wo ihn alles Theatralische mit Ekel erfüllte, ein Arbeiter und Instruktor für die wahre Schauspielerkunst, wie es nach ihm keinen wieder gegeben. Wir haben leider keine Quellen, um Lessing‘s persönlichen Antheil bei der Umgestaltung jener Kunst genau nachweisen zu können, doch die Andeutungen, die er gelegentlich über seine Beziehungen zu der Neuber und zu Koch, zu Brückner und Eckhof, zu Brandes und Großmann giebt; der Ton, in dem alle diese von ihm reden, machen es unzweifelhaft, daß er im Umgange mit ihnen zugleich den größten Einfluß auf ihr Rollenstudium, auf ihre Leistungen, auf ihre Kunstentwicklung geübt habe. Und wie den Akteurs gab er den Aktricen Lehren und Winke, die in der Hamburger Dramaturgie sich bald als seine Bemerkungen, lobend oder tadelnd, bald als Nachreden, Klätschereien Anderer darthun. Für Manches, das er in den Künstlern anregte, haben wir anderweitig die Belege. So z. B. rühmt er die Schauspielerin Hensel als Sara Sampson, hebt in der Sterbescene ihren Anstand, ihre malerische Stellung hervor, dann fährt er fort: „Besonders hat mich ein Zug außerordentlich überrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, daß sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die glücklichste Art zu Nutze; in dem Augenblick, da die Seele von ihr wich, äußerte sich auf einmal, aber

 

____

*) S. Lessing‘s Brief an seinen Bruder Karl. Werke, Th. XII. S. 198.

 

 

____

21

 

nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein Weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Aufflackern eines verlöschenden Lichtes; der jüngste Strahl einer untergehenden Sonne. — Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schön findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung: aber er sehe sie einmal.“ Wir haben Grund, das Kompliment, das er der Schauspielerin macht, auf seine Rechnung zu schreiben. Um Mitte Juni 1767 schrieb er das über die Ausführung von Sara Sampson in Hamburg. In einem Briefe vom 22. Mai an seinen Bruder in Berlin lesen wir: „Unter den medicinischen Disputationen (in seiner Bibliothek, die er in Berlin zurückgelassen) suche mir eine aus: Von dem Zupfen der Sterbenden; ich weiß nicht, wie der Verfasser heißt; auch kann ich mich auf den lateinischen Titel nicht besinnen. Du wirst sie aber bald erkennen und sie muß zuverlässig da sein. Schicke mir sie gleich.“ *)

 

So gab Lessing ohnfehlbar oft den Spielern an die Hand, was er als ihr Verdienst rühmt. Und von welcher Feinheit, von welchem Eindringen in das Wesen der Kunst, in den Charakter, in die Situationen zeigen seine Bemerkungen, auch wenn er nur Beobachter, nicht Erfinder des von den Spielern Ausgeführten gewesen sein sollte. Nach Analogie des gegebenen Beispiels möchte man ihn fast immer als den Letztern erkennen.

 

Die ersten Stücke der Dramaturgie sind so reich an beachtenswerthen Bemerkungen, daß jeder dramatische Künstler sie zu seinem Studium wählen sollte, zumal die Anknüpfung an die wirkliche Ausführung geschieht, und darum nichts von leerem Raisonnement, von hohlen Theorien enthält. So, was er von dem Vortrage aller Moral in Schauspielen sagt, die aus der Fülle des Herzens kommen müsse, von der der Mund übergehet, auf die man eben so wenig lange zu denken als damit zu prahlen scheinen müsse. Daher müsse sie sicher gelernt, richtig accentuirt, mit Leichtigkeit und wie eine unmittelbare Eingebung vorgetragen werden, vor allem aber aus der Empfindung zu entquellen scheinen. Die Empfindung aber ist das Strittigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man sie nicht erkennt, und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen Merkmalen urtheilen können, die richtig auszudrücken gar sehr von der Individualität des Akteurs abhängt. An Beispielen erläutert Lessing, wie Gebärde, Gestus, Stimme, Auge, Miene, jeder sichtbare Körpertheil dazu mitwirken, aber in jedem vorliegenden Falle anders. Gelegentlich erwähnt er der Chironomie, welche die Alten zu höchster Vollkommenheit gebracht hätten, während wir Nichts als das Vermögen Bewegungen zu machen, behalten haben, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixirte Bedeutung zu geben, wie unter einander zu verbinden seien, daß sie nicht bloß eines einzelnen Sinnes, sondern eines zusammenhängenden Verstandes fähig werden. Das führt Lessing auf den Unterschied zwischen dem Pantomimen und dem Schauspieler: Jenem

 

____

*) Werke, XII. S. 182.

 

 

____

22

 

vertraten die Hände die Stelle der Sprache, bei diesem sollen sie nur den Nachdruck derselben vermehren, und durch ihre Bewegungen, als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Er gebrauche also seine Hände sparsamer, aber eben so wenig vergebens als dieser. „Er rührt kein Herz, wenn er nichts damit bedeuten oder verstärken kann.“ Lessing rügt die gleichgültigen Bewegungen, durch deren beständigen Gebrauch ein so großer Theil der Schauspieler, und besonders der Schauspielerinnen sich das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen geben. „Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand die Hälfte einer krüpplichen Achte abwärts vom Körper beschreiben, oder mit beiden Händen zugleich die Luft von sich wegrudern, heißt ihnen Affekt haben, und wer es mit einer gewissenTanzmeistergrazie zu thun geübt ist, o, der glaubt uns bezaubern zu können.“ —

 

Shakespeare‘s goldene Regeln, die er Hamlet dem Schauspieler geben läßt, darunter die: mitten im Sturme, mitten, so zu sagen in dem Wirbelwinde der Leidenschaften noch einen Grad von Mäßigung zu beobachten, führen Lessing auf die oft aufgeworfene Frage: ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben könne, deren richtigen Sinn er nachweist, und daran eine Bemerkung knüpft, die für die Würdigung der Bewegungen und der Körperhaltung des Schauspielers zu bedeutsam ist, um sie hier nicht anzuführen.

 

Die Kunst des Schauspielers steht hier zwischen den bildenden Künsten und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit ihr höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponirend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr alle das Ausdrückende, welches ihm eigenthümlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Künsten durch den permanenten Stand erhält. Nur muß sie nicht allzulange darin verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmählich vorbereiten und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle die Stärke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verständlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebt, unverfälscht überliefern soll.“

 

Ebenso klar und überzeugend, wie Lessing der darstellenden Kunst die richtige Stellung in Bezug auf Gesten und Bewegung zuweist, führt er die Deklamation, der Musik gegenüber, auf den schwer zu erlernenden, aber leicht zu empfindenden Vortrag des stets wechselnden Mouvement zurück. Man weiß, was in der Musik das Mouvement heißt; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welcher der Takt gespielt wird, und welcher durch ein ganzes Stück, oder wenigstens einen genau bezeichneten Absatz desselben der gleiche bleibt, weil ein Stück oder ein Absatz im Stücke nur Einerlei

 

 

____

23

 

ausdrücken kann, das verschiedene Instrumente, allein oder in Verbindung mit Singstimmen, also auch einförmig auszuführen haben. Mit der Deklamation verhält es sich ganz anders. Hier darf eine Periode von mehreren Gliedern, auch wenn diese von vollkommen gleicher Länge wären, und aus der nämlichen Anzahl von Sylben des nämlichen Zeitmaßes beständen, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. „Denn, da sie weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Rücksicht auf den in der ganzen Periode herrschenden Affekt von einerlei Werth und Belang sein können: so ist es der Natur gemäß, daß die Stimme die geringfügigern schnell herausstößt, flüchtig und nachlässig darüber hinschlüpft, auf den beträchtlicheren aber verweilt, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben uns zuzählt. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine künstliche Zeittheilchen bestimmen und gegen einander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, sowie von der ungelehrtesten Zunge beachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen und nicht blos aus einem fertigen Gedächtnisse fließt. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses beständig abwechselnde Mouvement der Stimme hat. Und werden vollends alle Abänderungen des Tones, nicht bloß in Ansehung der Höhe und Tiefe, der Stärke und Schwäche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen damit verbunden, so entsteht jene natürliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eröffnet, weil es empfindet, daß sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur insofern daran Antheil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann“ *).

 

Hiermit hat Lessing in der That Alles gesagt, was sich über die Kunst der Deklamation in Worte fassen läßt. Niemand vor, noch nach ihm hat anders oder kürzer dem Schauspieler deutlich machen können, wie er sprechen, accentuiren, das Gelernte und Empfundene jedem Momente, jeder Situation, jedem Affekte, jedem Charakter gemäß vortragen müsse. Sollte der, welcher so scharf das Wesen der Deklamation auszudrücken verstand, es nicht auch den Hamburger Akteurs und Aktricen beizubringen gewußt haben? Er giebt, die Lehren von der Deklamation bei Gelegenheit, wo er deren richtige Anwendung an der Schauspielerin Löwen, und ganz besonders an Eckhof rühmt. Vermuthlich verhielt es sich, wie mit dem Zupfen der Sterbenden. Was er in den Proben gelehrt, worauf er wenigstens die Schauspieler aufmerksam gemacht hatte, das führt er als Leistung der Letztern dem Verständniß und der Würdigung des Publikums vor. Dank müßte ihm noch jeder Spieler, Dank jedes Publikum dafür wissen, und in der Anwendung des Gesagten die ganze Kunst des dramatischen Vortrags suchen und finden.

 

Wenn einmal in Deutschland eine Schule für Schauspieler, eine dramatische Akademie erstehen sollte, so wären aus Lessing‘s Dramaturgie neben seinen Aufsätzen: „der Schauspieler“

 

____

*) Lessing‘s Werke, Th. VII. S. 37 ff.

 

 

____

24

 

und „über die Pantomimen der Alten,“ und gelegentlich ertheilten Winken, die zerstreut in seinen Werken sich finden, die Grundzüge eines Lehrbuchs für angehende und für bereits geübte Künstler zu entlehnen, wozu die umfangreichern Anweisungen, wie sie nach ihm von Gotter, Ramler, Engel bis auf Tieck, Göthe, Devrient, Rötscher u. A. m. aufgeführt sich finden, wohl im Detail manches Brauchbare, im Wesentlichen aber nichts Neues, von Lessing Uebersehenes liefern könnten.

 

Und wie er den darstellenden Künstlern zuerst die Leuchte über ihre Kunst anzündete, ist er auch der Erste, der ihnen ein ernstliches Studium derselben zur Pflicht machte, damit nicht die Routine allein sie bilde. Nicht mit gelehrten Raisonnements und theoretischen Grundsätzen, sondern mit durchaus praktischen Vorschriften, die specielle, mit Deutlichkeit und Präcision abgefaßte Regeln gäben, sollte die von Neuem wieder erfundene Kunst gestützt und getragen werden. Das vorhandene Material, die wirklich praktischen Anleitungen, wo sie auch herkämen, sollten benutzt und dem Schauspieler zugeführt werden. Daß er bis zu den Alten hinaufgehen wollte, ja, bei ihnen allein die Kunst des Schauspielers zu finden hoffte, war bei dem Zustande der deutschen Schauspielerkunst, die noch ganz in dem falschen französischen Geschmacke sich bewegte, erklärlich. Lessing selbst dachte in Hamburg daran, einen Kommentar zu der Poetik des Aristoteles, wenigstens zu demjenigen Theile, der die Tragödie angeht, heraus zu geben. *) In der Dramaturgie empfiehlt er eine gute Uebersetzung des Terenz nebst dem Kommentar des Aelius oder Donatus zu diesem Lustspieldichter, den Schauspielern in die Hände zu geben. Man erschrecke nicht! die alten Grammatiker waren nicht das, was wir jetzt bei dem Namen denken. Es waren Leute von praktischer Einsicht und von Kunstgeschmack. Daß Aelius so vorzüglich reich an Bemerkungen ist, die den Schauspieler bilden können, daß er die versteckten Schönheiten seines Autors mehr als irgend Einer zu enthüllen weiß, kommt weniger von seinen größern Gaben, als weil das römische Theater seiner Zeit noch die Stücke des Terenz spielte. Er durfte also nur anmerken, was er sah und hörte; er brauchte nur Aufmerksamkeit und Treue des Gedächtnisses, um der Nachwelt Feinheiten zu berichten, die er selber auszugrübeln nicht nöthig hatte. Ein angehender Schauspieler könnte daraus lernen — natürlich den Dichter zur Seite — wie dieser aufzufassen, wie überhaupt ein dramatisches Werk, wie die Kunst der Darstellung zu studiren sei. Um hinter die Feinheiten eines alten Dichters wie Terenz zu kommen, ist es öfters nöthig, sich das Spiel der Akteurs dabei zu denken; denn dieses schreiben die alten Dramatiker nicht bei, wie es wohl heutzutage, aber sehr ungenügend und oft mehr schädlich als nützlich geschieht. Die Deklamation hatte ihren eignen Künstler, und in dem Uebrigen konnten sie sich auf die Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschäft ein sehr ernstes Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten, und da sie ihre Stücke nicht eher bekannt werden ließen, als bis sie gespielt waren, als bis

 

____

*) S. seinen Brief an Mendelssohn vom 5. November 1768, W. XII S. 272.

 

 

____

25

 

man sie gesehen oder gehört hatte, so konnten sie es um so mehr überhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu unterbrechen. Dem neuern Leser, besonders dem, der die klassischen Lustspiele des Terenz zu seinem Studium wählt, wird das richtige Verständniß aus den Worten allein nicht klar. Im Terenz kommen unzählige Stellen vor, wo das wahre Verständniß nur durch ein Errathen der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte gerade das Gegentheil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene ausdrücken muß. Ueber Vieles, wenn auch nicht Alles der Art giebt nun Donatus treffliche Bemerkungen und Winke, die einen denkenden Schauspieler nicht nur belehren, sondern auf neue Entdeckungen, auf ein Vertiefen in jeden Charakter, der ihm von einem Dichter gegeben ist, leiten. Wer ein ernstes Studium an einem Meisterwerke gemacht, der gewinnt für seine ganze Kunst.

 

Auch Lessing‘s Dramaturgie, obschon die meisten der von ihm besprochenen Stücke ebenso wenig als Terenz auf deutschen Bühnen mehr zur Ausführung kommen, müßte von jedem Schauspieler beim Studium so benutzt werden, wie er es von Donatus wünschte. Die Anknüpfung seiner Kritik an die lebendige Ausführung, die Winke und Betrachtungen, die er bei dem Spiele seiner Hamburger Akteurs machte, geben Allem, was er sagt, einen praktischen Werth. Schade, daß er bei seinen eignen Stücken, die man in Hamburg gab, auf das Spiel und die Erfordernisse desselben zu wenig eingeht. Diese Bescheidenheit hat uns gewiß um reiche dramaturgische Schätze gebracht, die er wohl den Spielern in den Proben mittheilte, vielleicht an sie verschwendete. Denn bald wurde er es überdrüssig von ihrem Spiele überhaupt in seiner Dramaturgie zu sprechen. Sie sollte nach dem anfänglichen Plan jeden Schritt begleiten, den die Kunst sowohl des Dichters als des Schauspielers in Hamburg thun würde.

 

Sobald er die letztere Hälfte aufgab, blieb nur die zweite seine Aufgabe. Das waren aber meist nur Schritte, welche ein Irrender zurückgehen muß, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen. Auch dieses bei jeder Abendvorstellung zu wiederholen, wurde ihm lästig. Darum schweiften seine kritischen Bemerkungen zuletzt von den gespielten Stücken zu ganz andern, besonders antiken Stoffen hin, die ihn mehr anzogen, als die Vollendung der Dramaturgie, die er mit „hundert·und erstem bis viertem Stück,“ datirt vom 19. April 1768 also schloß: „Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang dieser Blätter nur aus hundert Stücken bestehen zu lassen. Zweiundfunfzig Wochen, die Woche zwei Stück, geben zwar allerdings hundert und vier. Aber warum sollte unter allen Tagewerkern dem einzigen wöchentlichen Schriftsteller kein Feiertag zu Statten kommen? Und in dem ganzen Jahre nur Viere: ist ja so wenig!“

 

Ein Nachdruck, der von den ersten Stücken erschienen war, bewog ihn, die spätern auf einmal heraus zu geben. Die letzten Bogen des zweiten Theiles wurden fast ein Jahr später als ihr Datum niedergeschrieben. Lessing schrieb darüber an Nicolai *): „Ich denke,

 

____

*) Am 28. September 1768 W. XII. S. 204.

4

 

 

____

26

 

man wird es dem Ende anmerken, daß ich es, den Kopf schon voller antiquarischer Grillen geschrieben. Aus dieser Ursache wünschte ich auch lieber an dem zweiten Theile der antiquarischen Briefe arbeiten zu können als hieran.“ Das ganze Theaterwesen war ihm so verhaßt geworden, daß er aus Hamburg, aus Deutschland hinaus wollte, nach Rom, in die weite Welt. „Wenn wir einmal,“ schreibt er an Ramler, „über 20 Jahre uns wieder sehen, erinnern Sie mich doch an unser hiesiges Theater. Wenn ich den Bettel nicht schon vergessen habe, so will ich Ihnen die Geschichte desselben haarklein erzählen. Sie sollen Alles erfahren, was sich in der Dramaturgie nicht schreiben ließ. Und wenn wir auch alsdann noch kein Theater haben, so werde ich aus der Erfahrung die sichersten Mittel nachweisen können, in Ewigkeit keins zu bekommen. Transeat cum ceteris erroribus.“

 

Was Lessing für Hamburg gewesen, versuchten später Ramler für Berlin, Göthe für Weimar, Gotter für Gotha zu werden. Eine so praktische Anleitung, eine solche Fülle von Anregungen gab keiner den Schauspielern als Lessing in Hamburg. Darum bildeten auch hier sich unter seiner Leitung die ersten großen Künstler, und gingen aus der von ihm angeregten Entwickelung bald neue hervor, die emsig an allen Kenntnissen für das Bühnenwesen sammelten. Daß Lessing sich nie wieder, auch nicht durch die lockendsten Anerbietungen von Wien und Mannheim bewegen ließ, thätigen Antheil an dem Theaterwesen in Deutschland zu nehmen; daß er nicht einmal den kurzen Weg von Wolfenbüttel nach Braunschweig machen wollte, um seine Emilia Galotti aufführen zu sehen; daß er jeden „theatralischen Anfall“, der ihm noch kam, schnell niederkämpfte, daß ist unstreitig ein schwerer Verlust für die Kunst; aber, was er in Leipzig und Hamburg für die Schauspieler geleistet, ist ein Vermächtniß für deutsche Künstler, ein Leitstern der Kunst selber geworden.

 

In seinem Bestreben praktisch zu sein, ging Lessing bei der Kunst des Schauspielers von dem Mechanischen, Technischen derselben aus. „Ich glaube,“ schrieb er schon 1754 *), „wenn der Schauspieler alle äußerlichen Kennzeichen und Merkmale, alle Abänderungen des Körpers, von welchen man aus der Erfahrung gelernt hat, daß sie etwas Gewisses ausdrücken, nachzumachen weiß, so wird sich seine Seele durch den Eindruck, der durch die Sinne auf sie geschieht, von selbst in den Stand setzen, der seinen Bewegungen, Stellungen und Tönen gemäß ist. Diese nun auf eine gewisse mechanische Art zu erlernen, auf eine Art aber, die sich auf unwandelbare Regeln gründet, an deren Dasein man durchgängig zweifelt, ist die einzige Art, die Schauspielerkunst zu studiren.“ Auch in der Dramaturgie **), wo er von der Empfindung, die der Schauspieler zu haben scheinen müsse, spricht, will er alles, was er spricht und thut, nur als mechanische Nachäffung, nicht als ursprünglich Selbstempfundenes wirksam erkennen. Wenn der Schauspieler lange genug nichts als

 

____

*) Hinter dem Auszuge aus dem Schauspieler des Rémond von Sainte Albine. W. IV. S. 209.

**) W. VII. S. 15.

 

 

____

27

 

nachgeäfft hat, werde er sich eine Menge kleiner Regeln sammeln, nach denen er verfährt, und durch deren Beobachtung er (zufolge des Gesetzes, daß die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, hinwiederum durch diese körperliche Veränderungen bewirkt werden) zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblick der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben. Lessing meint, daß selbst ein Akteur, der nicht einmal seine Rolle recht verstehe, die Gründe einer Leidenschaft, z. B. des Zornes, weder hinlänglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, wenn er nur die allergröbsten Aeußerungen des Zorns getreu nachzumachen wisse, — den heftigen Gang, den stampfenden Fuß, den rauhen, bald kreischenden, bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne u. s. w. — in seiner Seele ein dunkles Gefühl vom Zorne empfange, das wiederum in den Körper zurückwirke, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringe, die nicht bloß von unserm Willen abhängen. Sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne nur zu begreifen, warum er es sein sollte.

 

Nach diesen Grundsätzen mechanischer Fertigkeiten gedachte Lessing schon in Breslau ein Werk: „über die körperliche Beredsamkeit“ mit beigefügten Zeichnungen zu schreiben, wovon sein „Schauspieler“ und „über die Pantomimen der Alten“ die einzig erhaltenen Bruchstücke sind. So viel wir aus dem Entwurf zu der erstern ersehen, gedachte er die zwei Haupttheile der Kunst, die Aktion und die Pronunciation oder, wie wir‘s gewöhnlicher nennen, die Deklamation, zu lehren und auf bestimmte Regeln zu begründen. Bei den Modifikationen des Körpers unterschied er die unmittelbar in unserer Willkür stehenden und die mittelbaren. Die ersteren, weil nichts als das Wollen und ein gesunder Körper dazu gehören, meinte er durch eigentliche und hinlängliche Regeln bestimmen zu können. Die mittelbaren setzten eine gewisse Beschaffenheit der Seele voraus, auf welche sie von selbst erfolgen, ohne daß wir eigentlich wissen, wie? Es erhellt auch aus dem Bruchstücke des Ganzen, wie ernstlich er dem mechanischen Theile der Kunst nachgedacht hatte.

 

Die ganze körperliche Beredsamkeit wollte er nach dem Ausdruck durch Bewegungen und nach dem durch Töne eingetheilt wissen. Bei den erstern unterscheidet er oratorische Bewegungen, d. h. alle diejenigen Veränderungen des Körpers oder seiner Theile in Ansehung ihrer Lage und Figur, welche mit gewissen Veränderungen in der Seele harmonisch sein können. Sie heißen Gebärden und sind entweder Bewegungen des Körpers überhaupt oder Bewegungen seiner Glieder. Zu ersteren gehören: erstens das Tragen des Körpers oder die Modifikationen desselben, wenn er in Bewegung ist oder geht. Zweitens die Stellungen des Körpers oder die Modifikationen, wenn er in Ruhe ist. Zu denjenigen Theilen des Körpers, welche eine Beredsamkeit

4*

 

 

____

28

 

entwickeln und der meisten Veränderungen fähig sind, gehören der Kopf überhaupt und das Gesicht, dessen Bewegungen Mienen heißen, und die Hände, deren Sprache im Tragischen wie im Komischen so reich an Modifikationen ist, in der Ruhe und im Affekt des Charakters eine verschiedene sein muß, der vorbereitenden wie der anhaltenden Bewegungen bedarf, was alles ein sorgfältiges Studium und eine Ueberlegung von Seiten des Spielers bedingt, wenn die Chironomie auch heute die Beredsamkeit haben soll, die sie bei den Alten so bewundert und so vollendet zeigte. Die Füße gehören nicht zu den Gliedern, welche durch ihre Bewegungen an und für sich Ausdruck gewinnen; weil man zwar eine Bewegung mit der Hand und dem Kopfe machen kann, ohne daß die Lage des Körpers verändert wird, nicht aber die geringste Bewegung des Fußes, ohne daß sie nicht eine Veränderung des ganzen Körpers verursachen sollte. In der Lehre vom Tragen des Körpers, besonders beim Gehen, sind dagegen die Füße von großer Bedeutung, indem das schöne Gehen von der Beugung des Beines und Fußes wie von der Gleichheit des Schrittes abhängt; das schlechte Gehen durch das Gegentheil beider Stücke verursacht wird, und im Komischen oft so ausdrucksvoll ist. Das Gehen ohne die schöne Beugung mit dem steifen und gestreckten Fuße ist der Gang eines Stolzen oder Ruhmredigen; wenn die schöne Beugung und der gleichmäßige Schritt wegfällt, so wird es der Gang eines Ungeschliffenen, eines Bauern u. s. w.

 

In der Haltung des Körpers unterscheidet Lessing drei Hauptmodifikationen, die natürliche, wenn der Körper die Luft beständig nach einer Perpendikularlinie in Ansehung der Fläche, auf welcher er bewegt wurde, durchschwebt; die verderbte, wenn diese Linie vorwärts einen spitzen Winkel macht. Er nannte sie deswegen die verderbte, weil man zu träge oder zu schwach ist, die Last des Körpers aufrecht zu halten. Diese Richtung gehört für das Alter, für das Nachdenken, für die Niedergeschlagenheit. Eine dritte Haltung, die vorwärts einen stumper Winkel macht, nannte er die gekünstelte, weil man sich Zwang anthut, die Last des Körpers, welche vorfallen würde, zurück zu halten. Oft aber ist sie auch die natürliche; bei dem Erstaunen, beim Erschrecken, wenn man, so zu reden, seine Kräfte auf einmal zusammenrafft. Alle drei Arten können durch die Seitenbeugungen eine Aenderung bekommen, die eine Art von Reiz damit verbindet.

 

Vom Tragen geht Lessing zu den Stellungen über, die nichts als ein festgemachtes Tragen sind. Doch kommt hier ein neues hinzu, die Veränderung einer Stellung in die andere, welche zweifach ist. Die Stellung wird entweder von der Person ab, mit der der Schauspieler redet, verändert, z. B. aus Verachtung, aus Furcht, aus Entsetzen aus Schaam; oder auf sie zu aus Vertraulichkeit, aus Absicht zu bitten, u. s. w.

 

Hätte Lessing sein Werk über die körperliche Beredsamkeit, worin er die Erlernung derselben ebenso sicher als leicht zu machen versprach, *) vollendet, so würde die nach seiner

 

____

*) S. Werke IV. S. 210.

 

 

____

29

 

Meinung einzige und wahre Art, die Kunst des Schauspielers zu studiren, gewiß genügender festgestellt worden sein, als es später Engel in seinen „Ideen zu einer Mimik“ vermochte. Aber schwerlich würden die Schauspieler es der Mühe werth geachtet haben, ihre Routine gegen ein ernstes Studium ihrer Kunst zu vertauschen, und Lessing besaß nicht die Ausdauer für das undankbare Amt eines Lehrers in der neu zu erschaffenden Kunst. So blieb diese nach wie vor der Mehrzahl der Schauspieler ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln, und die wenigen schöpferischen Genies, die auf den Brettern die Bewunderung ihrer Zeitgenossen erregten, trugen sie mit sich zu Grabe, und wurden dessen selber sich nicht bewußt, was sie erschufen. Lessing‘s Idee einer Akademie, wie er sie in Mannheim empfahl, war eine seiner Theatereinfälle, die er schnell zu bekämpfen suchte, und die Art, wie sie die Pfälzischen Minister auszuführen gedachten, erregte vollends seinen Spott. Er schrieb, nachdem er in Mannheim den neuen Versuch, ein Nationaltheater zu begründen kennen gelernt, darüber unter Andern an seinen Bruder: „Mit einem deutschen Nationaltheater ist es lauter Wind, und wenigstens hat man in Mannheim nie einen andern Begriff damit verbunden, als daß ein deutsches Nationaltheater daselbst ein Theater sei, auf welchem lauter geborne Pfälzer agirten. An das, ohne welches wir gar keine Schauspieler hätten, ist gar nicht gedacht worden. Auch die Schauspieler selbst halten nur das für ein Nationaltheater, das ihnen auf Lebenslang reichlichen Unterhalt verspricht. Stücke, die zu spielen sind, fliegen ihnen ja doch genug in‘s Maul.“ — Ist seitdem irgend wo das Theaterwesen in genügenderer Weise organisirt worden? Ist namentlich der Kunst des Schauspielers eine Pflegestätte, eine Akademie zu Theil geworden, ja nur eine praktische Studienschule für deutsche Schauspieler eröffnet? —

 

Bei Lessing‘s Bestreben, die Schauspieler durch die mechanische Fertigkeit für ihre Kunst zu bilden, ist es natürlich, daß jedes Raisonniren über diese, die Schlagwörter Feuer, Empfindung, Eingeweide, Wahrheit, Natur, Anmuth ohne Sinn und Nutzen ihm erschienen. Selbst die geistreiche Schrift: „le Comedien, Ouvrage divisé en deux parties par Mr. Remond de Sainte Albine“, die er anfänglich ganz übersetzen wollte, dann in ausführlichem Auszuge in der theatralischen Bibliothek mittheilte, nannte er nur eine schöne Metaphysik von der Kunst des Schauspielers. *) Denn wenn ein Akteur auch schon Alles, was darin gesagt ist, inne hat, kann er doch nicht mit völliger Zuversicht des Beifalls auf dem Theater sich zeigen. „Man bilde sich,“ sagt Lessing in der Nachschrift des Auszuges, „einen Menschen ein, dem es an dem Aeußerlichen nicht fehlt, einen Menschen, der Witz, Feuer, Empfindung hat, einen Menschen, der Alles weiß, was zur Wahrheit der Vorstellung gehört, wird ihm denn deswegen sogleich sein Körper überall zu Diensten sein? Wird er deswegen Alles durch äußerliche Merkmale ausdrücken können, was er empfindet und einsieht? Umsonst sagt man: ja, wenn er nur alsdann Aktion und Aussprache seiner Person gemäß, natürlich, abwechselnd und reizend einrichtet. Alles dieses sind abgesonderte Begriffe von dem, was er thun soll,

 

____

*) S. Werke IV. S. 208 ff.

 

 

____

30

 

aber noch gar keine Vorschriften, wie er es thun soll. Der Herr Remond de Sainte Albine setzt in seinem ganzen Werke stillschweigend voraus, daß die äußerlichen Modifikationen des Körpers natürliche Folgen von der innern Beschaffenheit der Seele sind, die sich von selbst ohne Mühe ergeben. Es ist zwar wahr, daß jeder Mensch ungelernt den Zustand seiner Seele durch Kennzeichen, welche in die Sinne fallen, einigermaßen ausdrücken kann, der eine durch dieses, der andere durch jenes. Allein auf dem Theater will man Gesinnungen und Leidenschaften nicht nur einigermaßen ausgedrückt sehen, nicht nur auf die unvollkommene Weise, wie sie ein einzelner Mensch, wenn er sich wirklich in eben denselben Umständen befände, für sich ausdrücken würde; sondern man will sie auf die allervollkommenste Art ausgedrückt sehen, so wie sie nicht besser und nicht vollständiger ausgedrückt werden können. Dazu aber ist kein ander Mittel als die besondern Arten, wie sie sich bei dem und bei jenem ausdrücken, kennen zu lernen, und eine allgemeine Art daraus zusammen zu setzen, die um so viel wahrer scheinen muß, da ein Jeder etwas von dem Seinigen darin entdeckt. Kurz, der ganze Grundsatz Sainte Albine‘s ist umzukehren.“

 

Man würde irren, Lessing habe auf die angeborenen Talente zur Kunst wenig gegeben. Durchaus nicht. Wir kennen seine hohe Anforderung an den Geist des Schauspielers, der mit dem Dichter, ja, wo diesem etwas Menschliches widerfahren sei, für den Dichter denken müsse. Aber durch das Studium der Technik seiner Kunst, durch die Beobachtung der Natur, durch die Verallgemeinerung jedes Affekts, durch feine Nuancen in jeder Situation, durch Licht und Schatten in der Darstellung jedes Charakters gelangt bei ihm auch der begabteste Schauspieler allein zu der Höhe des wahren Künstlers. So nur ist er im Stande, alle Feinheiten seiner Rolle zu begreifen und auszuführen, ja, nicht blos auszuführen, sondern neue selbst zu schaffen. Ein Blick, eine Handbewegung ist zuweilen in der Komödie ein sinnreicher Einfall, und in der Tragödie ein Gedanke, eine Empfindung.

 

Lessing wies dieses häufig in seiner Dramaturgie an Eckhof und anderen Hamburger Schauspielern nach. Statt vieler Beispiele nur eins über die Mitspielenden in der „Cenie“, *) „Madame Löwen spielt die Orphise, man kann sie nicht mit mehr Würde und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewußtsein ihres verkannten Werthes, und sanfte Melancholie auszudrücken kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen. Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort fällt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt, es kömmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort.“ Und über einen feinen Zug Eckhof‘s in der Rolle des Dorimond: „Wenn er zum Schlusse des Stückes von Mericourt sagt: „„Ich will ihm so viel geben, daß er in der großen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!““ Wer hat den Mann gelehrt,

 

____

*) Hamb. Dramat. Werke VII. S. 90.

 

 

____

31

 

mit ein Paar erhobenen Fingern, hierhin und dorthin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen uns auf einmal zu zeigen, was das für ein Land ist, dieses Vaterland des Mericourt? ein gefährliches, ein böses Land! Tot linguae, quot membra viro!“

 

Wie Lessing über Studium und natürliche Anlagen dachte, faßte vielleicht am besten Schiller in Folgendem zusammen, was zugleich beweist, daß beide Männer über eine Kunst, für die sie einmal mit Begeisterung ihr höchstes Streben einsetzten, übereinstimmend urtheilten: „Die Forderungen, die wir an den Schauspieler machen, sind: erstens Wahrheit der Darstellung und zweitens Schönheit der Darstellung. Nun behaupte ich, daß der Schauspieler, was die Wahrheit der Darstellung betrifft, alles durch Kunst, und nichts durch Natur hervorbringen müsse, weil er sonst gar nicht Künstler ist. Hingegegen behaupte ich, was Anmuth der Darstellung betrifft, daß er der Kunst gar nichts zu danken haben dürfe, und daß hier alles an ihm freiwilliges Werk der Natur sein müsse. Wenn es mir bei der Wahrheit seines Spiels einfällt, daß ihm dieser Charakter nicht natürlich ist, so werde ich ihn um so höher schätzen. Wenn es mir bei der Schönheit seines Spiels beifällt, daß ihm diese anmuthigen Bewegungen nicht natürlich sind, so werde ich mich nicht enthalten können, über den Menschen zu zürnen, der hier den Künstler zu Hülfe nehmen mußte. — Er soll dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung komme, und dann soll er hingehen, und sie, wenn es sonst sein Beruf ist, auf der Schaubühne repräsentiren.“

 

Was Schiller hier die Wahrheit der Darstellung nennt, ist die durch Technik, Studium, Naturbeobachtung gewonnene Fertigkeit; die Schönheit der Darstellung schafft ihm das angeborene Talent, das aber, wie die letzten Worte besagen, von früh auf der Pflege bedarf, um zur Reife der Kunst zu gelangen. — —

 

Wie in der darstellenden Kunst des Schauspielers, fand Lessing in der producirenden des Dichters die nothwendig zu fordernde Grundlage. Wie denen, die falsche Regeln gegeben, trat er auch denen entgegen, die es für eine Pedanterie erklärten, dem Genie vorzuschreiben, was es thun, was es nicht thun müsse. Wie dort der Routine des Akteurs und seinen besten Naturanlagen, so hier dem Geistesprodukt und der schöpferischen Kraft des Dichters die Kunst, die ewige, unabänderliche, wahre entgegenhaltend, weiß er dieser Erfordernisse und allgemein gültige Regeln in der Hamburger Dramaturgie in das hellste Licht zu stellen, nachdem er das Wesen der dramatischen Poesie schon in frühern Schriften oder in Briefen an Freunde, besonders an Mendelssohn und Nicolai *) zu erforschen und zu begründen gesucht. Wohl meint auch Lessing, dem Genie dürfe man keine Regeln geben, es schaffe unbewußt dieselben, es lache über alle die Grenzscheidungen der Kritik, von ihm könne man nur aus Erfahrung lernen, wie viel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, wie

 

*) Die meisten stehen W. XII., Vieles auch XIII.

 

 

____

32

 

es Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlege. Aber Schrankenlosigkeit in der Wahl des Stoffes, Verwerfung aller Regeln bei der Behandlung desselben widerstreite dem Begriffe der Kunst. „Wir waren,“ sagt er, *) „auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangenen Zeit muthwillig zu verscherzen und von den Dichtern lieber zu verlangen, daß jeder die Kunst auf‘s Neue für sich erfinden solle.“ Diese Gährung des Geschmacks zu hemmen, hielt er für ein Verdienst um das Theater. Und während er für sich selbst die Ehre eines Dichters ablehnt, sagt er am Schlusse seiner Dramaturgie, worin er die Wahrheit seiner Behauptung dargethan: „Ich glaube die dramatische Dichtkunst studirt zu haben, sie mehr studirt zu haben als zwanzig, die sie ausüben. Auch habe ich sie so weit ausgeübt, als es nöthig ist, um mitsprechen zu dürfen. Denn ich weiß wohl, so wie der Maler sich von Niemandem gern tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urtheilen, ob es sich machen läßt.“

 

Dieser Versuch Lessing‘s, d. h. seine scharfsinnige „Kritik über dramatische Poesie“, neben seinen eignen dramatischen Werken, zeigte erst sein ganzes Verdienst um das deutsche Theater, während wir in vorstehender Abhandlung nur seine feine Beobachtungsgabe in Betreff der darstellenden Kunst gewürdigt haben. Ueber den Dramatiker sprachen wir bereits an einem andern Orte; die Darlegung seiner Kritik über dramatische Poesie müssen wir uns noch vorbehalten **).

 

____

*) Hamb. Dramat., W. VII S. 45.

**) S. die erste Anmerkung zu dieser Abhandlung.

 

 

 

Quelle:

Dr. Gervais: „Lessing als Dramaturg.“ In: Programm des Königlichen Gymnasiums zu Hohenstein in Preußen. S. 1 – 32.

Hohenstein, gedruckt in der C. H. Harich‘schen Buchdruckerei. 1858.

 

 

 

 

 

Gervais: Lessings Kritik über die dramatische Poesie

Lessings Kritik über die dramatische Poesie *)
von
Dr. E. Gervais.

Wie Aristoteles galt auch Lessing die dramatische Dichtkunst für die höchste Gattung der Poesie, weil in dieser die Worte aufhören willkürliche Zeichen zu sein und natürliche Zeichen willkürlicher Dinge werden; und er giebt der epischen Poesie nur insofern die zweite Stelle, als sie grösstentheils dramatisch ist oder sein kann. **) Dabei geht er von dem Satze aus, den er auch in der Malerei geltend macht, dass alle Poesie sich um so mehr der Vollkommenheit nähere, je mehr sie ihre willkürlichen Zeichen den natürlichen näher bringe. Die Mittel, wodurch sie dieses thut, sind der Ton, die Worte und die Stellung der Worte, das Sylbenmass, Figuren und Tropen, Gleichnisse u. s. w. Willkürliche Zeichen in der Malerei nennt Lessing nicht allein Alles, was zum Costüme gehört, sondern auch einen grossen Theil des körperlichen Ausdrucks selbst. Er sieht nun bei der Malerei die höchste Vollkommenheit in den natürlichen Zeichen von natürlichen Dingen, d. h. in treuer Nachahmung der Natur, wobei die Schönheit als höchstes Gesetz gilt. Aehnlich wie die Malerei im Raume die Natur nachahmt, soll es die Poesie successive in der Zeit, und sich der natürlichen Zeichen bedienen, nicht nur wie die Malerei, was ihr unmöglich ist, natürliche Dinge, sondern willkürliche auszudrücken. Dieses kann -- durch die angegebenen Mittel -- nur die dramatische Poesie, denn sie gebraucht ihre Mittel, wie die Natur die ihrigen, um sich uns erkennbar zu machen; nur sind die Gegenstände nicht selbst natürliche, sondern von der Willkür des Dichters geschaffene. Es kommt nun auf die Wahl dieser Gegenstände an, um ihnen den natürlichen Ausdruck der dramatischen Poesie geben zu können. Eignet sich dieser Ausdruck für den gewählten Gegenstand nicht, vorausgesetzt, dass er wirklich natürlich zu sein sich bestrebt, so ist der Gegenstand kein für die dramatische Poesie geeigneter. Es entsteht also die Frage, welche Gegenstände, Stoffe, Charactere, Situationen, Verwickelungen, Intriguen passen für die natürlichen Zeichen der dramatischen Poesie, oder mit anderen Worten: welche Aufgabe hat die dramatische Poesie zu lösen? --  Als Kunst soll sie uns Vergnügen gewähren, aber als Kunstgattung nicht jede Art des Vergnügens ohne Unterschied, sondern nur allein das Vergnügen, welches ihr eigenthümlich zukommt. Das führt auf die Untersuchung, welches Ziel die dramatische Poesie zu erstreben habe, um für uns das ihr eigenthümliche Vergnügen, dass uns keine andere poetische Gattung gewährt, zu erreichen. Darüber uns aufzuklären, vornehmlich in Bezug auf die Tragödie, ist Lessings Kritik unermüdlich gewesen, und selbst seine Productionen hatten nur den gleichen Zweck.
____
*) Diese Abhandlung schliesst sich unmittelbar an die des Hohensteiner Programms vom Jahre 1858: „Lessing als Dramaturg.“
**) Gervinus' Geschichte der National-Literatur Thl. IV., S. 356 und öfters noch behauptet, Lessing habe gegen Aristoteles dem Epos den Vorzug gegeben. Die hier angezogene Stelle aus einen Briefen. W. Thl XII, S. 225 beweiset zu deutlich, dass er mit Aristoteles die dramatische für die höchste Gattung ansah.

____
4

Am Schlusse seiner Dramaturgie sagt er: „Ich glaube die dramatische Dichtkunst studirt zu haben, sie mehr studirt zu haben als zwanzig, die sie ausüben. Auch habe ich sie soweit ausgeübt, als es nöthig ist, um mitsprechen zu dürfen: denn ich weiss wohl, sowie der Maler sich von Niemandem gerne tadeln lässt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen weiss, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muss, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urtheilen, ob es sich machen lässt. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmasst, der, wenn er nicht dem oder jenem (Ausländer) nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde als ein Fisch.

Nicolai erzählt, dass bei Gelegenheit des Shakespearischen „Julius Cäsar“ Er, Mendelssohn und Lessing über des englischen Dichters Eigenthümlichkeiten gestritten, was den ersten Anlass zu dem Gedankenaustausch über das Wesen der Tragödie gegeben, welche über 20 Jahre zwischen den beiden Berliner Freunden und Lessing stattfand und allen dreien so nützlich wurde. -- So interessant es wäre, diesen ganzen Gedankenaustausch der drei Männer kennen zu lernen, müssen wir uns doch auf die Hauptresultate ihrer brieflichen Mittheilungen beschränken, die Lessings unermüdliches Streben, den Begriff des Tragischen zu erfassen, zur Reife brachte.

Er hatto Nicolai'n, als dieser in einer „Bibliothek“ eine Abhandlung über das bürgerliche Trauerspiel zu schreiben gedachte, Beiträge dazu versprochen. Sie blieben aus. Statt ihrer gab er, als Nicolai ihm einen kurzen Auszug von der Abhandlung mittheilte, Bemerkungen, in denen der Begriff des Tragischen noch etwas vage behandelt wurde, bis er mit Hinzuziehung der Definitionen des Aristoteles geläuterter zum Vorschein kam. Nicolai hatte den Zweck des Trauerspiels in Erregung der Leidenschaften gesetzt und gesagt: das beste Trauerspiel sei das, welches die Leidenschaften am heftigsten errege, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen. Das Vornehmste dabei sei eine Handlung, die Grösse, Fortdauer und Einfalt habe. Die Einheit der Handlung sei durchaus nothwendig. Die Einheiten der Zeit und des Orts dürften nicht so strenge beobachtet werden, und es sei am besten beide nicht allzu genau zu bestimmen. Aus den Eigenschaften der Handlung leitete er die Art des Plans her. Die Exposition müsse natürlich sein; die Fortsetzung der Handlung enthalte die Mittel zu dem Zwecke oder der Auflösung. Wie der Dichter überhaupt die Natur, insofern Sie sinnlich ist, nachahme, so der tragische Dichter, insofern sie Leidenschaften erregt. Das Tragische der Charaktere liege wieder darin, dass Sie heftige Leidenschaften erregen, nicht dass sie die Sitten bessern; sie müssen also Fehler begehen, nicht Tugend zeigen. Was den Ausdruck betrifft, so wird vorausgesetzt, dass der Dichter edel denke; aber er muss sich auch edel, sinnlich und schön ausdrücken. *)

Dieses waren ungefähr Nicolai's Gedanken. Aus Lessings Erwiederung hier die Hauptpunkte: „Es kann sein, dass wir dem Grundsatze: das Trauerspiel sollbessern, manches elende, aber gut gemeinte Stück schuldig sind. Der Satz überhaupt giebt den Zweck; es soll Leidenschaften erregen, das Mittel an. Wenn ich die Mittel habe, so habe ich den Endzweck, aber nicht ungekehrt. Das Trauerspiel kann durch Erzeugung von Leidenschaften bessern. Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt. In seinen Personen kann es alle möglichen Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes schicken. Aber werden auch zugleich alle diese Leidenschaften in den Zuschauern rege? Wird er freudig? wird er verliebt? wird er zornig? wird er rachsüchtig? -- Ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden. Sie werden sagen (Nicolai und Mendelssohn behaupteten es wirklich), erweckt es nicht auch Schrecken? erweckt es nicht auch Bewunderung? -- Schrecken und Bewunderung sind keine Leidenschaften. Das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Ueberraschung des Mitleids, ich mag den Gegenstand meines Mitleids kennen oder nicht. Z. E. endlich bricht der Priester damit heraus: Du, Oedipus, bist der Mörder des Lajus! Ich erschrecke; denn auf einmal sehe ich den rechtschaffenen Oedipus unglücklich; mein Mitleid wird auf einmal rege. Ein anderes Exempel: es erscheinet
____
*) Lessings W. XIII. S. 25-27.

____
5

ein Geist: ich erschrecke; der Gedanke, dass er nicht erscheinen würde, wenn er nicht zu des Einen oder des Andern Unglück erschiene, die dunkle Vorstellung dieses Unglücks, ob ich den gleich noch nicht kenne, den es treffen soll, überraschen mein Mitleid, und dieses überraschte Mitleid heisst Schrecken.“

„Nun zur Bewunderung! Die Bewunderung? O, in der Tragödie, um mich ein wenig orakelmässig auszudrücken, ist sie das entbehrlich gewordene Mitleid. Der Held ist unglücklich, aber er ist über Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz darauf, dass es auch in meinen Gedanken die schreckliche Seite zu verlieren anfängt, dass ich ihn mehr beneiden als bedauern möchte.“

„Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunderung. Die Leiter aber heisst: Mitleid. Schrecken und Bewunderung sind nichts als der Anfang und das Ende des Mitleids. Das Schrecken braucht der Dichter zur Ankündigung des Mitleids, die Bewunderung gleichsam zum Ruhepunkt. Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer zu lang, wenn ihn nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht, und das Mitleid nutzt sich ab, wenn es sich nicht an der Bewunderung erholen kann. Die Bestimmung der Tragödie ist also: Sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloss lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns soweit fühlbar machen, dass uns Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen muss.“

Auf diese letzte vollkommen richtige Behauptung gestützt, konnte Lessing in der Dramaturgie nachweisen, dass Shakespeares Richard III. trotz seiner Scheusslichkeiten das tragische Mitleid des Zuschauers in Anspruch nehmen und somit auch ein Bösewicht, wenn er vom Dichter in die rechte tragische Situation gestellt werde, der Hauptheld einer Tragödie sein könne.

Mit obiger Schlussfolge hat Lessing schon in der Hauptsache die Aristotelische Lehre vom Zweck der Tragödie bewiesen. Er fährt nämlich fort: „der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Grossmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder -- um dieses thun zu können. Bitten Sie es dem Aristoteles ab oder widerlegen Sie mich!“

Letzteres gelang Nicolai und Mendelssohn nicht; aber Sie regten Lessing zu neuen Erörterungen über das Tragische an, wodurch dieses besonders in den richtigen Gegensatz zum Epischen trat. Seine Gedanken vom Schrecken und der Bewunderung, worauf seine Gegner, durch die französischen Muster verführt, allzuviel Gewicht in der Tragödie legten, nimmt er noch einmal auf. „Das Schrecken,“ habe ich gesagt, „ist das überraschte Mitleid; ich will hier noch ein Wort hinzusetzen: das überraschte und entwickelte; folglich, wozu der Ueberraschung, wenn es nicht entwickelt wird? Ein Trauerspiel voller Schrecken, ohne Mitleid, ist ein Wetterleuchten ohne Donner. Wozu so viel Blitze, so viel Schläge, wenn uns der Blitz nicht so gleichgültig werden soll, dass wir ihm mit einem kindischen Vergnügen entgegen gaffen?“

„Die Bewunderung,“ habe ich mich ausgedrückt, „ist das entbehrlich gewordene Mitleid. Da aber das Mitleid das Hauptwerk ist, so muss es folglich so selten als möglich entbehrlich werden; der Dichter muss seinen Helden nicht zu sehr, nicht zu anhaltend der blossen Bewunderung aussetzen, und Cato, als ein Stoiker, ist ein schlechter tragischer Held. Der bewunderte Held ist der Vorwurf der Epopöe, der bedauerte des Trauerspiels. Können Sie sich einer einzigen Stelle erinnern, wo der Held des Homer, des Virgil, des Tasso, des Klopstock Mitleiden erweckt? oder eines einzigen alten Trauerspiels, wo der Held mehr bewundert als bedauert wird?“

In Bezug auf diese Verschiedenheit beider Dichtungsarten bemerkte Lessing an einer andern Stelle *) „der Heldendichter lässt seinen Helden unglücklich sein, um seine Vollkommenheiten ins Licht zu setzen, der Tragödienschreiber setzt eines Helden Vollkommenheiten ins Licht, um uns sein Unglück desto schmerzlicher zu machen.“ Darum will Lessing aus der Tragödie auch den Heroismus, wenigstens als
____
*) S. Werke XII, S. 62.

____
6

Hauptmoment ausgeschieden wissen und weist auf die alten Tragiker: „Um das Mitleid desto gewisser zu erwecken, ward Oedipus und Aloeste von allem Heroismus entkleidet. Jener klagt weibisch und diese jammert mehr als weibisch. Sie wollten sie lieber zu empfindlich als unempfindlich machen; sie liessen sie lieber zu viel Klagen ausschütten als gar keine.“ Und doch ist der Eindruck der tragischen Helden ein viel erschütternder, tiefer, bleibender, und die Tragödie die vollkommenere Poesie als die Epopöe. „Heldenthaten hört man nur einmal mit sonderlichem Vergnügen, ihre Neuigkeit rührt am meisten. Aber tragische Begebenheiten rühren, so oft man sie hört.“ Diese Erfahrung machten die Rhapsoden, die bei feierlichen Gelegenheiten, vielleicht auch vor den Thüren um Brod sangen; sie wussten, was für Stücke von den Grossen und vom Volke am liebsten gehört wurden. Diese wurden vorzugsweiss vor andern Begebenheiten bei Homer und den Homeriden gesungen, bis man darauf fiel, sie dialogisch abzutheilen, und das daraus entstand, was wir jetzt Tragödie nennen.

Für beide Dichtungsarten ergeben sich nothwendige Verschiedenheiten der zu behandelnden Gegenstände wie der aufgeführten Charaktere. Warum haben die Alten nicht aus den Heldenthaten dialogische Compositionen gemacht? Weil sie die Bewunderung für eine weit ungeschicktere Lehrerin des Volks hielten als das Mitleid. Und geriethen ihre epischen Helden auch in ein Unglück, so war dieses keine Folge aus dem Character desselben, weil es sonst Mitleid erregt haben würde, sondern es muss ein Unglück des Verhängnisses oder des Zufalls sein, an welchem seine guten oder bösen Eigenschaften keinen Theil haben. Bei der Tragödie ist es das Gegentheil, und aus dem Oedipus würde nimmermehr ein Heldengedicht werden, sondern nichts als ein Trauerspiel in Büchern. Es wäre elend, wenn beide Dichtungsarten keinen wesentlicheren Unterschied hätten, als den beständigen oder durch die Erzählung des Dichters unterbrochenen Dialog, oder als Aufzüge und Bücher haben sollten. *)

Wie in dem Heldengedichte die Bewunderung das Hauptwerk ist, alle andern Affekte, das Mitleiden besonders, ihr untergeordnet sind, so sei auch in dem Trauerspiel das Mitleiden das Hauptwerk, und jeder andere Affekt, die Bewunderung begonders, sei ihm nur untergeordnet, d. i. diene zu nichts als das Mitleid erregen zu helfen. Wir können nicht lange in einem starken Affekte bleiben, also können wir auch ein starkes Mitleid nicht lange aushalten; es schwächt sich selbst ab. Auch mittelmässige Dichter haben dieses gemerkt und das starke Mitleid bis zuletzt verspart. Der wahre Dichter vertheilt das Mitleid durch ein ganzes Trauerspiel; er bringt überall Stellen an, wo er die Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten seines Helden in einer rührenden Verbindung zeigt, d. i. Thränen erweckt. Weil aber das ganze Stück kein beständiger Zusammenhang solcher Stellen sein kann, so untermischt er sie mit Stellen, die von den Vollkommenheiten seines Helden handeln, und in diesen Stellen hat die Bewunderung Statt. Was sind aber diese Stellen anders als gleichsam Ruhepunkte, wo sich der Zuschauer zu neuem Mitleiden erheben soll.

Wenn Lessing die dramatische Dikunst überhaupt als die höchste Gattung der Poesie nachwies, so durfte er bei der Tragödie allein nicht stehen bleiben, sondern musste auch die Komödie in den gleichen Rang stellen. Wirklich ist er, der eine productive Thätigkeit mit Komödien begann, der erste Deutsche, der nicht nur das Lustspiel dem Trauerspiel als ebenbürtig zur Seite stellte, sondern auch die innige Verwandtschaft beider in ihren Prinzipien und letzten Zwecken einander verwandt nachwies. Wie die Tragödie unsere Fähigkeit, Miteid zu fühlen, erweitern soll, soll uns die Komödie zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen und eben dadurch der wohlgezogenste und gesittetste Mensch werden.

„Beider Nutzen,“ sagt er, **) „des Trauerspiels sowol als des Lustspiels ist von dem Vergnügen zertrennlich; denn die ganze Hälfte des Mitleids und des Lachens ist Vergnügen, und es ist grosser Vortheil für den dramatischen Dichter, dass er weder nützlich noch angenehm, eines ohne das andere sein kann.“
____
*) V. Lessings W. XII, S. 69.
**) A. a. O. S. 50.

____
7

Lessing war von der nahen Verwandtschaft beider so durchdrungen, dass er sie mit einander vergleichen und zeigen wollte, wie das Weinen ebenso sehr aus einer Vermischung der Traurigkeit und Freude, als das Lachen aus einer Vermischung der Lust und Unlust entstehe. „Ich würde, wenn ich eine dramatische Dichtkunst schreiben sollte, weitläufige Abhandlungen vom Mitleid und Lachen voranschicken. Ich würde weisen, wie man das Lachen in Weinen verwandeln kann, wo man auf der einen Seite Lust zur Freude, und auf der andern Unlust zur Traurigkeit in beständiger Vermischung anwachsen lässt etc.“

Auch noch in der Dramaturgie behauptete er den Satz: die Komödie will durch Lachen uns bessern gegen Rousseau, der Molière getadelt, weil er im Misanthropen einen ehrlichen Mann dem Gelächter preisgebe, sich also als einen Feind der Tugend zeige. Lessing macht erstlich aufmerksam auf den wesentlichen Unterschied von Lachen und Verlachen. „Wir können über einen Menschen lachen, ohne im Geringsten ihn zu verlachen.“ Der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, das aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das Geringste. Der Zerstreute gleichfalls. Wir lachen über ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schätzen seine übrigen Eigenschaften, wie wir sie schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über seine Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdigen Mann und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig, eklich, hässlich wird sie sein, nicht lächerlich.

Jeder Mensch hat irgend ein komisches Element an sich, und man hat behauptet, dass dieses besonders Geistern von höherer Art und Begabung eigen sei. Dieses Komische in jeder menschlichen Individualität deutet an, dass Sie mit dem gemeinen endlichen Leben zu ringen habe und sich bestrebe, ihre Freiheit darin zu behaupten, welche Anstrengung auf der einen Seite zum tragischen Conflict führt, der unser Mitleid erregt, auf der andern Seite einen komischen Widerspruch hervorruft und uns lachen macht. Aristophanes durfte sogar die Götter lächerlich darstellen, ohne die feste Basis der Staatsreligion zu erschüttern. Die geistlichen Komödien des Mittelalters thaten das Gleiche, ein Beweis, dass der Hang, das religiöse Leben mit einem komischen Elemente zu durchweben, aus einer komischen Weltanschauung hervorgehe, und doch dabei alle ernsten Lebenselemente ihre Würde und hohe Bedeutung behalten.

Was nun aber den Zweck der Komödie betrifft, so will Lessing nicht, dass sie gerade diejenigen Unarten, über die sie lachen macht, noch weniger bloss und allein die, an welchen sich dies lächerlichen Unarten finden, bessere. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; kurz „in der Uebung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken.“ Unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und Mode, in allen Vermischungen mit noch schlimmeren oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, sollen wir es leicht und geschwind bemerken: „Zugegeben, dass der Geizige des Molière nie einen Geizigen, der Spieler des Reynard nie einen Spieler gebessert habe; eingeräumt, dass das Lachen diese Thoren gar nicht bessern könne, desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheit heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich, auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend. Die Thorheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben müssen; es ist erspriesslich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Collision kommen kann; erspriesslich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arzenei, und die ganze Moral hat kein kräftigeres, wirksameres als das Lächerliche.“

Niemand wird aus diesen Sätzen Lessings einen Beweis für die Unzahl jener Stücke herleiten, die uns eine lehrreiche Moral als den Kern und Zweck ihrer ganzen Erfindung auſtischen. Eher möchten die seichten Lustspieldichter sich auf das berufen, was Lessing bei Gelegenheit von des Plautus' Gefangenen äussert *), dass die Absicht des Lustspiels sei, die Sitten der Zuschauer zu bilden und zu bessern. Das wäre noch nichts Anderes, als er in der Dramaturgie von der Wirkung des Lächerlichen sagt. Aber er fährt fort: „Die Mittel, die sie dazu anwendet, sind, dass sie das Laster verhasst und die Tugend liebenswürdig
____
*) S. Werke III, S. 138

____
8

vorstellt. Weil aber viele allzu verderbt sind, als dass dieses Mittel bei ihnen anschlagen sollte, so hat sie noch ein kräftigeres, wenn sie nämlich das Laster allezeit unglücklich und die Tugend am Ende glücklich sein lässt; denn Furcht und Hoffnung thut bei den Menschen allezeit mehr als Scham und Ehrliebe. Wahr ist es, die meisten komischen Dichter haben gemeiniglich nur das erste Mittel angewendet. Daher kömmt es auch, dass ihre Stücke mehr ergötzen als fruchten.“ Das klingt, als ob Lessing den Lustspieldichter zum Moralprediger, zum Sittenlehrer so auf geradestem Wege, auf billigste Weise machen wolle; als ob er den schuldigen Bösen nur Furcht, den unschuldig leidenden Guten nur Hoffnung machen solle. Dieser Zweck der Besserung durch die Komödie wäre leicht zu erreichen. Doch so liberal auch Lessings Kritik ist, und selbst dem rührenden Lustspiel, wenn es sonst den Anforderungen der Kunst genügt, das Wort redete; leicht will sie keinem Dichter die Arbeit machen. Schon der Eingang zu dem, was er die Absicht des Lustspiels nennt, enthält als Nebensächliches des Schweren genug. „Ich nenne,“ sagt er, „das schönste Lustspiel nicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmässigsten ist, nicht das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten Scherze, die künstlichsten Verwickelungen und die natürlichsten Auflösungen hat; sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am nächsten kommt, zumal, wenn es die angeführten Schönheiten grösstentheils auch besitzt.“ Sodann will Lessing ein Lustspiel des Plautus vor den andern desselben Dichters, der alten Komödie überhaupt, die durch ein: res ridicula est allein Beifall suchten, als eines, ubi boni meliores fiunt, empfehlen. Er hat vorher gesagt, dass in den Lustspielen der auch die besten Personen nur solche wären, die weder einen erhabenen Geist noch ein edles Herz verlangten. Die Gefangenen des Plautus müsse man hiervon ausnehmen. „Ich bleibe also dabei,“ schliesst er die Rechtfertigung dieses Umstandes, „dass die Gefangenen“ das schönste Stück sind, das jemals auf die Bühne gekommen ist, und zwar aus keiner andern Ursache, als weil es der Absicht der Lustspiele am nächsten kommt, und auch mit den übrigen zufälligen Schönheiten reichlich versehen ist.“ Wer wollte da etwas dawider haben? Sobald reichliche dramatische Schönheiten der Sittenverbesserung durch Furcht und Hoffnung die Hand reichen, ist auch erreicht, was Lessing der Komödie als ihren höchsten Zweck nachwies.

Alles, was Lessing über die hohe Bedeutung, den wahren Zweck und die rechten Mittel der dramatischen Poesie geschrieben, gedacht und mit andern Denkern besprochen hatte, fand er Gelegenheit in der Hamburger Dramaturgie an die lebendige Darstellung tragischer und komischer Stücke zu knüpfen, seine eigenen Ansichten schärfer und geläuterter dem grossen Publikum mitzutheilen, und vornehmlich den dramatischen Dichtern Winke und Anweisung zu geben, die sie das Falsche vermeiden, das Richtige treffen lehrten. In der Tragödie hielt er sich nun erst strenge an Aristoteles' Definitionen und Erklärungen und wies nach Widerlegung aller falschen und halbwahren Interpretationen, wie sie besonders Corneille und Voltaire und, durch sie verführt, andere Kunstrichter gegeben, die vollständige Richtigkeit des Aristotelischen Satzes nach: die Tragödie sei die Nachahmung einer Handlung, die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirke.

Neuere Kritiker beweisen uns, wie auch Lessing eine erschöpfende Erklärung des vieldeutigen und nicht leicht fasslichen Satzes noch nicht gegeben. Doch schon auf den richtigen Weg geführt zu haben und nirgends auf ihm fehlgegangen zu sein, ist für den, der ihn zuerst und nur vom eigenen Geist geleitet betrat, ein Zeugniss seltenen Geistes. Schon die hier scharf zu trennenden Begriffe von Philanthropie und dem tragischen Mitleid, von dem Schrecken, das entweder schon als ein Theil in dem tragischen Mitleid begriffen, oder der Tragödie zu verbannen sei, und der tragischen Furcht waren höchst wichtige Positionen, um das Wesen und den Zweck der Tragödie darzustellen, so dass nur von ihnen aus eine sichere Beurtheilung dramatischer Produkte möglich wurde, dass nun erst von wahren Regeln und Grundsätzen der dramatischen Poesie die Rede sein konnte, während die französischen Regeln sich als haltlos und der Kunst selber schädlich erwiesen. Wie in der darstellenden Kunst des Schauspielers fand Lessing in der producirenden des Dichters die nothwendig zu fordernde Grundlage. Neben den wesentlichen Erforderniasen für die Tragödie und die Komödie erscheinen die Anweisungen und Bemerkungen,

____
9

die Lessing sonst noch den Dichtern giebt, allerdings von weniger Gewicht. Aber beachtonswerth ist eine jede. Wir wollen die bedeutenderen hier aufreihen und beleuchten.

Wenn Lessing selbst die Ehre eines Dichters ablehnte, geschah dieses nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern weil er die höchste Gabe, das Genie, allein für berechtigt und schöpferisch erklärte. Ihm, meinte er, dürfe man keine Regeln geben, es schaffe unbewusst dieselben, es lache über alle die Grenzscheidungen der Kritik, von ihm könne man nur aus Erfahrung lernen, wieviel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, wie es Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlege. Aber Schrankenlosigkeit in der Wahl des Stoffes, Verwerfung aller Regeln bei der Behandlung desselben widerstreite dem Bogriffe der Kunst. „So viel ist unstreitig,“ sagte er *), „dass das Schauspiel überhaupt seinen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes wählet, und die eigentlichen Gegenstände desselben nur insofern behandelt, als sie sich entweder in das Lächerliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche verbreiten.“

Wie denen, die falsche Regeln gegeben, trat er auch denen entgegen, die es für eine Pedanterie erklärten, dem Genie vorzuschreiben, was es thun, was es nicht thun müsse. „Wir waren,“ sagt er, **) „auf dem Punkte uns alle Erfahrungen der vergangenen Zeit muthwillig zu verscherzen, und von den Dichtern lieber zu verlangen, dass jeder die Kunst aufs Neue für sich erfinden solle.“ Diese Gährung des Geschmacks zu hemmen, hielt er für ein Verdienst um das Theater; und er würde, wenn er in den letzten Lebensjahren nicht alles Theatralische, auch selbst als Kritiker hätte vermeiden wollen, über das Unwesen, welches die Kraftgenies begannen, selbst mit Goethe „trotz seinem Genie, worauf er so pocht,“ angebunden haben. ***)

Lessing räumt dem Genie innerhalb seiner Welt jede nur mögliche Freiheit ein; er will es mit  keinem fremden Maassstabe messen, es mit Stoff und Charakteren, die ihm die Geschichte oder das Leben bietet, nach Belieben schalten lassen; „es mag, um das höchste Genie, den Schöpfer, im Kleinen nachzumachen, die Theile der gegenwärtigen Welt versetzen, vertauschen, verringern, vermehren, sich ein eignes Ganzes daraus machen, mit dem es seine eigenen Absichten verbindet.“ Aber nach dem Begriffe, den wir uns von dem Genie machen, sind wir berechtigt, in Allem, was sich der Dichter ausbildet oder sich schafft, Uebereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden.“ „Nichts muss sich in seinen Charakteren widersprechen, sie müssen immer gleichförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben. Sie dürfen sich jetzt stärker, jetzt schwächer äussern, nach dem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug ein können, sie von schwarz auf weiss zu ändern.“ Den Dichter entschuldigt nicht, dass die Wirklichkeit noch kläglichere Widersprüche zeige; denn diese seien eben darum keine Gegenstände der poetischen Nachahmung, es wäre denn, dass der Dichter ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen derselben zum Unterrichtenden, das wir erwarten, machte. -- „Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt, mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten, die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, dass auch wir uns mit dem ebenso geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen, aber absichtslosen Gebrauchs ihrer Mittel entspricht.“

Lessing will die Nachahmungen nur als Vorübungen, in grösseren Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmeren Theilnahme verwendet wissen, mit der Anlage und Ausführung des Ganzen muss der Dichter eine höhere Absicht verbinden, die dem Zwecke der Kunstgattung, sei es Tragödie, sei es Komödie, entspreche. †) -- Hiebei nimmt er Gelegenheit, auf den Unterschied zwischen der Erzählung,
____
*) Dram, W. VII, S. 32.
**) Ebend. S. 454.
***) S. Lessings Brief an einen Bruder Carl. W. XII, S. 421; des letzteren Antwort W. XIII. S. 519.
†) Ebend. S. 152-154.

____
10

welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Anschauung zu bringen, und dem Drama aufmerksam zu machen, wodurch das, was wir vorhin als eine falsche Auslegung der moralischen Tendenz in Plautus‘ Geschwistern bezeichneten, ausser Zweifel gesetzt wird. „Das Drama“, sagt hier Lessing *) macht auf eine einzige, bestimmmte, aus seiner Fabel fliessenden Lehre keinen Anspruch, es geht entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glücksveränderungen seiner Fabel anzufachen und zu unterhalten vermögend sind, oder auf das Vergnügen welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewährt; und beides erfordert eine gewisse Vollständigkeit der Handlung, ein gewisses, befriedigendes Ende, welches wir bei der moralischen Erzählung nicht vermissen.“ --

Von den allgemeinen Anforderungen an den dramatischen Dichter überhaupt wenden wir uns zu dem, was Lessing für jede der beiden Hauptarten des Dramas, die Tragödie und Komödie, als das Vorwaltende, Besondere und Unterscheidende ansieht, abgesehen von dem verschiedenen Zweck, dem beide zu entsprechen haben. Für die Tragödie, wissen wir, ist Aristoteles ihm Führer. Nichts empfiehlt dieser dem tragischen Dichter mehr als die gute Abfassung der Fabel. Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehn gerathen gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Aristoteles erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, und eine Handlung ist ihm eine Verknüpfung von Begebenheiten. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Theile des Ganzen, und sowie die Güte eines jeden Ganzen auf die Güte seiner einzelnen Theile und deren Verbindung beruht, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, je nach dem die Begebenheiten, aus welchen sie besteht, jede für sich und alle zusammen, den Absichten der Tragödie mehr oder weniger entsprechen. Nun führt Aristoteles die mannigfachen Verbindungen an, die unter den Theilen der Handlung stattfinden können,  wodurch Glückswechsel, Erkennungen, Leiden herbeigeführt werden können. Nur letzteres müsse jede Tragödie, sie mag einfach oder verwickelt sein, haben, um ihren Zweck: die erregung der Furcht und des Mitleids, zu erreichen. Wir wollen das lehrreiche Kapitel, das jedem Dichter eine reiche Fundgrube bietet, nicht verfolgen, sondern nur ein Resultat für die Kritik daraus ziehen, nämlich, dass die Situationen, nicht die Charaktere das Wesentliche der Tragödie sind, weil Mitleid und Schrecken aus jenen, nicht aus diesen entspringt; dass daher ähnliche Situationen ähnliche Tragödien geben, während bei der Aehnlichkeit der Charaktere sehr verschiedenartige Tragödien entstehen können. Dagegen sind in der Komödie die Charaktere das Hauptwerk und die Situation nur das mittel, jene sich äussern zu lassen und ins Spiel zu setzen. Will man also bestimmen, ob ein Lustspiel Original oder Copie sei, so muss man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen. Denn ähnliche Charaktere werden stets ähnliche Lustspiele geben, mag der Dichter sich noch so sehr bemühen, die Situationen oder die Intrigue seines Stückes zu ändern.

Nach dieser Unterscheidung beurtheilt Lessing Tragödien und Komödien, beweist z. B., dass Voltaire in seiner Merope ein Plagium an dem gleichnamigen Stücke des Maffei begangen, nicht, weil er denselben Stoff gewählt --- was die Alten wie die Neuern so oft thun -- sondern weil er eben dieselben Verwickelungen und dieselbe Lösung wie der Italienische Dichter gegeben habe. Dagegen rechtfertigt er Detouches gegen die französischen Kunstrichter, die wegen einer  Aehnlichkeit  der Situation dem Dichter in seinem „verheiratheten Philosophen“ eine Nachahmung des „Eifersüchtigen“ von Campistron vorwarfen. Er weist Diderots Vorschlag zurück, statt der Charaktere, die so bald erschöpft seien, ganze Stände in Lustspielen einzuführen, und führt eine Menge original-komischer Charakter an, die künftigen Lustspieldichtern eine reiche Erndte verspräche, wenn nur die rechten Schnitter sich daran wagten. Aber, geräth Lessing nicht mit sich selbst im Widerspruch, wenn er Harlekin wieder als stehende Figur, und zwar als Gattungscharakter eingeführt wissen wollte? -- Seine Rechtfertigung lautet *): „Seitdem die Neuberin sub auspiciis Sr. Magnificenz, des Herrn Professor Gottsched, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutschen Bühnen, denen daran gelegen war, regelmässig zu heissen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage geschienen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke, in welchen Harlekin
____
*) A. a. O. S. 158.
**) A. a. O. S. 80.

____
11

die Hauptperson war. Aber Harlekin hiess bei ihr Hänschen, und war ganz weiss, anstatt scheckicht, gekleidet. Wahrlich, ein grosser Triumph für den guten Geschmack! -- Die Neuberin ist todt, Gottsched ist auch todt: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an. -- Im Ernste, wenn er unter fremden Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? Er ist ein ausländisches Geschöpf, sagt man. Was thut das? Ich wollte, dass alle Narren unter uns Ausländer wären! -- Er trägt sich, wie sich kein Mensch unter uns trägt! -- So braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. -- Er ist widersinnig, das nämliche Individuum alle Tage in einem anderen Stücke erscheinen zu sehen! -- Man muss ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten. Es ist nicht Harlekin, der heute im „Timon“, morgen im „Falken“, übermorgen in den „falschen Vertraulichkeiten“, wie ein wahrer Hans in allen Gassen vorkömmt, sondern es sind Harlekine; die Gattung bildet tausend Varietäten. Der im Timon ist nicht der im Falken; jener lebte in Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei Hauptzüge hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir ekler, in unsern Vergnügungen wählerischer und gegen kahle Vernünfteleien nachgebender sein, als -- ich will nicht sagen die Franzosen und Italiener sind -- sondern als selbst die Römer und die Griechen waren? War ihr Parasit etwas Anderes als Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene besondere Tracht, in der er in einem Stücke über dem anderen vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit etwas Satyre eingeflochten werden musste, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stückes schicken oder nicht?“

Diese Vertheidigung des Harlekin ist mehr witzig als scharf gefolgert. Allerdings hatte Gottsched wenig geändert, wenn Name und Kleid allein geändert wurden. Dass Lessing ihn als Gattung im Lustspiele beibehalten will, scheint mehr aus seiner Opposition gegen Gottsched und einer Vorliebe für die Alten, deren Parasit im Harlekin fortlebte, hervorgegangen zu sein. Gottsched, um die verwahrloste deutsche Bühne zu heben, musste die ekelhaften Pickelherings- oder Harlekinsspässe von der Bühne entfernen. Freilich verstand er es nicht, statt des rohen Geschmacks einen feinern zu bilden. Darum bleibt aber doch die Verbannung jenes ein Verdienst, ein Anfang zum Bessern, den Lessing pflegen konnte und auch wirklich durch seine Lustspiele wie durch seine Theorie vom Lustspiele gepflegt hat. Aber diese seiner Theorie widerspricht er, wenn er einen Gattungscharakter unter einerlei Gestalt zu wiederholten malen, oder gar jedesmal eingeführt wissen wollte. Denn die Gattung, wie er selbst sagt, enthält Mannigfaltigkeit, dies erfordert auch mannigfaltige Gestalten. Wenn er sich in tausend Varietäten zeigt, muss auch seine äussere Erscheinung tausendfach verändert sein, ja sein Charakter jedesmal als ein andrer sich zeigen,  zumal wenn er die Hauptperson des Stückes spielt, damit „ähnliche Charakte ähnliche Kömödien“ geben. Wie Lope de Vega es als ein Zugeständniss gegen den Geschmack der Nation entschuldigt, in der Tragödie die lustige Person einzumischen, so waren die Satyre, die Parasite, der Harlekin der Italiener und Franzosen, Pottage bei den Engländern, Pickelhering oder Hanswurst bei den Deutschen ein Zugeständniss an den Volksgeschmack, den, einmal verbannt, die dramatischen Dichter nicht wieder aufkommen lassen sollten; es sei denn, dass ihn Einer als einen wirklichen Nationalcharakter auftreten liesse, der heilsame Lehren dem ganzen Volke gäbe, und so sich zum Ideale nationaler Lächerlichkeiten oder Fehler erhöbe, was dem Zwecke der Kunst, aber nicht der Befriedigung eines rohen Pöbelgeschmacks entspräche. Weder Pickelhering, noch Harlekin, noch Hanswurst, Bartel, Casperl, deutscher Michel sind würdige Repräsentanten der Nation. Die Gattung verlangt Abwechselung und widerstrebt der besondern Tracht, der ihn in jedem Stücke trotz der innern Verschiedenheit gleich bemerkbar macht.

Ein anderes ist es, dass jeder Charakter sowol im Lustspiel als im Trauerspiel zu einem allgemeinen sich gestalten solle; und dieses nachgewiesen zu haben, gehört zu Lessings lehrreichsten Untersuchungen. Da die komische Bühne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese Charaktere so allgemein wie möglich macht. Es muss aber diese Allgemeinheit sich nicht zu dem Begriff aller möglichen Wirkungen des Charakters, in abstacto betrachtet, ausdehnen, sondern nur auf die wirkliche Aeusserung seiner Kräfte, so wie sie von der Erfahrung gerechtfertigt werden, und im gemeinen Leben stattfinden können. Jede, auch die einfachste

____
12

Leidenschaft, hat ihre Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Leben und Wirkung ertheilen. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung verschiedener Leidenschaften, welche mit der herrschenden Leidenschaft zusammen den Charakter ausmachen, und diese Vermischung muss sich in jedem dramatischen Gemälde finden, weil das Drama das wirkliche Leben abbilden soll. Darum muss die Zeichnung der herrschenden Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit den andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende Charakter sich desto kräftiger ausdrücke. Shakespeare ist auch hierin ein vollkommenes Muster. In seinen Komödien drücken seine auch noch so kräftig gezeichneten Charaktere sich wie alle andern aus, und ihre herrschenden Eigenheiten und Leidenschaften legen sie nur gelegentlich, sowie die Umstände eine ungezwungene Aeusserung veranlassen, an den Tag. Dies kommt daher, dass er die Natur getreulich copirte, und ein Genie auf alles aufmerksam war, was ihm im Verlaufe des Stückes dienlich sein konnte. Dahingegen Nachahmung und geringere Fähigkeiten andere Dichter verleiten, ihre Absicht keinen Augenblick aus dem Gesichte zu lassen und mit der ängstlichsten Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in beständigem Spiele und ununterbrochener Thätigkeit zu erhalten.

Hierin haben schon Molière und vor ihm Plautus gefehlt. Statt der Abbildung eines geizigen Mannes haben sie eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenschaft des Geizes in allen nur denkbaren Zügen gegeben. *) In dieser Bedeutung ist ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem von dem, was man an mehreren oder allen Individuen der Gattung bemerkt hat, zusammengenommen erscheint, d. i. ein überladener Charakter. In richtiger Bedeutung heisst ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem von dem, was an mehreren oder allen Individuen bemerkt worden, ein gewisser Durchschnitt, eine mittlere Proportion angenommen wird, mit einem Worte: ein gewöhnlicher Charakter, nicht insofern der Charakter selbst, sondern nur der Grund, das Maass desselben gewöhnlich ist. **) Die Sache des Dichters ist es, die richtige Allgemeinheit des Charakters zu treffen. Die Kritik kann diese Schwierigkeit zeigen, aber keine bestimmten Regeln aufstellen, wonach das Richtige zu finden sei.  

Wenn Lessing auch für die Tragödie, die nach Aristoteles weder vollkommen gute noch vollkommen schlechte Personen, um Furcht und Mitleid zu erregen, haben darf, allgemeine Charaktere in der zweiten der angegebenen Bedeutungen für geeigneter als partikulare hält, so gründet er diese Ansicht auf den Satz, dass alle dramatische Poesie Wahrheit verlange. Wahrheit aber heisst hier: ein solcher Ausdruck, welcher der allgemeinen Natur gemäss ist, während Falschheit ein solcher ist, der sich zwar zu einem besondern Fall schickt, aber nicht mit der allgemeinen Natur übereinstimmt. Indem der Dichter von der Natur alles absondert, was allein das Individuum angeht und unterscheidet, überspringt sein Begriff alle die zwischen inne liegenden besonderen Gegenstände, und erhebt sich zu dem Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Darum nennt denn auch Aristoteles die Dichtkunst, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere Studium, denn die Poesie spricht mehr das Allgemeine, die  Geschichte das Einzelne das Einzelne aus. Wenn Sophocles auf den Vorwurf, dass es seinen Charakteren an Wahrheit fehle, die Antwort gab: er schildere die Menschen, wie sie sein sollten, Euripides, wie Sie wären, so heisst Ersteres richtig verstanden: die allgemein abstracte Idee des Geschlechts, nach welcher der dramatische Dichter seine Personen mehr als nach ihren individuellen Verschiedenheiten schildern müsse. Falsch wäre es, dabei an eine höhere moralische Vollkommenheit zu denken, wie sie der Mensch zu erreichen fähig sei; denn diese gerade stünde dem Individuum zu, aber nicht dem Geschlechte, und der Dichter, der so seine Person idealisirte, schildert mehr in der Manier des Euripides als des Sophocles.

Der Fehler, welcher in der Zeichnung tragischer Charaktere so häufig begangen wird, hat, wie bei den komischen, seinen Grund in der falschen Deutung von Nachahmung der Natur. Die Nachahmung der Natur in der Kunst erstreckt sich auf die ganze sichtbare Natur, nicht allein auf das Einzelne, auch nicht einmal auf das Schöne, das sowie das Hässliche nur ein kleiner Theil derselben ist. Wahrheit und Ausdruck sei ihr erstes Gesetz und wie die Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfert, so muss sie auch der Künstler der allgemeinen Bestimmung seiner Kunst unterordnen, und ihr nicht weiter
____
*) Vergl. übrigens, wie Lessing seinen Lieblingsdichter Plautus auch hier rechtfertigt. Werk VII. S. 390 ff.
**) Werk VII. S. 424.

____
13

nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. In Bezug auf die Nachahmung des Hässlichen genüge er soweit, dass er durch Wahrheit und Ausdruck das Hässlichste der Natur in ein Schönes der Kunst verwandle. Dies geschieht, indem er das Allgemeine in dem eben angegebenen Sinne an der rechten Stelle hervortreten lässt. Wir können es das Allgemein-Natürliche nennen.

Wenn die Recht hätten, welche von keiner Natur wiesen wollen, die man zu getreu nachahmen könne, oder die, welche die Verschönerung der Natur für eine Grille halten, so müsste die Nachahmung entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein, oder wenn sie es doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst Kunst zu sein aufhören. In der Natur -- das war die sehr richtige Ansicht Lessings -- ist Alles mit Allem verbunden, Alles durchkreuzt sich, Alles wechselt mit Allem, Alles verändert sich, Eines in das Andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Antheil nehmen zu lassen, mussten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat, das Vermögen abzusondern. Die Bestimmung der Kunst ist es, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixirung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder von der Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unseren Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab und gewährt uns diesen Gegenstand oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.

Auch der dramatische Dichter hat dies bei der Zeichnung menschlicher Charaktere richtig aufzufassen und eben so sehr vor der Nachahmung in's Einzelne, als vor der Ueberladung mit unverbundenen, widersprechenden Einzelheiten sich zu hüten. Wie selbsterfundene Stoffe leichter zu letzterem, werden historische zu ersterem Fehler verführen. Die grösste Gefahr liegt aber vielleicht darin, wenn die Geschichte selbst dem Dichter Charaktere darbietet, die wider das Maass des Allgemein-Natürlichen sich auflehnen und auf dieses zurückgeführt, nicht mehr ihre Individualität behaupten. Die ungewöhnlichen, ungemeinen Charaktere werden die schwierigste Aufgabe für den dramatischen Dichter sein. Dass ein Shakespeare auch sie durch Wahrheit und Ausdruck in Gebilde der Kunst zu verwandeln verstand, beweiset neben anderen sein Richard III. Doch würde ihn Shakespeare wol nicht zum Gegenstande eines einzelnen Drama's gewählt haben, wie Weisse es that. Er hatte ihm zum Abschluss einer Kette von Begebenheiten nöthig. Schon in diesem Zusammenhange mit früheren Stücken, die ein grosses dramatisches Ganzes bilden, verlangt Richard III. eine andere Beurtheilung, wie er sie als Held eines abgeschlossenen Dramas fnden muss. Wir bewundern den meisterhaften Abschluss des grossen Kampfes zwischen dem Hause Lancaster und York, rathen aber nicht einen Richard oder ihm ähnlichen Charakter zum Vorwurf einer Tragödie zu wählen. Er möchte auch hier für einen grösseren Dichter als Weisse noch unüberwindliche Schwierigkeiten haben. Doch freilich schweigt die Kritik, sobald ein Genie sie überwand. Für die, welche Shakespeare in irgend einer Weise nachzuahmen oder aus ihm zu entlehnen wagen, giebt Lessing sehr zu beherzigende Warnungen. Was man von dem Homer sagt, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das lässt sich vollkommen auch von Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedrückt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeare's. Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben sie zu stellen. -- Shakespeare will studirt, nicht geplündet sein. Haben wir Genie, so muss uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist; er sehe fleissig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projectirt, aber er borge nicht daraus.

Wer diesem Rathe Lessings folgt, kann wegen eines Plagiums ganz ruhig sein. Die Beurtheiler werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die, welche die Kunst verstehen, wissen, dass ein Goldkorn so künstlich kann getrieben werden, dass der Werth der Form den Werth der Materie weit übersteigt. Wir lernen Lessing in seinen eignen Stücken als den Künstler in Shakespeareschem Golde kennen.

Wie Lessing die Gegchichte von dem dramatischen Dichter benutzt wissen wollte, haben wir schon erfahren. Fassen wir hier seine Lehren noch einmal in Kürze zusammen. Im Allgemeinen meint er, sei

____
14

die Geschiclite für die Tragödie nichts als ein Repertorium von Namen; mit denen'wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der Geschichte mehrere Umstände zur Ausschmückung und Individualisirung seines Stoffes bequem, so brauche er sie. Nur dass man ihm hieraus ebenso wenig ein Verdienst als aus dem Gegentheil ein Verbrechen mache. Die poetische Freiheit dürfe nicht so weit gehen, eine Lucretia verbuhlt und einen Socrates galant zu schildern; überhaupt müssten die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein als die Facta, weil, wenn jene genau beobachtet würden, diese, insoweit sie eine Folge derselben, von selbst nicht viel anders ausfallen könnten; da hingegen einerlei Factum sich aus ganz verschiedenen Charakteren herleiten lasse. Auch liege das Lehrreiche nicht in den blossen Factis, sondern in der Erkenntnis, dass gewisse Charaktere unter gewissen Umständen solche Facta hervorzubringen pflegen und hervorbringen müssen. Deshalb sollte der Dichter, im Falle, dass er andere Charaktere als die historischen oder wol gar diesen entgegengesetzte wählt, sich auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Besonders allgemein bekannte Dinge dürfe der Dichter wol in's Licht stellen, lindern, mehr philosophisch als historisch motiviren, doch nicht so verändern, dass sie geradezu als ein Falsum, eine Usurpation fremder Namen erscheinen. Ueberall gehe indess die Poesie mehr auf das Allgemeine und die Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist: wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit sprechen und handeln werde. Das Besondere ist: was er gethan oder gelitten hat. Des Dichters Werk sei nicht zu erzählen, was geschehen, sondern zu zeigen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene, und was nach der Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit dabei möglich gewesen.

Wenn die Tragödie sich an historische Namen und Thatsachen halte, geschieht es, weil wir nicht möglich glauben, was nie geschehen, dahingegen, was geschehen, offenbar möglich sein muss, weil es sonst nicht geschehen wäre. Doch die Absicht der Tragödie erkannte schon Aristoteles als viel philosophischer als die Absicht der Geschichte, und es heisst sie von ihrer wahren Würde herabsetzen, wenn man sie einem blossen Panegyrikus berühmter Männer macht, oder den Nationalstolz zu nähren missbraucht. Schon der entkräftigt die Tragödie und erniedrigt sie zur Geschichte, welcher zur den oder jenen Menschen, nur den Caezar, nur den Cato nach allen den Eigenthümlichkeiten, die wir von ihnen wissen, vorstellen will, ohne zugleich zu zeigen, wie alle diese Eigenthümlichkeiten mit ihrem Charakter, als einem, der ihnen mit mehreren gemeinsam sein kann, zusammengehangen. Hieraus erhellt, dass die historischen Charaktere in der Tragödie allgemeiner aufzufassen sind, als sie die Geschichte bietet. Aber auch bestimmter und consequenter. Denn in der Geschichte befremden uns Widersprüche der Charaktere mit sich selber nicht; man kann sie für absichtliche Verstellung halten, weil wir in der Geschichte selten das Innerste des Herzens kennen lernen. Aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzuvertraut, als dass wir nicht gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetraut hätten, übereinstimmen oder nicht. -- Hiemit steht in Verbindung, was Lessing bei einer andern Gelegenheit ausspricht: „Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurückzuführen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschliessen, alles was geschicht, so geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen könne, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln.“

Wie auch historische oder fingirte Personen vom Dichter aufgefasst und dargestellt sein mögen, nichts beleidigt, meint Lessing, von Seiten der poetischen Charaktere mehr als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Werth oder Unwerth mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, dass sich dieser entweder selbst damit betrogen hat, oder uns damit betrügen will, indem er das Kleine auf Stelzen hebt, muthwilligen Thorheiten den Anstrich heitrer Weisheit giebt, oder gar Laster und Ungereimtheiten mit allen betrügerischen Reizen der Mode, des guten Tones, der feinen Lebensart der grossen Welt ausstaffirt. Je mehr unsre Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfährt unsre Ueberlegung.

____
15

Um hier alles das, was Lessing als lehrreiche Warnung den dramatischen Dichtern sagt; zusammenzustellen, wiederholen wir auch seinen Ausspruch, dass die Charaktere bloss verschieden, aber nicht contrastirt sein sollen, weil contrastirte Charaktere minder natürlich seien und den romantischen Anstrich vermehren, woran es den dramatischen Begebenheiten schon so selten fehlt. Die Natur, die Wirklichkeit, auf die man sich so gern beruft, thut darin dem dramatischen Dichter selten Vorschub. Für eine Gesellschaft im gemeinen Leben, die, den Contrast der Charaktere so abstechend zeigt, werden sich immer tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Wo aber auch immer die Wirklichkeit Gegensätze, sei's von Gemeinem und Erhabenem, sei's von Possierlichem und Ernsthaftem, oder Lustigem und Traurigem uns darbietet, üben wir das Vermögen abzusondern, und lassen die Aufmerksamkeit nach Gutdünken einmal auf dem Einen, ein andermal auf dem Andern verweilen. Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange läuft quer ein, so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Darum muss es uns ekeln, in der Kunst, die uns in ihrem Bereiche des Schönen der Absonderung zu überheben und die Fixirung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern hat, wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünschten. „Nur wenn ebendieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattirungen des Interessanten annimmt und eine nicht blos auf die andre folgt, sondern nothwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Frende, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, dass uns die Abstraction des einen oder des andern unmöglich fällt, nur alsdann verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiss aus dieser Unmöglichkeit selbst Vortheil zu ziehen.“ -- In der dramatischen verstand es keiner wie Shakespeare, diese Contraste der Wirklichkeit in der Kunst mit einander zu verbinden, und so die Gegensätze der Natur in eine Harmonie der Kunst zu verwandeln. In den spanischen Tragödien, wie in den sogenannten Tragikomödien, jener Missgeburt italienischer und spanischer Dichter des 16ten Jahrhunderts, und den Staatsactionen, die man vor Gottsched in Deutschland spielte, fehlte die Vermittelung. Lope de Vega musste die Zusammenstellung des Ernsthaſten und Lächerlichen in der Handlung wie in den Charakteren als etwas in dem Nationalgeschmacke, nicht in der Kunst Bedingtes beibehalten, und suchte nur, was er nicht ganz zu beseitigen vermochte, durch eine geniale Dichterkraft so erträglich als möglich zu machen. Und mit Recht, giebt Lessing dieser ungeheuern Verbindung des possenhaften Hanswurst mit dem feierlichen Ernst, dieser Vermischung des Komischesten und Tragischesten, durch die das spanische Theater so berüchtigt ist, den Vorzug vor der kalten Einförmigkeit, wodurch der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier und wie die Armseligkeiten mehr heissen, in vielen französischen und französirenden Stücken uns einschläfert.

Hier, wie so häufig in seiner Dramaturgie, kommt Lessing auf die Verwerfung dessen, was die Franzosen erfunden, gethan, wie sie in ihren Ansichten und Regeln geirrt. Er hat es unumwunden bekannt, dass er sie und gerade die gefeiertesten: Corneille, Racine und Voltaire sich ausgesucht, um seine Kritik an ihnen auszulassen. Besonders an letzterem übt er sein Spiel, man möchte sagen, zu übermüthig und muthwillig, wenn nicht des Mannes poetischer und kritischer Dünkel eine solche Behandlung verdiente. „Primus sapientiae gradus ast falsa intelligere“, schreibt Lessing, und fügt hinzu: „Ich wüsste keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen könnte, ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire; aber daher auch keinen, der uns die zweite zu ersteigen weniger behülflich sein könnte: Secundus vera cognoscere. Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, richtete seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst Jemanden, mit dem er streiten kann; so kommt er nach und nach in die Materie und das Uebrige fndet sich. Hiezu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die franzöaischen Scribenten vornehmlich gewählt und unter diesen besonders den Herrn von Voltaire.“ Nicht begnügt sich Lessing damit, Voltaire gegen die Engländer zu halten; er hält ihn auch gegen seines Gleichen, gegen Italiener, gegen Griechen; er beurtheilt ihn nicht nur als Dichter, auch als Kritiker, Historiker, als Charakter. Und von dem gefeierten Corneille wagt er dicht hinter dem Bekenntniss, dass er kein Dichter sei, den grossen Trumpf auszuspielen: „Man nenne mir das Stück des grossen Corneille, das ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette!“ Damit man diese Aeusserung nicht für Prahlerei nehme, fügt er hinzu: „Ich werde es zuverlässig besser

____
16

machen, und doch lange kein Corneille sein, und doch lange noch kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es zuverlässig besser machen, und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Ich werde nichts gethan haben, als was Jeder thun kann, der so fest an den Aristoteles glaubt wie ich.“ --

Was neben seiner Schärfe der Kritik Lessing so sehr auszeichnet, ist, wie's Gervinus sehr treffend bezeichnet, *) das feine Gefühl und Gemüth des Deutschen überall auftauchen zu sehen, das den Kannibalismus der französischen Theaterherren verabscheut mit Allen, die daran Gefallen finden können.

Aber gegen die Nation, deren Götzen er nur zu vernichten strebte, ist er auch gerecht. „Will ich denn eagen, dass kein Franzose fähig sei, ein wirklich tragisches Werk zu machen? Dass der volatile Geist der Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei? -- Ich würde mich schämen, wenn mir das nur eingekommen wäre. Deutschland hat sich noch durch keinen Bouhourt lächerlich gemacht. Und ich für mein Theil hätte nun gleich die wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr überzeugt, dass kein Volk in der Welt irgend eine Gabe des Geistes vorzüglich vor andern Völkern erhalten habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Engländer, der witzige Franzose. Aber wer hat denn die Theilung gemacht? Die Natur gowiss nicht, die Alles unter Alle gleich vertheilt. Es giebt ebenso viel witzige Engländer, als witzige Franzosen, und ebenso viele tiefsinnige Franzosen als tiefsinnige Engländer, der Brass von dem Volke aber ist keines von beiden.“ --

Welches Gewicht Lessing auf Diderot, besonders als Kunstrichter legte, haben wir schon öfters bemerkt. Hier noch in Bezug auf einen wesentlichen Punkt in Komödien wie in Tragödien, in welchem Lessing sich ganz an Diderot anschloss. Er verwirft wie dieser die Spannung, die Ueberraschung, wodurch so viele dramatische Dichter ihren Stücken einen besonderen Reiz zu geben glauben. Lessing wie Diderot geben beherzigenswerthe Winke für alle Zeiten über diesen Gegenstand. Ersterer nennt solche Ueberraschungen ein armseliges Vergnügen. „Was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen so viel er will; wir werden unser Theil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermuthet treffen muss, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja unser Antheil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehn haben.“ Diderot untersucht, was die Zuschauer der dargestellten Handlung gegenüber seien, und welche Rücksicht der Dichter auf sie zu nehmen habe. Sie sind nichts als Zeugen, von welchen die handelnden Personen nichts wissen. Diese lasse der Dichter den Knoten schürzen. Für diese sei Alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne dass sie es merken, der Auflösung immer näher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zuschauer den nämlichen Bewegungen schon auch nachgehen, sie schon auch empfinden müssen. Für den Zuschauer muss Alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person, er weiss Alles was vorgeht, Alles, was vorgegangen ist, und es giebt hundert Momente, wo der Dichter nichts Besseres thun kann, als ihm gerade voraussagen, was noch vorgehen soll. Für eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich ereignet, giebt es immer zehn und mehrere, wo das Interesse gerade das Gegentheil erfordert. -- Mögen die Personen alle einander nicht kennen, wenn Sie nur der Zuschauer alle kennt. -- „Warum haben Monologe eine so grosse Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschläge einer Person vertrauen und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfüllt.“ Wenn der Zustand der Personon unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessiren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für die Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat und es fühlt, dass Handlung und Reden ganz anders sein würden, wenn sich die Personen kennten.

Lessing findet diese richtigen Gedanken sowol durch die Stücke der alten Tragiker als durch die Lehren der alten Kunstrichter, eines Aristoteles, eines Horaz, bestätigt. Unter den ersteren war besonders Euripides seiner Sache so gewiss, dass er fast immer den Zuschauern das Ziel vorauszeigt, zu welchem er sie führen will. Nicht genug, dass er meistentheils Alles, was vor der Handlung des Stückes vorausgegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhörern geradezu erzählen lässt, um ihnen auf diese
____
*) National-Literatur, Thl. VI. S. 402.

____
17

Weise das Folgende vorständlich zu machen; er nimmt auch wohl öfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen müssen, dass er Alles weiss, und durch den er, nicht allein was geschehen ist, sondern auch Alles, was noch geschehen soll, uns kund thut. Er liess seine Zuhörer also ohne Bedenken von der bevorstehenden Handlung eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte, und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowol von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. -- Hieran darf nichts anstössig gefunden werden, als dass uns die nöthige Kenntniss des Vergangenen und des Zukünftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beigebracht wird; dass ein höheres Wesen, welches noch dazu an der Handlung keinen Antheil nimmt, dazu gebraucht wird, und dass dieses höhere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wendet, wodurch die dramatische Gattung mit der erzählenden vermischt wird.

„In den Lehrbüchern“, sagt Lessing, „sondere man die poetischen Gattungen so genau von einander ab als möglich; aber wenn ein Genie höherer Absichten wegen mehrere derselben in einem und demselben Werke zusammenfliessen lässt, so vergesse man das Lehrbuch und untersuche bloss, ob es diese höhern Absichten erreicht hat.“ Die weitere Rechtfertigung des Euripides lese man bei Lessing selber nach.

Es ist überhaupt auf ihn selber zu verweisen; denn es ist schwer bei Lessing eine Auswahl zu treffen, da jeder Satz seiner Schriften inhaltsreich und bedeutsam ist. Um neben den gewichtigen Lehren und Winken, die er den dramatischen Dichtern giebt, auch auf einige scheinbar unwesentliche und doch so treffliche Bemerkungen aufmerksam zu machen, will ich nur erwähnen, was er gelegentlich von dem Titel der Stücke sagt: „Ein Titel muss kein Küchenzettel sein. Je weniger er vom Inhalt verräth, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Altewn haben ihre Komödien selten andere als nichtsbedeutende gegeben.“ Bei Voltaire's Rodogüne zeigt er aber, dass wenn ein Titel auch nichtsbedeutend, er doch nicht ein verführerischer sein dürfe. Ein doppelter Titel sei Lustspielen zu gestatten, aber versteht sich, dass jeder etwas anderes sage, also nicht, wie in Hippels „Der Mann nach der Uhr oder der ordentliche Mann“, wo obendrein der erste ungefähr die Karrikatur von dem andern ist. -- Mancher Stümper habe zu einem schönen Titel eine schlechte Komödie gemacht, blos des schönen Titels wegen. -- Niemand lasse sich abhalten, einen schon dagewesenen Charaktertitel zu gebrauchen. Denn was für ein Eigenthumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, dass er seinen Titel davon hergenommen? „Aber, so wage es Einer einmal, und mache z. B. einen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem Molièrschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Copie heissen.“ So urtheilen Publikum und Kritikaster, dass die Sprache doch nicht für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüths auch unendliche Benennungen hat!

In ernsterer Weise erinnert Lessing, um das bürgerliche Trauerspiel gegen die hochtrabenden kalten Tragödien der Franzosen zu rechtfertigen, an Marmontels Ausspruch, dass man dem menschlichen Herzen Unrecht thue, die Natur verkenne, wenn man glaubt, dass sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und rühren.Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, der Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: „Diese sind pathetischer als Alles, diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den eine Gefälligkeit gegen unwürdigige Freunde das verführerische Beispiel ins Spiel verstrickt, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzt, von Schaam und Reue zerrissen. Oder wenn man fragt: wer ist der? Er war ein  und zu seiner Marter Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äussersten Noth, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thränen geben. Und wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet, wenn er, nachdem er's gethan, erfährt, dass der Himmel ihn noch retten wolle; was fehlt diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, um der Tragödie würdig zu sein? Das Wunderbare! Wie? findet sich denn nicht genugsam dieses Wunderbaren in dem plötzlichen Übergange von der Ehre zur Schande, von Unschuld zum Verbrechen, von der süssesten Ruhe zur Verzweiflung? Kurz, in dem äussersten Unglücke, in das eine blosse Schwachheit gestürzt?“ --

____
18

Allen Theaterdirektionen wäre noch immer das Kapitel in der Dramaturgie über die Symphonieen vor, zwischen und nach dem Stücke zu empfehlen. *) Da das Orchester bei uns gewissermaassen die Stelle der alten Chöre vertritt, so muss die Musik der Zwischenakte mit dem Inhalte des Stückes möglichst übereinstimmen, sich darauf beziehen. Welchen Zuwachs unser Vergnügen, unser Interesse, unsere Illusion dadurch erhält, begreift Jeder von selbst. --

Ueber die „Illusion“ giebt Lessing auch den Dichtern einen Wink. „Der tragische Dichter sollte Alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg.“ -- „Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, seiner Vorstellung eine andre entgegen zu setzen, denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Täuschung nicht, den unser Mitleid erfordert.“

Eine andre Warnung, die noch heute die Bedeutung hat, wie damals, giebt Lessing den tragischen Dichtern: nicht Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr nachzujagen, wie z. B. wenn Aegisth in Maffei's „Merope“ seinen Kampf mit dem Räuber mit den allerkleinsten Phänomenen ausmalt, die den Fall eines schweren Körpers in's Wasser begleiten, wie er hineinschiesst, mit welchem Geräusch er das Wasger zertheilt, das hoch in die Luft spritzt, und wie sich die Fluth wieder über ihm zuschliesst u. s. w. Wer fände dergleichen nicht noch in zahllosen neuern Stücken, zumal unsrer süddeutschen Dramatiker, die durch allen Reiz der Diction und Klingklang der Reime diese Ungereimtheit nicht bessern. Ausführliche Gleichnisse wird der epische Dichter mit bester Wirkung gebrauchen, der tragische aber ihnen schwerlich eine schickliche Stelle einräumen dürfen.

Gelegentlich spricht Lessing auch von dem Humor, diesem Symptom der Krankhaftigkeit des modernen Lebens, der modernen Sehnsucht und Wehmuth, die A. W. Schlegel „das Muttermal aller Poesie der Neuern“ nennt. Den Alten war der sentimentale Humor im Leben wie in der Poesie fremd, und höchstens liesse er sich bei den Rednern und Geschichtsschreibern nachweisen, „wenn die historische Wahrheit oder die Aufklärung eines gewissen Facti diese genaue Schilderung: ϰαϑ έϰαστον erfordert.“ Ein Anflug von Humor kam vielleicht auch schon dem Aristophanes an, da er aus einem entsittlichten, entnervten Zeitalter auf die vergangene Grösse des Hellenenthums zurückblickte. Denn in einer solchen Zeit gerade erwacht im Leben wie in der Poesie der Humor, wie sehr auch auf der andern Seite in ihm eine gesunde Reaction und ein Lebensdrang der Freiheit sich Luft macht. Jean Paul, unser grosse deutsche Humorist, in seiner Vorschule der Aesthetik nennt ihn das umgekehrt Erhabene, und dies besteht in nichts Anderem, als in dem mit allem Endlichen spielenden Geistesübermuth einer Gesinnung, die sich tief im Unendlichen heimisch zu machen und zu sichern strebt. **) Die ersten grossen Schöpfer des poetischen Humors waren Shakespeare und Cervantes. Selbst in Shakespeare, bei aller gesunden Kraft seiner Poesie, tritt die humoristisch-ironische Weltanschauung oft mit jenem krankhaften Anfluge dazwischen, den seine Narren oft durch die Wehmuth verrathen, mit welcher sie ihre humoristische Kappe tragen. Cervantes hat diese Stimmung, die aus dem Weh und den Widersprüchen der Zeit so lustig heraustönt, im Don Quixote zu einer Gestalt ausgeprägt, welche den Welthumor selbst persiflirt. Erst nach Lessing trat auch in Deutschland mit den Nachahmungen Shakespeare's der Humor als ein vielgebrauchtes und oft missbrauchtes Element der dramatischen Poesie auf. Der Hamburger Dramaturg, der in vielen englischen nachshakespeare'schen Stücken den Missbrauch oder den zu häufigen Gebrauch des Humors rügte, will nur den affectirten, nicht den wahren Humor zum Gegenstande der Komödie gemacht wissen. „Denn“, sagt er, „nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen, ist eine allgemein menschliche Schwachheit, die nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie wählt, sehr lächerlich oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber, wodurch die Natur selbst oder eine anhaltende, zur Natur gewordene Gewohnheit einen einzelnen Menschen vor allen andern auszeichnet, ist viel zu speciell, als dass es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht des Drama's vertragen könnte. Lessing selbst hat sich des Humors in seinen dramatischen Werken nicht bedient, es sei denn, dass man den Derwisch im „Nathan“ eine humoristische Figur nennen wolle. Dagegen ist in seiner Prosa und Poesie
____
*) S. W. VII. S. 115.
**) Vergl. Mundt, Aesthetik S. 137.

____
19

die Ironie die mächtige Handhabe seiner consequenten Schlussfolgerungen, womit er seine Schlachtopfer in den Netzen des Widerspruchs fängt. In der Dramaturgie schwingt er sie als vernichtende Geissel über die Corneille, Racine und Voltaire. --

Ein anderes, vom Humor ehr verschiedenartiges Element ist es noch, was Lessing aus der Komödie verbannt wissen wollte -- die Ohrfeigen, die er in den Lustspielen seiner Zeit oft als die einzigen schlagenden Witze vorfand. „Was für Folgen können sie in der Komödie haben? Traurige? die sind über ihrer Sphäre. Lächerliche? die sind unter ihrer und gehören dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Mühe, sie geben zu lassen. Wer sie giebt, wird nichts als pöbelhafte Hitze, wer sie bekömmt, nichts als knechtischen Kleinmuth verrathen.“ -- Dagegen weist er aus den Beispielen im „Cid“ und „Graf Essex“ die höchst tragische und durchaus künstlerische Wirkung empfangener Ohrfeigen nach. Kurz, diese weist er den beiden Extremen, der Tragödie und dem Possenspiele zu, die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, über die wir entweder spotten oder zittern wollen. -- Die Prätension des Schauspielers, dem Dichter untersagen zu wollen, was ihm unbequem oder unangenehm ist, weist Lessing entschieden zurück. „Kein Schauspieler kann roth werden, wenn er will, aber gleichwol darf es ihm der Dichter vorschreiben, gleichwol darf er den einen sagen lassen, dass er es den andren werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins Gesicht schlagen lassen, er glaubt, es mache ihn verächtlich; es verwirrt ihn, es schmerzt ihn. Recht gut! Wenn er es in seiner Kunst noch nicht so weit gebracht hat, dass ihm so etwas nicht verwirrt; wenn er seine Kunst so sehr nicht liebt, dass er sich ihr zum Besten eine kleine Kränkung will gefallen lassen, so suche er über die Stelle so gut als möglich wegzukommen; er weiche dem Schlage aus, er halte die Hand vor, nur verlange er nicht, dass sich der Dichter seinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Personen wegen macht, die er ihn vorstellen lässt.“ --

Der feinen gelegentlichen Bemerkungen bei Lessing sind zu viele, um sie alle anführen zu können. Noch einen Punkt müssen wir um seiner eignen Dramen wegen ins Auge fassen. Er betrifft die äussere Form, die Diction, den Vers. Letzteren hat Lessing, ausser mehreren Fragmenten, nur in einem seiner vollendeten Werke, im Nathan, gebraucht. Keinesweges wollte er ihn aus der dramatischen Poesie, etwa um dem natürlichen Ausdruck näher zu kommen, verbannt wissen. Er theilte nicht die seichten Gründe eines Freundes Mylius, dass es ungereimt sei, wenn Personen auf der Bühne in Sylbenmassen sprächen, da doch im gemeinen Leben dergleichen Personen, auch wenn es Könige und Kaiser wären, so nicht redeten. Vielmehr trat Lessing einem französischen Kunstrichter, der den Vers einen kindischen Zwang nannte, entgegen und hielt ihm in der deutschen Sprache zur Versinnlichlichung des Ausdrucks so geeignet wie in der griechischen, die durch den blossen Rythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrückt werden, anzudeuten vermöge. Er empfahl nicht, wie Mylius, den Uebersetzern ausländischer versificirter Stücke nur die Prosa; er meinte sogar in den Prosaübersetzungen englischer Dichter erinnere der Gebrauch kühner Tropen und Figuren ohne eine gebundene cadencirte Wortfügung an Besoffene, die ohne Musik tanzen. Gleichwol zog er eine körnichte, wohlklingende Prosa den matten geradebrechten Versen, wie sie die Uebersetzer französischer Stücke brachten, vor und empfahl selbst Wieland‘s prosaische Uebersetzung des Shakespeare als einen gelungenen Versuch uns mit dem grosen brittischen Dramatiker bekannt gemacht zu haben. Er tadelt es mit Diderot, die prächtige Versification der Alten, die sich nur für weitläufige Bühnen, nur für eine in Noten gesetzte, mit Instrumenten begleitete Declamation schicke, beibehalten zu wollen, und fügt noch als neuen Grund hinzu, dass die Personen der Alten sich auf einem freien öffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks unterhalten; sie können sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den ersten besten Worten entladen, sie müssen sie abmessen und wählen. „Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsre Personen grösstentheils zwischen ihren vier Wänden lassen, was können wir für Ursache haben, sie demohngeachtet eine so geziemende, so ausgezuchte, so rhetorische Sprache führen zu lassen? Sie hört Niemand als dem sie es erlauben wollen zu hören, mit ihnen spricht Niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affecte sind und weder Lust noch Musse haben, Ausdrücke zu controlliren.“ Lessing verwirft daher jede gesuchte, kostbare, schwülstige Sprache, weil sie niemals Empfindung zeige und keine

____
20

hervorbringe. „Nichts“ ist züchtiger und anständiger als die simple Natur. Grobkeit und Wust ist ebenso weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast vom Erhabenen.“

Was Lessing hier als Kritiker gesagt, hat er als dramatischer Schriftsteller ausgeübt. Für einen Dichter gab er sich selber nicht aus. Wir dürfen von ihm nicht fordern, was er nicht sein wollte. Sind doch der Vorzüge und grossen Eigenschaften genug in ihm, so, dass mehr, zu begehren unbillig wäre; und gleichwol, sehen wir seine Dramen auch durch poetischen Gehalt, wenn auch nicht in ganzer poetischer oder metrischer Vollendung der Gestalt Alles überragen, was bis zu einem Tode von andren dramatischen Dichtern – nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen Welt -- geschaffen worden ist.



Quelle:
Programm des Königlichen Gymnasiums zu Hohenstein in Ostpreussen 1871.
Dr. Eduard Gervais: Lessings Kritik über die dramatische Poesie

Der Aufsatz wurde durch die Universitäts- und Landesbibliothek der Heinrich Heine Universität Düsseldorf eingescannt und ist dort unter folgenden Links zugänglich:
http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1-217274
http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical/pageview/5011979




v. Sivers 1855: Deutsche Dichter in Rußland. Studien zur Literaturgeschichte

. . .

 

 

 

An Fräulein Henriette Solmar in Berlin.

 

So abgeschieden mein jetziger Aufenthalt von den Kreisen westeuropäischen Geisteslebens erscheinen mag, so wenig stehe ich außer Verbindung mit jenen entfernten Zirkeln, so wenig finde ich mich abgeschlossen von den Vorzügen höher gebildeten Umganges, so wenig entbehre ich die Genüsse, welche Kunst und Literatur zu bieten vermögen. Brieflicher Verkehr mit entfernten Freunden nähert mich den Abwesenden, nachbarlicher Umgang mit der geistreichen Frau von Bock, welche hierher aus dem Getümmel der bewundernden Welt sich zurückgezogen, verschafft mir den seltensten Kunstgenuß; und die Muße ländlichen Lebens gewährt Stimmung und Raum für literarische Studien, Unterhaltung und Thätigkeit.

 

Gestatten Sie, mein Fräulein, daß ich in dankbarer Erinnerung jener Stunden, die ich bei Ihnen im Kreise geistig angeregter Männer und Frauen zubrachte, die Früchte meiner Einsamkeit — einen Beitrag zur Geschichte der Literatur ımd Bildung, überreiche, wie er sich mir aus den Beziehungen des deutschen Volkes zum russischen Kaiserreiche gestaltet hat. — Von ausgezeichneten Persönlichkeiten, zu denen ich in Ihrem Hause in dauernde nähere Beziehung trat, bleibe die Varnhagen von Ense’s für alle Zeit als die liebste

 

____

VI

 

und bedeutsamste unvergeßlich. Seine Art der Auffassung und Mittheilung machte auch bei mündlichen Verkehr in bekannter Weise sich geltend. Unter dem Gehen und Kommen mannigfaltiger Gäste aus Heimath und Fremde schweift eifriges Gespräch über die geselligen politischen, wissenschaftlichen literarischen Ereignisse des Tages und vertieft sich in die Ergebnisse der Vergangenheit, um als endlichen Gewinnst allgemein menschliche Resultate aus den Einzelfällen und Persönlichkeiten empor zu heben.

 

Während des Streites, welcher gegenwärtig zwischen dem überreifen Westen und dem erst nach Ausbildung strebenden Osten Europa’s sich erhoben, mag es demjenigen, welcher trotz der politischen Parteiungen unbefangen gemeinsam-humane Beziehungen im Auge behielt, doppelt interessant erscheinen, die Spuren der Bildung in Rußland vom frühesten Anfange bis auf die Gegenwart zu verfolgen.

 

Nachstehende Blätter, welche als eines Mittels hierzu insbesondere der deutschen Dichtung sich bedienen, geben sich weder für vollständig, noch für vollendet; wollen aber diejenige Nachsicht beanspruchen, welche allen Geistes-Erzeugnissen zugestanden werden darf, die unter dem Einflusse eigenthümlicher, nicht zu beseitigender Verhältnisse ihren Ursprung nehmen.

 

Zu bleibend freundlichem Andenken
empfiehlt sich
Jegór Sivers.

 

Planhof
bei Wolmar in Livland,
am 16/28 Septbr. 1854.

 

____

 

Geschichtliche Einleitung.

 

Versuchen wir die Entwickelung der deutschen schönen Literatur in ihren Einzelerscheinungen, so weit Rußland und insbesondere seine Ostseeprovinzen sich betheiligten, von den ersten Anfängen bis auf die Gegenwart zu verfolgen, so werden wir diese, wie jede Geschichte der Schriftwelt, nur in ihrem Zusammenhange mit der — Geschichte der Gesellschaft und ihrer Bildung — und in Verbindung mit der Staatengeschichte verstehen, namentlich die Vorgänge in Liv-, Est- und Kurland nur im Zusammenhange mit den Ereignissen in Rußland und in Deutschland würdigen können.

 

Rußland, anfänglich durch den Verkehr mit dem griechischen Kaiserthume gefördert, später durch die 240 jährige Mongolenherrschaft im Fortschritte aufgehalten, lernte erst von den Norddeutschen durch ihre Entdeckung Livlands den Weg kennen, auf dem der Segen westeuropäischer Kultur ihm zugeführt werden sollte. — Die Ostseeprovinzen, denen die Mittlerrolle sich darbot, sind seitdem, neben ihrer staatlichen und natürlichen (geographischen) Abhängigkeit vom russischen Festlandgebiete, in stetem geistigem Wechselverkehr mit dem deutschen Mutterlande geblieben, wie noch heute nach 300jährigem Ausscheiden aus den politischen

 

 

____

XX

 

Banden, die es an Deutschland knüpften, und nach 150jähriger Vereinigung mit dem russischen Kaiserthume, dessen Schutz ihm zu Theil ward, das geistige Leben in Liv-, Est- und Kurland blut- und wahlverwandt ist mit dem im Deutschland. Versorgt uns Rußland als Amme mit leiblicher Speise, bleibt doch allezeit Deutschland die Mutter, die uns mit geistiger Nahrung erzieht. —

 

Die deutsche Dichtersprache hatte bereits die ersten rohen Anfänge, deren Ammianus Marcellinus, Tacitus, Diodor, Strabo und Vegetius erwähnen, durch Ulfilas Bibelwerk überwunden; Chlodwig’s vereinigende Herrschaft hatte in der fränkischen Mundart zuerst den Grund literarischer Volksbildung gelegt, welcher durch Karl des Großen Bemühungen sich vertiefte und befestigte; Deutschland hatte unter den Königen des sächsischen Hauses einer friedlicheren Entwickelung sich zugewandt; Ottfried’s Evangelienharmonie, das Hildebrandt- und Ludwigslied waren aufgetaucht, das Zeitalter der Minnesänger war angebrochen; während eines 300jährigen Zeitraums hatte die Sprache an Weichheit gewonnen, und unter den schwäbischen Kaisern, aus dem Stamme der Hohenstaufen, war der fränkische Dialekt nach und nach in den bildsameren, formreicheren allemannischen übergegangen, der nun als Hof- und Büchersprache sich geltend machte: da endlich fügten sich die Ostseegebiete, von den Deutschen mit Feuer und Schwert und durch das Christenthum unterworfen, als äußerste Ringe der Kette an, die für alle Zeit den Ruhm des deutschen Namens an sich fesseln, und wie durch elektro-magnetische Strömung heil- und fruchtbringend weiter und weiter ausströmen sollte. —

 

Hatte in der Urzeit Orpheus die wilden Bewohner Griechenlands durch seine Laute gezähmt, so bändigte and in Livland das Lied die heidnischen Esten und Letten. Als nämlich um die Wende des XII. und XIII. Jahrhunderts bei Berennung der Feste Beverin

 

____

XXI

 

durch das übermächtige Heidenheer die geringe Schaar der Christen vom Kampfe ermüdet und verwundet an Rettung schon verzweifelte, stimmte ein frommer sanggeübter Mönch auf dem Walle zur Harfe ein Lied an, daß die Barbaren erstaunt aufhorchten, bald aber in Entzücken hingerissen wurden. Sie ließen vom Sturme ab, die Belagerung ward aufgehoben und viele Heiden nahmen die Taufe an. So mächtig wirkte die Kraft des Liedes.

 

Fir die Verpflanzung dramatischer Dichtung und des Bühnenspiels dürfen wir eine noch ältere Jahreszahl aufweisen. Bald nach den ersten Besuchen, welche deutsche Kaufleute in Livland abgestattet hatten, war die mitgebrachte katholische, stets praktische Geistlichkeit bemüht, durch alle nur erdenklichen Mittel die Seelen der Heiden aus der Finsterniß zu retten und wußte auf sinnreiche Weise bei den Ungläubigen das Interesse für christliche Religion zu wecken. Mit vielem ritterlichen Pompe wurden biblische Scenen, dramatisch zugestutzt, vor den versammelten Heiden aufgeführt. Der Ursprung jener Festdramen oder Mysterien, weil man in ihnen die Geheimmisse der Religion veranschaulichte, wird der frühesten christlichen Kirche zugeschrieben. 1) Mit dem Christenthume nach Deutschland und aus

____

1) Wie auch bei den Indern und Griechen das Schauspiel in seinen frühesten Anfängen aus den mit Tanz verbundenen Gesängen zur Feier großer Götterfeste hervorging. Wir besitzen noch im Gîtagovinda aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert n. Chr. einen solchen dramatischen Festzug. Später trat an die Stelle des Gesanges Declamation, oder beide wechselten wie in der modernen Oper ab. In Indien werden noch heute improvisirte Darstellungen aus dem Leben Vischnu’s oder Rama’s ausgeführt, die an unsere mittelalterlichen Mysterien oder deren Travestie, die Fastnachtspiele, erinnern.

 

____

XXII

 

Deutschland nach Livland, von hier und aus Konstantinopel nach Rußland verpflanzt, hatten sie schon im zwölften Jahrhundert glanzvolle Vervollkommnung und weite Ausbreitung erfahren. Diese Schauspiele wurden von den Geistlichen gedichtet, die auch die Rollen der heiligen Personen, wie Gott-Vater, Jesus, die Jünger und andere ähnliche, spielten, während das übrige oft bis auf mehre Hunderte steigende Personal der Gemeinde zur Darstellung überlassen blieb. Diese heiligen Spiele verfielen während ber Reformationsunruhen, wurden aber in neuer prachtvollerer Gestalt in den Jesuiten-Schulen ımd Stiften (vergl. S. 93 Ignazius Feßlers Lebensskizze) ausgefrischt. Die von den Städtern bald vergessenen Mysterien lebten indeß bei den einfältig-frommen Landleuten in den friedlichen Hochgebirgthälern der Schweiz, Tirols, Steiermarks, Salzburgs, Oberbaierns und Schwabens bis zum Schlusse des vorigen Jahrhunderts fort, und sind erst in dem unsrigen fast gänzlich ausgestorben. (Zu Mittenwalden, in Oberammergau, wird nach August Lewald’s und Eduard Devrient’s Mittheilung noch heute das Passionsdrama alle zehn Jahre einmal ausgeführt.)

 

Ein solches Spiel war es, das Ritter und Geistliche zu Riga vor dem staunenden Heidenvolke aufführten. Unähnlich dem modernen Theaterpublikum, dem das nil admirari zur Regel geworden ist, ergriffen die versammelten leichtgetäuschten Zuschauer die Flucht, als die von Simson’s Eselskinnbacken getroffenen Philister todt zur Boden stürzten.

 

Solcher Art waren die frühesten Anfänge der Dicht- und Schauspielkunst in Livland. —

 

Für den damals nahen Zusammenhang der Ostseegebiete mit Deutschland zeugt unter anderen die livländische Reimchronik Ditlep von Alnpekes (1246; in Versen nach dem altdeutschen Original übersetzt durch Eduard Meyer. Reval 1848), die ein echt deutsches Denkmal der Minnedichtung aus ihrer Blüthezeit in

 

____

XXIII

 

Est- oder Livland verfaßt wurde. Den Berührungen des Christenthums mit dem Orient, den Europa als ein Wunderland anstaunte, entsproß die eigenthümliche romantisch-chevalereske Gesangsweise, welche sonderlich zur Zeit der Hohenstaufen in Hartmann von der Aue, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide ihre namhaftesten deutschen Vertreter fand. Wie der enropäische Süden gegen den Orient, wandte sich der deutsche Norden ostwärts, die Götzendiener an den Küsten der Ostsee für das Heil des Kreuzes mit dem Schwerte zu werben. Auch hier wetteiferten die Kreuzfahrer an Muth in gefahrvollen Abentheuern, und die Heldenthaten der Schwertritter und der deutschen Ordensbrüder dürfen sich keck an die Seite der Wunder stellen, welche Johanniter und Templer im heiligen Lande vollbrachten.

 

Die christlich-poetisch-romantische Zeit der Kreuzzüge hatte ihrer Endschaft sich zugeneigt und bald erfüllten weltliche Interessen, praktische Richtungen die Gemüther. Die Welt ergab sich der Wohlfahrt und Pracht, wozu die in der Fremde erbeuteten Reichthümer, der ausländische Luxus Anstoß gaben, vernachlässigte aber mehr und mehr die edleren poetischen Vergnügungen. Dennoch finden sich aus späterer Zeit, vermuthlich aus dem vierzehnten Jahrhunderte, auch in Livland Zeugnisse der noch fortlebenden Minnedichtung, wie die im Revaler Rathsarchive neuerdings entdeckten Minnelieder in niederdeutscher Mundart beweisen.

 

Den Ritterorden gegenüber erhoben sich freie Städte mit ihrer Kultur amd schlossen Schutz- und Trutzbündnisse, um in gemeinsam geschütztem Verkehre der Mehrung und des Genusses ihrer Reichthümer sich zu erfreuen. Im Jahre 1241 schlossen Hamburg und Lübeck den ersten Hansebund, dem 1300 schon sechzig Städte, unter denen Riga eine der bedeutendsten, beigetreten waren. Faktoreien wurden in allen Richtungen des

 

____

XXIV

 

Handels, so in Brügge, London, Bergen, Novgorod angelegt. Der Bund befehligte über See- und Land-Kriegsmächte und gab im ganzen Norden den Ausschlag. — Der Curverein von Rense (1338) und die goldene Bulle (1356), welche die obersten Gewalten der Fürsten regelten und feststellten, veranlaßten den reichsfreien Adel und die Städte in Bündnisse zu treten, um auch ihre Rechte gegen Uebergriffe zu schützen. Dem schwäbischen Städtebunde gegenüber bildeten sich die Raubschlösser des Adels. Das zügellose Leben, welches von den Rittern in der Tyrannei ihres Faustrechts geführt wurde, fand auch in Livland Anklang. Zahllose Greuel, wie die lüderliche Wirthschaft der von Tödwen und Tiefenhausen auf Schloß Ringen und Randen, von denen ein altes Ringensches Kirchenbuch erzählt, empörte die Gemüther. Die von den livländisch-deutschen Chronisten Rüssov und Kelch erwähnten Buhlenlieder, welche bei festlichen Gelegenheiten nach der Mahlzeit unter den jüngeren Leuten gesungen wurden, gehören dieser Zeit an, und „wer die besten Buhlenlieder quinkiliren konnte, der wurde vor Anderen lieb und werth gehalten, wie denn zu dieser Zeit die Buhlenlieder aus aller Welt nach Livland geflogen waren, weil Jedermann, Jung und Alt, sich derselben gewaltig befleißigte.” (Kelch’s Chronik 203.)

 

Durch die atlantischen Entdedungen des Infanten Heinrich, des Bartholomäus Diaz, Vasco de Gama, Columbus, Cortez und Pizarro betraten Portugal, Spanien, Holland und England der Reihe nach neue Entwickelungsstufen. Auf Deutschland, das sich höchstens in einigen bevorzugten Individuen an den Vorgängen in der neuen Welt und zwar durch die erste bedeutendere Einfuhr schwarzer Sklaven aus Afrika betheiligte, 1) scheinen die Wunder jener fernen Welttheile

____

1) Zur Brandmarkung mögen hier die Namen jener deutschen Skavenhändler stehen: „Kuntzmann und Becks“. (Vgl. La Havane par la Comtesse Merlin, II. 134 und Ramon de la Sagra hist. phys. polit. Y natural de la Isla de Cuba. Apdx. No. LXXXIX. u. Folg.

 

____

XXV

 

für's erste seinen unmittelbaren Einfluß ausgeübt zu haben. „Der Reineke Fuchs,“ die dramatischen Versuche eines Rosenplüt, eines Theodor Schernberg, der komische Roman „Till Eulenspiegel,“ die jener Zeit ihren Ursprung verdanken, verrathen keinen Zusammenhang mit dem Leben im weitauschauenden Westeuropa. Für Deutschland sollte diese Stunde erst später hereinbrechen, da es den transatlantischen Ländergebieten sein Interesse zuwendete.

 

Durch den nun erst sich gestaltenden Welthandel, durch die neubelebte Erdkunde und Naturgeschichte machte sich der Einfluß der neuen Erdtheile auf die gesammte europäische Welt nach und nach geltend. — Durch die Erfindung des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst, deren Deutschland sich rühmt, wie durch das Eindringen der Türken auf europäischen Boden waren im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts das staatliche und kirchliche Leben in lebhafteren Umschwung gebracht. Der Untergang des Feudalwesens, in dessen Stelle die Königsmacht sich bestimmter ausbildete, und der Sturz der Kirchenherrschaft charakterisiren diesen Zeitraum. Statt des verarmten Adels und der entsitteten Geistlichkeit machte sich der durch belebteren Handel emporgekommene Mittelstand immer mehr geltend. Die Interessen des Handels, der Wissenschaften und der Künste waren dem Frieden und dem Wechselverkehre der Völker zugewandt. Albrecht Dürer, Peter Vischer, Veit Stoß, Adam Kraft erwarben bedeutenden Ruf und hinterließen würdige Denktmale ihrer Kunst. — Während nun Portugal und Spanien durch Entdeckungen und Eroberungen den Ruhm und die

 

____

XXVI

 

Macht Italiens allmählig zurückdrängten, während England von den Kämpfen der rothen und der weißen Rose sich erholte, Frankreich mit dem Einziehen der letzten Lehne sich beschäftigte, Deutschland, in zahllose kleine Herrschaften getheilt, die Niederlande an seinen Grenzen aufblühen sah, Schweden mit Norwegen und Dänemark vereint die Folgen seiner Kriege zur tragen hatte, Polen trotz seiner ausgedehnten Grenzen machtlos duch die Widersprüche der königlichen und adelichen Gewalt daniederlag: bildete sich unweit der deutschen Ostseestaaten und ihrer Ostgrenzen Rußland allmählig aus dem Embryo heraus.

 

Schon zu Anfange des dreizehnten Jahrhunderts hatten deutsche Kaufleute den Handelsweg nach Novgorod, das der Mongolenherrschaft nach Kräften sich entzog, eröffnet, und als um 1477 auch das übrige Rußland von dem Fremdenjoche durch Iwan I. Wassiliewitsch befreit worden war, berief diejer, wie später Iwan II. der Grausame, zum Bau von Moskau und zur Verbreitung abendländischer Cultur ausländische, vornehmlich deutsche Baumeister, Handwerker, Manufakturisten, Künstler und Gelehrte, wodurch der erste Schritt deutscher Civilisation im das Herz Rußlands gethan war. — Livland, das unter seinem Herrmeister Walther von Plettenberg das junge Rußland siegreich überwältigt (1502) und zu einem funfzigjährigen Frieden gezwungen hatte, ohne jedoch auf die Dauer sich seiner erwehren zur können, sah in ihm einen gefährlichen Nachbar aufwachsen. Während des dauernden Friedens nahm der Wohlstand an der Ostsee zu, und an die Stelle der bald verlernten Kriegskünste traten Schwelgerei und Verweichlichung. — Die Uneinigkeit im Lande unter der weltlichen und geistlichen Macht, zwischen Ritter und Bürger wuchs von Jahr zu Jahr. — Das Ansehen der unfehlbaren Päpste und ihrer Geistlichkeit sank, als die Welt Augenzeugin ihrer ausschweifenden Lebensweise und der gegenseitigen

 

____

XXVII

 

Bannflüche wurde. Die Rache des vom Klerus einst gezähmten Volkes gab sich auf empfindliche Weise kund, wie die Spottlieder jener Zeit ausweisen. Ein mißliebiger Erzbischos Riga’s wurde, rücklings auf einem Esel reitend, den Schweif als Zügel in der Hand, vom Volke mit Hohngesängen verspottet, durch die Gassen der alten Hansestadt geleitet. Ein verwandter Humor verewigte sich an altgothischen Baudenkmälern zu Basel, Bern, Erfurt, Straßburg u. a. m., wo wir Messe Iesende Esel in Priestergewanden entdecken, Hunde und Tiger, welche gottesdienstliche Verrichtungen vornehmen, ja in Erfurt einen concubitus monachi cum monacha.

 

Die Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste, welche während des Mittelalters in den Klöstern ein kümmerliches Leben gefristet, hatte zuerst in Italien durch Macchiavelli, Ariosto, Tasso, Leonardo da Vinci, Buonarotti, Raphael, Correggio, Titian und von dort auswandernd im übrigen Europa neue Regsamkeit des Menschengeistes entfaltet. Agricola, Reuchlin, Erasmus belebten in Deutschland das Studium des Alterthums. Nach den Mustern von Paris und Boulogne wurden zu Prag, Wien, Heidelberg, Erfurt, Leipzig Universitäten gegründet, und die erworbenen Kenntnisse fanden durch die Buchdruckerkunst raschere Verbreitung. Bisher unbestrittene Glaubenssätze wurden der Untersuchung unterworfen. Da die Päpste den Wünschen der Völker nach einer Läuterung der Kirche hinderlich in den Weg traten, schaffte sich der durch die Anmaßung, Unwissenheit und Unsittlichkeit der Geistlichen empörte Volkswille aus eigenen Kräften Luft. Der Protestantismus fand auf dem durch katholische Mißbräuche gelockerten Boden ein fruchtbares Feld und mit Bildersturm feierte er 1524 in Riga, Reval und Dorpat förmlichen Einzug.

 

In sprechenden Bildern führt uns Burkard Waldis, der berühmte Fabeldichter, die Gebrechen seiner

 

 

____

XXVIII

 

Zeit vor, mit beißendem Spott geißelt er die vorgebliche Keuschheit der Nonnen und Mönche. Die überraschte Aebtissin, welche Nachts Convent hält und statt mit ihrem Schleier mit den Beinkleidern des Priors ihr Haupt bedeckt, ist eine bekannte Gestalt; und daß das sittliche Zartgesühl damals noch nicht so nervös ausgebildet gewesen sei, als in unsern Tagen, erfahren wir aus der Vorrede zu den Fabeln, welche der Autor „der lieben Jugend, Knaben und Jungfrauen zu Dienst und Förderung ausgehen lassen, und fast an allen Enden dermaßen zugesehn, daß er ihnen hiermit zur Besserung dienen möchte, und die zarten keuschen Ohren der lieben Jugend an seinem Schreiben sich nicht zu ärgern hätten.“ Die 70ste Fabel des 4ten Buches enthält eine Beschreibung der Stadt Riga, deren Bürgermeister Johann Butten der Dichter seinen deutschen „Aesop“ widmete. Von seinen Schriften ist ferner anzumerken das von Höfer 1851 herausgegebene plattdeutsche Fastnachtspiel „Der verlorene Sohn.” Erwähnung verdient endlich des Waldis Betheiligung an dem ersten Riga’schen Gesangbuche vom Jahre 1537: „Kurtz ordnung des Kirchendienstes sambt zweyen Vorreden, die erste an den Leser, die ander von Ceremonien, An den Erbarn Radt der löblichen Stadt Riga in Leyfflandt. Mit den Psalmen und Göttlichen lobgesengen, die in Christlicher versamlung zu Ryga ghesungen werden, auf’s neve corrigert vund mit vleyß gemert.“

 

Franz Ludwig Mittler (im „Hessischen Jahrbuch“ für 1855, in der Mittheilung: Heinrich’s von Braunschweig Klagelied. Nebst einem Nachworte über das Leben und die Dichtungen des Burkard Waldis, S. 231—265) weist dem Fabeldichter mit kritischen Gründen Allendorf an der Werra als Geburtsstadt zu. Die zahlreichen Reisen, welche Waldis durch ganz Europa, zum Theil in geistlichen Sendungen führten, machten ihn auch mit Livland und Riga bekannt, wo er eine zweimalige Gefangenschaft zu erdulden hatte.

 

 

____

XXIX

 

Der Dichter, welcher als katholischer Geistlicher

 

Zu Nürnberg einsten — — stund

Samt andern, da man handeln gunt

Von einer Reformation

Der Kirchen und Religion“ —

 

ging bald zum Protestantismus über, dem sein ganzes Wesen sich zumeigte. 1)

 

Während in Westeuropa die Inquisition, in Deutschland die Reformation bedeutende Fortschritte machte, litt Livland unter den Verheerungen blutiger Bürgerkriege und auch durch diese Periode geleitet uns die deutsche Dichtung. Das 22 Strophen 2) starke Bruchstück eines Liedes aus dem Jahre 1556, welches (1844 in Dr. F. G. v. Runge’s Archiv für die Geschichte Liv-, Est- und Kurlands B. III. Heft 2) durch den als livländischen Geschichtsforscher und Kritiker hochverdienten Herrn Eduard Pabst in Reval mitgetheilt wurde, versetzt den Leser in die Kriegswirren des Riga’schen Erzbischofs Markgrafen von Brandenburg und des Herrmeisters Wilhelm von Fürstenberg. Der Verfall des bisher blühenden Ordenstaates brach herein und alle bürgerlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse lösten sich auf.

 

Aus dem Jahre 1558 überkommen wir ein Spottlied

____

1) Vergl. des Freldherrn von Gemmingen poetische und prosaische Schriften, wie auch Fabeln und Erzählungen in Burkard Waldis Manier, von Zachariae, herausgegeben von Eschenburg, Braunschweig 1777; — Burkard Waldis Leben und Schriften von Goedecke, 1852.

2) Die Grundform der Strophe ist:

ᴗ  
ᴗ  

ᴗ   ᴗ   ᴗ   ᴗ   (reimlos)

 

____

XXX

 

auf den deutschen Orden in Livland, gedichtet zur Zeit des Krieges mit den Russen. Die Strophe ist hier in der Grundform mit eingestreuten Abweichungen ziemlich dieselbe, welche durch Blumauer’s „‚Aeneide“ zwei Jahrhunderte später wieder populär wurde, auch in dem bekannten Kirchenliede „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“ noch heute zum protestantischen Gottesdienste gesungen wird. Nicolaus Decius, welcher um’s Jahr 1524 im Wolfenbüttelschen, später in Pommern lebte — selbst ein gewandter Harfenspieler, der zu seinen Liedertexten die Melodien setzte — hat diese Singweise dem Volksmunde entlehnt und den bekannten geistlichen Text dazu gedichtet. Die damalige Geistlichkeit suchte durch derartige Aufnahme beliebter Volksmusiken den Kichengesang zu beleben und die Christenlehre bei den Bevölkerungsmassen zu vermitteln. Beide livländische Lieder, sowohl das plattdeutsche als das zweite satyrische, waren wohl vielleicht nach jener alten Melodie, jedenfalls für den Gesang gedichtet, wie die Schlußstrophen andeuten:

De uns dyth leth hefft nye gesungen“ etc.

und

Der uns diß Lidtlein hat erdacht,

Das hatt ein frecher Landtsknecht gemacht,

Von neuen hatt ers gesungen“ etc. 1)

Noch ein anderes verwandtes Gedicht von 739 Versen

____

1) Das Spottlied ändert häufig die Reihenfolge, fügt dem Schluß der Strophe auch wohl einen achten Vers hinzu, der manchmal in eine bloße Wiederholung

Das haben sie geschworen,

(ja) geijhworen“

oder in Anklänge, wie:

So muß sie herunder fallen

mit Schalle“

 

zusammenschrumpft.

 

 

____

XXXI

 

in vierfüßigen Jamben und Daktylen rührt her von Hans von Taube, einem livländischen Edelmann, der als Gefangener in Moskau zur Zeit Iwan Wassijewitsch (1565) Iebte, später als Rath an den Hof des Zaren gezogen ward. Es enthält eine „Kurtze vund Warhafftige Beschreibung Angfannck, Mittell und Endt Sampt allem Wandel, gebrauch, Sitten, leben and gewonhandt des Ordenns in Eisslandt wie die Regirtt und wiederumb apganngen“ etc.

 

War das Landsknechtlied in übermüthiger Laune gesungen, die doch in manchen Dingen den wunden Fleck traf, war Taubens Reimgedicht, der als Landsasse sich gegen den Orden erzürnt, aus nicht ganz lauterer Quelle geflossen, so deckt das den 24. December in Warschau geschriebene 785 Verse lange: „Kurtzweilich gesprech von Herr Johann Tauben und Ellert Kraussen widerkunfft aus der Moschkaw eines Postreuters vnnd Pasquillen“ die verdächtigen Umtriebe dieser Herren ohne Scheu auf.

 

In allen jenen Dichtungen weht die scharfe Luft des humoristisch-satyrischen Zeitalters der Rabelais, Brandt, Fischart und Rollenhagen, eine Luft, welche allein die Fäuniß der gesellschaftlichen und staatlichen Zustände der Zeit auszukehren vermochte.

 

In der Residenz des russischen Zaren hatte sich theils durch die in’s Land berufenen deutschen Künstler und Gelehrten, theils durch die zahlreichen Livländischen Gefangenen aller, namentlich der höheren, Stände geistiges Leben entwickelt, zu dessen Fortbildung die 1564 daselbst errichtete erste Druckerei das ihrige beitrug.

 

Der Livländer Timann Brackel, welcher um 1556 deutscher Pastor zu Dorpat war und beim Einfall der Russen im nämlichen Jahre gefangen durch Pleskau und Novgorod geführt worden war, errichtete in der großen Zarenstadt einen lutherischen Gottesdienst für die gefangenen Landsleute. Später aus der Gefangenschaft befreit, wurde Brackel auf Oesel, als auch hierher

 

 

____

XXXII

 

der Krieg sich zog, zu Antwerpen Prediger. An letzterem Orte gab er 1579 sein jetzt höchst seltenes Gedicht heraus: „Christlich Gespräch von der grausamen Zerstörung in Livland durch die Moskowiter vom 58. Jahr her geschehen“ etc. — Wie in diesem Gedichte die jammervollen Schicksale des uneinigen, verunsittlichten Livland und sein Unterliegen unter die Uebermacht der aus dem Rohen sich entwickelnden russischen Herrschaft in lebhaften Farben sich wiederspiegeln, so finden wir in Gustav von Mengden, Freiherren von Altenwoga (schwedischem Generalmajor, seit 1666 ältestem livländischem Landrath und Obersten der livländischen Adelsfahne, geb. 1625, gest. 1688) die religiöse Richtung seiner Zeit verkörpert. Er schrieb: „Der verfolgte, errettete und lobsingende David, d. i. alle Psalmen David’s in Reimen gefaßt und auf denen bei der evangelischen Kirche gebräuchlichen Melodien eingerichtet,“ Riga, 1686. (Vergl. Wetzel’s Lebensbeschreibung der Liederdichter, Bd. IV. 322.) Außer diesen religiösen Liedern, die sich manchen unserer besten an die Seite stellen dürfen, finden sich in Mengden’s Nachlasse einige poetische Versuche, namentlich pattdeutsche Scherzgedichte, von denen eines auf die schwedische Gütterreductions-Commission, welche den livländischen Adel zu Grunde richtete, in Gadebusch II. 2. 239—245, ein anderes in Truhart’s „Fama für Deutsch-Rußland,“ 1807. IV. 1774—77 abgedruckt wurde. Von dem noch nicht Veröffentlichten wäre noch Manches der Vergessenheit zur entreißen. Gustav Mengden steht mit seinem religiösen Liede dem Felde der schlesischen Schule nahe, welche mit dem dreißigjährigen Kriege aus den Wirren der religiös-politischen Streitigkeiten hervorging.

 

Das Emporblühen der deutschen Literatur unter Opitz, Flemming, Logan und Gryphius ist eine der besondersten Erscheinungen, insofern sie zu einer Zeit auftauchte, als das gesammte deutsche Reich unter den

 

 

____

XXXIII

 

eisernen Tritten des dreißigiährigen Krieges seufzte. Auch die Hofmannswaldau und Lohenstein nahmen glänzenden Aufschwung.

 

Hatte die Minnedichtung zur Blüthezeit des Ritterthums, die persische und arabische Poesie während der höchsten Machtentwickelung des Kalifats, die römische Dichtlunst unter Augustus glorreichem Friedensscepter, die griechische Poesie unter dem Lorbeer der Perserkriege, die indische zur Blüthezeit der Brahminenherrschaft, die hebräische unter David’s und Salomo’s Machtregiment am schönsten und vollkommensten sich entfaltet im Einklange mit dem nationalen Wohlbehagen und politischen Kraftbewußtsein, aus dem sie hervorgingen, so finden wir in der Erscheinung der schlesischen Schule das treffendste Gegenstück, ein Charakterbild Deutschlands. Damals erblühten in England, Portugal, Spanien, Holland, Frankreich und Italien Literatur und Künste, die Shakespeare, Cervantes, Lope de Vega, Camoes, von dem Geiste Dante’s und Petrarka's erweckt, die Ariosto und Tasso, die Spagnaletto, Velasquez, Michel Angelo, Raphael, Correggio, Guido Reni, Titian, Rembrandt, Rubens, Poussin, Lorrain und andere berühmte Männer schufen, von den Zeitumständen und dem Volks-Wohlstande getragen und gefördert, unerreichbare Meisterwerke, deren Ruf die ganze gebildete Welt erfüllte. In Deutschland nahın die neue literarische Entwickelung, unabhängig von den politisch-nationalen Hemmnissen im Vaterlande, in ideellem Anschluß an die gleichzeitige Blüthe der Nachbarvölker und vielleicht als Ausbau der früheren Kunstschöpfungen eines Dürer, Cranach, Holbein, Vischer ihren Ursprung. In diesen neben den ausländischen Leistungen freilich kleinen Anfängen gewahren wir den ersten Keim der modernen klassischen Literaturperiode Deutschlands. Deutschland ist das Volk der Literatur, Kunst, Wissenschaft, in der Politik zu gebieten blieb ihm versagt.

 

 

____

XXXIV

 

Einen der Hauptvertreter jener schlestischen Schule, Paul Flemming, sehen wir nach Rußland versetzt, wo er — namentlich auf seiner Rückkehr aus Persien — in Estland einen anregenden fruchtbringenden Aufenthalt unter gebildeten, strebsamen Menschen fand.

 

Liv- und Estland, in denen nach ihrem Anschluß an Schweden endlich friedlichere, lichtvollere Zeiten einkehrten, wurden durch Gustav Adolph’s weise Regierungsmaßregeln wesentlich gefördert. Der Monarch hob das Schulwesen und unterschrieb im Feldlager vor Nürnberg am 30. Juni 1632 die Stiftungsurkunde der Universität Dorpat, wie auch in der Nachbarschaft Abo in Finnland (1640) und früher schon Wilna (1576) zu hohen Schulen sich erhoben hatten.

 

Während von 1634 ab durch Gustav Adolph’s Erzieher, Johann Skytte, dem damaligen General- Gouverneur von Liv-, Est- und Ingermannland, die Universität in’s Leben trat und zu Dorpat wissenschaftliches Streben erweckte und entfaltete, während Männer wie Friedrich Menius ( 1659) und Lorenz Luden (1592—1654), beides wissenschaftliche Notabilitäten und gekrönte kaiserliche Poeten, an den neuen Musensitz berufen, ihre Kräfte in rastloser Thätigkeit entfalteten, hatten zu Reval um Flemming und dessen Freund Timotheus Polus andere mehr schönwissenschaftliche Kreise sich gebildet. Eine bedeutende von 1637—1644 reichende Sammlung Gelegenheitsgedichte in der Bibliothek des Revaler Gymnasiums besteht in 73 Heften aus 350 Gedichten, die meist von hier ansäßigen Ausländern und von Inländern herrühren, kleineren Theiles auch aus Deutschland von Befreundeten eingesandt wurden. Die zahlreichsten Nummern sind, charakteristisch für die Mischung der Bevölkerung Reval’s, in deutscher Sprache, viele Iateinisch, einzelne griechisch, französisch, estnisch, schwedisch und böhmisch abgefaßt. Unter den Verfassern nennen wir als die bekanntesten Paul Flemming und Joachim Rachel

 

 

____

XXXV

 

(1618—1660), der von einigen Literarhistorikern für den Schöpfer der poetischen Satyre in Deutschland angesehen wird, die er zuerst mit Gryphius nach den Mustern der Alten schuf. Rachel studirte in Dorpat und Rostock, lebte darauf als Privatlehrer in Livland, wandte sich aber später nach Norddeutschland, wo er der Reihe nach verschiedene Rektorate bekleidete. Von seinen Schriften gehört die „Centuria epigrammatum in Livonia edita” etc. hierher. (Vergl. seine Gedichte mit einer Biographie von H. Schroeder herausgegeben. Altona 1828.) Ein Dritter im Bunde mit Flemming und Rachel war Timotheus Polus, kaiserlicher gekrönter Poet und Professor der Dichtkunst am Gymnasium zu Reval, ferner Georg Hojer aus Budissin, Konrektor an der Revaler Domschule, Balthasar Liphart aus Reval, Christoph Michael aus dem Halberstädtischen, estnischer Prediger an der Heiligen-Geist-Kirche zu Reval, Peter Schröder aus Hamburg, Revaler Gymnasiast. Von Polus besitzen wir „Epigrammata (1624), „Lustiger Schauplatz“ (drei Mal aufgelegt, 1639, 1643 und vermehrt 1664), ferner ein nach Torquato Tasso’s und Opitzens Vorbilde gedichtetes Loblied auf Gustav Adolph (Dorpat 1634) und endlich mehrere Sinngedichte, geistliche und weltliche Lieder, deutsch und Iateinisch, in Paul Flemming’s zu Jena 1660 ausgegebenen Dichtungen.

 

Neben den Genannten verdient besondere Hervorhebung Reiner Brocmann (1609—1647), an dessen Namen die Schöpfung der modernen estnischen Literatur sich knüpft, die gleichzeitig mit der lettischen damals zuerst von Deutschen beachtet und gepflegt wurde. Es wäre dieses das früheste geschichtlich-nachweisbare Beispiel, daß ein gebildetes eroberndes Volk zu den rohen ungebildeten Urbewohnern hinabstieg, um sie im Triumph wahrer Christenliebe — nicht mit dem Schwerte, sondern durch treuvolle Pflege und Bildung zu gewinnen. Freilich geschah dieser versöhnende

 

 

____

XXXVI

 

Schritt erst 400 Jahre nach Eroberung des Landes. Protestantische geistliche Lieder und endlich die Bibel wurden in die Landessprachen übersetzt und weitere Bildungsstoffe ähnlicher Weise den Bauern zugeführt. Viel später erst regten englische und andere Missionsgesellschaften diese Methode im Großen an. — Von Innen heraus durch naturgemäße freie Geistesentwickelung, nicht wie in barbarischer Zeit mit blutiger Waffe sollte fortan das Evangelium der Liebe, seiner eigenen Lehre entsprechend, den unglücklichen Bedrückten gepredigt werden. Wie hier das Elend der leibeigenen Esten und Letten, so bewog später die Schmach der Sklaverei auf den Kolonieen beider Indien humandenkende Männer, zur Abülfe des Uebels dieselbe Bahn zu betreten. Möge Brocmann’s Name alle die hochverdienten Männer vertreten, welche damals in verwandter Thätigkeit in den Ostseeprovinzen wirkten. Charakteristisch für ihn sind seine nachstehenden Verse:

 

Andre mögen ein Andres treiben,
Ich hab’ wollen estnisch schreiben.
Estnisch redet man im Lande,
Estnisch redet man am Strande,
Estnisch red’t man in den Mauern,
Estnisch reden auch die Bauern,
Estnisch reden Edelleute,
Die Gelehrten gleichfalls heute.
Estnisch reden auch die Damen,
Estnisch die aus Deutschland kamen.
Estnisch reden Jung und Alte.
Sieh was man vom estnisch halte!
Estnisch man in Kirchen höret,
Da Gott selber estnisch lehret.
Auch die klugen Pierinnen
Jetzt das Estnisch lieb gewinnen.
Ich hab’ wollen estnisch schreiben,
Andre mögen Andres treiben.“

 

 

____

XXXVII

 

Reval bildete sich auch später in der Dichtkunst fort und der von Flemming gestreute Samen sollte nicht untergehen. Christian Eberhard Morian, der 1697 aus dem Gymnasium zu Reval studirte, war später an derselben hohen Schule Professor der Dichtkunst und 1709 Rektor. Ihrer Zeit berühmt war seine Tochter Anna Sidonia Morian, welche 1715 im Königlichen Schloß zu Stockholm eine 34 gedruckte Quartseiten lange Rede zum Namensfest Carl XII. hielt.

 

Sehr wahr bemerkt H. Neus („Inland“ 1845, Sp. 795), daß zu Anfange des XVII. Jahrhunderts England an Künsten und Wissenschaften an der Spitze der geistigen Bewegung steht, das religiöse Bewußtsein nun untergeordnet erscheint; umgekehrt in Deutschland das religiöse Bewußtsein entschiedenes Uebergewicht erlangt und nur nebenher Kunst und Wissenschaft sich geltend machen. Am Ende des XVIII. und im Anfang des XIX. Jahrhunderts haben beide ihre Rollen ausgetauscht. — Es ist das erwachende religiöse Bewustsein, welches mit Beginn des XVII. Jahrhunderts Livland und Deutschland eng verbindet.

 

Die Blüthe und Glanzperiode war nur von kurzer Dauer, denn leider sollte in Livland der Fortschritt bald gehemmt werden, als nach dem Tode Gustav Adolph’s seine Nachfolgerin Christina weniger auf das Wohl ihrer Provinzen, als auf die Lobsprüche der von ihr berufenen und bezahlten Gelehrten, wie Descartes und Hugo Grotius (1583 —1645) bedacht, vorzog mit Rom und Versailles zu korrespondiren, Dorpat aber und seine Akademie ihrem Schicksale überließ. —

 

Polen, Schweden und Rußland stritten sich mit wechselndem Erfolge um die Herrschaft der Ostseeküste. Während Kurlands Herzogthum unter posnischem Schutz einigen Glanz entwickelte, jammerten Livland und Estland unter dem Wüthen des Krieges, denn die Erpresungen der Feinde und die Auflagen der Freunde waren gleich schonungslos und das Fand lag bald entvölkert

 

 

____

XXVIII

 

und verwüstet in trauriger Oede danieder. Der Adel war durch die schwedische Güterreduktion geschwächt; vergeblich hatte Patkul für die althergebrachten verbrieften Rechte seiner Corporation — das Schild deutscher Nationalität im Osten — gestritten. Verrathen, von seinen Landsleuten feige im Stich gelassen, und in Schweden zum Tode verurtheilt, mußte er in der Flucht sein Heil suchen.

 

Da endlich kam 1700 der Bund zwischen Dänemark, Polen und Rußland gegen den jungen Schwedenkönig Karl XII. zu Stande. Allein Karl’s thatkräftiger Jugendmuth überwand die zahlreichen Feinde, er drang in das Mark des Landes, wiegelte die Türken auf gegen Rußland, bis durch Erfahrungen gekräftigt, bei Narva Peter der Große einen entscheidenden Sieg gegen ihn erfocht. Im Nystädter Frieden (1721) verlor Schweden an Peter'n Estland und bald ertönte Europa von dem Ruhme des Zaren, der mit gleicher Macht und Weisheit seine Staaten mehrte, befestigte und erleuchtete.

 

Endlich war das Schicksal der deutschen Ostseesüste entschieden und was Liv- und Estland seit Plettenbergs fünfzigjährigem Frieden nicht gekostet, kehrte wieder im Lande ein: Ordnung, Gesetz und Sicherheit der Person und des Eigenthums.

 

Im Jahre 1656 hatte der russische Einfall die Musen aus Dorpat verscheucht. Die Universität 1699 zu Pernau, einer kleinen Handelstadt am Riga’schen Meerbusen, wiederhergestellt, sollte auch hier während der Kriegsläufte kein Gedeihen finden, denn als Peter der Große 1710 die Stadt einnahm, waren fast sämmtliche Lehrstühle verlassen und von der Wirksamkeit der gelehrten Herrn keine Spuren übrig geblieben.

 

Diejem Monarchen war es aufbewahrt, Rußland in den Rang der europäischen Staaten und zur ersten Macht des Nordens zu erheben. Durch die Einverleibung der Ostseeprovinzen in den großen Staatenkörper,

 

 

____

XXIX

 

dem sie durch die geographische Lage unbedingt angehörten, bot Peter nicht nur diesen Provinzen die seit dem Plettenbergischen Frieden entbehrte Ordnung, Gesetzlichkeit und Sicherheit, sondern eröffnete auch dem inneren Rußland ungehinderten Zufluß westeuropäischer Bildung. Von nun an waren es in der Hauptsache deutsche Kräfte, welche das Reich organisiren halfen. Die Namen Münnich, Biron, Catharina bleiben für alle Zeit in den Blättern der Geschichte aufgezeichnet. Ausländische Offiziere bildeten Peter’s Preobreschenski’sche und Semenow’sche Garde, Deutsche wurden als Maurer, Zimmerleute, Bildhauer und Maler berufen, um die Metropole des Nordens aus dem Nichts unabsehbarer Moräste hervorzuzaubern. Deutsche Bergleute sollten die Metallschätze des Reiches ausbeuten, junge Russen wurden vom Kaiser nach Reval gesandt (vergl. „Landrath von Wrangel’s Estländische Chronik” S. 109), um das Deutsche zu erlernen und durch dasselbe die Civilisation in das Reich zu verpflanzen. —

 

Die Kaiserin Catharina bewundern wir als geistreiche Frau in ihren mannigfachen Schriften: „Die Instruction für die zur Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuche verordnete Commission“ (Moskau 1767), ein Denkmal wahrhaft kaiserlichen und humanen Denkens und Wollens, ein Buch, das Friedrich der Große in’s Geheime mit Bewunderung las und wegen der allzufreien Ansichten für alle Nachfrage in der Bibliothek verschlossen zu halten befahl — schuf Catharina nach fleißigem Studium Montesquieu’s, vor dessen Geiste sie am tiefsten sich beugte. Diderot lebte längere Zeit unter ihrer Umgebung. Gelehrte und Künstler aller Art genossen ihre Auszeichnung. Der Sachsen-Gothaische Geschäftsträger Baron Grimm war beauftragt, ihr über alle literarischen und artistischen Neuigkeiten Mittheilung zu machen, ja die russische Gesandtschaft in Paris rühmte sich einer Abtheilung,

 

 

____

XL

 

welche nur mit solchen und ähnlichen Aufträgen zu schaffen hatte. Als dramatische Schriftstellerin trat die Kaiserin zu wiederholten Malen auf, ohne eigentlichen Kunstwerth für ihre Leistungen zu beanspruchen. Von ihrem „Oleg“ sagt A. v. Sternberg in den „berühmten deutschen Frauen des 18ten Jahrhunderts“ treffend: „Dieses dramatische Prunkstück war wahrlich kein Meisterstück, es hatte von dramatischer Kunst und Poesie überhaupt nicht das mindeste Kennzeichen an sich, allein es besaß das große Verdienst, die Russen mit sich selbst zu beschäftigen, es lehrte sie ihr Land, ihre Geschichte, das Haus ihrer Väter, den Pallast ihrer Fürsten in’s Auge fassen. Catharina wollte nichts anderes, und erreichte ihren Zweck.” Lyrische Gedichte, von denen einiges durch Gesang-Kompositionen verherrlicht bis auf den heutigen Tag fortlebt, zeugen für echt-poetische Empfindungsweise.

 

Die Kaiserin besserte namentlich auch den Schulunterricht in Livland, starb aber, bevor sie die beabsichtigte Wiedererrichtung der Dorpater Universität hatte in’s Leben treten lassen. Zu diesem Werk, dessen Vollendung auf friedlichere Zeiten dem Kaiser Alexander, glorreichen Andenkens, vorbehalten blieb, bot der Patriotismmus des livländischen Adels bereitwillig die Hand dar, und es erblühte den Provinzen wie dem ganzen Kaiserreiche zum Segen eine fruchtbare Pflanzschule höherer Bildung (1802), deren Anforderungen die 1755 zu Moskau gegründete Universität allein zu genügen nicht vermochte. Hatte auch Catharina die altdeutschen Gerechtsame der Herzogthümer Liv- und Estland durch eine allgemeinrussische Statthalterschaftverfassung vertauscht, so schwanden doch bald die Besorgnisse, als nach ihrem Tode der Kaiser Paul den treugesinnten deutschen Provinzen ihre alt hergebrachten, von den Königen Polens und Schwedens, wie durch Kaiser Peter den Großen für alle Zukunft anerkannten

 

 

____

XLI

 

Rechte ungeschmälert wieder zurückerstattete und ihrer eigenthümlichen Fortentwickelung überließ.

______________

 

Nachdem zu Anfang des XVI. Jahrhunderts durch kirchliche Fäulniß die Reformation und aus dieser die politischen Wirren des dreißigiährigen Krieges heraufbeschworen waren, in deren Bedrängniß die schlesische Dichterschule in Anschluß an den literarischen Aufschwung des Auslandes sich hervorarbeitete, bald aber in Geschmacklosigkeit und Bombast ausartend einem neuen Abgrunde zustürzte: hatte sich durch die Verderbniß der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse die große Revolution vorbereitet, welche von Frankreich aus über das ganze leidende Europa auflösend sich ergoß.

 

Rußland hatte sich aus dem Rohen, Preußen aus Unterordnung und niederer Bedeutungslosigkeit erhoben und beide kamen dem aufstrebenden Geiste willfahrend entgegen. Catharina hatte ihre berühmte Gesetzgebungs-Vorschrift schon zwei Decennien vor Ausbruch der Revolution hinausgesandt; bald schöpften die Dichter Begeisterung aus den Großthaten Friedrich’s wie aus Catharinens Siegen gegen die Türken.

 

Der Kunstgeschmack nahm in Deutschland eine andere Wendung und schon drohte die Literatur aus dem einen Extrem des Schwulstes in das andere der kalten Korrektheit und Deutlichkeit zu verfallen, die als das Wesen der Poesie ausgerufen wurden. Hier half das Studium der alten Klassiker und der Engländer und als die politische Revolution ihre Triumphe feierte, war auch im Felde der Literatur der Sieg entschieden. Die Namen Kant, Winckelmann, Lessing, Lavater, Pestalozzi, Wieland, Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Tieck bezeichnen den Lauf jener welthistorischen Umgestaltung in Wissenschaft und Literatur. Die

 

 

____

XLII

 

Künste gingen Hand in Hand, wie die Händel, Bach, Gluck, Mozart, Haydn, Beethoven, Danneker, C. V. Mayer, Stahl, Schadow, Mengs, Tischbein, Kaufmann, Hackert in die Blätter der Kunstgeschichte sich einschrieben.

 

In den Anfang jener Periode fällt der Glanzpunkt für die Entwickelungsgeschichte der Ostseeprovinzen und besonders Riga’s, welches das deutsche Leben in seinem ganzen Umfange von allen Städten Rußlands vielleicht am klarsten wiederspiegelt. Hier hatte sich um den geistreichen, rechtsgelehrten Rathsherrn Johann Christoph Berens ein Kreis aufstrebender Männer, wie Hippel, Hamann, Herder, die Brüder Lindner, Sonntag wersammelt, die in nahen und fernen Kreisen durch That und Schrift fortzuwirken beeifert waren. 1)

 

Der Goethe’sche Einfluß wirkte durch verwandte Geister, die Kraftgenies Lenz, Klinger, durch den Humoristen Petersen, den reflektirenden Samson in unmittelbarer Befruchtung auf Rußland und seine Ostseeprovinzen fort, in denen der Antheil an der großen literarischen Bewegung kaum schwächer sich kundgab als in Deutschland selbst. Der deutsche Scribe Kotzebue, von scharfen Zungen als Philisterpoet bezeichnet, Merkel scharf und hämisch, aber nach Wahrheit und Freiheit strebend, wirkten als sekundäre Erscheinungen oft verkannt, oft mit Grund angefeindet, durch Widerspruch nicht minder bemerkbar.

 

Nicolay in St. Petersburg, Graf von der Borch in Polen hatten sich dem Musageten Wieland angeschlossen. Schiller fand im Maler und Dichter Carl Graß, im Aesthetiker Carl Morgenstern, im Dichter und Componisten Weyrauch, im Dichter Ulrich H. G. Freiherrn von Schlippenbach Iebhaften Wiederklang; entfernter

____

1) S. 60 das Ausführlichere.

 

 

____

XLIll

 

schlossen sich in Tiedge's Weise Elisa v. d. Recke und Andere dem Reigen an. 1)

 

Eine besondere Erscheinung war die zeitweilige Preußenherrschaft, welche um die Wende des Jahrhunderts über Polen (2te Theilung Polens. Neu-Süd-Preußen 1793—1807) sich ausbreitete.

 

Die französisch-deutsche Bildung der aristokratischen Zirkel in Polen und Rußland, die in allen größeren Städten ihre Vereinigungspunkte finden, erleichterte es den von Preußen nach Warschau versetzten Beamten ein Leben fortzuführen, wie sie es aus der Heimath gewohnt waren. Wenn auch ununterbrochen jene Einwirkungen des Deutschthums fortwährten und fortwähren, so war doch um jene Zeit ein besonders reges Leben in Polens Hanptstadt entfaltet. Unter anderen finden wir drei vielgenannte, theils gefeierte Namen aus der deutschen romantischen Literatur wieder, Männer, die unter einander befreundet, auch in privaten Beziehungen ihren Einfluß nach außen geltend machten und nicht ohne nachhaltige Wirkung auf dortige gesellige und literarische Kreise geblieben sind. Sei mir verstattet, die in den Skizzen übergangenen biographischen Abrisse hier einzuschalten.

 

Eduard Hitzig, der Herausgeber des „Neuen Pitaval,“ ein ausgezeichneter Rechtsgelehrter und ehrlicher Protestant, später der Mittelpunkt eines literarischen Kreises — aus dem er E. T. A. Hoffmann und Chamisso biographisch charakterisirte, dem auch Fouqué und Varnhagen von Ense angehörten — war der eine, dem ein älterer, Zacharias Werner (1768 bis 1823), der vielgefeierte Schicksals-Dichter aus Königsberg, voranging. Werner (dessen Vater schon im vierzehnten Jahre des Sohnes gestorben war) blieb

____

1) Das Ausführlichere S. 79, 97, 144, 194, 244, 201, 85.

 

 

____

XLIV

 

der Erziehung seiner gemüthskranken Mutter überlassen, welche sich selbst für die Jungfrau Maria, ihren Sohn für den Weltheiland hielt. Das bedeutende Talent des Sohnes wurde somit schon aus frühestem Keime in eine krankhafte Richtung gelenkt, der es nur mit Mühe und durch die tiefe Reichhaltigkeit eigenster Kraft entgegen zu arbeiten vermochte. Werner’s Leben war ein steter Wechsel wüster Auschweifung und frömmelnder Reue. — Im 25sten Lebensjahre trat er in Staatsdienste und hielt sich von 1795 bis 1801 in Warschau aus, wo er mit seinem Biographen Hitzig persönliche Bekanntschaft knüpste. Drei Ehen der Reihe nach schloß der excentrische Dichter während dieser kurzen Zeit, jedesmal so unbedacht, daß die Scheidung auf dem Fuße folgen mußte. Seine dritte Frau, eine Potin, verstand kein Wort Deutsch, wie er keine Sylbe Polnisch redete! —

 

Die „Söhne des Thales“ schrieb Werner unter den Eindrüden des in Hippels „Kreuz- und Querzügen“ satyrisch behandelten Freimaurerordens, in den er getreten war.

 

Nach dem 1804 erfolgten Tode seiner Mutter kehrte Werner nach Warschau zurück, wo er mit seinem Landsmann E. T. A. Hoffmann sich befreundete. Jetzt entstand sein „Kreuz an der Ostsee“, in dem er die Ankunft der ersten deutschen Ritter im heidnischen Preußenlande und den Ueberfall des Schlosses Plock zum Vorwurfe nahm. 1)

____

1) Schon nach einjährigem Aufenthalte kehrte Werner nach Berlin zurück, wo er 1805 durch seine Bekanntschaft in höheren Kreisen, eine vortheilhafte Anstellung gewann, und trat mit Fichte, den er hoch ehrte, in nähere Verbindung. In München lernte Werner Jakobi und Schlegel, in Weimar Goethe kennen, in der Schweiz endlich den späteren König und Dichter Ludwig und hielt sich einige Zeit auf dem Schlosse der Frau von Staël in Coppet mit Oehlenschläger, Schlegel u. a. auf und es fehlte wenig, daß er für seine mystische Aesthetik Proselyten gewonnen hätte. Werner reiste nach Rom und trat dort 1811 zur alleinseligmachenden Kirche über, indem er das Fließen des Blutes vom heiligen Jannarius zum Zeichen nahm. Wie Hamann, führte er bei all seiner frömmelnden Schwärmerei ein grundlüderliches Leben, wechselte täglich in allen erdenklichen Extremen, deren eine sinnliche, auch für Höheres empfängliche Natur fähig ist. Werner starb 1823.

 

 

____

XLV

 

E. T. U. Hoffmann (1776 — 1822), dessen wir schon vorhin erwähnten, schloß sich mehr der romantischen Richtung an, von der er sich doch wesentlich durch die gegen sich selbst gekehrte Waffe des Witzes und der Ironie unterscheidet. Hitzig Iernte ihn 1803 in Warschau kennen, wo Hoffmann beim Criminalgerichte ein Amt bekleidete. In den gebildeten Kreisen der Stadt war Hoffmann als Erzähler von ausschweifender possenhafter Phantasie und als Direktor einer Kapelle hoch geschätzt. Auch als Maler sand er in den Dekorationen, die ab und zu nöthig waren, reiches Feld. Nachdem ihn Hitzig in die Geheimnisse der Romantik eingeweiht hatte, war seine ganze künftige Richtung unabänderlich bestimmt. — Wie in den Hauptsitzen zu Jena und Berlin, hielten sich auch hier die Verehrer romantischen Geistes fern von aller Politik, die Zeitungen blieben ungelesen und man Iebte in idealen Träumen, die nichts mit dem Treiben in der wirklichen Welt gemein hatten. Erst das Erscheinen der Franzosen rüttelte die Freunde aus ihrem idyllischen Künstlerleben auf und enthob die preußischen Beamten ihrer dienstlichen Stellung 1)

____

1) In Berlin, sodann als Musikdirektor in Lemberg, machte Hoffmann sich heimisch. Mit Carl Maria von Weber und Jean Paul trat er in Verbindung, nicht minder mit Fouqué und Rochlitz. 1814 endlich verschaffte ihm Hitzig in Berlin eine Anstellung am Kammergerichte. In einem ziemlich wirren Leben bildeten von nun an die Serapionsabende die Lichtpunkte, zu denen die Ueberreste des „Polarsternbundes,“ wie der oben erwähnte Kreis sich selbst getauft hatte, zusammentrat. Der geniale Ludwig Devrient war einer der interessantesten Gäste. Hoffmann starb 1822. Seine Schriften sind zu bekannt und allgemein verbreitet, als daß wir hier auf Einzelnes eingehen dürften.

 

 

____

XLVI

 

Bald begannen in Petersburg und Dorpat die Brüder Ernst und Carl Eduard Raupach für deutsche Literatur im Stillen zu schaffen und zu wirken. Dem Beispiele des Ersteren folgte später Ernst Reinthal mit seinem Cyclus dramatischer Bilder aus der Geschichte Rußlands, Bd. I und II 1848, III 1849 („Ilda die Heidin,“ „Swätoslaw,“ „Jaropolk“).

 

Während Schiller’s und Goethes Einfluß anhaltend fortwirkte, machte sich neben weniger selbstständigen Kräften wie im übrigen Deutschland auch bei uns der Einfluß Uhland’s, Heine’s, Lenau’s und Freiligrath's bemerkbar, wie solches im Texte der Skizzen einzel dargestellt worden. — Bei dieser Gelegenheit erwähne ich noch den Verfasser des Romans in Versen „Abraham und die Seinen“ und einer „Diätetik,“ Dr. Rußdorf, welcher eine Zeit lang als Arzt in Petersburg privatisirte. Kürzere Fassung brächte den Werken dieses Autors vielen Nutzen. — Unter den Uebersetzern, welche neuerer Zeit in Rußland sich hervorthaten, verdienen besonders Ludolph Schley aus Libau als Nachdichter der Frithiofsage, Bodenstädt als Dolmetscher Puschkin’s und Lermontoff’s, ferner Lippert, Budberg, Königk, Wolffsohn genannt zu werden. Selbst Varnhagen von Ense verschmähte es nicht, russische Poesie, wie Lermontoff’s „Bela“ und Odojeffsky’s „Sylphide“ zu übertragen.

 

 

____

XLVIl

 

Wir haben noch eines angeregten, thätigen Kreises, welcher in der Metropole des fernen Ostens zu St. Petersburg unter Gelehrten ımd Künstlern sich bildete, zu gedenken. Der Lektor der deutschen Sprache an der Universität, Dr. Fr. Meyer, zugleich Redakteur der deutschen (akademischen) Petersburger Zeitung, der gelehrten Welt durch seine „Studien über deutsche Geschichte, Kunst und Art“ (Mitau und Leipzig 1851) vortheilhaft bekannt, ist im „Feuilleton“ und den „Beilagen‘“ seiner Zeitung beeifert, den wissenchaftlichen und belletristischen Bestrebungen des großen Kaiserreiches Ausdruck zu verleihen, indem er es unternahm, sowohl deutsche Uebersetzungen aus allen Sprachen des Reiches, sowohl nationale als Kunst-Dichtungen, Schilderungen der Sitten des Landes und der Völker, naturwissenschaftliche und Handels-Angelegenheiten kurz Mittheilungen aus allen Fächern des Wissens und Lebens in Rußland vorzuführen. Zu verwandtem Streben und in perönlichem Verkehr unterstützen ihn verschiedene Männer, deren einige wir namhaft machen. Dr. Johann Friedrich Hinze, geboren 1805 in Lübeck, steht als jovialer Liederdichter bei den Studenten, namentlich der Universität Dorpat, wo er 1826—1830 studirte, in bestem Andenken. Die Gedichte: „Der alte Flausch,“ „Die Alten,“ „Die Ietzte Flasche“ sind der Ausdrucd eines heiteren, kräftig-gesunden Dichterherzens. Ein jüngeres Talent ist Max Cambecq (geboren 1828 zu Dorpat), der Sohn des Dr. Lonis Cambecq, Professors des Römischen Rechts an der Kasanischen Universität. Das heranreifende Talent fand in seinen Novellen den besten Ausdruck und ließ auch in rhythmischer Gestalt manche Gabe gelingen. Die ihm fehlende Formvollendung zu erstreben ist er eifrigst bemüht. — Ein drittes Mitglied der Gesellschaft ist der an der Petersburger deutschen Bühne thätige Alexander Tollert (eigentlich von Lysarch, genannt Königk), geb. 1813 zu Riga.

 

 

____

XLVIII

 

Königk, in der Kaiserl. Ober-Ingenieurschule erzogen, war nacheinander Militär, Schullehrer, Schauspieler, Zollbeamter und wandte sich schließlich bleibend der Bühne zu. Er lernte im Kausasus den dorthin verwiesenen berühmten russischen Dichter Marlinsky (Bestuschew) kennen, aus dessen Schriften er mancherlei übertrug. Gegen vierzig zum Theil eigene, zum Theil übersetzte dramatische Arbeiten gingen über die deutsche Petersburger Hofbühne, zu deren Regisseur er neuerdings ernannt wurde. Seine „Memoiren eines Schauspielers" und „Geschichte des deutschen Theaters in Petersburg“ werden im Druck erwartet. Zum genannten Kreise gehört ferner der als Componist in Petersburg geachtete Yourij von Arnold (geb. zu St. Petersburg 1811). Seinen Dichtungen liegt in deutschen Gewande slavisches Element zum Grunde.

 

Endlich nenne ich Meyern selbst. Geboren zu Arolsen im Fürstenthume Waldeck, studirte er auf der Clausthaler Akademie Bergwissenschaft, ging 1841 nach Berlin, wo er den Naturwissenschaften sich widmete. Der deutschen Sprache und Literatur zugewandt, promovirte er 1845 zum Dr. der Philosophie und bekleidete in Rußland der Reihe nach verschiedene Hauslehrerstellen, wandte sich endlich nach Petersburg, wo er 1852 zum Ober-Redakteur der deutschen akademischen Zeitung und 1853 zum Lektor der deutschen Sprache und Literatur an der kais. Universität ernannt wurde. Die deutsche Kritik rühmt in seinen „Studien“ namentlich „die Geschichte des deutschen Reimes von seinem ersten Auftreten bis zur Mitte des 13ten Jahrhunderts“ und „Dietrich von Bern, eine historisch-mythologische Untersuchung“ wegen Gründlichkeit der Forschung und Nettheit und Präcision der Darstellung. „Meyer’s psychologische Deutung des Märchens in Goethes Ausgewanderten,“ schreibt K. Rosenkranz, „ist selbst ein Gedicht. Der Dichter hat eine ganze Geschichte der Kultur in das Märchen interpretirt.“ Als Dichter

 

 

____

XLIX

 

lernen wir ihn in seinen „Bildern aus dem Bergmannleben aus dem Harz“ seinen. Aus dem Feuilleton und den Beilagen der „Petersburger Zeitung“ erscheinen von ihm herausgegeben seit 1853 jährlich zwei starke Bände ‚‚Belletristische Blätter aus Rußland“ und „Magazin für die Kunde geistigen und sittlichen Lebens in Rußland,“ welche über das große Reich und dessen Bestrebungen erwünschte Auskunft bieten. 1842 gab Meyer unter dem Namen Montan ein Gedicht: „Paria” heraus; 1846 „De theotiscae poëseos verborum consonantia finali;” 1851 „Die Statistis des ethischen Volkszustandes, ein Beitrag zur Theorie der Staatenkunde.“

 

Die revolutionäre politische Poesie der vierziger Jahre fand, wie es die Verhältnisse geboten, keinen Nachklang. Was aber in letzter Zeit geleistet worden, davon geben die betreffenden Skizzen und Proben den nöthigen Ausweis. 1) Seit dem Sommer und Herbste 1853 machte sich unter den Zerwürfnissen und während der blutigen Fehde zwischen Rußland, England und Frankreich — denn die Türkei erscheint, obgleich in den Vordergrund gestellt, doch nur als sekundäres Wesen — eine eigene politische und kriegerische, meist unschöne Literatur bemerkbar. Die erhabensten Gefühle der Religion, der Vaterlandsliebe, der Freiheit erreichen nicht immer angemessenen Ausdruck. Der gute Wille entschuldigt und rechtfertigt, wenn auch nicht vor dem Richterstuhl der Kritik, so doch in

____

1) Eines Mannes will ich hier noch Erwähnung thun, dessen in den Skizzen nicht gedacht werden konnte. Laurenty schloß sich in seinem Schauspiel „Der Tugendbund‘ (Riga und Leipzig, Bötticher’s Verl.) der neuesten dramatischen Schule an und nähert sich in Wahl und Behandlung der Stoffe Gustav Freytag. Die gewandte Formgebung läßt von ihm für die Zukunft mancherlei Tüchtiges hoffen.

 

 

____

L

 

den Augen Gleichgesinnter, Gleichenthusiastischstrebsamer im Hinblid auf die gute Sache. Fr. Meyer’s dramatisches Gedicht „Odessa“ allein macht Ansprüche auf wirklichen Kunstwerth. Gestehen wir ausrichtig ein, hier muß die deutjche Dichtkunst in Vollendung des Ausdrucks und innerem Gehalt hinter den Leistungen der russischen, finnischen und estnischen zurückstehen. —

 

Nachdem wir die Erscheinungen der Poesie bis auf die Gegenwart geführt, wenden wir uns der Bühne und ihrer Entwickelung in Rußland zu und andeutungsweise auch den mit der Dichtkunst geistig nahverwandten, nur in der äußeren Gestaltung und im Stoff verschiedenen übrigen Künsten.

_________

 

Weit müssen wir zurückgreifen, um die ersten Anfänge der aus Westeuropa nach Rußland verpflanzten dramatischen Kunst zu erreichen. Die Lyrik wird bei allen Völkern auch der niedrigsten Bildungsstufe angetroffen und wir besitzen Proben der Neger, der südseeinsulaner (Chamisso’s Ged.), der Indianerstämme Amerika’s, der Letten und Esten aus der vordeutschen Zeit und der Periode der Sklaverei (Kohl’s Ostseeprovinzen, Neus estnische Volkslieder, auch „Palmen und Birken.“ 2te Aufl. S. 131 u. f.), die an Zartheit und poetischer Tiefe mit dem Schönsten wetteifern dürfen; das epische Gedicht treffen wir nur bei Völkern, welche aus ihrer eigenen Geschichte etwas zu erzählen wußten, bei Völkern, die eine Heldenzeit erlebten; dramatische Dichtungen werden nur von einer gereiften, im geistiger Blüthe stehenden Nation aus innerster Lebensfülle erzeugt. So reizend die ersten Anklänge naiver Lyrik klingen mögen, so wenig befriedigen die ersten dramatischen Versuche eines Volkes. Die frühesten vereinzelten Spuren derselben in Rußland lassen sich auf das Jahr 980 n. Ch. zurückführen, als, der Sage nach, der Großfürst Wladimir

 

 

____

LI

 

durch die Aufführung eines von seiner griechichen Maitresse verfaßten Schauspiels zur Annahme des Christenthums bewogen wurde.

 

Erst vom 17. Jahrhundert erhalten wir gewissere Nachrichten. Studenten der katholischen Universität Kiew führten unter dem Schutze des Metropoliten dialogisirte Biblische Geschichte auf, wie ähnliche deutsche Anfänge schon im zwölften Jahrhundert in Riga gemacht worden waren.

 

Um 1676 befand sich zu Moskau bereits eine deutsche Gesellschaft, welche vor den Zaaren Vorstellungen gab. Das Orchester war von Drehorgeln vertreten, die vornehmliche Heldin und Liebhaberin hieß Anna Paulsen, welche bereits in Kopenhagen Lorbeern gesammelt hatte. Unter den besseren Stücken, welche zur Aufführung gelangten, wird ein Drama „Holofernes“ namhaft gemacht. Um die nämliche Zeit drang Moliere's Ruf bis an den Zaarenhof und auf Befehl der Zaarin Sophia wurde der „médecin malgré lui” slavonisch von den Edelfräulein und Höflingen in den Frauengemächern des Palastes gespielt. 1701 sandte Kaiser Peter der Große Johann Splawsky nach Deutschland, um dort eine Truppe zu werben. Diese erschien im nächsten Jahre unter Direction eines gewissen David Kunst und spielte anfangs auf Lefort’s Privattheater im deutschen Stadtviertheil, bis ihr auf einem der Marktplätze eine schöne Bude von 130 Fuß Länge, 78 Breite und 39 Höhe errichtet wurde. Kunst war nicht nur als Direktor and Schauspieler, sondern auch als dramatischer Schriftsteller thätig und feierte namentlich in einem Schauspiele „Peter’s Sieg bei Pultava“ große Triumphe. Um 1705 trat Otto Fürst an Kunst's Stelle und bereits wechselten deutsche Vorstellungen mit denen russischer Acteure in übersetzten Lust- und Schauspielen des Auslandes. 1716 gab ein gerisser Mahn zu Petersburg seine Kunst zum Besten. Die blutigen Trauerspiele und traurigen Lustspiele,

 

 

____

LlI

 

die platten Harlekinaden und Obscönitäten, welche das deutsche Personal aus der Gottsched’schen Schule hinüberbrachte, fanden in Nachahmungen beim Hofgesinde auf Heuböden und vor müßigem Gesindel auf offener Straße vielfältigen Beifall, während der große Zaar wiederholt sein Mißfallen an den Pfuschereien dieser Gaukler aussprach und einen Preis aussetzte für „ein Trauerspiel ohne stömendes Blut, ein rührendes Stück ohne unerträgliche Liebesseufzer, ein heiteres Lustspiel ohne die plumpen Harlekinaden der lustigen Person — jedoch ohne Erfolg! Könnten nicht auch die heutigen Dramatiker von dem Kaiser Peter lernen?

 

Die Schüler des Kaiserl. Leibarztes Blumentrost geben ein Beispiel der Grobkörnigkeit damaliger Bühnensprache. In der „Verkündigung Mariä,“ welche während der Butterwoche aufgeführt wurde, antwortete die in ihrer Scham beleidigte Jungfrau auf die Verkündigung des Engels: „ob er sie für eine Metze halte, daß er ihr von Schwangerschaft vorschwätze, er möge sich sofort zum Teufel scheren, oder sie werde ihn fegen!“

 

Um 1730 schickte August der Starke der Kaiserin Anna einige Mitglieder der Dresdener italienischen Oper und auch das Ballet trat um diese Zeit zuerst als Vergnügungsanstalt in den Zwischenakten des Dramas auf. An deutschen Schauspielern kamen von Dresden: Albrecht, Hopke, Korn, Neumann, Wohlbrück u. A., duch die man bei Hofe der deutschen Komödie Geschmack abgewann, so daß 1739 die Neuber’sche Gesellschaft aus Leipzig verschrieben wurde, von welcher die Herren Neuber, Koch und Fabricius, so wie Frau Neuber und Fräulein Buchner vielen Beifall erwarben. Da die Herzogin von Curland kein Französisch verstand, so wurden diese Comödianten zu Hofschauspielern ernannt und mit guter Gage angestellt. Der damalige Oberhofmarschall, Loewenwolde, ein großer Gönner der gleichzeitig anwesenden italienischen Sänger,

 

 

____

LIII

 

suchte heimlich die deutschen Hofschauspieler zu unterdrücken, für welche sich jedoch der herzoglich-kurländische Hof sehr interessirte. Alle diese Theatergenüsse waren hauptsächlich dem Throne vorbehalten, es galt als besondere Vergünstigung, wenn man mit einer Einladung beehrt wurde. Das große Publikum blieb gänzlich ausgeschlossen. — Nach dem Tode der Kaiserin Anna im Jahre 1740 wurde das deutsche Hoftheater aufgelöst und Graf Loewenwolde verfolgte rücksichtslos die deutschen Hofschauspieler, welche kaum duch den sächsischen Minister Linard Schutz fanden, und mit Zurücklassung des rückständigen Soldes im Hofcomtoir heimkehren mußten. Das Kunstinteresse schien dennoch lebhaft angeregt und als nach dem Tode der Kaiserin Elisabeth die Fremdenherrschaft ihr Ende fand, tauchte die Vorliebe des Nationalen auch im Drama bei Hofe auf. In einem der großen Petersburger Klöster wurde einst von den Seminaristen ein biblisches Drama zu Ehren der Kaiserin aufgeführt. Nach Verlauf dreier peinlichen Stunden erfuhr endlich die Kaiserin, daß das vorbereitete Schauspiel drei ganzer Tage nacheinander fortdauern sollte, nahm die Kunst für genossen und entfernte sich nicht ohne Schreck der liehenswürdigen Dilettanten, welche nicht begriffen, was ihnen die Ungnade der Gebieterin zugezogen hatte.

 

Durch das Vorbild Racine’s und das Lob der Kaiserin angefeuert, erstand bald ein russischer Tragiker Alexander Sumarkoff, dessen überfruchtbares Talent eine Unzahl für damalige Zeit durchaus formgewandter Dramen, im langweiligen französischen Perückenstyl fabrizirte.

 

Um diese Zeit (1746) errichtete ein Kaufmannssohn, der aus der Moskauer Universität studirt und während einer Geschäftsreise in Petersburg die Bekanntschaft der Petersburger Bühne gemacht hatte, zu Jaroslaw im väterlichen Hause unter Theilnahme seiner Brüder und einiger Freunde und mit Anwendung

 

 

____

LIV

 

aller erlernten Kunstgriffe der Decoration und Maschinerie eine kleine Bithne, deren Mitglieder Dmitrieffsky und Popoff bedeutenden Ruf erwarben, als Wolkoff mit seiner Truppe auf Befehl der Kaiserin in Petersburg sich zeigen mußte. — Nachdem zur Ergänzung nöthiger Vorkenntnisse die talentvollsten Mitglieder im Cadettencorps weitere Ausbildung genossen hatten, befahl die Kaiserin durch einen Ukas vom 30. August 1756 die Errichtung eines öffentlichen russischen Nationaltheaters zu St. Petersburg. Hier zuerst traten Frauen in den bisher von Männern besetzten weiblichen Rollen auf und die Schwestern Ananina und Mußina Puschkin zeichneten sich bald durch Talent aus. Im Jahre 1759 wurde auch zu Moskau ein stehendes Nationaltheater errichtet, an dem Studierende sich fleißig betheiligten. Nach Wolkoff’s Tode wurde sein Gefährte und Nachfolger Iwan Dmitrieffsky 1765 mit dem Titel eines ersten Schauspielers des Kaiserl. Russischen Theaters zur Vervollkommnung in seiner Kunst in’s Ausland, namentlich nach Frankreich geschickt. Er trat mit Lecain mehrmals unter Beifall auf dem Theater der Herzogin von Villeroc auf und täuschte selbst Garrik durch künstliche Todeskrämpfe derart, daß dieser voll Bestürzung dem Leidenden beisprang, wie noch heute manche unserer berühmten Bühnenkünstler in Krämpfen den Gipfelpunkt ihrer Leistungen suchen. Nach seiner Rückkehr in die Heimath erndtete Dmitrieffsky (1768) im Theater der Eremitage zu St. Petersburg allseitigen Beifall und der Kaiser überhäufte ihn mit Gunstbezeugungen. Seinem genialen Talente verdankt die durch deutsche Kunst und französische Muster angeregte russische Bühne ihren ersten Aufschwung: denn durch Beispiel und Lehre thätig bildete er aufkeimende Talente für die Bretter und unterstützte die dramatischen Dichter mit praktischem Rath. Leider sollte Sumarkoff’s Perückenpathos noch bis auf dieses Jahrhundert

 

 

____

LV

 

der russischen Tragik ankleben. Oseroffs unzureichende Begabung vermochte sie nicht vom alten Zopfe zu befreien. Um so trefflicher war Joukoffsky's vollendete Nachbildung der Schiller’schen „Jungfrau von Orleans;“ und Shakespeare’s „Hamlet“, wenn auch in der Uebersetzung hin und wieder verunstaltet, erschien durch Karatygin’s Meisterdarstellung des Originals werth auf der Bühne. Ich schweige von Rukolnik, Polewoi, Obodowsky und bemerke nur in Kürze, daß die zur Schöpfung des Dramas erforderliche geistige Durchbildung, Blüthe und Reife von der russischen Nation noch in Zukunft erstrebt werden müsse. — Was aber vor allen ihrer Bühnendichtung zu Statten kommt, ist, daß sie die ganze Zeit der deutschen Gottscheds, welche sie den Bajazzos der Kunstrichter anheimgab, überspringen und mit Aneignung der Goetheschen und Schiller’schen Dichtungen beginnen durfte, während Deutschland Jahrzehnde lang an den Nachwehen jener unnatürlichen Geburten danieverlag. — Die russische schöne Literatur hatte mit den fremdländischen Mustern eine Unselbstständigkeit in den Kauf genommen, die ihr bis in das zweitletzte Jahrzehend noch anklebte, denn mit der Bildung waren auch die einzelnen Ideen des mittleren und westlichen Europa herüber gekommen. Puschkin und Lermontoff verdankten dem Auslande ihre besten Leistungen, auch der reichbegabte Bulgarin, vielfach mit Deutschen in Livland, wo er ansässig ist, verkehrend, hatte dem Einfluß germanischer Dichtkunst sich ergeben. Allerneuester Zeit erst hatte durch Gogol, Sologub, Lagetschnikoff u. a. die Literatur des Kaiserreichs eine entschieden eigenthümliche, lokale, nationale Färbung angenommen; wie denn das gesammte russische Leben, seit jener Zeit dem fremdländischen Element abgewandt, aus eignen Mitteln sich zu bilden versuchte; und selbst bei Sologub wird man die französische Schule auf den ersten Blick wiedererkennen.

 

 

____

LVI

 

Wenden wir uns zur deutschen Bühne in Rußland zurück, so finden wir, daß den durch Loewenwolde vertriebenen deutschen Schauspielern 1748 der später in Berlin und Hamburg bekannt gewordene Ackermann folgte, ohne jedoch Bedeutendes zu leisten. Seine Nachfolger bis aus Scolari, welcher selbst den Hanswurst spielte, fanden nur kümmerliches Fortkommen, da die unter Baptiste Locatelli 1757 eingerichtete italienische Opera buffa als Hofoper angestellt, die vornehmen und reichen Kreise der Gesellschaft heranzog und das deutsche Theater den deutschen Handwerkern und Bedienten zur Belustigung überließ. Scolari wandte sich nach Reval, wo er unter verwandter Bevölkerung besseren Erfolg hoffte. Anfang Winter 1762 kam eine deutsche Truppe, welche in Königsberg, Riga und anderen Städten Vorstellungen gegeben hatte, zur Zeit des Kaisers Peter III. Nach Petersburg, mußte sich aber auf’s ärmlichste behelfen, bis die Kaiserin Katharina, welche bisweilen incognito unter die Zuschauer sich gemischt hatte, als Würdigung des Eifers für die Kunst und der unverdient ärmlichen Verhältnisse dieser Schauspieler anordnete, ihnen unentgeltlich das Theater am alten hölzernen Winterpalais und die gehörige Garderobe zu übergeben. Nach dem Tode des Direktors Neuhoff ( 1765) übernahm der unermüdliche Scolari, welcher früher den Hanswurst gespielt hatte, später Gastwirth im Krasnoi Kabak (der vielbesuchten „rothen Schenke“) und endlich Buchhändler geworden war, aus's Neue die Theaterdirektion, unter welcher Madame Neuhoff, eine sehr gefeierte Schauspielerin, zahlreiche Zuhörerschaft, auch aus den höchsten Ständen, anlockte. Nach den großen Fasten 1654 — während welcher auch heute sämmtliche Bühnen geschlossen stehen — wurde bei Wiedereröffnung sämmtlicher Theater die deutsche Gesellschaft durch die Kaiserin zur Hoftruppe erhoben, die wöchentlich zwei Mal vor Beginn der französischen, komischen Oper

 

 

____

LVII

 

im kaiserlichen Theater spielen mußten, ohne sich jedoch in solchem Wettlauf lange erhalten zu können.

 

Im Jahre 1756 zuerst wurde in der Person des oben erwähnten Alexander Sumarkoff der erste Generaldirektor sämmtlicher kaiserlichen Theater ernannt. Später trat der bekannte Schriftsteller Jelagin in diese Stelle ein, welche aber von 1783 bis 1796 einem die Intendantur vertretenden Comité übergeben wurde. Letzterem war zum Unterhalt sämmtlicher Hoftheater ein jährlicher Zuschuß von 174,000 Rubeln zur Verfügung gestellt worden, eine Summe, die neuester Zeit auf 400,000 Rubel Silber gestiegen ist.

 

Nachdem 1791 das deutsche Theater gänzlich aufgelöst worden war, errichtete Miré vier Jahre später in Petersburg eine neue Bühne. Diese wurde durch den Kaiser Paul zum Hoftheater erhoben und 1800 unter die Direction Kotzebue's gestellt, der jedoch bereits nach einem Jahre das Amt aufgab. Miré, welcher 1802 mit dem Schauspieler Arresto ein deutsches Privattheater zu Stande gebracht hatte, verlor 1806 durch Feuerschaden seine ganze Einrichtung, die ihm der Kaiser Alexander ersetzte. Das Theater wurde der kaiserlichen Theater-Direction untergeordnet und mit einem Jahreszuschuß von 30,000 Rubeln, der in späteren Jahren auf 62,000 R.-S. erhöht ward, eine bleibende deutsche Hofbühne gegründet. — Durch die 1809 festgesetzte Pensionsordnung wurde auch den Akteuren eine sichere Zukunft bereitet.

 

Nachdem zuerst 1800 ein Censor des deutschen Theaters, doch nur vorübergehend und auf kurze Zeit angestellt worden war, erschien 1811 in Folge unerlaubter Uebergriffe eine besondere Theatercensur-Verordnung.

 

Bedeutendes hatte die deutsche Kunst in Rußland nicht geleistet und erst mit dem noch heute thätigen Direktor des deutschen Theaters Peter von Helmersen aus Finland, der in eifriger Kunstliebe und tieferer

 

 

____

LVIII

 

Einsicht die Geschäfte angriff, entwickelte sich regeres Leben, das bald zur schönsten Blüthe erschlossen, diese Anstalt auf eine hohe Stufe der Vollendung hob. Die dreißiger Jahre förderten den meisten Glanz zu Tage. Schauspiel und Oper wetteiferten mit einander um den Vorrang und das gesammte gebildete Publikum, einschließlich die höchsten Kreise der kaiserlichen Residenz — Zuschauer und Zuhörer aller Nationen drängten sich zu den Vorstellungen der deutschen Bühne, welche Triumphe über Triumphe feierte. Die gleichzeitige italienische Oper und das französische Theater, welche den ersten in ganz Europa getrost an die Seite sich stellen, thaten es der deutschen Bühne nicht zuvor. Ihre Lokale wechselten zu verschiedenen Malen und seit 1833 wurden namentlich das Michaeltheater, das Alexandertheater und das ehemalige große, steinerne Theater, theils für das Schauspiel, theils für die deutsche Oper benutzt. Die namhaftesten Gäste aus dem deutschen Vaterlande wurden herangezogen. 1824 trat der in Petersburg hochgefeierte Komiker Mohr zuerst auf, und wurde durch bleibende Anstellung bis auf die Gegenwart gefesselt. 1827 hatte Charlotte Birch-Pfeiffer, im folgenden Jahre Caroline Bauer mit außerordentlichem Beifall gastirt. Letztere nahm 1830 ein Engagement an. Herr und Frau Lenz (Kühne), die gefeierte Sophie Schröder gastirten 1829, die berühmte Stich-Crelinger ein Jahr darauf. Schon 1827 waren Wohlbrück und Vio (starb 33 Jahre alt zu Pertersburg 1833) angestellt worden. 1830 entzückte Krüger vom Hoftheater zu Berlin das Publikum in mehreren Rollen, 1833 hob Holland’s Engagement die Oper, das Jahr 1835 brachte wiederum neue Gäste, Carl Devrient, Auguste von Hagn, Frau Haizinger-Neumann, Herr und Frau Hoffmann, von denen die letzteren beiden engagirt wurden. Im Jahre darauf traf Ida Wohlbrück (die spätere Schuselka-Brüning) ein und wurde angestellt. 1837 erreichte die deutsche

 

 

____

LIX

 

Oper durch den Hinzutritt der Herren Breiting (bis 1840) und Versing, beides Lieblinge des Petersburger Publikums, ihren höchsten Glanz. „Nobert der Teufel,“ „die Jüdin“ und „der Postillon von Lonjumeau,“ auch die Posse „Zu ebener Erde und im ersten Stock“ vermehrten das Repertoir und füllten die Häuser. „Griseldis“ erhielt sich andauernd. 1839 trafen Charlotte v. Hagn, 1840 die Heinefetter, 1842 Emil Devrient in Petersburg als Gäste ein, 1841 entzückte Lilla Loewe’s liebliche Erscheinung, sie fand sogleich feste Anstellung (bis 1844). Das Jahr 1839 brachte den „Faust“ von Spohr, 1840 den „Templer und die Jüdin,“ den „Brauer von Preston“ und die „Euryanthe,“ 1841 die „Lucretia Borgia,” die „Lucia von Lammermoor.” Breiting erschien auf's Neue als Gast und erntete gewohnten Applaus. 1841 und 1845 spielte Wilhelm Kunst mit großem Beifall und 1846 wurde Franz Wallner als Komiker engagirt. Nachdem 1843 die deutsche Oper zum zweiten Male nach Moskau gesandt worden war, wo sie bis zu den Fasten des folgenden Jahres unter lebhaften Anklang Vorstellungen gab, wurde sie mit der „Stummen von Portici“ („Fenella“) im nächsten Jahre aufgelöst. Die Gründe dieses unerwarteten Endes schweben noch im Halbdunkel. — Versing und das Chorpersonal fanden bei der italienischen Oper, die mit den ersten Größen der Kunst glänzte, erwünschte Anstellung. —

 

Von des deutschen Petersburger Theaters innerer Geschichte, welche ich durch diese Aufzählung äuserer Angelegenheiten ersetzen mußte, bin ich nur im Allgemeinen zu bemerken im Stande, daß Alles, was Deutiehland an neuen guten Stücken aufzuweisen hat, so weit es irgend mit den Verordnungen der Censur sich verträgt, durch die stets beeiferte Direction und umsichtige Regie zur Aufführung gelangte. Es ist erklärlich, wie ein solches Institut unter mancherlei lokalen hemmenden Umständen und Rücksichten nie den

 

 

____

LX

 

freien Aufschwung nehmen konnte, wie gleichgestellte Anstalten in Dentichland. Um so lebhafteren Dank erwarben die Förderer, welche auch unter ungünstigen Umständen ihre Stütze nicht versagten.

 

Ueber das Riga’sche Stadttheater läßt sich auch nur das Allgemeinste berichten. Es gehört seit neuerer Zeit zu den besten Bühnen zweiten Ranges und hat bisweilen bei günstiger Zusammensetzung des Personals und guter Direction und Regie vollendete Darstellungen zu Tage gefördert. — Die älteste sichere Nachricht über eine Rigaer Bühne stammt aus dem Jahre 1711, als die sogenannten „hochdeutschen Komödianten” auf dem Bischoffsberge zur Riga ihr Theater mit Feier der Rückkehr Peter des Großen von seiner ausländischen Reise, eröffneten. Ostpreußische Schauspielergesellschaften spielten abwechselnd in den nächsten Jahren, bis 1760 — 1768 die Petersburger Truppe unter Hilferdings und Scutaris Direction Gastdarstellungen gab. 1768 erbaute man auf dem Paradeplatz ein größeres Gebäude, in welchem Gottschedsche und andere Albernheiten französischer und italienischer Dichter zum Besten gegeben wurden. Doch schon hatte der Berens’sche Kreis, dem mehrere berühmte Namen deutscher Literatur und Wissenschaft angehören, sich gebildet, 1764 war Herder in Riga eingetroffen und das Zusammentreffen so vieler geistiger Kräfte mußte auch auf die Bühne ermunternd und belebend wirken. Unter den nachfolgenden Directionen von Mende und Gantner tauchten Gellert’sche und Lessing’sche Bühnenstücke zuerst auf, fanden aber wegen der unvollkommenen Darstellung nicht den gewünschten Erfolg. Nachdem 1772 beide letztgenanten Unternehmer bankerott gemacht hatten, betrieb der Geheime Rath Baron Vietinghof, ein umsichtiger, erfahrener Bühnenfreund, die Berufung einer neuen Gesellschaft und eine Verbesserung des Inventars. Vietinghof, ein reicher livländischer Gutsbesitzer, deckte

 

 

____

LXI

 

jedes Deficit aus eigener Kasse, scheute zur Erweiterung seiner Kenntnisse die Mühe und Kosten einer ausländischen Reise nicht und sandte seine Truppe unterdeß (1775) nach Petersburg, wo sie bald sich veruneinigte und auflöste. Ein Theil der Gesellschaft kehrte wieder nach Riga zurück, wo von 1775 — 80 verschiedene durchreisende Truppen gastirten, unter denen ein Herr Fink und Frau Fink ungewöhnliches Talent in der Umkleidekunst entwickelten. Das gute Repertoir, auf dem Gellert und Lessing sich erhielten, mehrte den Besuch und als auf kaiserlichen Befehl der Paradeplatz geräumt werden mußte, erbaute der unterdeß aus dem Auslande heimgekehrte Baron Vietinghof in der Königstraße ein neues Haus, dessen Erdgeschoß dem wieder selbst übernommenen Theater und dessen oberes Stock Concerten und Bällen gewidmet wurde. In diesem nicht allzu großen Locale fand das Theater festen Bestand und noch heute theilen sich die Bühne und die Mussen-Gesellschaft in Benutzung der alten Räumlichkeiten.

 

Die neue Bühne wurde unter dem Namen: Rigaer Stadttheater am 15. September 1782 mit „Emilia Galotti eröffnet. Vietinghof überließ 1783 die Direction des nun in Gang gebrachten Geschäftes den Herren Meyrer und Koch, welche zuerst Iffland, Mozart, Schiller und Goethe über die Bretter führten und bald das Theater in seinem höchsten Ganze sich entfalten sahen. Der Zeitpunkt war ein überaus günstiger. —

 

Im benachbarten Mitau fanden häufige Darstellungen statt. Von 1791 ab gingen Koetzue’s Stücke unter stürmischem Beifall über die Bretter. Um dieselbe Zeit traten dem die Geschäfte leitenden Vereine verdiente Männer bei, wie Berens, den wir im Kreise seines Umganges näher kennen lernen werden, der Bürgermeister Wilpert und Fischer, um eine Actiengesellschaft zu bilden, die sich jedoch nur bis 1784 zu halten vermochte.

 

 

____

LXII

 

Unter wechselnden Bühnenzuständen vergingen mehrere Jahre, bis 1802 das durch lebhafte Betheiligung des kurländischen Adels erbaute neue schöne Mitauische Theater eröffnet wurde, das der Riga’schen Kasse nicht unbedeutenden Vortheil zuwandte, da es ohne eigene Truppe meist ausschließlich von Riga aus versehen wurde.

 

Im Jahre 1805 ehrte Riga das Andenken Schiller’s durch eine Benefizvorstellung zum Besten der hinterlassenen Familie. Mozart, Iffland, Klinger und Kotzebue wurden von namhafteren Stücken am häufigsten gegeben. Dem vielverdienten Meyrer folgte in der Direction La Roche. — 1812 übernahmen 24 Kunstmecäne die Leitung des Theaters und erhielten es mit einem Deficit von 12,000 Rubeln bis 1813. Fräulein Herbst, die Begünstigte der Zuschauerwelt, übernahm die Direction (1814—17), unter der namentlich Müllner und Theodor Körner zur Aufführung gelangten. Nach manchen wechselnden Ereignissen wurde 1827 auch das Rigaer Bühnenrepertoir der Prüfung des Obercensur-Comités unterworfen, was natürlich hemmend wirkte. Dennoch fehlte es nicht an Neuigkeiten, die von Gästen, wie die Birch-Pfeiffer, veranlaßt wurden. Der häufige Directionswechsel ließ fortan keine glücklichere Entwickelung aufkeimen, hemmte bald den Zufluß tüchtiger Kräfte aus Deutschland und die Kunstleistungen mußten nothwendig von der bisherigen Höhe herabsinken, was auf die Theilnahme des Publikums störend rückwirkte. Sehr erwünscht bot sich daher dem stets schaulustigen Publikum 1836 die Ankunft der unter Direction eines Herrn Genze stehenden Truppe, welche in Mitau und darauf in Libau mit Beifall gespielt hatte. Das in der Petersburger Vorstadt Riga’s eingerichtete Local füllte sich immer mehr und mehr. Der Direktor zog neue Kräfte heran, so daß er sich an einige Singspiele, sogar an Tragisches wie „Kabale und Liebe“ und Grillparzer’s „Ahnfrau“ wagen durfte.

 

 

____

LXIII

 

An vielen Orten der Ostseeprovinzen Rußlands erschien in diesem Jahre der Kunstsinn bejonders angeregt und fand erwünschte Befriedigung. In Dorpat brachte der als gemüthvoller Lieder-Componist hochgeschätzte Dr. Fr. La Trobe durch seinen damals blühenden Gesangverein Mozarts „Requiem“ zur öffentlichen Aufführung, in Riga vereinte während des Landtages ein glänzendes dreitägiges Musikfest eine Schaar von 10,000 Gästen. Unter Direction des verdienten Kapellmeisters Dorn, jetzt in Berlin, wurde eine Reihe von Mozart’schen, Gluck’schen, Beethoven’schen, Spontini’schen, Spohr’schen, Weber’schen Compositionen von 310 Singstimmen und 90 Orchestermitgliedern gegeben. Die Hauptfeier bestand in der Aufführung von Schneider’s Oratorium „Das Weltgericht.“ So vereinigt Musik die in allen Theilen der Welt verstreuten Glieder des deutschen Volkes zu einem harmonischen Ganzen. Und nur Musik vermag solche Wunder zu wirken. — Kleinere Ortschaften, wie die Städtchen Bauske und Goldingen in Kurland, errichteten auf Actien Liebhaberbühnen, in denen nach Maßgabe der Fähigkeiten und des Geschmackes manche gute Leistung vorbereitet wurde und zur Aufführung kam.

 

Ein Rigaer Comité, das durch Unterschrift den nöthigen Zuschuß herbeischaffte, berief endlich zum Leiter eines neuen Unternehmens Carl von Holtei, der am 1. September die Direction antrat, später auf eigene Gefahr die Geschäfte fortführte. Ein gutes Repertoir, häufige Gäste, die wir um dieselbe Zeit in Petersburg eintreffen sehen, hoben das Theater und steigerten die Theilnahme der zahlreicher und zahlreicher sich versammelnden Zuschauer. Leider trat Holtei nach dem bald erfolgten Tode seiner Gattin zurück und überließ die Direction dem bisherigen Regisseur J. Hoffmann, der, auf den Brettern der Liebling des Publikums, die Bühne bald neuer Blüthe entgegenführte. Gemeinschaftlich mit dem trefflichen Komiker W. A. Wohlbrück,

 

 

____

LXIV

 

welcher die Regie übernahm, wurden die Angelegenheiten zu allgemeiner Befriedigung gefördert. Der von Holtei gegründete Pensionsfond ward mit gutem Glück fortgeführt. Trotz der glänzenden Einnahmen bewilligte die Stadt gern einen jährlichen Zuschuß von 5000 Rubeln zur Entschädigung für die Sommermonate, während welcher die Bühne geschlossen stand. Dennoch trübten Mißhelligkeiten das gute Einvernehmen, und veranlaßten den beim Publikum allbeliebten Direktor abzutreten. Hoffmann schied 1844 unter lebhaftestem Bedauern der Theaterbesucher von Riga. Ihm folgte Engelken, der mit einem durchaus neuen Personal für Schauspiel, Oper und Ballet die Vorstellungen mit Moreto’s „Donna Diana“ eröffnete. Es war aber, wie ein Kritiker bemerkte, „keinesweges das Gute, das allein die Häuser füllte, sondern vielmehr das Neue. Herr Engelsen hatte den Geschmack des Publikums vorurtheilsfreier und richtiger als seine beiden Vorgänger taxirt und vergriff sich weniger in der Wahl der Stücke, von denen er den meisten Beifall hoffte — aber vom Standpunkte geistiger Unterhaltung und sinnlicher Ergötzung betrachtet, müsse jede anständige Bühne in dem, was sie bringt und wie sie es bringt, niemals dahin streben, den Geschmack des sogenannten Sonntagpublikums zu dem allseitigen zu machen.” An Gehalt standen die Aufführungen weit zurück hinter den unter Hoffmann und Holtei gewohnten. Am meisten schadete Engelken ein von ihm mitgebrachter Dramaturg, dessen Unwissenheit und Anmaßung in Gedichten und Bühnenkritiken sich breit machte, bis Mr. Carl Alt, ein gewandter und scharfsinniger Kritiker dem Unwesen ein Ende machte. Nach Engelken wurde die Direction von Ringelhard übernommen, der trotz mancher bedeutenden und berühmten Gäste, wie Wallner, Hoffmann, Hendrichs, die Schröder-Devrient, Emil Devrient, welche während seiner Führung die Bühne betraten, das Institut

 

 

____

LXV

 

nicht zu heben vermochte. Seit neuerer Zeit ging die Direction in die Hände Tomé’s über, der mannigfaltige Anerkennung sich erwarb. Ende der vierziger Jahre hatte Lenz (Kühne) in Riga gastirt und erfreute, wie früher Holtei, durch seine dramatischen Vorlesungen in privaten und öffentlichen Zirkeln. Auch die Städte Fellin und Dorpat lernten sein ausgezeichnetes Lesetalent bewundern, das vor ihren Augen die mannigfaltigsten Charaktere der Dramen eines Gutzkow, Laube, Immermann, Iffland, Schiller, Goethe, Shakespeare in Fleisch und Blut wandelte. Auch Mitau, dessen Bühne in den Sommermonaten von Riga’schen Schauspielern besucht zu werden pflegt, nahm wenig Theil an den Leistungen der Ringelhard’schen Gesellschaft, wenngleich die dortige Kritik günstig gestimmt schien. Ebenso wenig gefiel die Erlanger’sche Truppe, welche nach einem (1846) gescheiterten Unternehmen von Reval nach Mitau (1847) herüberreiste. Im Jahre 1846 sah Pernau bei der Köhler’schen Bande Halm’s, Gutzkow’s und Laube's Dramen über die Bretter gehen. Auch in den Städten Werro, Wesenberg u. a. zeigten sich in verschiedenen Jahren durchziehende Truppen, die neben der Zerstreuung neugieriger Zujchauer immerhin den Nutzen der Dolmetschung neuer guter Dramen gewähren, die sonst nicht so allgemein wären gelesen worden. — In Reval hatten in früherer Zeit sowohl die Riga’schen, als auch die Petersburger Schauspieler gastirt. 1785 hatte Kotzebue, während er dort als Beamter und Gutsbesiter lebte, ein Liebhabertheater gegründet, an dem er selbst als Dirigent und Theaterdichter sich betheiligte. Seiner besten Stücke einige wurden hier zuerst aufgeführt. 1796 war die Leitung der Revaler Bühne von Johann Nicolaus Smets von Ehrenstein übernommen worden — dem Vater des Dichters Wilhelm Smets, welcher dort von seiner Mutter, der berühmten Sophie Schröder, geboren wurde. Der Vater führte die Geschäfte der

 

 

____

LXVI

 

Bühne einige Zeit fort und verfiel in Wahnsinn. Die berühmte Elisabeth Mara brachte, nachdem sie vergeblich in Petersburg und Moskau einen ruhigen Sitz für ihr Alter gesucht hatte, in Reval und auf den Landschlössern des estnischen Adels ihre letzten Jahre zu. Zur Begründung und Verbreitung eines guten musikalischen Geschmacks war sie in den Unterrichtsstunden, welche sie bis in die letzten Lebensjahre ertheilte, allezeit beflissen und steht noch heute bei Jüngeren aus der Ueberlieferung im besten Andenken. 1831 hatte Goethe ihren 80sten Geburtstag durch ein Gedicht gefeiert und 1833 schied die hochbetagte Greisin aus einem Leben, dessen letzte Jahre sie in sorgenfreier Muße hatte zubringen dürfen unter wohlwollenden gebildeten Menschen, welche sie achteten und ihr Talent würdig anerkannten, im Genusse des humansten Gastrechtes. Unter Anderen setzte ihr A. v. Sternberg in seinen „berühmten deutschen Frauen” ein ehrendes Denkmal. Seit ihrer Zeit blieb der musikalische Sinn der Estländer beständig angeregt und liefert noch heute durch die beiden in Reval bestehenden Gesangvereine die schönsten Lebensbeweise. Ich brauche nur an die Aufführung von Haydn’s „Schöpfung (1846), „Die Jahreszeiten“ (1847), Mozart’s „Requiem,“ Mendelssohn’s „Elias“ und „Paulus“ zu erinnern. — Nach einer längeren Zwischenzeit bildete sich endlich (1847) - zu Reval — nachdem Schauspieler aus Riga dort gastirt hatten — eine adeliche Theater-Actiengesellschaft, an deren Spitze die Barone Ungern-Sternberg, Rossillon und Wrangel standen, und berief im Herbste desselben Zahres Herrn Köhler zum Direktor der Bühne. Seitdem hat das dortige Theater festeren Bestand gewonnen. Zu Zeiten bildete sich, wie in eben dem Jahre, in Katharinenthal, dem Hauptbelustigungsorte der Revalenser, eine Sommerbühne, die vielseitigen Zuspruches sich erfreute, zumal Reval als Seebad viele Gäste anzieht. Gleichzeitig kam in Dorpat

 

 

____

LXVII

 

unter Mitwirkung des Adels und Gelehrtenstandes ein Privattheater auf, dessen Leistungen vielfach gerühmt, leider nur einer geladenen kleinen Zuhörerschaft zugänglich sind. So hatte in den ersten dreißiger Jahren das berühmte Streichquartett des Herrn von Liphard auf Rathshof viel von sich reden machen, vereinigte aber nicht selten in anziehenden Concerten eine Zuhörerschaft, welche aus fernen Theilen der Provinz herbeiströmte. Zwei berühmte Glieder jener Capelle waren der Cellist Romberg und der jetzige erste Violinist des Leipziger Gewandhauses David.

 

In Dorpat bildete sich Anfang der vierziger Jahre unter den Studirenden ein Orchester-Verein, der zu verschiedenen Malen mit seinen Leistungen vor das große Publikum trat. Die Musik-Direktoren Mumme und Brenner beeifern sich in den verschiedensten Richtungen; und sowohl ältere klassische Musik als neuere berühmte Compositionen werden in ihren Gesangvereinen mit Präcision ausgeführt.

 

Hatten Riga und Reval zu verschiedenen Zeiten der Concerte mehrerer Mitglieder von der italienischen Oper aus Petersburg sich zu erfreuen, unter denen Tamburini am meisten glänzte, so theilte es die Concerte des Violinisten Ernst mit Mitau, Dorpat und Reval, welche mit einander wetteiferten, dem berühmten Künstler Triumphe zu bereiten. — Auf der Straße von Deutschland nach Petersburg gelegen, hatten die Ostseeprovinzen namentlich vor Eröffnung der Dampfschifflinien zwischen Petersburg und den verschiedenen deutschen Ostseehäfen die Gunst, alle zur Residenz ziehenden oder von ihr zurückkehrenden großen Künstler auf der Durchreise zu hören. Clementi, Field, Charles Mayer, Eichhorn’s, Milanollo’s, Thalberg, Henselt, Dreischock, Lißt, Leopold v. Meier, Reinhard, A. Gercke, Damke, Robert und Clara Schumann, Molique, Elise Christiani, Vieurtemps, Servais, die Brüder Müller, Rubinstein, Frackmann, Promberger,

 

 

____

LXVIII

 

Schulhof, Apollinary Kontsky durchzogen im Triumph Riga und Dorpat, wohl auch Reval. Mehre von ihnen drangen, wie Lißt und Elise Christiani, die im Kaukasus starb, tiefer in das innere Reich ein, oder siedelten sich, wie Rheinhard, Charles Mayer, Henselt, Damke, auf längere Zeit in Petersburg an. Seit dreißig Jahren haben die Brüder Grafen Wielhorski und der General L’wow als Mecänate der Musik Kunst und Künstler geschützt, bis endlich aus ihren kaislich-symphonischen Abenden — an welchen der kaiserliche Hof und Alles sich betheiligte, was Macht, Reichthum, Schönheit, Geschmack und Genie in Kunst und Leben zu bieten vermögen — eine „Concertgesellschaft“ hervorging, welche den Kunstgenuß weiteren Kreisen zugänglich machte.

 

Wie die Musik, so fand auch die schöne Literatur und Wissenschaft vor dem großen Publikum ihre Anwalte. In Riga tauchten die Vorlesungen des Dr. Eckers auf, in Dorpat die des Lektors für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Dr. Victor Hehn, in Reval die des Dichters Roman Freiherrn Budberg-Benninghausen, sämmtlich über neuere Literatur und Dichtkunst, und die Vorträge des Dr. Meyer über klassiiche deutsche Literatur, und sammelten in ihren Sälen zahlreiche Zuhörerschaft, unter welcher namentlich die Damenwelt der verschiedenen Gesellschaftskreise sich hervorthat. — Nicht minder zogen im Dorpat und Reval populär-wissenschaftliche Vorträge der Professoren und Privatgelehrten begierige Hörer an.

 

Von inländischer Journalistik übergehe ich die Schaar der Eintagsfliegen, welche entstanden und untergingen, ohne eine Spur ihres Wirkens zur hinterlassen. Der von Merkel gegründete, später mit Unterstützung des gewandten Kritikers Harald von Brackel fortgesetzte „Zuschauer” wurde vielfältig gelesen. Gegenwärtig sind das „Inland“ und die „Riga’sche Zeitung“ zu nennen. Ersteres vom damaligen Professor Dr. jur.

 

 

____

LXIX

 

Bunge 1836 gegründet, befaßt sich enger und fast ausschließlich mit den statistischen, landwirthschaftlichen, geographischen, historischen, gesellschaftlichen, schönwissenschaftlichen u. a. m. Interessen der deutsch-russischen Ostseeprowinzen, ohne pedantisch Allgemeineres abzuweisen, wie es sich ohne Hindernisse darbietet, korrespondirt auf geraden Wege mit den verschiedensten Orten der Ostseegonvernements, bringt ausschließlich nur direkt eingesandte Originalarbeiten, bildet endlich, mit genauen und umfassenden Inhaltverzeichnissen versehen, ein unentbehrliches Repertorium des Wissenswürdigsten über Liv-, Est- und Kurland, und darf auch nach fremdem Zeugniß den besten Provinzialblättern Deutschlands an die Seite treten. Das „Inland“ unterhält an den entlegentsten Orten, selbst außerhalb der Grenzen europäischer Civilisation, stete Gemeinschaft mit den von der Heimath getrennten Landsleuten und wird auf den äußersten Vorposten Rußlands in Warschau, Odessa, Astrachan, Achangel, ja in Irkutst und Sitka, auswärts in Paris, in London, an verschiedenen Orten Schottlands, in Constantinopel, in Teheran, in New-York, Boston, New-Orleans u. a. O. gelesen. Gelehrte Gesellschaften, öffentliche Bibliotheken und Zeitungsredactionen im Helsingfors, Stockholm, Stettin, Danzig, Breslau, Berlin, Leipzig, Jena u. s. w. beziehen durch das „Inland“ Kunde vom Leben, Treiben und Sinnen der Deutschen in Rußland. — Die Redaction wechselte häufig, fand besonders zu Anfang in Dr. Bunge und später in dem Secretair der geschicht- und alterthumforschenden Gesellschaft zu Riga, jetzt Universität-Syndikus zu Dorpat, Theodor Beise thätige Leiter und ist seit dem Januar 1854 in die Hände eines Vereins von Dorpater Gelehrten übergegangen, welche alle Kräfte zur Förderung der guten Sache aufbieten. Dr. Woldemar Schulz nimmt sich ihrer am lebhaftesten an. Die Mitte der vierziger Jahre begründete

 

 

____

LXX

 

belletristische Beilage hatte keine Lebenskraft und ging bald unter.

 

Die politische „Riga’sche Zeitung“ stellte sich in ihrem Extrablatt die Aufgabe, nicht nur für guten Unterhaltungsstoff, sondern auch für gewissenhafte Beurtheilung künstlerischer und poetischer Schöpfungen, sofern sie namentlich den Interessen des Landes sich anschließen, Sorge zu tragen. Die meisten und jedenfalls tüchtigsten Bühnenkritiken rühren her von dem schon oben erwähnten Herrn Alt, einem Manne von guter wissenschaftlicher Bildung, der als humoristischer Schriftsteller in seinen „humoristischen Studien” vortheilhaft bekannt, zu den gewandtesten deutschen Tagblattschriftstellern der Gegenwart zählt. Glätte des Ausdrucks in lebendiger Charakteristik, scharfer Unterscheidung und treffendem Vergleich stehen ihm namentlich in musikalischer Beurtheilung als gründlichem Kenner zu Gebot. Die Getadelten nennen ihn ungerecht, aber das Publikum liest seine Kritiken gern. Namentlich seit Alt’s Betheiligung ist die „Riga’sche Zeitung“ das in Rußland weitest verbreitete deutsche Blatt. — Vor Alt genoß Harald Brackel durch seine Urtheile im „Zuschauer” den Ruf eines strenggewissenhaften einsichtigen Recensenten.

 

Während Wissenschaft, deutsche schöne Literatur, musikalische Reproduction und Theater in Rußland und besonders in dessen deutschen Ostjeeprovinzen festen Fuß gefaßt, und mehr und mehr sich fortentwickelt hatte, blieben die Künste: musikalische Composition, Bildhauerei und Malerei, enge mit den übrigen Erscheinungen verknüpft, nicht zurück. Der Livländer Carl Graß, mit Salis und Schiller innig befreundet, ein Schüler Ludwig Heß’, bildete sich in der Schweiz und Italien als Dichter und Maler aus. Seine Richtung in der Kunst ist durch die Namen der Freunde und des Lehrers wie durch den Ort seiner Studien genugsam bezeichnet. Ihrer Zeit genossen die Brüder

 

 

____

LXXI

 

Kügelgen aus Estland als Maler auch in Deutschland Anerkennung in einer unnatürlichen Richtung, die längst von der neueren Kunst überwunden wurde. Als Landschafter und Tondichter steht J. Fr. La Trobe Dr. med. in bestem Rufe. In den Grundjätzen der klassischen Compositionschule gebildet, erwarben seine poesiereichen Musikschöpfungen in den Ostseeprovinzen verbreiteten Ruf, und auch Goethe hatte den jungen Componisten seiner Lieder, der ihm durch Zelter vorgestellt wurde, freundlich ermuntert. Außer mehreren zu Dorpat in Druck gegebenen Liederheften erschien nach seinem Tode in Berlin ein Stabat mater, von F. Mendelssohn-Bartholdy besonders empfohlen, und gelangte endlich im Winter von 1852 auf 53 in St. Petersburg durch die weltberühmten kaiserlichen Hofsänger unter allgemeinem Beifall zur öffentlichen Aufführung. Zahlreiche schätzbare Sätze für Chor und für Quartett und eine Singstimme sind als Manuskripte in den Provinzen zum Theil bekannt und verbreitet. La Trobe fehlte nur ein Wirkungskreis unter öffentlich minder gehemmten Verhältnissen, um zum berühmten Musiker emporzusteigen. Als Gesangkomponisten machten sich zu Petersburg Behling, später Schreinzer geltend. — Mit Graß und La Trobe befreundet war Weyrauch, Lektor der deutschen Sprache und Literatur zu Dorpat, literarisch in Schiller-Goethe’scher Art, musikalisch in ureigenthümlicher Weise vielfach thätig gewesen. — Als trefflicher Zeichner, dessen Talent die deutsche Kritik dem eines Retzsch an die Seite stellte, den er an Korrektheit und Schönheit menschlicher Gestalten übertraf, that sich in Dorpat Ludwig von Maydel hervor, dessen Umrisse zur alten livländischen Geschichte (2 Hefte) und Illustrationen zu Joukoffsky’s hexametrischer Uebersetzung von Fouqué’s „Undine“ den besten Meisterwerken seiner Kunst würdig zur Seite stehen. — Der alten Heimath an der Ostsee entrückt lebt zu Dresden als Akademiker Professor J. K. von

 

 

____

LXXII

 

Bähr, als Geschichtforscher, namentlich auf dem Gebiete livländischer Vorzeit, und als Historien-Maler zugleich thätig. Sein Gemälde „Der Tod Iwan des Grausamen” wurde auf der Berliner Kunstausstellung 1853 mit Anerkennung genannt. In Düsseldorf formte sich das liebenswürdige Talent Gerhard v. Reutern’s, der seit einigen Jahren in Frankfurt a. M. seinen Aufenthalt nahm. — Heubel, im Auslande und in Deutschland gebildet, hatte der Historienmalerei mit genialer Kraft sich zugewandt, mußte aber nach seiner Heimkehr in Livland in den schönsten Jahren reicher Manneskraft hinscheiden. Die Kunst verlor an ihm ein vielversprechendes Talent, dem nur wenige Schöpfungen zu hinterlassen beschieden war. — Kotzebue, der jüngste Sohn Ietzter Ehe des bekannten Bühnendichters, zeichnet sich als Schlachtenmaler aus, und hielt sich Studien halber seit mehreren Jahren in München und Rom auf. Andere Künstler aus Rußland sind seit Jahren mit Kopiren der ersten Meisterwerke des „museo“ in Madrid für die Gallerie der Petersburger Eremitage beschäftigt. — Im Portrait leistete der in Dresden gebildete Portraitmaler Felix v. Sivers () Löbliches; im Genrebilde ein geborener Rigaer Rizzoni, der Sohn eines Schuhmachers daselbst; im Portrait und Genrebilde Fräulein Hagen, die Tochter des Landschafters Hagen in Dorpat, Zeichnenlehrers an der Universität, eine Schülerin Rugendas’. — Die Bildhauerei ist am schwächsten vertreten, wir nennen für Alle Herrn von Clodt aus Livland, dessen Broncepferde vor dem königlichen Schloß in Berlin, an einer der Petersburger Kanalbrücken u. a. m. hinreichend bekannt sind. Unter den Musikern gedenken wir noch der Thätigkeit einiger Kapellmeister an der Rigaschen Oper. Richard Wagner, auf den ich später zurückkomme, Dorn und Schrâmek sind als Componisten genugsan bekannt.

 

Nicht minder wichtig für den Fortschritt ästhetischer

 

 

____

LXXIII

 

Bildung sind öffentliche Kunstsammlungen. Als die großartigste stehe füglich die kaiserliche in der Eremitage zu St. Petersburg oben an. Sie wurde mit unermeßlichen Unkosten angelegt und wächst beständig durch neue Ankäufe. Leider öffnet sich dieser Abgrund von Sälen nur eingeführtem oder empfohlenem Besuche, wodurch Kunst-Genuß und Bildung erschwert, nicht so rasch sich verbreiten konnten, als in andern Ländern, in denen ohne weitere Meldung jeder Fremde die königlichen und städtischen Sammlungen besucht. Um so dankbarer erkennt der Kunstfreund die Freisinnigkeit an, mit welcher reiche Privatleute ihre Schätze fremden Gästen öffnen. Vor allen andern erwähne ich rühmend die 200 Nummern haltende Gallerie des Rathsherrn Brederloh in Riga, welche durch den Besitzer aus kleinem Anfang durch Ankauf von Gemälden älterer und neuerer Zeit im Laufe langer Jahre angewachsen ist und in werthvollen Meisterwerken die bedeutendsten Maler verschiedener Schulen vorführt. Berühmte Namen sind zahlreich, aber auch minder Berühmte lieferten tüchtige Arbeiten. Die besten Gemälde rühren her von: Achenbach, Berghem, Biard, J. Breughel, Deger, Dietrich, Van Dyk, Le Duc, Fendi, Fux, Gail, Gauermann, Gudin, Heubel, Kirner, Klomp, Kunz, Edw. Landseer, Lessing, Lindan, Manfrede, Meucheron, Christi, Carl Morgenstern, Parmegiano, Pistorius, Raden-Saleh), Reinhard, Rizzoni, Ruysdahl, Salvator Rosa, Sandart, Schelforth, Schenren, C. Schulz, Suyders. Nicht laut genug sollte anerkannt werden, daß Fremde ohne alle Empfehlung — durch persönliche Vorstellung und in Abwesenheit des Besitzers nicht minder ungehindert — Eintritt erlangen, um in den sieben kleinen und großen Sälen, wie in einer öffentlichen Gallerie, sich zu bewegen, und dennoch sind sämmtliche Räume als Privatwohnung eingerichtet und zum Theil benutzt. Die Vorausetzung kunstsinniger Pietät ist doppelt ehrend für beide Theile.

 

 

____

LXXIV

 

In und bei Dorpat sind die trefflichen Sammlungen des Dr. von Liphard und des Landrath von Liphard auf Rathshof dem Besucher nicht verschlossen. Meisterwerke des Pinsels (niederländischer und italienischer Schule) und des Meißels (Nachbildungen bekannter Antiken in carrarischem Marmor) finden sich in gediegenster Auswahl. — Sehenswerth ist in Dorpat ferner die Malerwerkstätte des Landschaftmalers Hagen, bestehend aus eigenen Iandschaftlichen Darstellungen nebst zahlreichen Studien und Gemälden seiner talentvollen Tochter und einiger Oelskizzen von Rugendas aus dem tropischen Urwalde Amerika’s. — Das Kunstmuseum der Dorpater Universität verdient seiner Gemmen und Münzen wegen besucht zu werden, ist aber seit den Ietzten Jahrzehnten auf halbem Wege stehen geblieben. Diese wie die übrigen Cabinette der Universität sind dem Fremden, wenn auch nur nach Beseitigung hemmender Umstände zugänglich, zu denen namentlich die Ungewißheit über Tage und Stunden des Besuches gehören, oder die Unbequemlichkeit, daß der Schlüssel in Verwahr dieses oder jenes Professors liegt, der in der Stadt irgendwo wohnhast allein seine Schätze zeigen dürfe. Der Universität und ihren Kabinetten (ein physikalisches, ein mineralogisches, ein zoologisches, ethnologisches, anatomisches etc.) schließt sich die in der zum Theil neuausgebauten gothischen Domruine aufgestellte Bibliothek würdig an. Außerhalb der Universität zeigt sich das Streben des größeren gebildeten Publikums in verschiedensten Zweigen rege und giebt sich namentlich in mehreren zum Theil gelehrten Gesellschaften zur erkennen. In Dorpat zuförderst nenne ich „Die gelehrte estnische Gesellschaft” (gegründet 1838), welche auf dem Gebiete der estnischen Sprache und Literatur, livländischen Geschichte u. s. w. thätig, eine sehenswerthe Sammlung inländischer Alterthümer und eine Bibliothek besitzt und ihre „Verhandlungen der gelehrten estnischen Gesellschaft zu Dorpat“ (bis

 

 

____

LXXV

 

jetzt erschienen 3 Bände und 1 Heft des 4ten) in Druck giebt. Ferner besteht seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts „Die gemeinnützige ökonomische Societät” mit einem Cabinet ackerbaulicher Geräthe und einer Bibliothek. In ihren „Jahrbüchern“ fördert sie die Interessen der Gegenwart. Dieser Gesellschaft angeschlossen übergiebt die 1851 konstituirte „Dorpater naturforschende Gesellschaft,“ welche ausschließlich mit den deutschen Ostseeprovinzen sich befaßt, in ihrem „Archiv“ die wissenwerthesten Ergebnisse ihrer Forschungen der Oeffentlichkeit. Bibliothek und Cabinet sind bereits mit reichen Anfängen begründet. Diesem Vereine verwandt, doch zugleich allgemeiner Naturkunde gewidmet, bildete sich 1844 zu Riga der „Naturforschende Verein,“ dessen „Arbeiten“ und „Korrespondenzblatt“ von seinem Wirken Auskunft geben. Eine Bibliothek und ein Cabinet verdienen Beachtung. Wir erwähnen ferner die „Geschicht- und alterthumforschende Gesellschaft“ in Riga, deren geschätzte periodische „Mittheilungen“ gediegenes Material anhäufen und sichten. Aelteren Ursprunges als die meisten dieser Gesellschaften ist die 1816 von Ulrich von Schlippenbach, Georg von Fölkersahm, J. von der Recke u. a. gegründete „Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst,“ die verbunden mit dem Mitau’schen „Kunstmuseum“ und seinem periodischen Blatte die Mutter unserer gelehrten Gesellschaften genannt werden darf. Guten Ruf erwarb sich durch ihre Mittheilungen die „Kurländische landwirthschaftliche Gesellschaft.“ — Zu Reval giebt die „Literarische Gesellschaft" sowohl durch ihr „Archiv für die Geschichte Liv- und Estlands“ als durch andere auf ihre Kosten herausgegebene Schriften (wie Neus Sammlung estnischer Volkslieder) von sich Kunde. — In Petersburg, dem Centralpunkte des Lebens in Rußland, könnten wir zahlreicher kaiserlicher und privater Anstalten Erwähnung thun, welche sämmtlich Verbreitung und Förderung der Bildung in allen

 

 

____

LXXVI

 

Fächern des Wissens verfolgen. Die Akademieen der Wissenschaften und der Künste, die Universität, das Bergcorps etc. sind zu bekannt, als daß hier von ihnen weiter die Rede sein könnte. Die Universitäten im inneren Rußland sind dem großen Publikum Deutschlands wohl nur dem Namen nach bekannt, denn über ihre Thätigkeit wird wenig berichtet. Zahlreiche deutsche Lehrer — selbst durch deutsche Wissenschaft, Kunst und Literatur gebildet — sind an jenen Hochschusen thätig die Sprossen der Humanität auch ferneren Regionen einzupflanzen. An jeder Universität besteht ein Lehrstuhl auch für deutsche Sprache und Literatur und ist namentlich in Dorpat vom Lektor Dr. Riemschneider, in Petersburg von Dr. Fr. Meyer, in Moskau von Julius Cäsar Fölkel, in Kasan von Karl Neu, in Charkow von August Mettlerkamp und in Kiew von Sigismund Krause besetzt.

 

Im Ganzen — muß zu unserer Schande eingestanden werden — ist die Kunde, welche wir von diesen weit versprengten Vorposten und Bollwerken wissenschaftlicher Bildung besitzen, nur zufälliges Stückwerk, da eine regelmähige rege Verbindung, welche uns von den Vorgängen und Fortschritten unterrichtete, nicht besteht. Das monatlich erscheinende „Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Rußland” gelangt kaum bis zu uns, läßt aber ein nationales Leben voraussetzen. Von anderen deutschen Zeitschriften im innern Reiche läßt sich nichts sagen.

 

Ueber das Leben der protestantischen deutschen Kirche bringen Dr. E. Ch. Ulmann’s „Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Geistlichkeit Rußlands” dem Kulturhistorischen zum Theil angehörige doch vielfach beschränkte Nachrichten.

 

Das deutsche Element verbreitet sich über Rußland, so weit dieses über die alte und neue Welt seine Herrschast erstreckt, und ist in der That dichter vertheilt, als die ethnographischen Karten von Berghaus

 

 

____

LXXVII

 

und Stricker’s „Verbreitung des deutschen Volkes über die Erde“ andeuten mögen, welche nur die als Gemeinden zusammengetretenen, oder doch zahlreicher bei einander wohnenden Deutschen berücksichtigten. Nicht nur um Alexander- und Nicolasdorf bei Nowgorod, in Sarepta und Saratow, Robendorf bei Woronesch, an verschiedenen Orten der Krimm, an den Küsten des Asowschen und Schwarzen Meeres und um Tiflis und Elisabetpol, sondern in wohl allen größeren Ortschaften des Reiches sind Deutsche zahlreich wohnhaft. Deutsche Geselligkeit und Geistesbildung schlugen Wurzel zumeist in großen Städten, so gut in Archangel, Orenburg, Astrachan, Odessa, Wilna und Warschau, als in Petersburg und Riga. Hin und wieder bringen Zeitungen, bringen Bücher Kunde vom Deutschthum in den entlegenen Regionen des Kaiserstaates. Wir vernehmen von Goethe-Festen, welche in Wolhynien und Podolien am hundertjährigen Geburtstage des Dichters abgehalten wurden, oder literarisch-kritische Arbeiten, wie Professor Dr. Neukirch’s „Dichterkanon,“ der auch in Deutschland gewürdigt worden, bringen aus Kiew, oder Mettlerkamps „Liederschwalben aus Charkow Kunde freipulsirenden deutschen Lebens. Von Warschau gingen Bratranek’s „Aesthetische Studien“ und „‚Aesthetik der Pflanzenwelt“ aus. Aus Petersburg entsandten Oulibischeff und Lenz ihre Schriften über Mozart und Beethoven. — Der rein wissenschaftlichen Leistungen erwähne ich hier nicht weiter, wie sie in Einzelwerken und Bulletins der Akademieen von Moskau und Petersburg vorliegen. Mag auch russische und französische Sprache als Mittel hervortreten: Stoff und Wisseschaft werden häufig von Deutschland herbeigezogen. Doch liegt hierin kein Tadel für russisches Wesen, sondern das höchste Lob — es spricht sich darin aus Bedürfniß und Streben nach wissenschaftlichem Besitz, nach humaner Bildung.

 

Alle diese Erscheinungen im Innern des Reiches

 

 

____

LXXVIII

 

sind und bleiben bis heut Inseln gleich vereinzelt, weil die Wellen des fremden Elementes sie umfluthen. Vergessen wir aber nicht, daß ein Meer nicht scheidet, sondern verbindet; und die Bildung wird uns auch über die weitesten Entfernungen einander nähern. Es ist minder das fremde Blut, welches Nationen von Nationen trennt, als die Verschiedenheit der Bildungsstufe: denn gleichgebildete Völker haben allezeit dasselbe Interesse, von dem nur Mißverständnisse ableiten können, gleichgebildete Völker werden sich naturgemäß befreunden. — Die Aufgabe des Deutschen ist nicht die, fremden Stämmen eine fremde Kultur aufzunöthigen, sondern die vorhandene gesunde dem Volke inwohnende Ktraft in eigenster Entwickelung zu fördern. In dieser Einsicht wirkten nicht ohne zahllose oft kaum überwindliche Hemmungen die Beherrscher Rußlands, und betraten einen Pfad, der zwar anfangs langsam, aber in zunehmender Geschwindigkeit zum höheren Ziele hinanführt. — Eingedenk solcher Aufgabe erhält und pflegt der Deutsche seine Nationalität und die mit ihr verschwisterte Bildung, hängt mit Zähigkeit an seiner Volksthümlichkeit und Sprache. Germanische Völker trugen in die entferntesten Ländergebiete, schützten und förderten Künste, Wissenschaften und Literatur, brachten politische Gewalt und ruhmgekrönte Herrscher, deren sie selbst entbehren. Politische Selbstständigkeit und Herrschaft, nach der die Deutschen strebten, ward ihnen nicht, aber sie genießen den Ruhm, in humaner Bildung auf erster Stufe zu stehen. Mag der VerIust jener noch so tief uns schmerzen, der Besitz dieser ehrt und mächtiget uns.

 

Aus solchen und ähnlichen Betrachtungen entstand das Gedicht

 

 

____

LXXIX

 

Des Deutschen Heimathland.“

 

Von Eider, Rhein und Oder
Hinaus zur Alpenwand
Zerfiel in Schutt und Moder
Das deutsche Vaterland.

 

Hinaus in alle Zonen
Treibt euch ein irrer Wahn,
Wie Israel zu wohnen,
Seid ihr verflucht fortan.

 

Ihr seid der Dung dem Acker,
Das Völkersalz der Welt;
Als Würze seid ihr wacker,
Als Speise schlecht bestellt.

 

Drum auf! am Pilgerstabe
Mit starkem, frohem Muth,
Als beste Wandergabe
Ein freies warmes Blut!

 

Der Knechtichast überdrüssig,
Zieht ihr zum Herrschen fort.
Zu keiner Stunde müßig!
Schallt euer Losungswort.

 

Aus Englands freiem Strande,
Am stolzen Seinefluß,
Ertönt vom deutschen Lande
Ein brüderlicher Gruß.

 

Wo ihre gelben Wogen
Die alte Tiber rollt,
Und wo des Halbmonds Bogen
Dem Frankenkreuze grollt;

 

 

____

LXXX

 

Wo Skandinaviens Küste
Den Fels zum Nordmeer beugt,
Und wo das Eis der Wüste
Sibiriens Gold erzeugt;

 

Und wo in Tropengluten
Vanill’ und Kaffee reift,
Wo durch Sahara’s Fluten
Das Schiff der Wüste streift;

 

Und wo im Westen ferne
Auf himmelblauem Feld
Der Freiheit gold’ne Sterne
Zum Bunde sich gesellt —

 

Allüberall ertönet,
So weit ein Morgen graut,
Was unser Herz versöhnet:
Der deutsche Mutterlaut.

 

Und was am eignen Herde
Der Deutjhe nimmer fand,
Beut nun die ganze Erde,
Ein deutsches Vaterland.

 

 

Planhof,
bei Wolmar in Livland,
im September 1854.

 

J. S.

 

___

 

 

 

August Friedrich Ferdinand v. Kotzebue
(1761-1819)

 

wurde am 3. Mai 1761 zu Weimar geboren, wo sein aus Braunschweig-Wolfenbüttel stammender Vater Legationsrath war. Die von ihm selbst erzählte Jugendgeschichte verräth schon die Keime seines künftigen Charakters in schärfster Sonderung. Kotzebue, ein Schüler Musäus’, war von empfänglichem, regsamem Geiste, entwickelte als Kind schon zeitig seine Fähigkeiten und verlor bald bei mannigfacher Nahrung einer grenzenlosen Eitelkeit die Unbefangenheit und Reinheit des Herzens. Leidenschaft für das Theater entwickelte sich gleichzeitig unter den Eindrücken der eben in Weimar vom Großherzog errichteten Bühne. Im Jahre 1777 begab Kotzebue sich nach Jena, wo neben dem Lateinischen und Griechischen die Poesie seine Hauptbeschäftigung bildete. Ein Gedicht „Ralph und Guido,“ das der 16jährige Knabe anonym Wieland zusandte, fand im „Deutschen Merkur” Aufnahme. Gleichzeitig betheiligte sich Kotzebue an einem von den Jenenser Studenten errichteten Liebhabertheater. Als im folgenden Jahre seine Schwester nach Duisburg verheirathet wurde, begleitete er sie dahin, legte sich auf die Rechtswissenschaft, brachte auch hier unter den Studirenden ein Liebhabertheater zu Stande, schrieb Romane, auch Lust und Trauerspiele, die er auf der selbstgeschaffenen

 

 

____

121

 

Bühne zur Aufführung brachte. In Jena, wo er von 1779 ab seine Rechtsstudien fortsetzte, errichtete er einen Dichterklub, der zu seiner Fortbildung Vieles beitrug, und wurde Mitglied der „Deutschen Gesellschaft”, bestand endlich in Weimar sein Staatsexamen und reiste, schon damals als verrufener Pasquillant berüchtigt, 1781 nach St. Petersburg, wohin er durch den Grafen Görz, einen Freund seines Vaters, als Privatsecretair des Generals Bauer berufen war. Nachdem der Letztere die Leitung des dortigen deutschen Theaters übernommen hatte, schrieb Kotzebue für dasselbe ein Trauerspiel in fünf Aufzügen: „Demetrius, Zaar von Moskau“ und bald darauf das Lustspiel: „Die Nonne und das Kammermädchen. — Nach Bauer’s Tode wandte sich Kotzebue nach Reval, trat als Hofmeister in das Haus eines Baron Rosen, dessen Tochter er bald darauf heirathete. Von den neuen Verwandten unterstützt, wurde er zum Assessor des Appellations-Gerichts und 1785 als thätiger gewandter Beamter zum Präsidenten des Gouvernements-Magistrats daselbst ernannt und in den Adelstand erhoben.

 

Auch in Reval gründete der rastlose Theaterfreund eine Liebhaberbühne, der er alle Sorgfalt widmete. Einige seiner bedeutendsten Stücke, wie „Menschenhaß und Reue,“ das seiner Zeit eine Aufregung wie kaum Werther's’ Leiden verursachte, entstanden in Reval und gelangten hier zur ersten Darstellung. Die einmal gegebene Anregung wirkte fort, und erhielt die kleine Bühne wenn auch nicht ununterbrochen, so doch stets mit neuen Kräften wieder ausgestattet zur Unterhaltung der Revalenser bis auf den heutigen Tag. Noch jetzt wissen ältere Damen, die als Kotzebue's Zeitgenossinnen in Reval lebten, zu erzählen, mit welcher Vorsicht sie in seiner Gegenwart sich benehmen und unterhalten mußten, um nicht einige Wochen später von der Bühne dem versammelten lachlustigen Publikum preisgegeben zu werden.

 

 

____

122

 

In Folge eines langwierigen Uebelbefindens sah Kotzebue sich genöthigt, eine Reise nach Deutschland zu unternehmen, verlor in Weimar seine erste Gattin im Kindbette und reiste zur Zerstreuung nach Paris, von wo er Anfang 1791 über Mainz nach Reval zurückkehrte. Auf sein, durch anhaltende Kränklichkeit veranlaßtes Ansuchen erhielt er 1795 den Abschied und bezog ein kleines Landgut, Friedenthal in Estland. — Kaum zwei Jahre der Ruhe vergingen, als er nach Wien zum Director des Hofburgtheaters berufen wurde. Kotzebue konnte den ehrenvollen Antrag nicht sogleich vor sich weisen, mußte aber schon nach fünfmonatlicher Thätigkeit seine Entlassung fordern, die ihm unter Beibehaltung als Hoftheaterdichter mit einer lebenslänglichen Pension von 1000 Gulden zugestanden wurde. In den Jahren 1798 bis April 1800 wechselte er seinen Aufenthalt zwischen Weimar ımd Jena. Im Jahre 1801, im Begriff von Berlin aus seinen Söhnen und Verwandten in Reval und St. Petersburg einen Besuch zu machen, wurde er auf der russischen Grenze bei Polangen auf Befehl des Kaisers Paul verhaftet und nach Sibirien geschickt. Schlecht angebrachte ungebührliche Witzeleien über russische Verhältnisse hatten seine Verbannung herbeigeführt. Doch das Lustspiel: „Der Leibkutscher Peter’s III.“ setzte ihn beim Kaiser wieder in Gnade und veranlaßte seine Zurückberufung. —

 

Einfügung:

Nähere Informationen über den Zar Peter III. sind auf der Internetseite des Kieler Zarenvereins http://www.zarpeteriii.de zu finden.

 

 

Zum Director des deutschen Hoftheaters in St. Petersburg ernannt, konnte er bald neue Lorbern erndten. Auch die Zeit seiner Verbannung machte er durch „Das merkwürdigste Jahr meines Lebens“ schriftstellerisch fruchtbar. Im April 1801 bat er um seinen Abschied, den er im Range eines Kollegienraths und mit einem Jahrgehalte von 1200 Rubeln erhielt.

 

Goethe, der bis hierzu Kotzebue’s Thätigkeit stets mit Wohlwollen gedacht (G.’s W. 1840. XXV. 204), der noch 1792 seine damals, in ihrer besten Blüthe stehenden Stücke „natürlich und faßlich und gegen eine

 

 

____

123

 

lockere Sittenfreiheit hingewendet“ nennen konnte, der sich bemühte, Kotzebue's Produkte sorgfältig aufführen zu Iassen und in so fern es möglich war, auf dem Repertoir zu erhalten (G. XX, S. 17), Goethe wandte sich nach Schiller’s Ansiedelung in Jena von Kotzebue ab, dessen verstecktes, falsches, intriguantes Wesen er nicht vertrug. Goethe hatte ungern bemerkt, daß Dieser einen Theil der bei ihm verkehrenden Personen durch gefälliges, zudringliches Weltwesen zu sich in seinen Kreis abzuziehen wußte (G. XXVII. 109), ungern gesehen, daß von diesem Manne, der sich ihm nicht zu nähern versuchte, Schiller’n Triumphe (eine Feier im neu dekorirten Stadthause) vorbereitet wurden, zu deren Mitfeier er sich nicht herbeilassen wollte, und wußte endlich auch Schiller, auf den er Einfluß übte, gegen das Unternehmen Kotzebue’s zu stimmen, ja das ganze Schillerfest schließlich zu vielseitigstem Verdruß zu vereiteln. Er that es um so mehr, als es ihm darauf abgesehen schien, „von der anderen Partei Aufseben zur erregen, die Gesellschaft zu unterhalten, den Theilnehmenden zu schmeicheln, sich dem Theater entgegen zu stellen, der öffentlichen Bühne eine geschlossene entgegen zu setzen, Schillers Wohlwollen zu erschleichen, mich (Goethe) durch ihn zu gewinnen, oder wenn es nicht gelingen sollte, ihn von mir abzuziehen.“

 

Diese Intrigue, welche in Weimar sich abspielte, hatte einen völligen Bruch zwischen beiden Parteien zur Folge, und Goethe konnte später „schadenfroh im Stillen zusehen, wie dieser Feind sich selbst vernichtete.“ Zwar ging ihm die Galle häufig über („höflich mit dem Pack?‘), doch „war er im Leben schon gewohnt, den Verlust hinter sich zu lassen, und den Gewinn im Auge zu behalten.“

Sie haben Lessing das Ende verbittert,
Mir sollen sie’s nicht.“

Er brachte sein vielgerühmtes Hausmittel in Anwendung‚ indem er sich gewöhnte, „Die Existenz Desjenigen,

 

 

____

124

 

der ihn mit Abneigung und Haß verfolgt — als ein nothwendiges Ingredienz zu der seinigen zu betrachten.“

 

Kotzebue hatte dem eigenen Ruf durch das unter Knigges Namen ohne dessen Wissen veröffentlichte Pasquill: „Dr. Bahrdt mit der eisernen Stirne” befleckt und konnte nie, trotz aller Bekenntnisse, Betheuerungen und Abbitten, das begangene Vergehen austilgen, andere Pasquills hatten ihm andere Feindschaften zugezogen und wirkten anhaltend fort. Mit der neuen kritischen Schule der Schlegel hatte es Kotzebue ganz verdorben und verbrüderte sich in der Folge mit dem Livländer Merkel, dessen Kräfte er zu nutzen hoffte. Merkel hatte vom Januar 1800 bis Februar 1803 seine in Monatsheften erschienenen „Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur“ herausgegeben, und brach diese mit dem 27sten Hefte ab, um sich mit Kotzebue zur Herausgabe des schon im Januar 1803 begonnenen „Freimüthigen“ zu vereinigen. Allein mit Merkel, der bei einer derben, grobkörnigen, durch verletzte Eitelkeit oft galligen Natur, doch ein Mann von ehrlicher Gesinnung und ernstem Streben war, dem es bei aller Gereiztheit des Urtheils doch zuerst und zuletzt auf Wahrheit, die ihm freilich ab und zu entschlüpfte, ankam, der über Goethes Stolz, Anmaßung und wegwerfende Aburtheilung erzürnt, dennoch, wie in der Parallele zwischen Goethe’s und Schiller’s Gedichten („Briefe an ein Frauenzimmer Heft. I. S. 73— 80), mit Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit die eigenthümlichen Vorzüge und Mängel beider Dichter gegen einander abzuwägen wußte, konnte Kotzebue nicht lange sich vertragen. „Kotzebue hatte Talent für eine gewisse Art von Spottschriften, dergleichen ich nicht schreiben möchte” (schreibt Merkel „Ueber Deutschland,“ 1818). Bei Merkel war es ein Kampf gegen Katholizismus, Mystizismus, Romantik, Vergötterung irdischer Größe, Franzosenherrschaft und Verwandtes, bei Kotzebue Anfälle gegen persönliche

 

 

____

125

 

Feinde, wie Schlegel, Tieck, Goethe, Napoleon u. A. — Kotzebue reiste 1804 nach Paris, wo er die gewünschte Beachtung bei Napoleon nicht fand und kehrte als dessen lebhaftester Feind zurück. Nachdem er abwechselnd Livland und Italien durchreist, sammelte er im geheimen Ordensarchiv zu Königsberg Materialien zu seiner „Geschichte von Preußen,“ ließ sich 1807 in Estland nieder und lebte bald zu Reval, bald auf seinem nahe dabei gelegenen Gute Schwarzen. In den Jahren 1808—12 bekämpfte er in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften „die Biene“ und „die Grille“ die napoleonische Herrschaft, und befand sich während des Feldzuges von 1813 auf höheren Befehl vom Februar bis Juli im kaiserl. russischen Hauptquartier des Grafen Wittgenstein und in Berlin, wo er das „russisch-deutiche Volksblatt“ schrieb. Zum kaiserlich russischen Staatsrath befördert, kehrte er wieder nach Estland zurück und wurde Ende des Jahres zum russischen Generalkonsul in Preußen ernannt. Bis 1816 lebte darauf in Königsberg, wo er die artistische Leitung des Theaters übernahm und den bekannten Louis Angely als Regisseur und Theater-Secretair gebrauchte. Nach einem kurzen Besuch in Petersburg begab sich Kotzebue 1817 nach Weimar. Hier gab er das bekannte „literärische Wochenblatt“ heraus, das ihm neue Feinde und Streitigkeiten zuzog. Bereits hatten die deutschen Burschenschaften seine „Geschichte des deutschen Volkes,“ in welcher er gegen Constitution, Preßfreiheit, Turnkunst und ähnliche Zeitbedürfnisse eiferte, auf dem Wartburgfeste öffentlich verbrannt. Der früher als Jacobiner verschriene Kotzebue stand längst bei denBurschenschaften als eine gezeichnete Person da, als unversehens eines der fatalen Bülletins, die er als angeblicher russischer Beauftragter verfaßt haben wollte, durch den Kurländer Lindner (geb. 1772, Verf. der „geheimen Papiere,“ Stuttgart 1824, die ihm eine Ausweisung aus dem Königreiche Würtemberg zuzogen),

 

 

____

126

 

einen Brudersohn von Hamann’s Freunde, an den Tag gezogen wurde. Lindner, den der mit der Abschrift betraute Copist über eine unklare Stelle des Manuscriptes zu Rathe gezogen, teilte das Bülletin in einer Kopie, die er sich zu verschaffen gewußt, den Betheiligten, wie Oken u. A., mit, welche über die Schelmerei falscher Anzeigen in den öffentlichen Blättern („Isis“) Klage führten. Kotzebue seinerseits beschwerte sich laut über Verletzung officieller Geheimnisse und machte eine Stellung als russischer Beamter geltend. Schlimmer stand 'es aber, als von Petersburg sein ganzes Verfahren desavonirt wurde, und es sich herausstellte, daß der Kaiser Alexander keinen seiner Berichte, die mit anderer Makulatur in den Papierkorb gewandert waren, zu Gesicht bekommen hatte, und daß er überhaupt von einer derartigen Mission Kotzebue’s nichts wisse. Ein vornehmer Russe, dem Kotzebue in Weimar sich vorstellte, verleugnete ihn und sagte, daß man in St. Petersburg ihn nicht kenne. Dem allgemeinen Hohne preisgegeben, zog Kotzebue nach Mannheim sich zurück, wo ihn das Schicksal ereilte. Der Student Sand, ein burschikoser Schwärmer, voll verkehrtem Patriotismus, machte Kotzebue’s Leben durch Dolchstiche ein Ende. Die genauesten Nachrichten über das Ereigniß in einer Schilderung von bekannter Trefflichkeit theilte neulich aus einem noch ungedruckten Bande seiner „Denkwürdigkeiten‘ Barnhagen von Ense mit, der um jene Zeit preußischer Ministerresident am großherzoglich badischen Hofe war, und in seiner Stellung von den wesentlichen Ergebnissen sämmtlicher Untersuchungen unterrichtet wurde.

 

Es wäre zu umständlich, Kotzebue’s sämmtliche 211 Schauspiele, die Unzahl seiner Romane, biographischen und historischen Schriften hier aufzuzählen. Die Masse seiner Productionen war als Fabrikarbeit gut geplättet und geglättet, von geringem innerem Werthe, leicht und hohl. Nichtsdestoweniger oder eben

 

 

____

127

 

darum — denn leichte Waare fliegt am weitesten — wurden Kotzebue’s Schriften in fast allen europäischen Staaten und Sprachen, im Französischen, Englischen, Dänischen, Holländischen, Russischen, Polnischen, Spanischen, Italienischen, Neugriechischen, Böhmischen und Ungarischen gelesen, und Chamisso begegnete auf seiner Reise um die Welt mit dem Sohne überall dem Namen des Vaters.

 

Mit einer mehr als französischen Leichtigkeit trug Kotzebue seine Stoffe aus allen Zonen zusammen, ahmte die verschiedensten Richtungen aller Literaturen nach. Im seinen ersten Erzählungen nahm er sich seinen Lehrer Musäus zum Vorbilde, ergab ich nach Erscheinen des Werther der sentimentalen Richtung, huldigte in verschiedenen Raubgeschichten dem andern Zeitgeschmacke, lehnte sich später an Raynal und die Franzosen, wetteiferte im historischen Fache mit Schiller und Shakespeare, die er häufig auf der Bühne im Beifall der Menge aus dem Sattel hob. Lessing, Iffland, Stolberg und andere Autoren bürgerlicher Schauspiele dienten ihm abwechselnd als Muster. Man hat Kotzebue als Lustspieler mit Molière verglichen, denn wie dieser geißelte er die Mißbräuche in Gesellschaft, Kirche und Staat und selbst Jean Paul glaubte, daß nur der Reiz des Ausländischen diesen über unseren Kotzebue hinaufrücke.

 

Es ist traurig, einen Mann von so glänzender Begabung wie Kotzebue schließlich doch verurtheilt zu sehen, denn alle Talente vermochten nicht die Makel, die an seiner Person und an seinem Thun hafteten, auszulöschen, denn (Gervinus V. S. 55) „sein Leben war ohne Würde und sein Charakter ohne Halt.“ Wir aber, denen die Persönlichkeit weiter entrückt ist, können uns mit Goethe seiner Talente freuen und das Verdienstliche seiner Leistungen rühmen. — Stellen wir uns auf den rein literar- und social-historischen Standpunkt, um aus Kotzebue's Schriften auf seine Zeitgenossen

 

 

____

128

 

zurück zu schließen! Was er der Lesewelt bot, giebt uns den Maasstab für das, was sein Publikum vertragen konnte, und diese Leute waren nicht schlechter als er selbst. Hätte Kotzebue gegen die Vaterlandsliebe nicht gesündigt, kein Schwärmer hätte ihm für seine moralischen und socialen Sünden ein Haar gekrümmt. Der geistesverwandte Klauren, Kotzebue’s Zeitgenosse, lebt noch heute in Berlin und zehrt im höchsten Greisenalter von den Früchten seines literarischen Marktes. Eine verwandte Sinnenweichlichkeit und frivole Charakterlosigkeit, welche dem überreizten Publikum schmeichelte, wandelt auch heute — der junge Baron Redwitz — unter uns umher. Es mißfällt keinem modernen Deutschen der Jammer-Walther, diese Karrikatur germanischer Ritterlichkeit, so wenig als der Kotzebue'sche Hahnrei in „Menschenhaß und Reue“ einen damaligen Leser empört hätte. Wie dieser zu seiner Zeit als höchstes Tugendideal verehrt wurde, so giebt es heut Menjchen, welche jenen als Muster höchster Frömmigkeit und Gottgefälligkeit anpreisen. So wird denn auch die heutige Lesewelt, die mit Gier nach einem Buche, wie die „Amaranth,“ greift, sich nicht zu beklagen haben, wenn sie mit dem Maasstabe, den sie selbst zur Hand nahm, gemessen werde.

 

Im abgelegenen Livland und Estland, wo Kotzebue als Beamter sich verdient und im Familienkreise und als Gesellschafter beliebt gemacht hatte, wurde weniger Notiz von dem in Deutschland herrschenden Lärm genommen, und dieses um so weniger, als seine Söhne Wilhelm, Otto und Moritz in öffentlichen und privaten Kreisen bald allgemeine Achtung erwarben. Die beiden letzteren begleiteten Krusenstern auf seiner Reise um die Welt, Otto (geb. 1787, starb 1849) führte 10 Jahre später den „Rurik” auf einer anderen Entdeckungsreise über die Oceane, umsegelte 1823 mit dem „‚Predprijatje“ auf Befehl des Kaisers Alexander zum dritten Male die Welt. Dr. Eschenholz, Professor der Zoologie zu

 

 

____

129

 

Dorpat, der schon die Reise aus dem „Rurik“ mitgemacht hatte, und einige Zöglinge der Dorpater Universität, wie Hofmann und Lenz, jetzt Mitglieder der Akadenie der Wissenschaften und des Bergcorps zu St. Petersburg, begleiteten ihn. — Auch heute hat ein Großsohn August v. Kotzebue's als Schlachtenmaler während eines fünfjährigen Aufenthalts in West- und Süd-Europa sich und seinem Vaterlande zur Ehre wohlverdienten Ruf erworben.

 

 

Bundeslied.

 

Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond;
Es blüht eine Zeit und verwelket,
Was mit uns die Erde bewohnt.

 

Es haben viel fröhliche Menschen
Lang vor uns gelebt und gelacht;
Den Ruhenden unter dem Rasen
Sei fröhlich dies Gläschen gebracht!

 

Es werden viel fröhliche Menschen
Lang’ nach uns des Lebens sich freu’n,
Uns Ruhenden unter dem Rasen
Den Becher der Fröhlichkeit weih'n.

 

Wir sitzen so traulich beisammen,
Wir haben einander so lieb,
Erleichtern einander das Leben;
Ach, wenn es doch immer so blieb!

 

 

____

130

 

Doch weil es nicht immer kann bleiben,
So haltet die Freude recht fest;
Wer weiß den, wie bald uns zerstreuet
Das Schicksal nach Ost und nach West!

 

Und sind wir auch fern von einander,
So bleiben die Herzen sich nah!
Und Alle, ja Alle wird’s freuen,
Wenn Einem was Gutes geschah.

 

Und kommen wir wieder zusammen
Auf wechselnder Lebensbahn;
So knüpfen an’s fröhliche Ende
Den fröhlichen Anfang wir an!

 

 

 

Selbstverfaßte Grabschrift.

 

Die Welt verfolgt’ ihn ohn’ Erbarmen,
Verleumdung war sein trübes Loos;
Glück fand er nur in seines Weibes Armen,
Und Ruhe in der Erde Schooß.
Der Neid war immer wach, ihm Dornen hinzustreuen,
Die Liebe ließ ihm Rosen blüh’n; —
Ihm wolle Gott und Welt verzeihen!
Er hat der Welt verzieh'n.

 

 

__________________

 

 

Harlieb Helwig Merkel
(1769-1850)

 

wurde am 21. October 1769 aus dem Pastorate Loddiger in Livland geboren, wo sein Vater Prediger war. Schon in seinen ersten Lebensjahren zeigte er einen ausgeweckten Geist und große Leichtigkeit der Auffassung. Sein Vater, der ihm den ersten Unterricht gab, verstand es, den Iebhaften Knaben zu leiten, indem er ihn hauptsächlich zum Selbstdenken und Prüfen anregte; mit sieben Jahren schon las und verstand er Bücher in mehren Sprachen. Dreizehn Jahre alt verlor Merkel seinen Vater, und verlebte num drittehalb Jahre fast ganz einsam in der Bibliothek desselben, mit eifrigem Studium beschäftigt, zu dem ihn anfänglich besonders die vielfachen Anmerkungen Iockten, welche sein Vater in seine Lieblings-Autoren hineingeschrieben hatte. Die Domschule in Riga, welche er hierauf besuchte, verließ er nach einem Jahre wieder, da sein an Selbststudiun gewöhnter Geist dem langsam fortschreitenden, fremden Vortrage nicht mehr folgen mochte. — Da die Mutter ihn nur wenig zu unterstützen im Stande war, nahm er Anstellung bei einer Behörde, um durch den kleinen Gehalt das Fortstudiren zu ermöglichen; er gab den Posten jedoch bald wieder auf, und suchte sich durch Privatstunden zu erhalten.

 

 

____

167

 

Einige handschriftliche Aufsätze, die in Riga bekannt wurden, Ienkten die Aufmerksamkeit einsichtsvoller Männer auf ihn, und durch sie wurde der noch nicht 19jährige Jüngling einem Prediger auf dem Lande als Hofmeister empfohlen. Vier Jahre blieb er dort, eine Zeit, an welche seine Zöglinge sich noch spät mit großem Interesse erinnerten, ging hierauf nach Riga, wo er ein Jahr in vertrautem Umgange mit dem General-Superintendenten Sonntag und den Dichtern Graß und Andreae verlebte, und trat endlich bei einem Edelmanne eine zweite Hofmeisterstelle an, die er drei Jahre behielt. Während dieser Zeit schrieb er ein Lehrgedicht über Dichtkunst, eine metrische freie Uebersetzung von Pope’s „Lockenraub“ und „Wannem Ymanta,“ eine Livländische Sage. Sein Aufenthalt auf dem Lande gab ihm reiche Gelegenheit, die traurige Lage der leibeigenen Letten kennen zur lernen; er erglühte von Unwillen und Mitleid und faßte den Entschluß, ihnen durch eine freimüthige Schilderung ihres Zustandes wo möglich zu helfen. Als er sein Buch „Die Letten“ vollendet hatte, gab er seine Stellung auf, und ging fast ohne Mittel, ohne Empfehlungen oder Bekanntschaften nach Leipzig, wo er Medicin studiren und sein Werk drucken lassen wollte. Es erschien, und machte für die damalige Zeit, wo die geistige Verbindung zwischen den verschiedenen Ländern noch unvollkommen war, einen weit- und tiefgreifenden unerhörten Eindruck. Von vielen Seiten angegriffen, konnte das Buch doch nicht widerlegt werden, und trug seine volle Wirkung.

 

Nachdem Merkel den Sommer mit Seume und Mahlmann verlebt, ging er nach Jena, um sein Studium fortzusetzen; er lernte hier Bojanus und Scherer kennen, die seine vertrauten Freunde wurden, und schrieb sein Buch „Hume und Rousseau, über den Arbeitsvertrag.“ Dann ging er, vorzüglich durch den Umgang mit Herder und Böttiger angezogen, nach

 

 

____

168

 

Weimar, wo er Vorarbeiten zu seiner „Vorzeit Livlands“ machte. Von dem Dänischen Minister Schimmelmann wurde Merkel als dessen Secretair nach Kopenhagen berufen, fühlte sich aber bald zu beschränkt in dieser Stellung und gab sie wieder auf. — Er schrieb nun seine „Vorzeit Livlands,“ „Briefe über Hamburg und Lübeck,“ den kleinen Halbroman „Eine Reisegeschichte“ und ging dann, hauptsächlich durch Engel dazu bewogen, nach Berlin, wo er seine „Erzählungen“ und die „Völkergemälde“ verfaßte. In diese Zeit fallen auch seine Mährchen „Gulhindy“ und „Das Leben der Königin Johanna I. von Neapel.“ Im Herbste 1800 fing er seine „Briefe an ein Frauenzimmer“ an, vorzüglich bewogen durch den verachtenden Ton, den die romantische Schule gegen seine Freunde Herder und Engel anschlug. Die Anhänger jener Schule suchten damals durch lebhaftes gegenseitiges Loben in verschiedenen Zeitschriften die Hauptstimmen in der Kritik an sich zu reißen, wozu es ihnen zugleich nothwendig schien, bis dahin anerkannte Autoritäten in den Staub zu treten. — Merkel stellte sich dem Unwesen muthig entgegen, indem er mit scharfer Feder nachzuweisen suchte, wie unbedeutend die Produkte jener Schule waren, die mit so großem Pompe als Meisterwerke gepriesen wurden. Die Getroffenen antworteten mit Schmähungen, die Merkel entweder ganz ignorirte, oder nur mit kurzen Witzworten abfertigte; als aber Merkel nach der Schlacht bei Jena Deutschland verließ, erhoben sie sich wieder, und stießen Schmähungen und Verleumdungen aus, denen er nicht so kräftig mehr entgegentreten konnte, da sie ihm theils gar nicht, theils sehr spät zur Gesicht kamen. Auf seine Geltung im Vaterlande hatten sie keinen Einfluß, da man die Reinheit seines Charakters und seinen glühenden Eifer für Aufklärung und Fortschritt in jeder Hinsicht erkannte; aber in Deutschland waren sie nicht so wirkungslos. Auch bei Goethe suchten sich Manche durch Angriffe auf Merkel

 

 

____

169

 

einzuschmeicheln, dem er es nicht verzeihen konnte, daß Merkel seine Werke, obwohl er sie übrigens sehr hoch stellte, nicht unbedingt pries, sondern auch an sie das Richtscheit der Kritik legte (vergl. die Skizze Kotzebue). So kam es, daß die jüngere Generation in Deutschland Merkel nicht aus seinen Schriften kennen lernte, sondern nur durch den Haß mancher Modeschriftsteller, die seine treffende Kritik ihrer Produkte damit zu entkräften suchten, daß sie immer wiederholten, er habe „sogar“ Goethe getadelt. Wie richtig sein Urtheil war, hat die Folge bewiesen, indem später fast Alles anerkannt und, freilich ohne Nennung seines Namens, vielfach wiederholt wurde, was er zuerst unter großer Opposition aussprach. Daß er auch die Richtung der Romantiker nach Rom richtig erkannt hatte, bewiesen Einige der Stimmführer selbst durch ihren Uebertritt zur katholischen Kirche.

 

Nachden Merkel seine „Briefe“ geschlossen, wandte er sich mehr zur Politik, und trat in dem von ihm und Kotzebue herausgegebenen „Freimüthigen” den Großsprechereien der Bonaparte’schen Proclamationen und Zeitungen kräftig entgegen; er zuerst rief durch Aufsätze in demselben Blatte, durch Briefe, durch Lieder, die ohne Namen verbreitet und vielfach gesungen wurden, die Deutschen zu den Waffen auf. Als der Krieg die unglückliche Wendung für Preußen nahm, wich Merkel den Franzosen aus und kehrte nach Riga zurück, wo er in den „Supplementblättern zum Freimüthigen“ und in einzelnen Flugschriften den begonnenen Kampf fortsetzte. Die Königin Louise sprach ihm ihren Dank aus, als der letzten Stimme, die es wagte, für Deutschland gegen Napoleon sich zu erheben. Aber auch der Letztere erkannte seine Verdienste an, indem im Jahre 1812 erst ein Französisches, dann ein Preußiches Streifcorps bis nach Merkel’s Landsitze in der Nähe von Riga vordrang, mit dem Auftrage, ihn aufzuheben, wie Merkel dies später in Berlin aus dem eigenen

 

 

____

170

 

Munde des Officiers erfuhr, welcher das Preußische Streifcorps geführt hatte. — Nun gründete Merkel ein politisches Blatt, „Der Zuschauer,“ welches er nach 25 Jahren in andere Hände gab, unter denen es noch heute fortdauert; sein politisches Raisonnement, welches begierig gelesen wurde, verschaffte dem Blatte eine weite Verbreitung; in demselben war er Einer der Ersten, die den Nothschrei der Griechen bei ihrem Kampfe gegen die Türkischen Dränger eifrig durch vielfache Aufsätze unterstützten.

 

Im Iahre 1827 übernahm Merkel die Redaction eines von Sonntag gegründeten Blattes, welches er unter dem Namen „Provinzialblatt für Kur-, Liv- und Estland“ eilf Jahre lang redigirte, und in welchem er den schweren, aber nicht erfolglosen Versuch machte, für die genannten Ostseeprovinzen ein öffentliches Organ zu bilden, welches die Angelegenheiten derselben besprechen sollte; so manche wichtige Einrichtung wurde durch dieses Blatt angeregt und steht noch als Denkmal desselben da.

 

Außer zahlreichen literarischen Arbeiten, bei denen das Lesen der Römischen und Griechischen Kassiker Merkels liebste Erholung war, beschäftigte ihn auf seinem Landgute die Erziehung seiner Kinder, die er allein unterrichtete, und die Landwirthschaft, welcher er durch Versuche und Mittheilungen den Anstoß zu mancher nicht unwichtigen Verbesserung gab.

 

Bis in’s hohe Alter behielt Merkel seinen scharfen, hellen Blick, seine meisterhafte Gewandtheit in Führung der Feder, und seinen Feuereifer gegen jedes Unrecht, jede Unterdrückung. „Licht ist Leben, Licht ist Glück, und für Staaten Macht!“ Diesem Wahlspruche getreu, war er der natürliche Feind alles Mysticismus und jeder Charlatanerie, und kämpfte rüstig sein ganzes Leben hindurch für Aufklärung und Wahrheit.

 

Drei Jahre vor seinem Tode traf ihn ein Schlagfluß, der ihm den freien Gebrauch der Augen und der

 

 

____

171

 

rechten Hand raubte. Merkel erholte sich nicht mehr und starb am 27. April 1850, betrauert von seiner Familie und seinen Landsleuten, in deren Andenken er fortlebt.

 

Jetzt, da jeder persönliche Neid und Haß ausgelöscht ist, wird es zur Pflicht, Merkels Verdienste anzuerkennen, seine Schwächen zu entschuldigen, ohne daß wir seinen Fehlern das Wort reden wollten. Unsere Zeit ist nicht blind gegen Goethe, ebenso wenig gegen die Mängel der romantischen Schule, welcher Merkel zu ihrer Blüthezeit das Urtheil sprach, ein Urtheil, das die heutige Kritik zu dem ihrigen machte.

 

 

____

535

 

. . .

 

Ein Lied vom Fortschritt.

 

Hingemodert in Ruinen
Steht die alte Herrlichkeit,
Muß zum Warnungszeichen dienen
Trotziger Vergänglichkeit.

 

 

____

536

 

Was für weite Ewigkeiten
Keck der Menschengeist gebaut,
Fällt dem Rächeraum der Zeiten
Und der frische Bau ergraut!
Vorwärts denn in Gottes Namen!

 

Weißgetünchte graue Steine,
Alte Zinnen überflickt,
Und verwitterte Gebeine
Zum Scelette zugestickt,
Grollen solchem Flittertande,
Schämen sich der Malerei,
Fluchen solchem tollen Bande,
Solher Alterthümelei.
Vorwärts denn in Gottes Namen!

 

Denn die Kraft, die Burgen baute,
Die den schweren Panzer trug,
Keck auf erz'ne Faust vertraute
Und sich Aug’ um Auge schlug,
Hat die Zeit schon längst verschüttet,
Hat kein Träumen aufgerafft;
Nationen nur zerrüttet
Eines Geistes Riesenkraft!
Vorwärts denn in. Gottes Namen!

 

Laßt denn immerhin verfallen,
Was kein Gott mehr halten kann;
Alte Töne laßt verhallen,
Deren Echo längst zerrann.

 

 

____

537

 

Alte Eiche, laß sie modern,
Flog im Blitz der Zeiten auf:
Wenn die Eichen flammend Iodern,
Keimen Saaten fruchtbar auf!
Vorwärts denn in Gottes Namen!

 

Formen muß der Geist entfliegen,
Wenn die Zeit sie angenagt,
Und die Flammen zu besiegen,
Hat der Phönix keck gewagt.
Vorwärts tönt es durch die Weiten,
Vorwärts tönt es fern und nah,
Vorwärts will die Jugend schreiten,
Vorwärts auch wer rückwärts sah!
Vorwärts denn in Gottes Namen!

 

 

 

 

 

Quelle:

Jegór von Sivers: Deutsche Dichter in Rußland. Studien zur Literaturgeschichte. Berlin Verlag von E. H. Schroeder 1855.

 

Hinweis:

Ein Scan des Buchs ist online in der Universitas Tartuensis unter folgendem Link verfügbar:

https://dspace.ut.ee/items/e5a66061-b721-4b8b-9baf-804942e4448d

dc.description.uri http://tartu.ester.ee/record=b1709386~S1*est

dc.identifier.uri http://hdl.handle.net/10062/10095

Sammlungen: Raamatud saksa keeles. Books in German. Deutsche Bücher